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diff --git a/.gitattributes b/.gitattributes new file mode 100644 index 0000000..6833f05 --- /dev/null +++ b/.gitattributes @@ -0,0 +1,3 @@ +* text=auto +*.txt text +*.md text diff --git a/17143-0.txt b/17143-0.txt new file mode 100644 index 0000000..1ccf70b --- /dev/null +++ b/17143-0.txt @@ -0,0 +1,4540 @@ +The Project Gutenberg EBook of Der niegeküßte Mund, by Jakob Wassermann + +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with +almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Der niegeküßte Mund + Drei Erzählungen + +Author: Jakob Wassermann + +Release Date: November 23, 2005 [EBook #17143] + +Language: German + +Character set encoding: UTF-8 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK Der niegeküßte Mund *** + + + + +Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders +Europe at at http://dp.rastko.net + + + + + + + Der niegeküßte Mund + + Drei Erzählungen von + Jakob Wassermann + + + + S. Fischer, Verlag, Berlin + + Alle Rechte vorbehalten. + + + + +Inhalt + +Der niegeküßte Mund ...... 7 +Treunitz und Aurora ...... 81 +Hilperich ................ 127 + + + + +Der niegeküßte Mund + + +Erstes Kapitel + +Schon von ferne sieht man den gelben, alten, fünfeckigen Turm mit seinem +dunklen Ziegeldach, das einer Nachthaube gleicht. Er schließt eine +breite, stille Straße mit seltsam regelmäßigen Häusern ab, die sich wie +Zierrat ausnehmen. Mit seinem Torbogen scheint er auf den gebrechlichen +Schultern zweier Häuser zu stehen; das eine ist die Wirtschaft zum +lustigen Pfeifer, das andere gehört dem Doktor Maspero. Die Straße setzt +sich verengert bis zum Marktplatz fort, welcher den Eindruck eines +städtischen Mittelpunkts macht. Viele ruhige Gassen und Gäßchen zweigen +von da ab: zum Schießanger, zur Altmühlbrücke, zur Kirche, und ein ganz +schmaler Gang zwischen der Apotheke und dem Bezirksamt zur jüdischen +Synagoge, einem lustigen Bau aus rotem Backstein, gekrönt von zwei +dickbäuchigen Kuppeln. Ringsherum zieht sich ein weitläufiger +Obstgarten, der den Tempelvorhof gegen die Straße frei läßt. Aber diese +Straße hat nur noch ein einziges Stirngebäude, eingeklemmt zwischen +uraltem Häusergerümpel, doch nicht minder alt und nicht minder +baufällig: das Schulhaus. Sechsundsechzig Kinder, Knaben und Mädchen, +werden hier täglich von Herrn Philipp Unruh in die Geheimnisse des +Alphabets und der Arithmetik eingeführt. + +Es gibt Namen und Namen. Manche sind ihrem Besitzer wie aus dem Wesen +geschnitten, manche passen zu ihm wie etwa die Synagoge zum Obstgarten. +Ein solcher Obstgarten, um den Vergleich müde zu machen, war der Name +jenes Lehrers. Er selbst und der Kreis seines Daseins waren voller Ruhe. +Die kleine Stadt lag unter dem Horizont der Ereignisse. Die Leute von +Gunzenhausen verrichteten ihre Geschäfte bei Tage und schliefen in der +Nacht und von eisernen Gesetzen wurden die Stunden geregelt. Uhren und +Kalender hatten nur einen äußerlichen Wert. Die Glocke schlug, aber was +sie schlug, brauchte an keines Hörers Ohr zu tönen. Die Zeit ging, wie +sie seit Ewigkeiten gegangen war, aber wohin sie ging, gab keinem +Verstand ein Rätsel. Nur die Eisenbahnzüge, die das friedliche +Altmühltal hinab- und hinaufrollten, brachten einen Duft von Welt mit, +von Geschehnissen, vom Wandel der Dinge, von den traurigen und heiteren +Spielen, die in den Ländern vor sich gehen, welche eingespannt liegen +zwischen den Ozeanen. + +Philipp Unruh war also ein Ruhiger mit den Ruhigen. Er war auch kein +Philippos, kein Pferdefreund, sondern eher der beschaulich schreitenden +Katze zugeneigt. In seinem Amt war er weder rühmenswert, noch gab er zu +tadeln Grund. Seit einem Dezenium rollte das Jahrwerk ab ohne sein +Hinzutun. Es glitt ihm vor den Händen vorbei, ähnlich wie bei +geschickten Arbeitern, die ohne Augen, ohne Licht vollbringen könnten, +was Zwang und Gewohnheit sie gelehrt. Der Tag zerfiel in Stunden; +einzelne Stunden bedeuteten Fächer, und jedes Fach war ein Häuflein +Eingelerntes, bereit, in ein Schock mehr oder minder williger Gehirne +gestopft zu werden. Diese kleine Maschinensammlung um Philipp Unruh war +seine Schule, in welcher er gleichmütig herumschritt und hantierte und +mit Wohlwollen und kühler Befriedigung dem ordnungsmäßigen Verlauf der +Dinge anwohnte. + +Derselbe Mann, der weder alt noch jung, weder lustig noch traurig, weder +lebendig noch tot war, hatte eine Liebhaberei, welche fast mehr als +diesen Namen verdiente, weil sie den eigentlichen Zirkel seines Wesens +überschritt. In seiner dumpfen Kammer, aus der der hellste Sommertag die +Dämmerung nicht vertreiben konnte, weil rings Dächer und Galerien ihr +den Himmel nahmen, gab es eine lange Reihe von Folianten: Chronika und +Memoria und ernsthafte Darstellungen, die Geschichte aller Zeiten und +Völker enthaltend. Darin las und grübelte, studierte und spekulierte +Philipp Unruh seit Jahr und Tag. War gleich gelehrter Eifer im Spiel, – +etwas wie Abenteuergelüst war sicher auch dabei. Und wohl noch eines. +Während um ihn die Zeit starr lag gleich einem gefrorenen See, erblickte +er durch seine Bücher ein aufgewühltes Meer von Leben. Für ihn war die +Gegenwart nur der Schatten, das lautlose Widerspiel der bunten, +glänzenden, gefährlichen und anziehenden Vergangenheit. Seine Stube, das +zufriedene Städtchen, das stille fränkische Land, das war die Gegenwart. +Die Vergangenheit war Europa, Asien, Ägypten, waren mörderische +Schlachten, strahlende Revolutionen, versinkende Reiche. Hier war der +Doktor, der Apotheker, der Bürgermeister, der Schulrat. Dort war eine +Gesellschaft von Königen, genialen Feldherrn, erhabenen Verbrechern, +blutgierigen Empörern, ruhmvollen Märtyrern und unerschrockenen +Entdeckern. Es gab glänzende Künstler, Propheten, falsche Herzöge, +aufopfernde Bürger, heroische Weiber, Vaterlandshelden und märchenhafte +Städte. Und solchem Reichtum gegenüber, der unerschöpflich vor ihm lag, +der seine Sinne entzündete, seinen Geist bewegte, seine Träume mit +unvergleichlichen Gestalten bevölkerte, sollte ihm der matte Tag noch +etwas bedeuten? Er ahnte das Schicksal, das seine Hand von Jahrtausend +zu Jahrtausend spannt, das die Kleinen vernichtet, um die Großen zu +erhalten; das ganze Länder verbrennt, um die Asche zum Mörtel für das +Häuschen eines Heilands zu verwenden, das jedes Ereignis menschlichem +Maß entrückt, jeden Zufall zur Bestimmung wandelt. Deshalb hatte sich +unter seinem rötlichen, buschigen Schnurrbart jenes Lächeln eingenistet, +das ebenso kindlich war, wie es für weise gelten konnte. Deshalb hatte +er kein Verständnis für die kleine Spottsucht des Doktor Maspero und +keine Teilnahme für den Kummer der Frau Süßmilch, deren Töchterchen dem +ABC feindlich gegenüber stand. Der Herr Adjutant (man nannte ihn so, +obwohl niemand sich erinnern konnte, ihn jemals in einer Uniform gesehen +zu haben) sagte, der Unruh zähle seine fünfunddreißig Jahre doppelt. Und +da er es zu Frau Federlein sagte, welche die Frau des Nachtwächters war, +erfuhren es alle Leute, die in der Abgeschlossenheit des Lehrers etwas +Verdächtiges und Geheimnisvolles sahen. + + +Zweites Kapitel + +Wie heute hatte Doktor Maspero fast täglich einen Begleiter, der die +nächtliche Heimkehr vom Wirtshaus verkürzte. Er plauderte in seiner +finster-spöttischen Manier mit dem Baron, der die Apotheke besaß. Es gab +manchmal ausgedehnte und tiefsinnige Gespräche in der Nacht, wenn das +Kartenspiel beendet war. Der Doktor war ein Mann, klein wie ein Zwerg, +hager wie ein Knabe, hatte auch die Bewegungen eines Knaben, sprach +überlaut und meist grimmig, auch wenn er witzig war. Sein bärbeißiges +Wesen glich einer Schutzwaffe gegen die länger gewachsenen Menschen. + +Lispelnd und visionär erzählte der Baron von seinem neuen Provisor. Das +Lispelnde und Visionäre war ihm stets eigen. Seine Art erinnerte an +frische Butter, so reinlich, mild und appetitlich war er. Er war den +schönen Künsten ergeben und verdankte dieser Neigung das Zerflossene und +Selbstgefällige seiner Natur. Immer ging er durch die Straßen wie +jemand, der sagen will: Seht, welch ein Träumer bin ich. + +Der Doktor drückte seine Verwunderung aus, daß er den neuen Provisor, +der doch schon vier Wochen hier sei, noch nicht gesehen habe, und fragte +nach dem Namen. + +»Apollonius Siebengeist,« erwiderte der Baron, und seine Blicke waren +verloren ins schwarze Firmament gerichtet. + +»Einstampfen lassen! Einstampfen lassen! So heißt man nicht,« kreischte +der Doktor mit unbegründeter Wut und lauschte auf den Beifall seines +Freundes empor, der ihn um zwei Kopflängen überragte. Auch er war nicht +ohne Beziehung zum geistigen Leben der Nation. Sein ungestümer Witz war +eine Frucht der Bildung. Sein Ideal unter den Bücherschreibern war +jener Saphir, der einst nach des Doktors Ansicht die Welt aus ihren +Fugen gerüttelt. + +Der Baron entgegnete langsam und bedeutungsvoll, daß Siebengeist aus +einer guten Familie sei, jedoch sei sein Gehirn nicht in gehöriger +Ordnung. Er habe etwas Koboldartiges an sich, etwas Sozialdemokratisches. +Darauf antwortete der Doktor, indem er mit zwei Fingern seine Nasenspitze +kniff, der Apotheker möge ihm doch ein Pülverchen zur Beruhigung +zubereiten, eine staatserhaltende Mixtur. + +»Rizinusöl!« platzte der Baron heraus und brach über diesen unerwarteten +Geistesblitz in solch brüllendes Hoho-Gelächter aus, daß der +Nachtwächter Federlein an der Marktecke erschrocken stehen blieb. +Geringschätzig verzog der Doktor den Mund, während der sanfte Apotheker +noch lange nicht zur Ruhe kommen konnte. Und während sie ihren Weg durch +die außerordentlich stille Nacht fortsetzten, sprach man noch von den +Theatervorstellungen, welche für die nächsten Tage angekündigt waren, +denn eine Wandertruppe wollte im fränkischen Hof ihr Lager aufschlagen. +Der Doktor war vom Redakteur des Tageblatts als Kritiker gewonnen +worden, und der Baron hatte die Absicht, dem Direktor ein Vorspiel in +Versen zu schreiben. + +Beim Schulhaus winkte der Doktor leutselig zum dunkeln Fenster hinauf, +aus dem der Lehrer auf die Straße sah. Die Glocke schlug eben elf Uhr. +Der Doktor fragte empor, ob Philipp Unruh morgen zur Auktion kommen +werde. »Es soll auch Bücher geben,« fügte er mit überlegenem Spott +hinzu. Die beiden Männer wünschten gute Nacht und waren bald in der +Finsternis verschwunden. + +Der Lehrer wußte, daß es Bücher bei der Versteigerung geben würde. Der +jüdische Kantor war gestorben, ohne Angehörige zu hinterlassen, und +dessen Habseligkeiten kamen unter den Hammer. Insbesondere wußte Unruh +um eine alte Ansbacher Chronik, die der Kantor nie hatte verkaufen noch +verleihen wollen. Daran erinnert, freute er sich jetzt, vergaß die +trüben Gedanken, die ihn beherrscht, musterte lächelnd den schwarzen +Vorbau der Synagoge, schaute straßauf, straßunter, ruhegewohnt, +friedesicher und achtete der Kälte nicht. Schnee fiel, flaumig +anzusehen, aufglitzernd im Licht einer einzigen Laterne. Indes, jene +allzuschnell vertriebenen Gedanken kehrten zurück. + +Er hatte etwas Seltsames gelesen. Unlängst war er bei seinem Schwager, +einem Schwestermann in Teilheim, gewesen. Das ist ein Örtchen in der +Nähe Hesselbergs und mitten im sogenannten Hahnenkamm. Der Freund besaß +eine Krämerei, und beim Herumstöbern in Kisten und Kasten, wie es +Philipp Unruhs Besuch mit sich brachte, fand sich ein vergessener +Schmöker vor, benagt von Motten und Mäusen, um alles Ansehen gebracht +durch Liegen und Staub. Der Krämer hatte schmunzelnd den Fund +verschenkt, welcher die Aufzeichnungen einer Marquise Bourguignon +enthielt, von einem Kammerherrn, Exzellenz, behäbig und schnörkelhaft in +das Deutsch des achtzehnten Jahrhunderts übertragen. + +Nun sitzt da weltfern und lebensfremd ein Schulmeisterlein in seiner +engen Kammer und vertieft sich dumpfen und erschrockenen Sinnes in die +frivolen Erinnerungen der Hofdame. Ein goldgieriger Räuber steigt durchs +Fenster, aber das Fräulein, fast noch ein Kind, gibt gutlaunig Edleres +hin. Der würdige Pater im Beichtstuhl zeigt sich nachsichtig gegen +Sünden, an deren Begehung er teilnehmen darf. Auf der Treppe küßt die +reizende Marquise ihrem Geliebten das Herz aus dem Leibe, während zehn +Stufen höher der arme Gatte nach der Lampe ruft. Mönch und Nonne, Fürst +und Lakai, Bauer und Soldat, Kavalier und Bürgerin nehmen teil am +übermütigen Tanz der Liebe, ja die Dinge der unbelebten Welt sind +ergriffen vom heiteren Taumel, der Himmel wiederhallt vom frohsinnigen +Gelächter, und die graziösen Geister der Galanterie werfen jauchzend +bunte Tücher über Gräber und Schlachtfelder. Was Gesetze, Philosophen, +Zukunft, Religion! Kein Schauer der Ewigkeit für diese lächelnde +Bacchantin und ihre Liebeskünste. + +Es sind ja längstvergangene Zeiten, dachte schließlich Philipp Unruh +furchtsam. Das ist damals so gewesen, durfte damals so sein, denn es war +eine Zeit der Barbarei, eine wilde, sittenlose Zeit. Heute ist die Welt +still geworden; nichts ist mehr zu erblicken von solch übertriebenem +Abenteuerzeug. Ein jeder Mann geht wacker dem Geschäfte nach, ein jedes +Weib wohnt züchtig in seinem Hause, und es regiert die Ordnung. Törichte +Leidenschaften der Vergangenheit mit eurem Überschwang und eurer +Gefährlichkeit, dachte der Lehrer mitleidig und war zufrieden damit, +einem besseren Jahrhundert anzugehören. + +Daneben war aber etwas Unbestimmtes und Hinterlistiges, das ihn quälte. +Bei all dem Herumdenken suchte er sich heimlich zu beschwindeln, und das +wußte er. Exzellenz Kammerherr hatte sich da eine teuflische Sache +ausgesucht für seine lahme Feder. Mit böser Zähigkeit kamen und gingen +Bilder, und Philipp Unruh schaute sie an mit wildfremden Gefühlen. Er, +der alle Dinge über sich ergehen und herabsinken ließ wie Schnee, fühlte +plötzlich etwas wie Lebenslast und -besinnung. + +Endlich schien es ihm genug des Träumens. Er schloß das Fenster, ging +noch eine Weile zwischen den leeren Schulbänken auf und ab, trotz der +Dunkelheit sicher den Weg findend und suchte dann seine Studier- und +Schlafstube auf, um sich zur Ruhe zu begeben. + + +Drittes Kapitel + +Ziemlich viele Menschen waren in der Kantorwohnung versammelt, +Ortswürdenträger und andere Leute. Es gab auch solche, die nur gekommen +waren, um für eine Stunde der Winterkälte zu entrinnen. Der Auktionator +war ein dicker Mann mit einer militärischen Fistelstimme. Bei den +billigen Gegenständen wurde er herablassend, fast gnädig, und sein +Würdegefühl stieg um so mehr, je geringer sich die Kauflust erwies. +Doktor Maspero erstand einen Schreibtisch, der Bürgermeister ein Dutzend +leere Flaschen, der Trödler Most die Gebetbücher, das »Kasino« einen +Teppich. + +»Eine Chronik!« rief der Auktionator finster. + +»Eine Chronik für Unruh!« witzelte der Doktor. + +»Eine Chronik der Markgrafschaft Ansbach,« sagte der Auktionator streng, +wartete, bis das Gelächter zu Ende war und fügte verächtlich hinzu: +»Zwei Mark zum ersten.« + +»Drei Mark,« murmelte Philipp Unruh schüchtern. Einige kehrten sich +lächelnd um, denn er stand an der Rückwand des Raums. Die Geschäftigkeit +hier hatte ihn aus irgend einem Grund betrübt gemacht. Alle Gegenstände, +die unter den Hammer kamen, hatten einen Schein von Persönlichem, von +Zusammengehörigkeit, sahen aus wie Glieder einer Familie, die in die +Welt verstreut werden sollten. Etwas wie Todestrauer lag über ihnen, +besonders über dem schwarzen Ledersofa im Winkel. Es war, als säße der +alte Kantor unsichtbar darin und betrachte mit mürrischem Gesicht die +entrückte, kunterbunte Welt. + +Die Fistelstimme rief mit beleidigtem Ausdruck den Taler zum zweitenmal +ab. + +»Fünf Mark,« sagte jemand, der eben eingetreten war. Alle drehten sich +um, und die Mienen wurden zurückhaltend und unzufrieden, als man den +neuen Provisor sah. + +Philipp Unruh erbebte. Er blickte nach Apollonius Siebengeist und dachte +erbittert: der reine Adonis. Warum er gerade diese Bezeichnung wählte, +und warum es in einer gehässigen Bedeutung geschah, blieb ihm +rätselhaft. Der Auktionator nahm das höhere Angebot mit erwachendem +Interesse zur Kenntnis. + +»Zwei Taler«, erwiderte der Lehrer mit dünner und unsicherer Stimme. Die +Leute wurden neugierig, drängten sich zusammen und sahen zu, als ob ein +Hahnenkampf vor sich ginge. Der Lehrer schämte sich wie jemand, der auf +irgend eine Weise Interesse erregt, ohne es rechtfertigen zu können. + +»Drei Taler,« sagte Siebengeist mit kaltem Lächeln. Er stand an den +Pfosten gelehnt, beide Hände in den Taschen seines Pelzmantels, in der +nachlässigen Haltung eines Mannes von Welt. In Philipp Unruh erwachte +ein trüber Zorn. Doch wie alle schwachen Menschen, die sich beleidigt +oder übervorteilt sehen, hatte er den Wunsch, dem Gegner sein Anrecht +logisch und herzlich zu beweisen. Er hatte die dunkle Empfindung, als +müsse er hingehen und dem Manne sagen, wie viel ihm der Besitz der +Chronik wert sei, und wie er sich darauf gefreut habe, sie erwerben zu +können. Besonders den Umstand seiner Freude und Erwartung wollte er +betonen. Indessen haßte und verachtete er gleichzeitig den fremden +Eindringling, und in einer Aufwallung dieser Gefühle bot er zehn Mark. +Der Doktor machte ein faunisch entzücktes Gesicht und eine +triumphierende Gebärde, der Auktionator nickte beifällig und schnupfte +geräuschvoll aus einer braunen Papierdüte. Jedoch andere Gesichter sah +der Lehrer auf sich gerichtet, deren prüfender Hohn ihn erschreckte, +und als der Provisor nachlässig noch weiter steigerte, verließ er +schweren Schrittes den Raum mit den Gefühlen eines Menschen, über den +ein falscher Urteilsspruch ergangen ist. + +Ein trüber Wintertag war es; alle Scheiben waren mit Eisblumen bedeckt. +Der Schnee lag hoch und rein und blendete die Augen des Lehrers. Auf +einem Zaun, dessen Pfähle weiße, runde Kappen trugen, saßen drei Spatzen +und zwinkerten bekümmert den Vorübergehenden an. Aus dem Schulhaus drang +ein betäubender Lärm. Unter seiner Ladentüre stand der Bäcker und +schaute spöttisch lachend hinauf. Kunigunde, die Wirtschafterin, +begegnete ihm auf der Stiege und kicherte dumm vor sich hin. Er lächelte +plötzlich freundlich, als ob er mit jemand eine liebenswürdige +Unterhaltung führte, doch schien es ihm unzuvorkommend und bedrückend, +daß dieser Jemand bildlos im Raum verblieb. + +Das Schulzimmer war zum Schlachtfeld geworden. Kriegsgeheul ertönte, und +Gegenstände flogen durch die Luft, die einst einer andern Bestimmung +geweiht waren. Die schwarze Tafel, in eine Generalstabskarte verwandelt, +war mit Hieroglyphen bedeckt. Die Reiterei hatte sich des ganzen Globus +bemächtigt, und ein dämonisch kleiner Knabe saß auf dem Nordpol und +fuchtelte mit beiden Armen. Einige Amazonen hatten die Gegend des +Katheders besetzt und sangen Kampfgesänge. Der Lehrer blieb auf der +Schwelle stehen, schöpfte Atem und schrie eine fürchterliche Drohung in +den Raum. Sechsundsechzig Paar Augen blickten ihn bestürzt und +schuldbewußt an. Alle Kinder setzten sich mit geschäftsmäßiger Kühle auf +ihre Plätze. Sie erwarteten eine unheilvolle Untersuchung. Der Kleine +vom Nordpol hatte sich beim Herunterspringen die Hosen an der Erdachse +zerrissen und saß leichenblaß da. Indes begann der Lehrer zu diktieren: +Der Hamster und der Igel; eine Geschichte, worin die Häßlichkeit des +Geizes eine große Rolle spielte. Die Enttäuschung der Kinder war groß. +Sie hätten die gleichgültige Hamstergeschichte gern entbehrt gegen das +aufregende Prozeßverfahren, das einer Vormittagsschlacht sonst zu folgen +pflegte. Immerhin ereignete sich noch etwas sehr Merkwürdiges, was den +Fortgang des einschläfernden Diktats angenehm unterbrach. Die Tür wurde +heftig aufgerissen, und Apollonius Siebengeist trat herein. Er hatte ein +dickes Buch unter dem Arm, schritt gerade auf das Pult zu, legte den +Folianten nieder und sagte zu Philipp Unruh mit emporgezogenen Brauen: +»Ich bringe Ihnen Ihre Chronik. Ich wollte Ihnen damit ein Geschenk +machen. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen einzuwenden.« Er grüßte mit +übertriebener Unbefangenheit, doch mit schüchternem Blick und ging. + +Einige Kinder lachten; das brünette Fräulein Süßmilch auf der dritten +Bank fand sich am meisten erlustigt. Sie war blutrot im Gesicht und +konnte kaum aufhören, in ihre Schürze hineinzulachen. Philipp Unruh war +verwirrt und beschämt. Mit der schablonenhaften Strenge, die ein +wichtiges Erziehungsmittel war, befahl er Ruhe und stellte sich an das +Fenster. Es ist etwas Schönes um den Winter, dachte er mit jener Wärme +im Innern, welche kühne Hoffnungen erzeugt. Draußen mag es stürmen, ich +stehe da, um zuzuschauen. Schlaf und Frieden ist alles. Wie schön, wenn +es dämmert und ich durch den Schnee wandere, den bläulichen Schnee, und +kein Laut dringt aus der Erde. + +Mit liebevoller Sorgfalt legte er die Chronik in die Pultschublade, und +bald darauf schlug es elf Uhr. Die Sechsundsechzig stürmten davon, und +der Lehrer rüstete sich zu einem Spaziergang. An der Ecke bei dem +Kasino stand Apollonius Siebengeist und plauderte mit einem Mann, der +einen großen roten Zettel an das Hauseck klebte. Philipp Unruh grüßte +und war sichtlich bemüht, etwas Weitläufiges und Kameradschaftliches in +seinen Gruß zu legen. + +»Wir werden jetzt Großstadt,« sagte Siebengeist lebhaft, »bekommen ein +Theater. Und was für ein ungewöhnliches Stück sie da ankündigen!« + +Der Lehrer tat überrascht, obwohl er in der Zeitung davon gelesen hatte. +Er hauchte in seinen Schnurrbart, der ein wenig steifgefroren war, und +rieb die Hände. + +»Sagen Sie, lieber Onkel,« wandte sich Siebengeist an den Zettelmann, +»habt ihr denn hübsche Schauspielerinnen?« + +Der Zettelmann machte eine großartige Physiognomie. »Bei mir ist die +Blüte unseres Standes engagiert«, entgegnete er kurz und majestätisch. + +»Aber Onkelchen, sind Sie denn der Direktor?« rief Siebengeist erstaunt. + +Der Schauspieler bestätigte es. »Mein Name ist Schmalich«, sagte er mit +dem Stirnrunzeln eines berühmten Mannes. + +Scheinbar interessiert besah sich Philipp Unruh den angeklebten Zettel. +»Melchior oder die Leiden des Alters«, hieß das Stück, ein Lebensbild in +zehn Abteilungen. Einige Leute waren stehengeblieben und starrten +neugierig auf das rote Papier. Der Direktor nahm seinen Kleistertopf und +entfernte sich mit feierlichem Gruß. Auch der Lehrer wandte sich zum +Gehen und war kaum einige Schritte weit, als er Siebengeist an seiner +Seite sah. Der Provisor begann zu reden, als ob es ihm nur um Worte zu +tun sei. Er schimpfte über das Nest, in das ihn ein unwirsches Geschick +verschlagen habe; er machte sich über Himmel und Erde lustig, und etwas +Knisterndes, Sprudelndes, Glattes war an ihm. Viele Zuckungen gingen +über sein Gesicht. Seine Augen hafteten an vielen Punkten zugleich. Dem +Lehrer ward es unbehaglich wie neben einer gefährlichen Maschine. +Siebengeist aber schlug einen weiten Spaziergang vor, da ja heute +Mittwoch sei. »Der ganze Nachmittag liegt vor Ihnen«, sagte er. »Gehen +wir ein wenig hinaus in den Schnee.« + +Philipp Unruh wagte nicht, nein zu sagen. Er war überhaupt weder ein +Nein- noch ein Ja-Sager, und hier fand er sich verpflichtet, Wünsche zu +erfüllen. Siebengeist redete weiter, bespöttelte die Büchersucht des +Lehrers und sprach im allgemeinen vernichtend über das Gelehrtentum. +»Was wollen Sie denn mit Ihren Namen und Zahlen, Onkelchen? Erklären Sie +sich doch. Die Geschichte? So? Die Geschichte ist ein altes Weib. Alles, +was war, ist wertlos. Jener Komödiant und sein Theater ist jetzt +wichtiger als alle Moses, Marc-Aurel, Robespierre und Lasalle. Der +Unterrock meiner Geliebten wiegt das ganze babylonische Reich auf. +Freilich, tausend Jahre sind euch nichts, denn auch die Stunden sind +euch nichts.« + +Der Lehrer blickte verängstigt auf seinen Weg. Nichts Erschreckenderes +für ihn als diese Reden, deren Sinn ihm vorüberglitt wie Wasser. Das +Heftige, Sprunghafte, dabei Lachende und Kühne im Wesen seines +Begleiters machte ihn schülerhaft verzagt. Eine Weile schwieg +Siebengeist und pfiff nur vor sich hin. Weiß und still dehnten sich die +ebenen Felder. Unbestimmte Laute kamen aus Fernen, die vom Nebel +verhüllt waren. Im glatten Schnee waren zahllose Hasenfährten und +Krähenfüße sichtbar, am Waldrand trippelte eine Rebhühnerschar mit +schwachen, seufzenden Schreien. In der Luft war ein Sieden und Sausen, +hervorgebracht durch das merkwürdige, schwere Schweigen ringsumher. + +»Sind Sie verheiratet?« fragte Siebengeist wie ein Untersuchungsrichter. +»Nein? Sind Sie verliebt?« + +Der Lehrer wurde blaß und schüttelte unwillig den Kopf. Siebengeist +lachte hell wie ein Kind. »Waren Sie je verliebt? Wissen Sie, Onkelchen, +man könnte Sie geradezu für einen Eunuchen halten, wenn man nicht wüßte, +daß Sie ein deutscher Bücherwurm sind. Sie verachten natürlich die +Liebe, sofern sie nicht auf dem Papier verewigt ist. Haben Sie mal von +einer gewissen Ninon de l’Enclos gehört? Ein wundersames Frauenzimmer. +Sie hat ganze Generationen mit Liebe beschenkt. Ich war damals ein +Gascognischer Prinz und in mancher Nacht küßte ich die unsterblichen +Lippen. Seitdem ist die Welt bitter geworden. Onkelchen, was heutzutage +sich Weib nennt, ist wert, eingesalzen zu werden. Ich habe keines kennen +gelernt, in dem nicht die dumme Gans oder die Xantippe steckt. Sie sind +schlecht, eitel, feig, anmaßend, sitzen stets auf dem Galanteriestühlchen +und sind mit Leidenschaft der Lüge ergeben. Dagegen liest man in den +Kunstbüchern von den erlauchtesten Idealgestalten. Davor warne ich Sie, +Onkelchen. Durch diese Literatur geht ein Riß. Sehn Sie doch nur, ein +Mann wie ich, Prinz von Geblüt, sitzt auf dem Trockenen und weiß nichts +anzufangen mit seinen Gefühlen, geht sehnsüchtig in der Welt umher und +gafft sich die Augen aus nach dem Bild der Liebe. Nun, ich gebe mir noch +eine kurze Frist, dann wähle ich ein angenehmes und schmerzloses Gift.« +Er lachte wieder fein kindliches Lachen. + +Der Lehrer wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es ist ein Traum, +dachte er zweifelnd und betrübt und sah auf das Bahngeleise hinüber, auf +dem ein Schnellzug einherraste. Er freute sich auf seine Abendstunden, +auf seine Chronik, auf seine stille Abgeschiedenheit. Indessen forderte +ihn der Provisor auf, mit ihm in einem Wirtshaus in Altenmuhr zu essen, +und noch viel weniger als früher wagte er es abzuschlagen. Doch +Siebengeist wurde merkwürdig schweigsam, ballte nur hier und da Schnee +zusammen und warf ihn auf die Baumkronen, daß es knisterte. Dann lachte +er und freute sich. + +In der niedrigen, heißen Wirtsstube saßen Fuhrleute beim Bier. +Siebengeist berührte kaum die Speisen. Er stocherte nachdenklich in +seinen weißen Zähnen, während der Lehrer tüchtig zugriff. »Gelehrsamkeit +stärkt den Magen«, bemerkte Siebengeist sarkastisch. »Wissen Sie, was +mir eingefallen ist? Ich forme mir eine Jungfrau aus Schnee: schön, rein +und klug. Ich gebe ihr das Herz eines treuen Hundes und die Augen einer +edlen Häßlichen, die in Verborgenheit lebte. Das Ganze belebt, wäre ein +Wunder an Vollkommenheit.« + +Philipp Unruh dachte: wenn dieser Mann Apotheker ist, werden die Kranken +seltsame Mixturen erhalten. Sein ordnungsliebendes Gemüt begann sich zu +empören. Er betrachtete den Provisor scharf von der Seite und mußte sich +gestehen, daß er ein schönes Gesicht habe, ein intelligentes Auge, einen +weichen, schwärmerischen Mund. + +Auf dem Heimweg stockte jedes Gespräch. Die Ruhe der Natur war ein +Befehl zur Ruhe für die Wanderer. Schon begann das beschneite Gelände +bläulich zu schimmern. Wie schwärzliche Gestalten standen die Bäume da, +streckten die Äste verzweifelt gegen den Himmel. Philipp Unruh empfand +seinen Begleiter wie eine schwere Bürde. Er vermochte nicht zu überlegen +und nicht zu denken in seiner Gegenwart. Unsichere Schuldgefühle +belästigten ihn. + +Als sie den Marktplatz des Städtchens entlang schritten, begegnete +ihnen der Baron Apotheker und lud sie ein, den Nachmittagskaffee in +seinem Hause zu nehmen. »Meine Frau wird sich freuen«, sagte er süßlich +und in einem Ton, als spräche er von einer majestätischen Person. +Siebengeist nickte zerstreut und nahm des Lehrers Arm, der verschüchtert +und abwartend der Einladung folgte. + +Es war ein uraltes Haus mit vielen Ecken und Winkeln, breiten, finstern +Stiegen, geheimnisvollen Türen und knarrenden Dielen, worin die Apotheke +war. Es stammte noch aus der Markgrafenzeit und teilte jedem seiner +Bewohner etwas von seinem verschlossenen, düstern, eckigen und +altmodischen Wesen mit. Aus der Tiefe des Flurs kam die Baronin und rief +den Provisor zu sich hin. Philipp Unruh und der Apotheker gingen daher +voran, doch da es schon finster war, bat der Baron seinen Gast, +stehenzubleiben und eilte voraus, um ein Licht zu bringen. Der Lehrer +lehnte sich aufseufzend an die breite, gotische Brüstung und hörte +Stimmengeflüster auf der Stiege, das alsbald wieder verstummte. In +diesem Augenblick kam der Baron mit der Lampe den Korridor entlang, und +ein Lichtstrahl erhellte das ganze Treppenhaus. Da sah Philipp Unruh, +wie sich zwei umschlungen hielten und küßten. Die Frau hing am Halse +Siebengeists mit geschlossenen Augen. Er aber hatte die Augen offen, und +es war, als sähe er weit über sie hinweg, in eine weite Ferne, und sein +Blick war düster und starr. Das dauerte im Schein des Lichts keine +Sekunde, aber der Lehrer glaubte, Zeuge eines grauenvollen Verbrechens +gewesen zu sein. Als er dem Apotheker folgte, trugen ihn die Füße kaum, +und seine Zähne schlugen heftig aufeinander. Der Baron drehte sich um +und lachte in seiner Hohomanier. »Armer Teufel,« sagte er, »klapperkalt +ist ihm.« Und er brüllte in die Küche, daß es von allen Mauern +widerhallte: »Johanna, heißes Wasser zum Grog!« Gleich darauf begann er +wieder zu lispeln und lispelte von der Poesie des Winters, während das +andere Paar scheinbar harmlos plaudernd die Stube betrat. + +Gemütliche Wärme herrschte in dem großen Zimmer, dessen Decke gewölbt +war wie in einer Kapelle. Der Ofen für sich war ein kleines Haus. Der +Baron las seinen Prolog für das Theater vor, wobei Siebengeist ergeben +in seine Tasse blickte. Offenbar waren die Gäste nur dieser Dichtung +wegen herbeigeschleppt worden, denn der Baron las mit der studierten und +zugleich naiven Wichtigkeit des Dilettanten, der sich ängstlich +vorbereitet hat. Es kamen da viele Reime vor, und manche Gedanken, die +eines Barons außerordentlich würdig waren, um wieviel mehr eines +Apothekers. Die Hippogryphen waren zu diesem Ritt kostbar gesattelt +worden, und vom großen Stall der Metaphern war, was Beine hatte, +mitgelaufen. Zeit und Ewigkeit, Vaterland und Wissenschaft, Kunst und +Natur waren, mit Traratrompetlein bewaffnet, auf einen erbaulichen +Kothurn gestiegen und grinsten zum Vergnügen aller Mitbürger aufgeregt +herab. Des Dichters Stirn war in Schweiß gebadet und sein blonder, +zierlicher Schnurrbart zitterte rhythmisch mit. + +Zu anderer Zeit hätte Philipp Unruh hohes Gefallen an der Produktion +gefunden. Aber der gemütliche Raum schien jetzt von schwülen Mysterien +erfüllt. Er sah Siebengeist gequält und grübelnd sitzen und wagte es +endlich, auch die junge Frau anzuschauen. Überrascht und erschreckt +senkte er den Blick nieder. Die schwarzen Augen der Baronin waren +begeistert auf die Lippen ihres Mannes gerichtet, und sie lächelte +begeistert. Zorn und Scham erwachten in dem Lehrer. Er atmete in +Lügenluft, aber eine ihm bisher unbekannte Empfindung sinnlicher +Neugier ergriff ihn. Als der Apotheker geendet hatte, lief die Frau +beglückt auf ihn zu, umarmte und küßte ihn stürmisch. Dem Lehrer graute. +Gefährlich, tückisch und verschlagen zeigte sich ihm das Weib, und er +sah dem Provisor ins Gesicht, der mit einem dummen Lächeln gegen das +Fenster blickte. + +Auf einmal schrie jemand auf der Gasse laut und vernehmlich Feuer, und +gleichzeitig ertönte die Sturmglocke. Siebengeist öffnete das Fenster +und fragte hinunter. Es brenne beim alten Schulhaus, hieß es. Philipp +Unruh stürzte davon, nur vom Gedanken an seine Bücher erfüllt. + + +Viertes Kapitel + +Eine der Galerien, morsches, altersschwaches Zeug, stand lichterloh in +Brand. Es sah unheilvoll aus, denn was da an Häusergerümpel +beisammenstand, war sehr empfänglich für das Feuer. Die Flammen +erfüllten den Hof, schlugen über das Dach des Schulhauses, und es gab +ein Schock von Kindern, welches mit verbrecherischer Spannung darauf +wartete, daß jenes verhaßte Gebäude zur Stunde vom Erdboden verschwinden +würde. Diejenigen Leute aber, denen es gleichgültig sein durfte, ob es +Schulferien gab oder nicht, zeigten sich aufgeregt, und die Turmglocke, +die solche Gelegenheiten gern ergriff, um einen prahlerischen Lärm zu +erzielen, vermehrte die Angst der Gemüter. Ihre kurzen Schläge glichen +dem Pochen eines schreckenerfüllten Herzens. Es rückte die Feuerwehr an +mit mutigen Messinghelmen und verzagten Gesichtern und diese guten +Menschen verübten nun ihrerseits wieder solchen Skandal mit Trompeten +und Kommandieren und einem rasselnden Spritzenwagen und himmelhohen +Leitern, daß der Tumult größer wurde als die Gefahr. Statt zu handeln +und sich unterzuordnen, machte sich jeder auf besondere Weise wichtig +und benahm sich als eine verdienstvolle Autorität in Gummischläuchen +oder im Wassertragen oder im Klettern und Fensterzertrümmern. + +Philipp Unruh stürmte in die Küche, nahm eine große Kohlenkiste, die er +in seine Studierstube schleifte und warf dort mit erstaunlicher +Handfertigkeit seine Bücher hinein. Unheimlich sah es aus, wie er von +den düsterroten Flammen beleuchtet in atemloser Geschäftigkeit die +schwarze Kiste mit den alten Folianten füllte. Mit einer Kraft, die er +als Zuschauer verwundert beobachtet hätte, zerrte er den schweren Kasten +zur Stiege, ließ ihn unter großem Gepolter herabgleiten, und erst unten +fanden sich zwei Männer, die ihm halfen, seinen Schatz auf die Straße zu +tragen. Zwischen zwei Schneehaufen blieb die Kiste stehen. Erleichtert +betrat der Lehrer wieder das Haus, um wenn es nötig war, auch die +übrigen Habseligkeiten zu bergen. Die Wirtschafterin lief heulend im +Flur herum. Da niemand noch an Gefahr für das Schulhaus dachte, klomm +Unruh allein empor, sah sich um, fand es merkwürdig still, hörte nur das +Geprassel des Feuers und das Zischen der Wasserstrahlen. Schränke und +Wände waren blutigrot; die Fensterscheiben zitterten vor Hitze, doch mit +jedem Augenblick verminderte sich die Gefahr. Die Holzgalerie brannte ab +wie Papier und die Steinmauer wurde schwarz von Ruß. Im Hofe stand die +Feuerwehr, eine Schar von Todesverächtern. + +Philipp Unruh trat wieder auf die Straße. Er winkte den Gemeindediener +herbei, daß er ihm helfe, die Kiste zurückzutragen. Allein die Kiste war +verschwunden. Der Raum zwischen den beiden Schneehaufen war leer. In den +weichen Schnee war ein tiefes Rechteck eingedrückt, sonst war nichts zu +sehen. »Wo sind denn die Bücher?« fragte der Lehrer mechanisch, und +blickte sich befremdet um. »Gutmann, wo ist meine Kiste?« schrie er +einen vorübergehenden Feuerwehrmann an, und sein Gesicht verzerrte sich. +Gutmann zuckte beschäftigt die Achseln. Der Gemeindediener versuchte zu +trösten und öffnete nachdenklich sein Schnapsfläschchen. Einen um den +andern rief der Lehrer an, aber keiner wußte etwas. Eine Gruppe sammelte +sich, die Ratschläge gab und Meinungen austauschte. Der Polizist Grünhut +stellte sich ein und schrieb Notizen in ein verschmiertes Buch. Der +Lehrer hatte zuerst gejammert, jedem geklagt, einige um Beistand +gebeten; jetzt wurde er still. Die Gewißheit, daß man ihm seinen +teuersten Besitz entwendet habe, begann als etwas Ungeheures auf ihm zu +lasten. Er fühlte sich vom Himmel selbst verwundet; beleidigt und +verwundet in seinem innersten Wesen. Die Ungerechtigkeit, unter der er +so zu leiden hatte, erstickte seine Überlegungen, raubte jedes Maß, jede +Berechnung für das, was ihm zugestoßen. Hier lag ein Verbrechen vor, +unerhört und frevelhaft. Wer durfte einen armen Friedlichen auf solche +Art zu Schaden bringen? Er war ein Lehrer, nichts weiter, und +verrichtete ehrlich sein Geschäft. Er war vor andern um nichts +bevorzugt. Oder wurde es so bitter gerächt, daß er dem harten Brot des +Berufs etwas Wohlgeschmack und Süßigkeit hinzugefügt? + +Breit und mit Würde angestopft, kam der Herr Wachtmeister des Wegs. Er +versprach leutselig, sich der Sache anzunehmen. »Wacker,« sagte er, +»wacker,« ein Lieblingswort, welches er grundlos bevorzugte. Der +Polizist trank aus des Gemeindedieners Flasche und eilte in die Nacht, +den Dieb zu verfolgen. Man schickte zum Bäcker und zum Schneider +nebenan. Dieser begann zu schimpfen, man bringe ihn um seinen Ruf, jener +tat sehr unschuldig und besorgt. Das Verschwinden der Kiste blieb ein +finsteres Rätsel. Philipp Unruh ging noch immer auf der Straße hin und +her, blickte mit zusammengepreßten Zähnen in die Nacht. Die Leute +entfernten sich langsam. Es war neun Uhr und Schlafensstunde nah. Auf +dem Brandplatz blieben zwei von den Messingbehelmten, lagerten sich an +ein Kohlenfeuer und tranken zahllose Krüge Bier, die aus dem »lustigen +Pfeifer« geholt wurden. + +Doktor Maspero war der letzte, der vor den trostlosen Beraubten hintrat. +Er schaute prüfend zu dem Lehrer empor und sagte übelgelaunt: »Es ist ja +gerade so, als ob Sie eine lebendige Familie verloren hätten. Pfui, +Unruh, das heißt sich zum Narren stempeln.« + +»Lieber Herr Doktor,« entgegnete der Schulmeister unwillig und ohne die +Stimme zu erheben, »wer etwas verliert, muß am besten wissen, was er +verliert.« + +Der Doktor brummte, zog die Augenbrauen in die Höhe, kicherte in sich +hinein und wünschte gute Nacht. + + +Fünftes Kapitel + +Doktor Maspero hatte gut lachen; er wußte, wo die Bücher hingeraten +waren. Nicht ganz ein Komplott und mehr als ein Einfall trug die Schuld. +Das kleine Männchen mit dem Alleswissergesicht versuchte sich gern in +der Seelenheilkunde. Auch der Apotheker und der Schulrat hatten Teil +daran. Diese behördliche Person billigte das Treiben des Lehrers nicht. +Obwohl von Pflichtversäumnissen bislang keine Rede sein konnte, – hinter +stummen Bücherdeckeln erhebt sich oft ein unheilvoller Geist. Niemand +konnte das gründlicher bestätigen als der Baron. »Verderblich ist das +Wort,« lautete sein gebildetes Orakel. Der Doktor seinerseits mischte +sich mit Leidenschaft in fremde Angelegenheiten. Er war ein Schnüffler +und mißtraute allen Leuten, bei denen er Geheimnisse vermutete. Er haßte +die Schweigenden, haßte die Leute, die anspruchslos ihres Weges gehen +und in sich verschließen, was sie im Innern beschäftigt. Er haßte jene, +die sich für irgend etwas mit wahrem Gefühl einsetzen und hielt sie für +Lügner. Jeder Einsame galt ihm als Verräter an einem öffentlichen Wohl. +Seine Zwerggestalt war der Grund eines wunderlichen, giftigen Ehrgeizes. +War er den andern körperlich unterlegen, so wünschte er doch brennend, +sonstwie zu herrschen. Daher sein penetranter Witz, seine angebliche +Verachtung der Frauen; daher seine seltsame Eifersucht auf alles Große, +was immer in der Welt geschah; daher seine Freude, sogenannte Wahrheiten +zu sagen, seine unermüdliche Geschwätzigkeit, seine Gier, zu +verurteilen, gehört zu werden, belacht zu werden, zu glänzen. Er war der +erste gewesen, der Unternehmungen gegen die Bücherwut des Lehrers +geplant hatte. Seine Motive waren menschenfreundlich; er sagte es. Aber +es waren Worte geblieben bis zum Tag der Feuersbrunst. Da hatte er das +Herausschleppen der Kiste beobachtet und war zum Bäcker geeilt, der für +einen guten Spaß alles Brot im Ofen schwarz werden ließ. Alsbald war die +Kiste unter dem Ladentisch verschwunden, und der Bäcker drückte sein +gründliches Mißfallen an der Studierwut des Lehrers aus, vermutete +Schwarzkunst und teuflische Zauberei dahinter. Der Doktor empfahl ihm, +die Bücher ordentlich zu bewahren, und verhielt sich so, als ob ein +reformatorischer Gedanke jeden Schritt in dieser Angelegenheit +vorbestimmt habe. + +Auf dem Heimweg empfand Doktor Maspero ein verwickeltes System zu der +Tat, die er gegen Philipp Unruh unternommen, ein System, welches +zugleich philosophischer und pädagogischer Natur war. Als er sich der +letzten Konklusion nahte, bemerkte er die Gestalt des Provisors +Siebengeist, die am Zaun des Kasinogartens lehnte, als ob sie steif +gefroren wäre, und die Augen des jungen Mannes beobachteten gespannt den +Mond am klaren Himmel. Erschrocken blieb der Doktor stehen und sagte mit +unsicherer Bosheit: »Sie sind mir ein gespenstischer Herr da.« + +Siebengeist senkte den Kopf und blickte den Doktor von der Seite an. +»Dieser Kerl ist mein Feind,« erwiderte er langsam, die Faust gegen den +Mond ballend. »Ich kann nicht schlafen, so lang er am Himmel steht.« + +»Also ein Romantiker,« meinte der Doktor, spöttisch in den Ton des +Arztes verfallend, »ein Romantiker mit kalten Füßen also.« + +Siebengeist begleitete schweigend den Doktor die Straße hinab. Der Herr +Adjutant kam ihnen entgegen, grüßte schreiend und lachend, als ob er +eben von einer Amerikareise zurückgekehrt wäre und verschwand lautlos +in der Nacht. Selten sind die Schlauen auch im Schweigen schlau. Der +Doktor erzählte Siebengeist mit geheimnisvollem Wesen die Geschichte von +den geraubten Büchern, und das philosophische System enthüllte sich in +Beweiskraft. Siebengeist hatte nichts darauf zu antworten. Er nahm +Schnee in die Hand und drückte ihn gegen seine Stirne. »Der Mond ist +mein Feind,« murmelte er. »Mich verdrießt sein Grinsen, seine Klarheit, +sein erborgtes Licht, seine anspruchsvolle Nutzlosigkeit. Er steht da +droben und hat sein Amüsement von der Welt. Und ich, ich muß mir den +Kopf im Schnee kühlen, fiebernd vor Überdruß.« + +Sie standen vor dem Turmbogen, und der Doktor blickte verdutzt sein +Haustor an, wußte nichts zu entgegnen als: »Sie sind verliebt, junger +Freund.« Er hatte bei den Redereien des Provisors ein Gefühl wie jemand, +den man aus dem ersten Schlaf weckt, um ihm die Anfangsgründe der +Eskimosprache beizubringen. Doch tat er verständnisvoll aus Furcht vor +einer möglichen Überlegenheit des andern. + +»Richtig: eine meisterhafte Vermutung!« rief Siebengeist, mit dem Stock +an das morsche Tor schlagend, daß es drinnen dumpf widerhallte. + +»O, ich bin ein geriebener Hund, was die Weiber betrifft,« sagte der +Doktor. »Ich kenne alle Schliche darin. Wie sieht sie aus, was ist sie, +wie ist sie?« + +»Wie sie aussieht? Je nun, das ist schwer. Eine gut funktionierende +Nase, zwei erfahrene Augen, ein redseliger, lügnerischer Mund. Wie sie +ist? Ebenso feig wie dumm, ebenso habgierig wie eitel, ebenso frech wie +leer, ebenso gestorben wie die andern Leute hier herum. Aber Sie denken, +ich spiele deshalb den Verschmäher? Ei, Doktor, da irren Sie sich. Der +Rock ist alles, es lebe der Rock. Genug davon. Zuviel Wucht für die +taube Nuß.« + +Unter dem Torbogen des Turms schallte ein leichter Schritt. Es ging da +ein junges schwarzgekleidetes Mädchen, dessen Kopf mit einem Schal +verhüllt war. Es sah nicht aus, als ob sie Eile hätte, denn sie ging +mehr für sich hin, verloren und abgekehrt, den Kopf leicht vorgeneigt, +und in ihrem Schritt war sowohl Müdigkeit als auch Verträumtheit +enthalten. Siebengeist folgte ihr mit den Blicken, als ob sich sein +Schatten in Bewegung gesetzt hätte, denn es war schon etwas +Ungewöhnliches, daß zur Schlafenszeit in offener Gasse jemand ging, der +nicht Eile zeigte, schlafen zu gehen. + +Des Doktors Schlüssel kreischte im verrosteten Schloß. Herr Maspero, +Siebengeist beobachtend, gab seine liebenswürdige Nachsicht durch ein +Lächeln kund, einem Veteranen gleich, der beim Anblick der Spielflinte +eines Knaben an die großen Schlachtenkanonen denkt. Dann verabschiedete +er sich in der akademischen Steifheit, die ihm eigen war. Er betrat den +öden Flur seines Hauses, in dessen Hintergrund bei der Treppe eine +nimmermüde Stehuhr ihr schläfriges Ticken seit Jahrzehnten ertönen ließ. +Sechstausend Nächte und mehr noch lief das Werk im stummen +Pflichtgefühl, und wenn es abends zehn Uhr war, kreischte der Schlüssel +im verrosteten Schloß, und der Zwergdoktor sagte irgend einem gute +Nacht, der vor dem Tore stand, riegelte sich ab von der Welt, machte die +alten Dielen durch seine kleinen Füße knarren, hob an der Treppe das +Kerzchen gegen das Zifferblatt, wobei in seinen grauen, unruhigen Augen +etwas Fragendes aufblitzte, das unbehaglich und ängstlich den +Fortschritt der Zeit wahrnahm. Die akademische Steifheit verlor sich, +das leutselige oder sarkastische Lächeln verschwand. Unsichtbare +Schatten der Zukunft schienen in dem stillen Haus emporzuwachsen, vom +Flur bis in die Bodenkammer, und wehe, wenn sie einmal so weit +gelangten, die beiden geschäftigen Zeiger der Doktorsuhr stehen bleiben +zu heißen. So wird den Masperos allmählich die ganze Welt zu einer Uhr: +die Hausmauern, von denen der Kalk abbröckelt; der Nachtwächter, dessen +Stimme zitternder und leiser die Stunden ruft; der Wald, von dessen +Bäumen die Blätter fallen; die Erde, die sich mit Schnee bedeckt; die +Sonne, die hinter Frühjahrsnebeln blutet; ja, sogar die Kinder, denen +der Schuster von Jahr zu Jahr größere Stiefeln machen muß. + +Am nächsten Tag wußten die Sechsundsechzig von komischen Sachen zu +wispern, die sie in der Schule gehört. Von zehn bis elf war +Geschichtsstunde gewesen, ein Fach, das bisher aus einigen Namen und +Zahlen bestanden hatte, mühsam und überflüssig zu lernen. Heute war der +Lehrer, die Hände auf dem Rücken, hin- und hergegangen und hatte +unaufhörlich geredet. Ungerechtigkeit sitze auf dem Thron der Erde. Die +Geschichte sei nichts anderes als die Wissenschaft von der +Ungerechtigkeit. Was ein Edler unternehme, werde hundert Unwürdigen +preisgegeben, und ist es Gott, welcher das Glück eines Einsamen bewacht, +so seien seine Augen matt, seine Sinne erschöpft vom Anblick der +Zerrüttung und des Übels. So sprach der Unbesonnene zu Kindern: Dinge, +die weitab vom Kreis seines Amtes lagen, und sein Mund zitterte unter +dem buschigen, herabhängenden Schnurrbart. Als das Schulzimmer leer war, +setzte er sich vor den Globus, und so traf ihn Doktor Maspero, der beim +Bäcker gewesen war und nun aus freundschaftlicher Besorgtheit auch den +Lehrer besuchte. Philipp Unruhs Blicke waren fest auf einen Punkt in der +Wüste Saharah gerichtet, dann liefen seine Augen meridianaufwärts über +Hellas und den Hellespont, durchsegelten das Schwarze Meer und blieben +stumpfsinnig nach rascher Landwanderung in der Nähe Sibiriens liegen. +»Sie werden sich erkälten bei solchem Klimawechsel,« scherzte der +Doktor. + +Ȇberall da leben Menschen,« erwiderte der Lehrer, mit einem vertieften +Ausdruck emporblickend. »Lauter fremde Menschen.« + +Der Doktor geriet vor dem grabenden Blick Unruhs in Verlegenheit. Er +fragte sich umsonst, was er sagen solle. + +Die Pausestunden verflossen, und die kurze Schulzeit des Nachmittags +verging. Der Lehrer wandelte betrübt zwischen den Bänken umher, und +beruhigte so den ängstlichen Geist der Kinder wieder. Gegen Abend +klopfte es an die Türe von Unruhs eigenem Zimmer und Apollonius +Siebengeist trat ein, warf den Hut irgendwohin und den Mantel nach, rieb +sich am Ofen die Hände wie jemand, der einträgliche Geschäfte gemacht +hat, und achtete kaum auf die erstaunten Mienen des Lehrers. »Eine +gemütliche Stube haben Sie da,« sagte er, sich fröhlich umschauend. »Ich +komme zu Ihnen, weil ich niemand hier weiß, mit dem sichs plaudern läßt. +Die meisten Leute, mit denen man redet, hören gar nicht, sondern +besinnen sich nur auf die Antwort. Heute brauch ich aber partout einen +Zuhörer und ein warmes Öfchen. Aber Schulmeister! Onkelchen! Sie sehen +aus wie der selige Griesgram.« + +»Alle meine Bücher sind mir gestohlen worden,« murmelte der Lehrer +klagend. + +Siebengeist kratzte seinen Kopf und pfiff leise in die Ofennische. Dann +machte er ein pfiffiges Gesicht, das ihm außerordentlich gut stand, trat +dicht vor den Lehrer hin und legte beide Hände auf dessen Schultern. +»Und wenn ich Ihnen nun verspreche, daß Sie Ihren Schatz wiederhaben +sollen?« fragte er lächelnd. + +Philipp Unruh sprang auf. »Sie wissen? Was verlangen Sie dafür?« rief er +mit überraschender Leidenschaftlichkeit. + +Siebengeist lachte und errötete. In seinen Augen war ein so +merkwürdiges, verlorenes Glänzen, daß es wohl jeder bemerkt hätte, der +sich besser auf Menschen verstand als dieser Philipp Bücherwurm. +»Allerdings verlange ich etwas dafür,« sagte Siebengeist, und sein +Lächeln kehrte wieder, das jetzt etwas Durstiges und Gedankenfernes +hatte. »Sie kennen doch den Theaterdirektor, den Herrn, der mit dem +Kleister so königlich hantiert? Sie erinnern sich doch? Gut. Gehen Sie +heute ins Theater. Man gibt die erste Vorstellung. Und wenn das Stück +aus ist, suchen Sie auf irgend eine Weise zu dem majestätischen Herrn zu +kommen, knüpfen ein Gespräch an, indem Sie sich entzückt stellen über +seine Leistung als Graf oder General oder Bettler, was er eben in dem +Stück vorstellt. Der Mann wird butterweich werden, oder ich kenne die +Komödianten nicht. Dann fangen Sie an, von seiner Truppe zu sprechen, +laden ihn vielleicht zu einer Flasche Wein ein und kommen so auf Myra zu +sprechen. Das ist eine von den Schauspielerinnen. Schreiben Sie sich den +Namen auf: Myra. Einen andern hat sie momentan nicht.« + +»Myra,« redete Philipp Unruh nach, nicht begreifend, was er solle. + +Siebengeist schritt erregt auf und ab, legte die Hand auf die Stirn und +fuhr etwas leiser und eintöniger fort. »Wenn der würdevolle Schuft nicht +reden will, so schieben Sie ihm Geld in die Hand. Ich gebe Ihnen, was +Sie brauchen. Fragen Sie also nach Myra. Wie sie lebt, woher sie kommt, +weshalb sie sich beim Theater aufhält, ob sie ... ob sie Liebschaften +hat oder gehabt hat, – nun, jetzt wissen Sie ja genug. Heiliger Himmel!« +Er lachte überstürzt, setzte sich am Ofen nieder und schaute in die +Glut. Dann, als verstünde er das Schweigen des Lehrers, begann er wieder +und redete in das Ofenloch hinein: »Fürchten Sie nicht, daß Sie etwas +Unehrenhaftes tun. Sie retten dabei nur mein irdisches Heil. Ich selbst +kann es nicht übernehmen. Ich kann den Namen dieser Person nicht +aussprechen, ohne etwas zu spüren, – eine innere Feuersbrunst! Und müßte +ich hören, wovor mir schon in Gedanken graut, ich erschlüge den +Kleisterbaron, so wahr ich bin. Die Leute beim Theater reden wasserklar +einer über den andern. Nun, Schulmeister, wollen Sie das unternehmen für +mich? Hier ist das Billett; alles ist vorbereitet.« + +Der Lehrer zauderte, fremdartig berührt durch das Wesen des jungen +Mannes. Die Versprechung mit den Büchern erschien ihm plötzlich +märchenhaft, wie alles, was der Provisor tat und sagte. Aber auch das +erriet Siebengeist mit der sicheren Gabe des von seinen Zwecken ganz +erfüllten Menschen. »Ihre Bücher, meine Hand darauf, sollen Sie wieder +haben!« rief er und fügte mit übertriebenem Pathos hinzu: »Es sind da +infame Ränke im Spiel, die ich zerstören werde.« + +Philipp Unruh reichte dem jungen Mann seine Hand, schüchtern und voller +Zweifel. Siebengeist lächelte freudig und unbefangen und zeigte seine +weißen Zähne. »Ich vertraue Ihnen darum das alles,« sagte er nun wieder +in seiner natürlich gewinnenden Weise. »Sie sind ein Stiller, ein +stiller Freund. Wenn Sie mehr Zutrauen zu sich hätten, könnten Sie +weiter oben stehen in der Welt. Berichten Sie mir nur alles, was Sie da +erfahren, und merken Sie sichs mit dem Herzen. Sie wissen nicht, was für +mich davon abhängt. Beobachten Sie jedes Augenzwinkern, jeden +Gedankenstrich in der Rede. Die Leute sagen vieles ohne Worte. Helfen +Sie mir heute, und ich will Sie als meinen liebsten Freund betrachten.« + +Siebengeist sagte das mit einer Herzlichkeit, die auch kühle Seelen +erwärmt hätte. Der Lehrer hörte verwundert zu und beinahe mechanisch +fragte er: »Warum nur? Warum?« + +Siebengeist setzte sich an den Tisch, drehte ein wenig an dem Docht der +Lampe, lächelte zart und erinnerungsvoll, wobei seine Augen strahlend +und weit wurden. Dann sagte er, als ob er zur Lampe rede: »Da trifft man +irgend einen Wanderer auf der Straße, in der Nacht, im Schnee und gleich +schmieden sich Schicksale zusammen. Und man geht mit dem sonderbaren +Wesen, spricht kaum, erfährt kaum einen Namen, nichts als einen lumpigen +Theaternamen. Myra! Was für eine unverständliche Zusammenstellung von +Buchstaben? Bis gestern noch etwas so unbekanntes wie der eigene +Todestag, heute ein Ereignis, von dem alle Stunden schwer sind. Ich +begreif’ es nicht, was die Leute Erleben nennen. In einem Geheimnis +schlendern wir herum.« + +Voll Teilnahme, Sympathie und aufrichtiger Gesinnung blickte der Lehrer +sein Gegenüber an. Er ahnte, daß ihm etwas wie ein wirklicher Mensch +begegnet sei. + + +Sechstes Kapitel + +Ein Brummbaß, zwei Geigen und eine Klarinette machten eine vortreffliche +Musik vor Beginn des Stückes. Der »große Saal« des fränkischen Hofes, +der eigentlich nur eine geräumige Wirtsstube war, füllte sich mit +Zuschauern. Die Sitze der vorderen Reihen bestanden aus wirklichen +Stühlen, während für die minder vermögenden Leute lange Bretter über +Bierfässer gelegt waren. Alles strömte herbei, was für Kunst und Bildung +eingenommen war. Man sah die Spitzen des »Kasino«, einer preiswürdigen +Vereinigung der eleganten Kreise: die Frau Notar mit ihren Töchtern, die +Frau Oberamtmann, die Frau Steuerrat, die Frau Expeditor, die Frau +Apotheker, die Frau Major, die Frau Schulrat. Sodann zeigten sich die +weniger ausgezeichneten Damen, die jüdischen Kaufmannsfrauen, die +Handwerkerfrauen, welche aus Ehrfurcht vor jenen Titularherrlichkeiten +nur zu flüstern wagten. Nicht so gebieterisch nahm sich die vornehme +Männerwelt aus, aber man weiß, daß die stumme Würde keineswegs die +geringere bedeutet. Es war eine Luft von Frohsinn und heiterer +Erwartung, denn so versammelt das Theater stets die gutgestimmten +Elemente, aller Nebeninteressen entledigt, um im entzückenden Spiel, +nicht nur vor den Augen der eleganten Kreise, die Macht der Kunst zu +erproben. Alles ist da einer edleren Erhebung geweiht. Niemand stellt +sich ein, etwa nur um einen Schauspieler zu bewundern, oder um eine +kostbare Robe sehen zu lassen, oder einen mißliebigen Verfasser um den +verdienten Erfolg zu bringen. + +Der Vorhang erhob sich, und mit feierlichem Schritt erschien der +Direktor, um den dichterischen Prolog des Barons von sich zu geben. Der +Vortrag des Poems war nicht ohne Geschmack. Der Redner schrie oder +brüllte nur, wenn es kaum zu umgehen war. Bei der Stelle: Wahrheit und +Natur sind eins! streckte er beide Arme von sich, wie um ein Gespenst +abzuwehren, und machte eine Generalpause, – eine verblüffende und gut +gewählte Einzelheit. Als der Prolog zu Ende war, bekam die erste Geige +ein ergreifendes Solo zu spielen. Der Baron saß mit tiefsinnigem und +beglücktem Gesicht in der ersten Reihe, und einige Honoratioren kamen, +ihm gerührt und mit Achtung die Hand zu schütteln. Seine Frau aber war +in weicher Hingebung an seine Schulter gelehnt und blickte schmachtend +ins Leere. Im Grund konnte sie nur schlecht ihre Verstimmung und ihren +Ärger verhüllen, denn nicht der Provisor saß zu ihrer Linken, wie es +verabredet war, sondern Philipp Unruh. Der wagte weder um sich noch +neben sich zu blicken, ihn schüchterte der vornehme Platz ein, und er +war froh, als der Vorhang für »Melchior oder die Leiden des Alters« +aufging und eine atemlose Stille im Publikum eintrat. Nur die Baronin +hörte er bisweilen vor sich hinseufzen. + +Es kam da ein alter und ein junger Mann vor. Der alte Mann hieß Melchior +und war der Vater, der junge hieß Balthasar und war der Sohn. Der Sohn +war ein verwerfliches Subjekt, denn er wollte Soldat werden, während der +Alte wünschte, daß er sich zur Theologie wende. Die Verwerflichkeit +dieses Sohnes ging so weit, daß er sich in ein armes Mädchen verliebte, +und als die betrübende Tatsache nicht länger zu verheimlichen war, +erschien das Mädchen selbst vor dem bitterbösen aber rechtschaffenen +Melchior, welcher vom Direktor mit dem Gefühl eines gekränkten +Patriarchen gespielt wurde. Die Person, welche die Rolle der armen +Liebenden spielte, hatte zuerst nur wenige Worte zu sprechen; und sie +sprach nicht, sondern flüsterte nur hastig und erschreckt, mit +Seitenblicken auf die Zuhörer. Man hatte sie jämmerlich kostümiert: eine +Mischung von Empiredame und Fabriksmädchen; aber in ihren Bewegungen +verleugnete sich jedes Kostüm, war etwas, das anstatt aller Worte +redete, und nicht aus der Rolle, sondern aus dem Wesen. Dies ist +sicherlich Myra, dachte sich der Lehrer, und was ihn in Erstaunen und +Verwirrung setzte, war Myras schöner Mund. Ihn dünkte, daß er einen +ähnlichen Mund nie gesehen habe. Er sah Trauer und Anmut darin, Güte und +Verschwiegenheit, Sehnsucht und frühen Tod. Es waren so jähe und starke +Empfindungen, daß er dabei nicht auf sich selbst und seine Gedanken +achtete, sondern sich nur einer Folge von seltsamen Einflüsterungen +übergab. Myra verließ den Schauplatz und es wurde still auf der Bühne, +obwohl noch immer Leute hin- und hergingen und sich erhitzten. Myra kam +wieder, und die Luft schien von Wohlgeruch, ja von einem weithertönenden +Gesang erfüllt. Die Lippen des schönen Mundes hoben sich und senkten +sich in einer sanften, geheimnisvollen Bewegung, wie wenn der Nachtwind +über zwei Rosenblätter huscht, die auf einen Marmorstein verweht sind. +Und abgesehen von aller Schwermut war damit eine Art unsichtbarer, +tiefer Heiterkeit verbunden, welche vielen Frauen das Seherische und +zugleich das Vertrauenswürdige verleiht. Philipp Unruh saß vorgebückt +da, hatte seine Hände flach zusammengedrückt und zwischen die Knie +geschoben und fürchtete, daß jeder ihn beobachten müsse, und daß es um +den Ruf seiner Vernunft geschehen sei. Auch diese Empfindung war ihm +unklar. Sein ganzes Wesen geriet in eine Verworrenheit, welche +Traumgefühle in ihm erzeugte. Myras Stimme wurde lauter und klarer, aber +wenn sie sprach, blieben ihre Züge unbeweglich. Als Schauspielerin +mußte sie das Mitleid eines Kenners wie Doktor Maspero erregen, und als +die Sache unter großen Bemühungen bis zum Vaterfluch jenes +ungewöhnlichen Melchior gediehen war, schrieb der erwähnte kritische +Herr bedenkliche Notizen auf ein Rezeptpapier. Einige Leute, die es +sahen, nickten respektvoll einander zu, denn der Geist der Verneinung +ist an jedem Platze hochgeachtet. Melchior begann eben nebst +verschiedenen anderen Dingen auch sich selbst zu verfluchen, als sich +unter den Damen im Zuschauerraum eine wachsende Panik bemerkbar machte. +Eine Ratte lief im Saal umher, verbreitete einen Schrecken, gegen den +alle Wirkungen des zehnaktigen Lebensbildes verblaßten. Stets ist es die +gemeinsame Gefahr, welches die Standesunterschiede verschwinden läßt. +Bleich und zitternd erhoben sich die Frauen, und das Podium für das +Schauspiel hatte plötzlich die Bedeutung einer Insel im Ozean. Melchior +hörte auf, Melchior zu sein und machte für die Flüchtlinge, die nicht +bis zur Saaltür hatten gelangen können, die Honneurs. Unten im Ozean +waren nur noch Männer ernst und pflichtbewußt damit beschäftigt, das +Untier aufzuspüren und zu töten. Auch Philipp Unruh hatte sich erhoben, +verließ mechanisch den Raum und stand bald in dem verödeten Wirtsgarten +draußen. Es wehten milde Lüfte, und der Schnee war weich geworden. +Überall waren sickernde Geräusche vernehmbar; von den Bäumen und von den +Rinnen tropfte das Tauwasser. Vor dem Tor eines Schuppens hockten zwei +Katzen eng aneinander geschmiegt, und sie rührten sich nicht, sondern +blickten stumpfsinnig in die flimmernden Lichter vom nahen Bahnhof. Nun +war weiterhin ein ganz finsterer Winkel, denn der Schuppen grenzte an +die Kegelbahn, und die beiden Mauern bildeten eine tiefe Ecke. + +Vor der Holztüre des Schuppens stand ein kleiner Handwagen und daneben +eine Bank, auf welche sich der Lehrer setzte, Stille vor sich, Stille +hinter sich, aber im Innern mancherlei Stimmen und Laute. Und als er so +in einem Zustand fremdartigen Lauschens dasaß, knirschte der Schnee +unter langsamen, näherkommenden Tritten. Eine Mädchengestalt tauchte +auf, die den Kopf gesenkt trug und am Eck des Schuppens wie ermüdet +stehen blieb. Als fürchte sie, gehört zu werden, setzte sie ihren Weg +mit kaum vernehmlichem Auftreten fort bis zu dem Handwagen, auf dessen +Deichsel sie sich setzte, die Ellbogen auf das Wagenbrett stützend. Das +alles verfolgte Philipp Unruh genau, da seine Augen sich längst an das +Dunkel gewöhnt hatten. Aber in einem unbewußten Drang von Scham und +Furcht wandte er seine Augen ab, und in demselben Moment hörte er ein +Schluchzen, dessen Unaufhaltsamkeit offenbar nur durch fest +zusammengepreßte Lippen gemildert wurde. Den Lehrer begann es am ganzen +Körper zu frieren, und sein Blick umschleierte sich. Er dachte nichts +als den märchenhaften Namen Myra und sah nichts als einen Mund, der sich +krampfhaft im Schmerz verschloß. Hatte sie nicht einmal vier Wände, um +sich ausweinen zu können? daß ein dumpfer, kalter Schuppenwinkel im Hof +dazu dienen mußte? Doch wagte er sich nicht zu rühren. Gequält und +bedrückt ging er mit sich zu Rate, als wisse er den Grund und wäre +fähig, Hilfsmittel zu finden. + +Eine dröhnende Stimme rief: »Myra!« Die Weinende verstummte, erhob sich +und ging gegen das Haus. Philipp Unruh wartete lange, denn er wollte +nicht, daß ihn jetzt jemand aus diesem Winkel gehen sehe. Ihn wunderte +die Ruhe der Natur. Himmel und Erde schienen ihm noch erfüllt vom +Widerhall jenes Weinens. Er stand auf und setzte sich auf die Deichsel +des Handwägelchens, das unter seiner Last ächzte. Ihn erstaunte es, daß +er nun in demselben engbegrenzten Raume war, in dem Minuten vorher Myras +Herz geschlagen. Als ob er sich eines Amtes unwürdig fühle, erhob er +sich wieder, und seine Gedanken richteten sich unvermittelt auf seine +äußere Erscheinung, auf seine wenig einnehmenden Züge, auf seinen +zerzausten, rötlichen, herabhängenden Schnurrbart. Ungeduldig verließ er +die Finsternis und eilte dem Haus zu. Wie groß war aber sein Schrecken, +sein feiger Schrecken, als er Myra noch auf der Schwelle stehen sah und +hinausstarren in die Nacht. Er erkannte im Schein des unbestimmten +Lichts, das aus dem Flur fiel, wie ihr Gesicht sich jäh belebte, als sie +ihn aus dem Grunde des Hofes kommen sah. Doch blieb er nicht stehen und +befand sich bald vor ihr, die sich an den Pfosten lehnte, um ihn vorbei +zu lassen. Er spürte ihren fragenden, unwilligen Blick und sah sie +verstört von der Seite an. Eine Gewalt von innen hinderte ihn, weiter zu +gehen, und er murmelte, indem er sich bemühte, einen teilnehmenden Ton +zu wählen: »Ich habe gehört. Aber zürnen Sie nicht deshalb.« Gott weiß, +weshalb ihm das alles abenteuerlich und entlegen vorkam und er an seine +Bücher dachte, wie an rettende Freunde. + +Myra erwiderte nichts. Sie nickte nur leicht mit dem Kopf. + +»Kann da niemand helfen?« fragte Philipp Unruh in kindischer +Unbeholfenheit, und als er das geringschätzige Zucken ihres Mundes +bemerkte, sagte er stotternd: »Ich denke, man hat die Ratte da drinnen +schon erwischt.« + +Das junge Mädchen sah den sonderbaren Kauz mit Überraschung an, lächelte +und erwiderte: »Ja, das ganze Nest ist leer.« Damit entfernte sie sich. + +Unentschieden, welcher Umstand nun den Lehrer mit solchem Glücksgefühl +beschenkte. Vielleicht war es nur das Lächeln, das mit eines Gedankens +Schnelligkeit über Myras nachdenkliches und erschöpftes Gesicht geflogen +war. Vielleicht, daß er das Lächeln einkassierte wie den Gewinst aus +einer Lotterie, und daß dabei etwas in ihm lebendig wurde, wie in jenen +Vernachlässigten, die sich plötzlich auffallend vom Glück begünstigt +sehen. Es kam ihm vor, als ob er in einer gesegneten Zeit lebe und in +einer angenehmen Stadt. Er trank am Gassenschank durstig ein Glas Bier; +darauf ward ihm mutig zu Sinn, und unternehmenden Schritts betrat er die +schon verödeten Straßen. Wer schrie da schon wieder beim Haus des +Hufschmieds und schwenkte grüßend den Hut, um dann schweigend wie vorher +seinen Weg fortzusetzen? Es war der Herr Adjutant, dessen fabelhafte +militärische Würde nur durch seine tiefeinsame Lebensweise +Glaubhaftigkeit behielt. Philipp Unruh blieb stehen und schaute ihm +nach. Ein Mann, hatte er sich sagen lassen, der sein Vermögen im Spiel +verloren und Weib und Kind in Armut, dem Tod geweiht, verlassen hatte, +der Goldgräber gewesen war und die neugewonnenen Schätze bei einem +Schiffbruch eingebüßt hatte. Und derselbe Mann lief hier umher, begrüßte +lärmend in der Nacht die Leute, sprach laut und eindringlich mit sich +selber, ein Rätsel für alle und für Philipp Unruh mit einem Mal eine +Kundgebung reichsten Lebens, wertvoller als eine ganze Bibliothek. Man +konnte hingehen und ihn fragen, und er konnte erzählen mit Lachen und +mit Weinen; in Büchern aber erzählte nur der Tod in einer bunten Maske. +Der Nachtwächter trottete vorbei, ließ sein Pfeifchen schrillen und +leierte seinen Singsang ab: daß man Feuer und Licht bewahren solle. Das +schläfrige Gesicht glänzte über der Laterne, und er grinste trunken in +den Schnee. Dann kamen hoch vom alten Turm die langsamen, dröhnenden +Stundenschläge, um weit hinauszuschallen in das Tal der Altmühl, in den +Wald und in die nahen Dörfer, ein Signal der Ruhe für Weib und Mann, für +die Flucher und die Betenden, die Lacher und die Schluchzenden, für den +Adjutanten und für Myra. Es war nicht zu leugnen, daß im Schlaf die Zeit +dahingeflossen war, während ungesehen und dem Schläfer greifbar nah das +Lebendige sich abspielte in Feierlichkeit und in Humor. + + +Siebentes Kapitel + +Vor dem Schulhaus lauerte Apollonius Siebengeist dem Lehrer auf, und +unbeschreiblich war sein Zorn, als Philipp Unruh sein Versäumnis +eingestand. Er schrie, daß man ihn betrogen und verraten habe. Er sagte +Schulmeisterlein, und das in einem Ton, der beleidigend wirkte. +Schließlich aber umarmte er den Geschmähten und sagte, daß er ihm danke, +denn er liebe seine Zweifel mehr als jene Gewißheit, vor der ihm bangte. +Doch wurde sein Wissensdurst noch in der selben Nacht gelöscht. Er +suchte die Wirtschaft zum lustigen Pfeifer auf, wo als letzter Gast ein +abenteuerlich aussehender Jüngling am Ofen saß. Es war der Komiker des +Theaters, wie sich aus einem rasch begonnenen Gespräch ergab. Wie alle +Komiker von Beruf war auch dieser nichts weniger als komisch, sondern +litt an einer bösartigen Dürre des Witzes, die ihm ein gramvolles und +verruchtes Aussehen gab. Siebengeist ließ eine ansehnliche Schar von +Flaschen aufmarschieren, denn bis zur Polizeistunde war es noch weit. +Der Jüngling erzählte bald von Myra, und es zeigte sich, daß seine +Sprache einen Klang ins Böhmische hatte, welcher nicht so sehr die +Verständlichkeit als musikalische Wirkungen förderte. + +Wiederum stand der Mond in klarer Höhe, als Siebengeist heimwärts +kehrte, aber nicht mehr als »sein Feind«. Es herrschte in den Gassen +eine Stille, für deren Süßigkeit und Lockung es nicht Worte noch +Gedanken gab. Was da zwischen den Häusern zog und ruhte, war wie +blaugrünes, zartes Gespinst, Mondrauch; der Schnee glänzte kalt wie +weißer Atlas. Eine Nacht für Myra; wenn sie auch litt, er wußte doch +wofür und Wahrheit mußte es sei. Trübe Dinge, die ein Komiker erzählt, +sind wahr. Sie hatte kein Wanderleben geführt. Die Mutter hatte als +Witwe in einer kleinen thüringischen Stadt gelebt, wohin Schmalichs +Wandertruppe kam. Lebenslustig und unzufrieden, durch Romanlektüre +verdorben und unerfahren, hatte sich die noch junge Frau dem jungen +Liebhaber der Schmiere an den Hals geworfen, wollte mit ihm ziehen, der +»Kunst« ein Opfer bringen. Und Myra folgte von Ort zu Ort und wurde erst +stutzig, als die Mutter im Theater mitzuspielen begann; von da an mußte +sie in Wirrheit und Fährlichkeit gerissen worden sein. Der Mutter +schwärmerisch zugetan, merkte sie nicht deren wachsende Kälte, spürte +zuletzt nicht ihren Haß. Myras Mutter, so sagte der Komiker, war +eifersüchtig auf die Tochter, und diese Eifersucht durchtränkte ihre +Handlungen bis in den feindseligen Ton eines bloßen Grußes. Myra wußte +nicht, wie ihr geschah. Ahnungslos wie bisher folgte sie an der Seite +ihrer Mutter dem Wanderleben der Komödianten. Und in Bamberg war sie +eines Tages allein, lag sie verlassen in einem armseligen Gasthof und +las die dürftigen Abschiedsworte der Mutter. Man erinnerte sich bei der +Truppe, sie ohnmächtig im Zimmer des Direktors gesehen zu haben. Sie +hatte nicht Geld noch Kleider noch Freunde, nichts, als was sie sich +selbst sein konnte. Man erinnerte sich des Tags, an dem sie zum +erstenmal im Schauspiel aufgetreten war, ein Gegenstand des Hohns für +die genialen Kollegen trotz der stummen Rolle. Aber Herrn Schmalichs +Ansicht war, daß ein reisendes Theater hübsche Frauenzimmer brauche, und +daß man auch das leidendste Gesicht in ein lustiges umschminken könne. +Man hatte Myra niemals anders gesehen, als sie heute war, und heute +schon war es, als trüge sie das Bild kommenden Unheils im Herzen. +Solchen Augen kann kein Gewordensein die Furcht vor dem Werdenden +nehmen. Zwischen Lügen, Schmutz, falscher Heiterkeit und wirklicher +Armut lebte sie vielleicht gleichmütig, vielleicht abwartend hin, und +Siebengeist sah sich schon als den, welcher erwartet wurde. Zu früh +erschien ihm ein Geheimnis gelüftet, das ihm beim Wein offenbart worden. +Zu früh nahm er das Geschehene als vergangen, ließ er seiner Hoffnung +freien Lauf. Und zwischen ihm und dem andern Einsamen im Schulhaus spann +die Nacht die gleichen Fäden der gleichen Gefühle und trieb irgendwo das +Verhängnis aus einem abgelegenen Grunde hervor, daß es weiter weben +möge, was sie spielerisch begonnen. + +Zu Philipp Unruh kam am Morgen der Schulrat. Es handelte sich um eine +gewichtige Beschuldigung. Die seltsamen Reden aus der Geschichtsstunde +waren beunruhigend zu den Ohren der Schulbehörde gedrungen. Der Herr +Schulrat hatte ein Bläschen auf der Nase und außerdem ein Horn auf der +Stirn, da er sich im Traum am Bettpfosten verwundet hatte. Beide +Verunzierungen jedoch gaben seinem Gesicht einen erhöhten Ausdruck der +Amtsgewalt, als könne einzig ein Schulrat darüber entscheiden, ob +Ungerechtigkeit auf dem Thron der Welt residiere. Der Lehrer war +erstaunt. Er wußte sich seiner Worte kaum zu erinnern, und als er +vernahm, was er selber gesagt, fand er es so widersinnig und +abgeschmackt, daß er beredter und liebenswürdiger als je den Mann mit +Bläschen und Horn vollständig beruhigte. Seiner Leidenschaft für Bücher +entsann er sich wie der sonderbaren Torheit eines andern; der Verlust +der Kiste kam einem gewöhnlichen Unfall gleich. Die Leute, die ihm +begegneten, hatten andere Gesichter, andere Bewegungen, andere Worte als +sonst. Die Kinder im Schulzimmer waren nicht mehr so sehr Gegenstände, +an denen der Stundenplan erledigt werden mußte. Ihre Augen waren +belebt, ihr Ungehorsam schien liebenswürdiger, ihre Unwissenheit +begreiflich, ihre Ungeduld gegen das Stillesitzen des Nachdenkens wert. + +Als er mittags an der Apotheke vorbeiging, sah er drinnen Siebengeist +allein, und er trat ein. Der Provisor war mit leidenschaftlichen +Gebärden beschäftigt, in einer kolbenartigen Schüssel eine dicke, +weißliche Masse zu zerreiben. Philipp Unruh setzte sich auf die +geschnitzte Bank und entschuldigte sein Betragen vom gestrigen Abend. +Der Provisor lachte, schalt ihn einen kreuzverkehrten Bruder, machte die +lustigsten Grimassen, während er aus Leibeskräften zu reiben fortfuhr. +Plötzlich verdüsterte sich sein Wesen, und er erzählte andeutend und +abgerissen einiges von dem, was er über Myra erfahren hatte. Es schien, +als verlangte ihn selbst nach Rat und Klarheit, doch der Lehrer konnte +nicht Einblick gewinnen in das Wirrsal der Erzählung. Er schwieg +beharrlich, wünschte, nichts gehört zu haben, und Siebengeist fing +wieder an, gesichterschneidend seine Salbe zu reiben. Plötzlich beugte +er sich zu Unruh herab, flüsterte, den Mund nahe dessen Ohr und den Arm +gegen eine Tür im dunkelsten Hintergrund ausstreckend. »Es steht eine +dort auf der Schwelle und lauscht. Bin ich jemand verschuldet, der mir +die Taschen mit Geschenken vollstopft? Ich nahm von jeder Dirne im Haus, +wie es die Nacht gewollt. Darf man sich darum an meine Schuhe klammern +und meine Kraft verringern, das zu erobern, woran mein Leben hängt? +Wohlgemerkt, nicht jedes Spänchen Holz macht eine warme Stube!« Er hatte +den Lehrer unter den Arm gefaßt und den Verschüchterten scheinbar +absichtslos in die Ecke geführt. Nun riß er die Türe auf und sagte die +letzten Worte laut, fast schreiend. Vor den beiden stand die Baronin, +zitternd, linnenweiß im Gesicht und blickte gemartert den Flurgang +hinab gegen die Straße. Siebengeist lachte und schlug die Türe wieder +zu. + +Es kam nun so viel Schwüles, Überraschendes und Neues, daß die Zeit +gewissermaßen ihre Abgemessenheit verlor. Ein Umhertaumeln zwischen +Wissen und Erraten, zwischen Angst und Mut, zwischen Fülle und +Entbehrung, ein Atmen in zitternder Luft, Reden ohne Besinnung, Träumen +ohne Schlaf, Bilder, die vom Sturm vorbeigejagt und manche doch +dauernder als Stein. + +Philipp Unruh saß in der kleinen Schankstube des fränkischen Hofs. Es +war wieder kalt geworden, und die Scheiben zeigten Eisfiguren, trotzdem +die Sonne vom blauen Himmel schien. Der Wirt und ein Viehhändler aus +Nördlingen saßen kartenspielend beim eisernen Öfchen. Aber das Geknister +des lustigen Feuers wurde bald übertönt von zornigen und heiseren +Männerstimmen aus dem Theatersaal. Es ist eine Schauspielprobe, dachte +der Lehrer, jedoch trat alsbald der Bonvivant aus dem Theater in die +Schankstube, verlangte grimmig einen Krug Bier und erzählte grimmig in +demselben Atem, daß die sentimentale Liebhaberin sich weigere, dem +Kritiker ihren Verehrungsbesuch abzustatten. Dergleichen sei noch nicht +dagewesen, so lange man Komödie spiele zwischen Himmel und Erde, und sei +um so abscheulicher, als der Doktor Maspero ein charmanter Herr sei, +welcher vortrefflichen Schnaps vorzusetzen wisse. Der Wirt hieb mit +Geräusch die Trumpf-Aß auf den Tisch; der Viehhändler schielte den +Schauspieler bösartig an. Im Saale war es still geworden, und auf einmal +kam Myra heraus. Philipp Unruh schaute sie eine Sekunde lang mit +blinzelnden Augen an, sah dann feig in eine Ecke, und es schien ihm, als +sänken seine Schultern schwer gegen den Tisch. Das Mädchen hatte +purpurrote Wangen, doch ihre Stirne war bleich, ihr Blick leer, +unsicher, stechend, ihr Rücken ein wenig gekrümmt. Sie ging, als suche +sie einen Ausgang, und blieb dann stehen wie in eine Falle geraten. Herr +Schmalich kam hinter ihr her, und auf seinen Mienen drückte sich +Verlegenheit aus. Sie wandte sich gegen den Direktor und sagte leisen +Tones und mit erschreckender Schnelligkeit eine Reihe von Worten, welche +niemand verstehen konnte. Ihre Stimme wurde immer lauter, doch die Worte +verloren alle Artikulation. Aus dem Theaterraum kamen zwei dicke +Schauspielerinnen und der Heldenvater und spendeten lachend Beifall, +während der Wirt und sein Kartenkumpan aufgeregt näher traten. Jetzt +begann Myra selbst zu lachen, und zwar so, daß der Lehrer wie Einhalt +gebietend seine bebenden Arme gegen sie ausstreckte. Da stürzte sie auf +den Boden, und Schaum quoll von ihren Lippen. Alle waren stumm und blaß +geworden und rührten sich nicht. Philipp Unruh, der sich selbst und jede +Scheu vergaß, stürzte herzu, kniete auf den Boden, legte den Arm unter +ihren Hals, murmelte verstört vor sich hin und beugte suchend sein +Gesicht gegen das ihre. + +Er konnte es niemals vergessen. Niemals die halbgeschlossenen und +halberloschenen Augen, ob haßerfüllt, ob dankbar, er wußte es nicht. Er +konnte die nahe Wärme ihres Körpers nicht vergessen, das verwirrte +schwarze Haar, das seine Schläfen streifte. Er empfand immerfort den +Druck ihres Nackens auf seinem Arm, den Hauch ihres Mundes neben seiner +Hand. Als er zitternd in der Schankstube kniete, voll Furcht, daß man +sie ihm raube, wollte er an kein Weiterleben denken, welches sich nur +die Erinnerung zum Besitz machen konnte. + +Andere Dinge kamen. Ihr Name erfüllte die Luft bei allem, was geschah. +Der Apotheker schickte in mysteriöser Weise herüber, um Unruh holen zu +lassen. Als der Lehrer kam, schritt der blasse Baron in bedeutsamer +Gangart im Zimmer auf und ab, erklärte ganz ohne weiteres, daß der +künstlerische Geist im Ort gehoben werden müsse, daß er als Gemeinderat +bereits in solchem Sinn vorgegangen sei und eine gewisse Summe zur +Verfügung gestellt habe, um das treffliche Institut des Herrn Schmalich +für die Dauer des Winters zu subventionieren. Ja, dann käme ein neuer +Wind, ja, dann käme ein edles Feuer unter die lauen Gemüter. Er selbst +habe ein Theaterstück verfertigt; er wolle weiter nichts verraten, aber +es suche seinesgleichen. Darauf schob er an beiden Türen die Riegel vor, +lud seinen Gast ein, vor dem prachtvoll mit Wein und kalten Speisen +gedeckten Tisch Platz zu nehmen, rückte die Lampe zurecht und schlug +eine sehr dicke Handschrift auf. Dieses Drama aller Dramen beschäftigte +sich ausschließlich mit einer neuen und respektablen Idee, wie man die +Wälder vor gänzlicher Ausrottung schützen könne. Aber von alledem hörte +der Lehrer nur das eine, daß er nicht zu fürchten brauche, Myra heute +oder morgen entschwinden zu sehen, und er liebte dieses stundenlange +Trauerspiel, von welchem seine Hoffnungen sich lösten gleich farbigen +Abendwolken aus trübem Moor. + +Tag und Nacht, Dunkelheit und Sonnenlicht wechselten nach anderen +Gesetzen als bisher, wie wenn der Wille, dem der Weltkreis untertan, +neue Erscheinungsformen erdacht hätte. Es waren sonderbare Empfindungen, +die Philipp Unruhs Herz bestürmten, als er, beim Biere sitzend, in +demselben Raum wie wenige Stunden vorher, Myra sich gegenüber sah. Drei +Schauspieler befanden sich bei ihr am Tisch, und sie lächelte wie +jemand, der alles mit Entschlossenheit abgeworfen hat, was ihn +belästigte. Doch war das Lächeln fremd und unerklärbar durch seine +Dauer und verursachte, daß man das eigentliche Gesicht nur wie durch +eine unendlich dünne Maske erkennen konnte. Die Wangen waren noch ebenso +rot, die Stirn noch ebenso bleich, der Hals noch ebenso vorgestreckt, so +daß der Rücken gekrümmt erschien. Die verkniffenen Augen blickten +mißtrauisch, listig, ziellos, bis plötzlich eine Art Schrecken in sie +geriet, der sie aufriß. Sie sah den Lehrer nicht, sah überhaupt nichts. +Später lachte sie über alles, was der Komiker sagte, und darnach +erhielten ihre Züge einen halb unwilligen, halb trostlosen Ausdruck. + +Die Mutter Myras und der Galan kamen zurück. Sie hatten offenbar in der +Welt mehr Hunger als Vergnügen gefunden. Die ehedem wohlhabende Witwe +hatte schon alles verschleudert, was sie besessen. Mit der einen Hand +hatte sie Liebe gegeben, mit der andern Geld; dementsprechend war die +eine beschmutzt, die andere leer. Zwischen Trübsinn und überreizter +Laune verzehrte sich ihr Gemüt, und viele Stunden lang konnte sie damit +zubringen, sich zu schminken, zu putzen, zu verjüngen. Am ersten Tag +schon war es so, saß sie bis in den Nachmittag vor dem Spiegel, rechts +und links je zwei Kerzen, denn draußen war dicker Nebel. Dann kam der +Schauspieler, und Myra mußte gehen. Sie erhob sich vom Kaffeetisch und +ließ die volle Tasse unberührt. Der schlanke junge Mann, dessen Gesicht +etwas von einem Cäsaren und etwas von einem Schäferhund hatte, sah ihr +nach; er wußte genau, was sie bei ihm zurückließ, und sie, förmlich +verwundet von seinem Blick, ging die Gasse hinauf und traf Siebengeist +unter dem Turmbogen. Sie atmete schwer, hörte kaum die Worte ihres +Begleiters und bat, er möchte sie in den Wald führen. Sie wanderten also +gegen den Burgstall hinauf (so heißt der Wald), und es war, als +schritten sie durch feuchten, bleiernen, grauen Rauch, so dick und +lastend lag der Nebel. Siebengeist verstummte bald. Zufällig kam Philipp +Unruh von den Holzschuppen herüber und stand mit einem Mal vor dem +schweigenden Paar. Ihm war, als habe ihn ein Schuß getroffen, und es +rieselte ihm kalt durch Mark und Bein. Jählings deckten sich ihm +geheimnisvolle Beziehungen auf, die bisher gleichsam hinter Häusermauern +verborgen waren, und ein allgemeiner, aber stürmischer Menschenhaß +erwachte in seiner Seele. Doch wie es ihm aus Visionen vertraut war, +ging ihm Myra einen Schritt entgegen. Sie stand so nahe bei ihm, daß er +ein Schneeflöckchen auf ihren Wimpern gewahren konnte, welches langsam +zerschmolz. Schüchtern und freundlich sagte sie: »Sie sind gut gegen +mich gewesen, ich weiß es, ich danke Ihnen. Gehen Sie doch ein wenig mit +uns.« Er schaute zu Boden und lachte lautlos, stotterte zwei, drei +Worte. Dann schaute er vor allem den kindlich schönen Mund an, der dies +gesprochen, und ein unbezähmbarer Wunsch erwachte in ihm, der um sich +griff wie Feuer im dürren Buschwerk. Er wünschte, jenen Mund küssen zu +dürfen, nichts weiter; aber das versetzte sein Wesen in einen Taumel, +der ebenso nahe der Verzweiflung wie der Erfüllung war. Mehr als ein +Traum und eine äußerliche Begierde; mehr als das bloße Aufwachen zu +einem Wertbewußtsein; mehr als die Hoffnung auf ein mittelmäßiges Glück. +Es war der elementare Schmerz und Rausch des dumpfen Menschen, der mit +Raubtierkraft an Gittern rüttelt, deren Vorhandensein er nicht begreifen +will. + +Myra hatte plötzlich das Verlangen, Schneeball zu werfen. Alle drei +nahmen auf einem freien Stück Feld vor dem Wald Aufstellung. Das junge +Mädchen war fröhlich bei der Sache, und der Lehrer sog ihr Wesen in sich +auf wie Lebensnahrung. Er sprach nicht, weder bei dem Spiel, noch bei +dem Waldgang später. Eine innige, überzeugende Gestalt wandelte an +seiner Seite. Er hörte ihre gepreßten Worte, die sie aus allen Winkeln +des Raums zusammenzusuchen schien, und die sie unsicher sprach mit +milder Stimme und bittender Gebärde. Er sah, wie sie schüchtern Fragen +stellte und schüchtern lächelte, wie sie über nichts in der Welt +genügende Klarheit erhielt und jeden anstaunte, der mit Sicherheit eine +Behauptung aufzustellen wußte; wie vieles ihr gefiel und wie viel sie +besitzen mochte und wie sie zugleich darüber unruhig war und die Fülle +ihres Wünschens als Vergehungen empfand; wie sie mit Sympathie umgeben +war wie der Erdball mit Luft und wie sie gleichwohl fürchtete, von +jedermann gehaßt zu sein: ein Wesen aus Fleisch und Blut, eine von +denen, die für das Glück geschaffen scheinen. + + +Achtes Kapitel + +Siebengeist war ein großmütiger Lustigmacher, der sich selbst vergessen +konnte, um Myra zu erheitern. Wenn er anfing, zu plaudern und Gesichter +zu schneiden, blieb sie nicht ernst. Was trieb er doch nicht alles! In +derselben Stunde war er Fabulist und Taschenspieler, Schlangenmensch und +komischer Musikant, sprang über die Tische und parodierte die +Schauspieler, formte Damen aus Schnee und dichtete närrische Sonette +über seine Laufbahn als Apotheker. Myra hatte viel Freude an ihm. Sie +schenkte ihm einen schmalen Reif mit einem winzigen Rubin, und dafür gab +ihr Siebengeist ein goldenes Herz, welches die Inschrift trug: /vers Dieu +va./ Philipp Unruh fühlte sich als Zaungast und suchte Einsamkeit. +Unsichtbar ging Myra an seiner Seite bei den weiten Spaziergängen, +unsichtbar ging sie in seinem Haus umher. Unhörbare Reden wechselte sie +mit ihm, schenkte ihm Vertrauen, billigte seine Entschlüsse. So +erhielten sein Sehen und Denken, seine Gebärden und Worte eine +verzweifelte und verschwiegene Glut. Auf allen Wegen, an allen Mauern +stand ihr Name, und wurde er wirklich genannt, so erschrak der Lehrer +wie ein Verbrecher, der unerkannt die Früchte seiner Tat genießt. So vor +Doktor Maspero, der beim nächtlichen Heimgang von Myra sprach. + +Der Provisor sei ein Narr, meinte dieser gescheite Mann, und alle Welt +habe recht, ihn zu verdammen wegen seiner Narrheit. Was für eine +Bedeutung habe dies törichte Scharmuzieren? Ein bettelarmes Persönchen, +das weder hübsch noch klug sei und zweifellos einen wahnsinnigen Zug in +den Augen trage. Niemand wisse, was sie dabei wolle. + +»Ein altes Wort lautet: was ein Weib will, das will Gott,« murmelte der +Lehrer. + +»So? Eine jammervolle Sentenz, Schulmeister! Ich glaube, Ihnen sitzen +Gespenster im Magen. Sei’s drum! Ich gönne jedem sein Plätzchen an der +Sonne. Gute Nacht.« + +Der Lehrer fühlte sich verlassen. Er blickte spähend durch die fallenden +Schneeflocken, als erwarte er einen Freund, mit dem er die Nacht +verbringen könnte. In der Tat tauchte eine schwarze, hagere Gestalt aus +der Finsternis auf. Es war der Herr Adjutant. Beim Anblick des Lehrers +packte er sofort begeistert seinen Hut, schwenkte ihn gegen das +Firmament und schrie den Abendgruß, als ob er seinem Landesfürsten +zujauchzte. Gleich darauf ging er wieder stelzengerade und lautlos +seines Weges weiter, und sein gravitätischer Schritt machte den Schnee +klirren. Philipp Unruh empfand auf einmal eine wunderliche Sympathie für +diesen Mann, der seine einsame Wohnung nur mit einem zärtlich geliebten +Affen teilte, dem er den aparten Namen Kümmerlich gegeben hatte. + +Neben der Post befand sich ein uraltes Gebäude, in welchem Myra mit +ihrer Mutter wohnte. Die zwei Fenster waren erleuchtet und durch gelbe +Rollvorhänge verdeckt. Der Lehrer stand im Schnee auf der andern Seite +der Gasse und lehnte sich an die Türe des Kürschnerladens. Eine +Silhouette ward auf dem Vorhang sichtbar: das Profil eines Mannes, das +auftauchte und verschwand. Dann erschien derselbe Kopf noch einmal, nahe +beim Fenster und deshalb sehr klein und scharf und wurde unter +beständigem lebhaften Nicken immer größer. Ein zweites Bild, ein +Frauenhaupt erschien daneben, und beide verharrten nun in Ruhe, als ob +sie sich unverwandt ansähen, neigten einander zu, wichen von neuem +zurück, und gleichzeitig erschien am zweiten Fenster ein anderer +Schatten, bei dessen Anblick sich Philipp Unruhs Stirne unwillkürlich +verdüsterte. Dieser Schatten, klar begrenzt von Licht, war den beiden +übrigen bewegungslos zugewandt, als flösse sein Dasein von ihnen aus. +Haare fielen abenteuerlich in die Stirn, deutlich war die feine Nase +gezeichnet, deutlich der verschlossene Mund. Das ganze Spiel der drei +körperlosen Gestalten hatte etwas so Unwirkliches und Phantastisches, +daß der Lauscher bisweilen staunend in die Dunkelheit starrte, auf die +friedlichen Häuser im Umkreis, und mit eigentümlicher Gewalt die Ruhe +spürte, die in allen schneebedeckten Gassen ausgebreitet war. Aber dies +erschien ihm nur als ein täuschendes Kleid, unter dessen unbewegten +Falten verheerende Leidenschaften brüteten, um die Erde zu bedrohen und +zu erschüttern. Er selber war ergriffen, ja gefoltert und wagte nicht, +darüber ins klare zu kommen. Ungeduldigen neuen Lebens voll, sah er +millionenfaches Leben um sich in eisiges Schweigen gehüllt durch die +stummen Kräfte der Natur. + +Nun geschah etwas Sonderbares. Die beiden Schatten erhoben sich +gleichzeitig, ohne von einander zu weichen. Der dritte Schatten streckte +die Arme aus, flehentlich oder beschwörend. Dann glitt der eine +Frauenschatten zum zweiten Fenster. Die ausgestreckten Arme fielen +herab, und die ganze Gestalt versank. Die zweite wuchs geisterhaft +empor, beugte sich auf und nieder mit beängstigender Hast. Die +Silhouette des Mannes stand regungslos, eine Hand gegen das Gesicht +gepreßt, – und plötzlich ward alles schwarz und finster. + +Der Lehrer seufzte bang. Unschlüssig und erratend stand er da, als ein +Tor zugeschlagen wurde und jemand auf die Straße gestürzt kam. Unruh +sah, daß es Myra war, in bloßen Kleidern, ohne winterliche Hülle, und +mit einem halben Ausruf schritt er ihr entgegen. Mit tastendem Schritt +näherte sie sich ihm, und er spürte ihre Hand in seinen Arm sich +förmlich einkrallen. Mit einem Blick, der von Angst, Erschöpfung und +Verzweiflung stier geworden war, schaute sie gleichsam durch sein +Gesicht hindurch. Das alles geschah lautlos. Auch im Hause regte sich +nichts, und die Fenster oben blieben schwarz. + +Philipp Unruh sah ein Geschöpf vor sich, auf dessen Wort und Aufschluß +er nicht rechnen durfte, das nur noch mit einem Schein äußeren Lebens +begabt, sich ihm überließ wie ein Gegenstand. Die augenscheinliche +Gefahr, die außerordentlichen Umstände verliehen ihm Besinnung und Kraft +des Entschlusses. Seine scheuen, dumpf brennenden Gefühle verkrochen +sich in der Stunde der Tat. Er nahm Myra auf den Arm und eilte mit ihr +durch die Nacht dem Schulhaus zu. Leicht schien ihm seine Last, aber das +ungewisse Vibrieren des Körpers in seinen Armen ließ beinahe sein Blut +stocken. Die leere, stumme Nacht eilte vor ihm her und verwirrte seinen +Blick. Er fragte sich gar nicht, wohin er anders mit der willenlosen +Myra gehen könne, als in seine eigene Behausung. Er hörte hinter sich, +doch ziemlich ferne schon, Stimmen in der Finsternis, und eine davon +schrie in hellem Ton immer wieder dasselbe Wort. Er achtete nicht +darauf, sah nur mit Neugierde und Mißtrauen die Straße entlang, denn ihm +schien, als sei er in ein bisher unbekanntes Land geraten. + +Das Schulhaus, ihm längst vertraut in jedem Winkel, barg heute Gefahren. +Unter dem Stiegeneck waren glänzende Augen. Hoch im Gitterfenster +leuchtete ein verräterisches Licht. Es war kein Mensch im ganzen +Gebäude, denn die Wirtschafterin schlief im Haus des alten Löwy. Bis zur +Kraftlosigkeit ermattet, nach Atem keuchend, schleppte er Myra die +Treppen empor, stieß die Zimmertüre auf, legte das junge Mädchen auf das +Bett und machte Licht. + +Sie hatte die Augen geschlossen. Zum erstenmal sah er ihr Gesicht +bleich. Er benetzte ihre Schläfe mit Wasser und murmelte ihren Namen vor +sich hin. Sie rührte sich nicht. Er legte das Ohr auf ihre Brust, und +als er keinen Herzschlag vernahm, wurden vor Schrecken seine Augen +feucht. Die verbrecherische Kraft eines kaum geahnten Wunsches habe ihn +gezwungen, sie hierherzubringen, so glaubte er jetzt. Er riß das Fenster +auf, um jemand zu erspähen, der zum Doktor laufen könne. Aber der Hof +lag finster und öde. Er schrie: Johanna! dann: Kunigunde! und noch +einige, denen er vielleicht den Schlaf aus den Lidern rufen konnte. Er +rannte ins Schulzimmer, schaute dort hinaus, straßauf, straßab, aber er +wurde nichts gewahr als eine drückende Verlassenheit, die sich zu regen +schien unter dem gleichmäßigen Fall der Schneeflocken. + +Jedoch als er zurückkam, von Frost und Angst geschüttelt, saß Myra +aufrecht im Bett. + +Sie lächelte; ein wunderliches, stumpfes, unveränderliches Lächeln. Die +schöne Rundung der Unterlippe, die feine, etwas träumerische Linie der +oberen traten in bezaubernder Klarheit hervor. Von einer eigentümlichen, +furchtsamen Freude ergriffen, sagte der Lehrer: »Sie sind wach?« und +seine Stimme bebte. Sein Beginnen kam ihm frevelhaft vor. Er hatte sich +ihrer bemächtigt, das war es. Eine Verantwortung nahte, vor der er +zusammenbrechen würde. Er bewunderte und fürchtete zugleich jene Person, +die er selbst noch vor einer halben Stunde gewesen war, jene wild und +unbekümmert handelnde Person. Sorgenvoll und überlegend stand er auf der +Schwelle, der Rechenschaft gewärtig, die man von ihm fordern würde. +Aber in seiner innersten Seele ergriff er Besitz von Myra und ging mit +sich zu Rate, ob er nicht das Tor vor Eindringlingen schützen solle. +Endlose Stunden der Nacht würden folgen, und am Morgen? Das Ende von +allem. + +Das junge Mädchen schauderte vor der hereinfließenden Kälte, und so +schloß er die Türe. Er setzte sich an das Bett und fragte Myra, ob sie +krank sei, er wolle gehen und den Arzt holen. + +Sie antwortete nicht, sondern blickte aufmerksam ins Licht der Lampe. +Mit traurigen Augen sah sie der Lehrer an. In wahrhaft ungestümer Gewalt +erwachte der Wunsch in ihm, den so nahen Mund zu küssen. Überlegungen +wie Kriegspläne formten sich, und er blickte dabei zurück auf sein Leben +wie in eine graue, regnerische Heide. Er lehnte die Stirn an den +Bettpfosten und fing unvermittelt zu weinen an wie ein Knabe. Die +Erkenntnis seiner Leidenschaft und seines leidenschaftlichen Gemütes +machte ihn in hohem Grade bestürzt, wie es oft bei religiösen und +einsamen Naturen der Fall ist. + +»Ach, du bist es, Wilhelm?« sagte Myra tonlos. »Warum liest du mir nicht +vor? Lies mir doch vor aus dem lustigen Stück.« Sie lächelte wie früher +und legte ihre Hand auf die seine. Philipp Unruh richtete sich auf und +hielt zitternd ihre Hand fest. Er vermeinte seine eigenen Gedanken zu +sehen, wie sie auf einmal wirr und schwarz wurden. + +»Nimm dasselbe Buch,« fuhr Myra leise fort. »Du weißt, was du auf eine +leere Seite geschrieben hast. Es war das Schönste, Seligste. Die Mutter +hat es gelesen und kam mit dem Messer gegen mich. /Oh, cela ne fait rien,/ +sagt Madam Biraud. Du siehst es ja, ich lache und jetzt lies, lies vor!« + +Als Philipp Unruh zögerte, wurde sie ungeduldig, und ihr Mund verzog +sich gramvoll. Da griff er mechanisch nach jener Ansbacher Chronik, die +ihm allein von seinen Büchern geblieben war, blätterte mit bebenden +Fingern und las von alten Ereignissen, vom markgräflichen Leben am Hof, +von den Emigranten, von Denkmälern und Baubefugnissen, von Pest und +Kriegsplage, kurz, was eben in solch einer Chronik Wichtiges zu stehen +pflegt. Inhaltsloser und sinnloser waren ihm niemals Worte vorgekommen. +Ihm schien, als grübe er Staub aus finstern Verstecken. Myra lauschte +entzückt jeder Silbe und freute sich, als ob es eine amüsante Szene sei, +deren Entwicklung sie zu hören bekomme. Allmählich wurden ihre Züge +schlaff; sie lehnte sich zurück, ihre Augen schlossen sich, und sie +schien zu schlafen, während der Lehrer aufgewühlten Herzens weiter las, +den stillen Raum mit seinen monotonen Lauten füllend. + +Plötzlich fuhr Myra empor. »Glaubst du es denn nicht,« rief sie aus, mit +einer inbrünstigen Hingebung in ihrer Stimme, in ihren Geberden, in +ihrem Gesicht, »glaubst du es denn nicht? Für dich könnte ich ja +sterben!« Sie lachte glücklich und fiel wieder auf das Kissen zurück. + +Philipp Unruh schlug die Chronik zu und stützte den Kopf in die Hand. +Ihm war bang und weich zu Mut. Diese Worte, gleichviel ob sie ihm galten +oder nicht, waren nun zu ihm gesprochen worden. Er durfte die +Vergangenheit vergessen, ohne sie betrauern zu müssen. Diese Worte +brachten sein Gemüt in Schwingung, wie der Glockenschall die Luft in +einer Kirche bewegt. Er wußte, eine solche Stunde des Zutrauens, eine +solche Nacht der Wunder würde nicht wiederkehren in seinem Leben, und +unersättlich sog er alle Hoffnungsmöglichkeiten in sich ein, als könne +dadurch seine Zukunft beschützt werden. Ringsum war alles Leben +lebendig, geschmückt durch Hingabe und Zärtlichkeit, ja selbst durch +Gefahr und Tod. Denn der Tod ist es wert, gestorben zu werden, wenn er +etwas raubt, das zu besitzen sich lohnt. So wurde sein Geist +weitschauend durch die Macht eines Augenblicks, welcher die Ewigkeit +enthielt. + +Er überzeugte sich, daß Myra nun wirklich schlief, und erhob sich +geräuschlos. Er legte das Buch auf die Lade und dachte angestrengt nach. +Wenn Myra krank lag und im Fieber redete, was sollte er dann mit ihr +beginnen? Die Leute waren zu fürchten, denen der Tag Kunde bringen +würde, wer nächtlicherweile in des Lehrers Haus eingezogen sei. Darüber +mußte er wachen, mehr als über sein Glück. Höher als dies stand ihm die +Sitte. Sie regelte nach seiner Überzeugung den Mechanismus der Welt im +kleinen wie im großen. + +Es war keine Zeit mehr zu versäumen. Betrübt warf er seinen Mantel +wieder um die Schulter, trat neben die Schlafende und blickte lange auf +das regungslose Gesicht, dem der Schlummer einen vergrämten und +angestrengten Ausdruck verliehen hatte. Dann stellte er die Lampe auf +den Schrank und ging leise hinaus. Er wollte zu Siebengeist, um mit ihm +zu beraten, was hier zu tun sei. + +Ohne das Tor zu versperren, betrat er die Straße. Es schlug zwölf Uhr +vom Turm. Der Himmel war klar geworden und zitterte vor Kälte. In +graublauer Dämmerung lagen Dächer und Giebel. + + +Neuntes Kapitel + +Nachdem er den Glockenstrang bei der Apotheke gezogen hatte, öffnete +sich unter dem spitzen Dachwinkel ein Fenster, und eine dünne +Mädchenstimme schrie herab, daß kein Mensch zu Hause sei. Die +Herrschaften und der Provisor seien auf dem Ball beim »Ratgeber«. Der +Provisor käme erst in einer Stunde zurück, und solang müßte man warten +oder zum Ratgeber schicken. + +Der Ratgeber war ein Hotel, welches sich eine Viertelstunde außerhalb +des Städtchens, auf der sogenannten »Höhe« befand. Dort schloß sich +unmittelbar der Wald an, der sich dann weit hinein erstreckt ins +mittlere Franken. Philipp Unruh entschloß sich rasch zu der Wanderung, +und noch auf der Landstraße sah er oben am Waldrand die strahlenden +Fenster und hörte, von Schritt zu Schritt deutlicher, den Brummbaß der +Tanzmusik. Es war eine Art Faschingsball, den die Gemeinde selbst +alljährlich mit großem Prunk veranstaltete. Dort waren nicht nur die +größten Notabilitäten des Ortes, sondern auch der Präsident des Kreises +anzutreffen, der von Ansbach herüberkam. + +Fern auf dem Bahnhof klirrte das Eisen der Waggons, welche rangiert +wurden. Der Schnee der Straße schimmerte hell. Die Sterne standen am +Himmel und schaukelten unruhig wie Lichter im Wasser. + +Wo sich der Weg gegen die Anhöhe hinaufbog, stand, auf der Landstraße +noch, ein kleines Wirtshaus. Im größeren Raum waren Knechte und Dirnen, +die nach der Musik einer Mundharmonika tanzten. Wie sich die Paare beim +düstern Schein einer Öllampe drehten, das gab ein wüstes und grelles +Bild. In der kleinen Stube lehnte ein Mann gegen das Fenster, die Stirn +gegen die Scheibe gepreßt, und der Lehrer erkannte sofort Apollonius +Siebengeist. Der Provisor seinerseits hatte ihn nicht wahrgenommen, denn +kein Zug veränderte sich in seinem Gesicht, welches trüb und verzerrt +aussah. Philipp Unruh bemerkte, daß das Zimmer leer war, und schritt dem +Eingang zu. Der Wirt begrüßte ihn mit einem lärmenden Freudenausbruch +und führte ihn durch einen stockfinstern Gang. Ohne daß es beide +merkten, folgte ihnen eine Frauengestalt, welche vom Ratgeber +herabgekommen war. Und als der Lehrer die Schwelle überschritt, drängte +sich jene vor und lief mehr als sie ging, auf Siebengeist zu. Sie hatte +eine schwarze Larve vor dem Gesicht, einen glatten langen Mantel über +dem Ballkleid, und ihre Augen leuchteten unnatürlich. »Ich wußte es ja, +daß du hier bist,« sagte sie mit heiserer Stimme. »Du machst den +Wegelagerer, lauerst einer Komödiantin auf.« – »Was soll das?« +entgegnete Siebengeist mit merkwürdiger Geduld. »Ja, ich erwarte sie, +aber sie kommt nicht, kommt nicht, trotzdem sie es versprochen hat.« +Seine Stimme klang müde, und er veränderte seine Haltung nicht, sondern +blickte fortwährend durch das Fenster auf die nächtliche Straße. Der +Wirt hatte das Gesicht in die Türspalte gepreßt und grinste freundlich +und lauernd. Philipp Unruh ergriff die Klinke und schloß mit sanftem +Druck die Tür. Dann räusperte er sich achtungsvoll, um seine Anwesenheit +kundzugeben. Der Raum hier war wie eine Fortsetzung des engen Flurs, und +nur gegen das Fenster hin verbreitete die Kerze spärliches Licht, die im +Hals einer Weinflasche auf dem Tisch stand. + +»Was sorgst du dich, Liebster?« begann die Frau wieder und machte eine +flehentliche Gebärde. »Sieh mich doch an, bitte. Befiehl mir, daß ich +sie herbeiholen soll, die du liebst, und ich werde es tun. Befiehl mir, +aber sieh mich an, errette mein Leben.« – »Wie kann ich dein Leben +erretten, da du meines zerstört hast,« erwiderte Siebengeist, starrer +noch als bisher. »Ich habe nicht besitzen dürfen, weil deine Künste mich +schwach werden ließen. Deine Verlockungen haben meinem Wunsch die Kraft +genommen, deshalb bin ich nicht würdig, das beste zu besitzen. An dir +hab ich mich verschwendet. Also geh in dein Haus und sei zufrieden.« + +Das Weib nahm ein Glas mit Wein vom Tisch, schleuderte es zu Boden, daß +die Scherben klirrten, und rief verzweifelt: »Dann soll _mein_ Wunsch +kraft haben, denn ich wünsche ihr den Tod!« Damit fiel sie in die Kniee, +rang die Hände und lehnte das Gesicht an die Hüften des regungslosen +jungen Mannes. + +Der Lehrer verharrte eine Zeit lang völlig gelähmt in dem Winkel +zwischen Tür und Ofen. Er dachte, gänzlich sich selbst entfremdet: die +Liebe ist eine Gewalt, welche den Menschen erniedrigt. Er dachte, daß es +besser sei, nicht zu wissen, als im Wissen zu sündigen. Wo früher rings +um ihn her ein friedliches Einerlei sich gedehnt, sah er jetzt +Gesichter, aus denen die Aufregungen des Leidens und des Verlangens +redeten. Es war, als ob ein träges, aber starkes Wesen in ihm schwere, +staunende Augen aufschlüge. + +Unter dem Zwang seines Anstandsgefühls trat er endlich mit vernehmlichem +Schritt gegen den Tisch zu und wünschte guten Abend. Die Baronin stutzte +und erhob sich rasch. Siebengeist drehte sich lässig um und blickte dem +Lehrer forschend, jedoch nicht ohne Freundlichkeit ins Gesicht. »Ich +komme,« sagte Philipp Unruh, indem sein eigenes Zimmer wie eine Insel +der Sehnsucht vor ihm aufstieg, »ich komme, um Ihnen, Herr Siebengeist, +etwas mitzuteilen.« Der Provisor, voller Ahnung, zog den Lehrer in den +entgegengesetzten, dunklen Teil des Zimmers. Seine Augen waren +umschattet und hatten einen zersplitterten Blick; die Stirn war unruhig; +das ganze sympathische Gesicht glich dem eines Spielers, der im Begriff +ist, einen hohen Einsatz zu verlieren. + +In schwerfälligen Worten brachte der Lehrer heraus, was sich ereignet +hatte. Ohne zu zaudern, ohne einen Laut von sich zu geben, warf +Siebengeist den Pelz um die Schultern, stülpte die Kappe über, winkte +dem Lehrer durch eine Handbewegung, ihm zu folgen, und beide eilten nun +hinaus und die Landstraße hinab. Als sie das Schulhaus erreicht hatten +und die enge Treppe emporklommen, war kaum eine Viertelstunde vergangen. + +Der Lehrer öffnete die Tür. Sein Blick fiel auf das Bett, welches leer +war. Myra war nicht im Zimmer. Jetzt erinnerte er sich, daß das Haustor +nur angelehnt gewesen war. »Sie ist fort,« murmelte er tonlos, und Kälte +rieselte über seinen schweißbedeckten Körper. »Hier lag sie auf dem +Bett, sehen Sie.« Und da er sich der Worte entsann, die sie zu ihm +gesprochen, verstummte er und schaute nachlauschend gegen die Wand, als +ob von dort ein Wiederhall ausflösse. + +»Was haben Sie gemacht, Schulmeister? Haben Sie geträumt?« stieß +Siebengeist hervor. Er rückte die Kappe gegen den Hinterkopf und legte +die Hand über die Stirn, die von wirren, nassen Haaren bedeckt war. Dann +griff er nach einem Gegenstand, der auf dem Tisch lag, mitten auf einem +weißen Blatt Papier. Es war das Herz mit dem /vers Dieu va./ Ein Zucken +ging über sein Gesicht, und er biß die Lippen zusammen. Das goldne Ding +fiel auf die Erde. – »Vielleicht ist sie nach Hause zurück,« flüsterte +Siebengeist fragend, und Philipp Unruh gab durch Haltung und Blick seine +Willfährigkeit zu allem kund. Auf der Straße trafen sie den Nachtwächter, +welcher sehr betrunken war. Er wußte von nichts, nicht einmal ob es Tag +oder Nacht war, hatte niemand gesehen. Sie läuteten vor dem Haus, wo +Myras Mutter wohnte, und nach einiger Zeit kam eine Person von +ungewöhnlicher Beleibtheit zum Vorschein. Diese Person glich einem +Laubfrosch; sie trug einen moosgrünen Schlafrock und hatte einen +Schnurrbart, obwohl sie ein Weib war. Mit schnarrender Stimme berichtete +sie, daß der Schauspieler und die Frau vor einer Stunde mit dem +Münchener Eilzuge abgereist seien. Das junge Fräulein aber sei seit dem +Abend nicht heimgekehrt. Siebengeist reichte der Dame ein Talerstück und +bat in atemlosen Sätzen, sie möge ihm für ein paar Stunden eine gute +Laterne leihen. + +Sie wanderten über den Markt und über die Altmühlbrücke gegen die +Dinkelsbühler Landstraße hinaus mit ihrer Laterne. Schweigend legten sie +ihren sinnlosen Weg zurück, während der Schnee im Lichtschein glitzerte. +Beide waren von derselben Ahnung, derselben Unruhe aufs äußerste erregt, +aber jeder scheute des andern Wort oder Frage. Bisweilen blieb +Siebengeist stehen, hielt die Laterne hoch oder stieg auf einen +Meilenstein und spähte in das lautlose, finstere Winterland. »Jetzt +wollen wir auf Theilheim zu,« sagte Siebengeist, und mit einem Auflachen +fügte er hinzu: »Glauben Sie denn, daß eine einzige Nacht genügen wird, +sie zu finden?« – »Es sind Wälder hier herum,« entgegnete der Lehrer. +»Aber es ist möglich, daß sie noch im Ort ist.« – »Es ist möglich, ja. +Was ist nicht alles möglich! Es ist möglich, daß sie verschwunden +bleibt, und ich habe nicht ein einziges Mal – –« »Was? –« »Diesen +wunderbaren Mund küssen dürfen.« Siebengeist blieb am Flußufer stehen, +warf den Kopf ein wenig zurück und drückte die Augen zu. Der Lehrer +entgegnete nichts darauf. + + +Zehntes Kapitel + +In derselben Nacht noch, gegen die Morgenstunden, kamen Tauwinde aus dem +Süden. Siebengeist und der Lehrer waren heimgekehrt und verbrachten +miteinander den schlaflosen Rest der Nacht in des Lehrers Zimmer. +Abgerissene Erzählungen überdeckten die suchenden Gedanken. Siebengeist +lachte über den Gang mit der Laterne, so wie nur er zu lachen verstand, +und der Lehrer dachte wieder: ein Adonis. Jedoch glaubte er sich +bevorzugt wie durch unvertilgbare Versprechungen. + +Zwischen sechs und sieben Uhr schlief er noch einen kurzen Schlummer der +Müdigkeit. Er träumte, daß er sich in den Affen Kümmerlich verwandelt +habe, daß er auf dem Dach des alten Turmes stehe und Grimassen schneide, +über die die ganze Welt und insbesondere eine Frau mit einer schwarzen +Larve unbändig lachen mußte. Doch wunderlicherweise hatte dieser Traum +für ihn etwas Quälendes, vielleicht deshalb, weil die Höhe des Turms ihn +trotz aller Grimassen mit Angst erfüllte. + +Als er um neun Uhr am Schulfenster stand und gleichgültig die +Ziegelmauern der Synagoge anstierte, liefen auf der Straße Menschen +zusammen. Ein Milchbauer hatte auf seinem Handwägelchen einen großen, +dunklen Gegenstand liegen, der sich wie ein menschlicher Körper ausnahm. +Der Milchbauer redete eifrig mit den Leuten und zwinkerte dabei erregt +mit den Augen. Der Lehrer öffnete das Fenster und rief hinunter, was es +denn sei. Man habe ein Mädchen erfroren auf dem Feld gefunden, hieß es, +und diejenigen, die das sagten, es war der Schmied, ein Marktweib und +der alte Löwy, gebärdeten sich außerordentlich sachkundig. Auch der +Bäcker kam aus seinem Laden, indem er den Mehlstaub von den dicken +Schenkeln klopfte. Die Kinder im Schulzimmer verließen alle ihre Plätze, +drängten sich mit Wildheit an die Fenster, und Philipp Unruh sah sich +alsbald seines Aussichtspunktes beraubt, da eine Horde von schwatzenden +Mädchen ihn umringt und zurückgeschoben hatte. Er fand kein strafendes +Wort, sondern blickte geistesabwesend auf einen der blondhaarigen +Kinderköpfe. + +Schnell wie Strohfeuer lief das Gerücht umher, daß eine Schauspielerin +von Herrn Schmalichs Truppe erfroren in den Feldern gefunden worden sei. +»Se woar im Schneei douglegn wier in ihrn Bettla,« sagte der Milchbauer +zu Doktor Maspero, der den Leichnam besichtigte. Auch der Bürgermeister +und ein gerichtlicher Funktionär stellten sich ein, und die Leute, die +den Totenwagen fuhren, zeigten sich verdrießlich über die Arbeit, die +nichts trug. + +»In diesem begabten Mädchen steckte das Zeug zu einer Ophelia,« sagte +Herr Schmalich zu den Mitgliedern seiner Truppe, als er die +Gedächtnisrede während der Probe hielt. Dann kam noch etwas vom Pantheon +der Kunst, vom Kampf ums Dasein und weiblicher Tugend. + +Die wahrhaft vornehmen Kreise nahmen das Ereignis mit Güte und Ruhe hin. +Nur die Frau Assessor, welche eine unglückliche Schwärmerei fürs Theater +hegte, schickte einen Immortellenkranz mit einer blaßroten Schleife, auf +welcher ein nicht weniger blasses Verslein zu lesen war. Die Frau +Oberamtmann geriet darüber in eine boshafte Aufregung und erzählte die +ganze Geschichte im Kasinohof dem Herrn Adjutanten. »Kann solche +Dummheit überboten werden!« rief die bewegte Dame aus. Der Herr Adjutant +lächelte verzwickt, und als er zu Hause war, stellte er sich breitbeinig +vor seinen Affen hin und redete ihn an: »Was sagst du, mein lieber +Kümmerlich: ist es nicht rätselhaft, wie selbst die Dummen merken, daß +die Dummen dumm sind?« Das Äffchen grinste höflich. + +»Der Tod ist ein Ereignis, mit welchem man rechnen muß,« sagte der Baron +Apotheker ernst und poetisch gestimmt zu seiner Frau, welche wie +versteinert am Bücherregal lehnte, mit herabhängenden Armen und +verschränkten Fingern. Ihr sonderbares Wesen veranlaßte den Dichter kaum +zu einem flüchtigen Nachdenken. Solche Naturen sind wie Messer ohne +Klingen. Sie gleichen einem Schützen, der in der drohenden Pose des +Anschlags steht, aber statt der Flinte ein Spazierstöckchen zwischen den +Schultern hält. Sie kriechen herum wie aufgeblasene Regenwürmer und +vermeinen einen Adlerflug zu nehmen. Bis zu ihrem Sterbebett werden sie +den Tod für ein Ereignis halten, das Beachtung verdient. + +Die junge Frau schleppte sich mühsam eine Treppe empor und pochte an +Siebengeists Zimmer. Da alles still blieb, drückte sie auf die Klinke, +jedoch die Tür war verschlossen. Da pochte sie abermals und rief ein +bittendes Wort, allein sie erhielt keine Antwort. Ihr schwindelte. Sie +ging herab in die Apotheke und fragte den zweiten Gehilfen, wo das +Strychnin sei. Im Grunde wußte sie, daß sie sich des Giftes nicht +bedienen würde. Auch sie war angesteckt vom Lügengeist des Herrn. Auch +sie hielt sich, wenn nicht für einen Adler, so doch für eine Schwalbe, +eine sehnsüchtige, nestsuchende und war nur ein armes Würmchen. + +Es war ein träumerischer Tag. Der Himmel, mattblau, grünlichblau, war +von schleierdünnen Wolken durchzogen. Allenthalben lief geschäftig +murmelndes Tauwasser zu Bächen zusammen. Durch den schwarzgesprenkelten +Ackerschnee ragten die Stoppeln vom letzten Herbst. Bis zu den fernsten +Waldgrenzen dehnte sich der Horizont, und die Februarsonne füllte das +Land mit frühlinghafter Wärme. + +Gegen die Zeit der Dämmerung kam Siebengeist zum Lehrer Unruh. »Machen +wir einen letzten Gang,« sagte der Provisor, dessen Augäpfel auffallend +ruhelos unter den Lidern hin und her irrten. Der Lehrer wußte sich nicht +zu erklären, was damit gemeint war, aber er folgte. Für ihn hatte die +Gegenwart noch keine Zunge. Wie ein Trunkener vergißt, was ihn trunken +gemacht, so hatte er die Ursache dessen, was in ihm wühlte, aus der +Empfindung verloren. Er begann nach rückwärts zu leben. Er erkannte sich +selbst und das, was aus ihm geworden war, mit der Klarheit einer +Halluzination. Ganz anders als früher schien es ihm jetzt seine eigene, +angeborene Sprache, wenn er redete, schien ihm sein Gefühl, was er +empfunden, und sein Urteil, was er beschlossen. Das Bild der Welt und +ihrer Menschen verlor völlig den Anschein der Selbstverständlichkeit und +des Unumstößlichen, und aus allen Dingen, aus allen Ereignissen, aus +jedem Gesicht, aus jedem Hinschwinden des Tages und der Nacht tauchte +etwas ungeheuer Geheimnisvolles auf, das ihn schaudern machte und ihn +mit einer noch ganz anderen Trauer erfüllte, als derjenigen, die er in +Siebengeist beobachtete. Aber wie sonderbar! Darüber schwebte wie das +Licht über einem finstern Wald etwas wie Freiheits- und +Einsamkeitsfreude. + +Sie waren zum Leichenhaus gewandert, einem Backsteinhäuschen, das +verlassen in der Abenddämmerung lag. Siebengeist ging zur +Totengräberwohnung und ließ aufsperren. Der Mann, unter dem Druck von +Siebengeists Hand willfährig geworden, brachte eine Art Stallämpchen mit +einem Blendblech und ließ die beiden allein. Zwei Särge standen +inmitten des Raums, halb aufrecht gegen eine Bank gelehnt. In dem einen +lag eine Greisin, deren Lider nicht ganz geschlossen waren, so daß sie, +was vor sich ging, argwöhnisch zu beblinzeln schien. Ihr Gesicht war +gelb wie frisches Baumholz und hatte einen außerordentlich höhnischen +und feindseligen Ausdruck. Auf ihrer faltigen Stirne lief gemächlich +eine Fliege umher. Der ganze Kopf bekam überdies durch eine hohe weiße +Haube mit blauen Bändern ein theatralisches und bizarres Aussehen. + +Daneben lag Myra. Auf der einen Wange war ein seltsamer roter Fleck, wie +ein Überbleibsel des Lebens. Die Unterlippe war ein wenig herabgesunken, +wodurch das Gesicht müde, fast schlaftrunken aussah. Die Stirne sah aus +wie geschliffen, und um die Augen lag ein abweisender, kindlich +überlegener Zug. Die Hände waren leicht gefaltet. Der Ärmel des Gewands +wurde leise von der Abendluft bewegt und erzeugte einen tierähnlichen +Schatten über den Fingern. + +Siebengeist kniete nieder und legte still den Kopf auf den Sargrand. +Sein Rücken begann zu zucken, und die rechte Hand suchte den Boden. Der +Lehrer dachte etwas Unbestimmtes, Frommes über den Tod, verwarf aber +leidenschaftlich diese Gedanken wieder und zwang seine Blicke, auf dem +mißtrauischen Gesicht der alten Frau haften zu bleiben. Er ärgerte sich +über die freche Fliege, die wie schlafend auf einem Augenlid saß. Und +plötzlich sah er, wie Siebengeist sich ein wenig erhob, seine Lippen +langsam dem Antlitz Myras näherte, und wie er lautlos seinen Mund auf +ihren toten Mund drückte. + +Philipp Unruh stieß einen schwachen Schrei aus und fühlte den Boden +unter sich wanken. Ihm brannte die Kehle und das Herz und das Gehirn, +als ob er im Feuer stände, aber mit unbegreiflicher und erschreckender +Raschheit kehrte eine eisige Ruhe in ihn zurück. Er legte die Hände vor +die Augen und kehrte das Gesicht dem Kirchhof zu und dem Stückchen Wald +hinter der Mauer. In diesem Augenblick hatte er Tod und Leben +gleichzeitig in einem elementaren Bild empfunden. + +Beim Heimwärtsgang stand die Mondsichel über den Dächern des Städtchens. +Von der Eisenbahn tönte ein langgezogenes Hornsignal herüber. Die +Dunkelheit ist lästig und drückend, dachte Philipp Unruh. Er begann den +Tag der Nacht vorzuziehen, wo eine bittere und verschwommene Traurigkeit +so leicht Nahrung finden konnte. Sie gingen hinter den Gärten am Rand +der Äcker und Siebengeist fing an zu reden. Er gefiel sich in Kapriolen +des Geistes, in blasphemischen Anklagen, seufzte schwer und war dann +wieder still. Alles nahm sich wie beabsichtigter Wahnsinn aus. Von +seinem hübschen Gesicht war wie im Rausch jede Besonnenheit +verschwunden, und was er tat, trug das Zeichen von überhebendem Schmerz. +»Gute Nacht, Schulmeister,« sagte er. »Meine Seele ist leer wie ein +ausgebranntes Haus.« + +Was er doch für Worte gebraucht, dachte der Lehrer. Er verspürte +plötzlich einen nagenden Hunger, denn seit vielen Stunden hatte er +nichts gegessen. Er trat neben dem Schulhaus in den Laden des Bäckers +und verlangte frisches Schwarzbrot und ein wenig Butter. + +»Ach du _mein_ Gott, sieht man den Herrn Lehrer auch einmal,« sagte der +Bäcker, und mit halb pfiffigem, halb verlegenem Gesicht schraubte er das +blakende Licht tiefer. Er war eigentlich recht bestürzt, denn auf dem +Ladentisch vor sich hatte er einen großen Folianten aus des Lehrers +Bücherkiste liegen. Er hatte sich eben nach Herzenslust an einer +Kriegsbeschreibung ergötzt. Der Lehrer sah sogleich das Buch und schlug +erstaunt die Hände zusammen: »Herr Bäckermeister, Sie wissen wohl gar +nicht, wessen Eigentum das ist?« sagte er unsicher, wie alle gutmütigen +Menschen, wenn sie einem andern auf Schelmenstreiche kommen. + +Was nun den Bäcker betrifft, so begann er eine Geschichte zu erzählen, +die durchaus kein Ende nehmen wollte. Diese Geschichte wurde allgemach +recht verwickelt und bot schließlich selbst dem Erzähler +Schwierigkeiten. Sprüche zur Weltweisheit mischten sich darein wie +Aniskörnchen in den Brotteig, nur zuletzt kam, einer Apotheose zu +vergleichen, der Preis des Handwerks, welches ebenso sein Gutes habe, +wie die Gelehrsamkeit. + +Philipp Unruh lächelte. Der humoristische Mann, der ihm gegenüber auf +dem Backtrog saß, hatte in der Glorie seiner Lügenhaftigkeit etwas +seltsam Versöhnendes, und es lag wie eine unwiderstehliche Heiterkeit in +jedem dieser Lügenworte, die weder gewogen, noch gezählt waren. Daß er +wieder in den Besitz seiner Bücher kam, erfreute ihn, doch in anderm +Grade, als er je geglaubt. Es war wie ein Geschenk, und er betrachtete +sein Eigentum wie etwas, das er nie besessen. Er wußte, daß es da nur +tote Dinge, tote Blätter gab. Die Vergangenheit ist etwas Gestorbenes, +dachte er; wer ihren Leichnam küßt, macht das Gesicht des Todes doppelt +furchtbar; was er berühren mag, wird dem Leben entfremdet sein. + +Es war ein so milder Abend, daß es den Lehrer wieder fort von seiner +Behausung trieb, und er beschloß, gegen das Altmühlufer hinunter zu +wandern. Als er in die enge Kirchengasse bog, sah er sich gegenüber auf +der Schwelle eines beleuchteten, schmalen Hausflurs ein kleines Mädchen +sitzen, welches das Gesicht in die Schürze gelegt hatte und weinte. Ein +Knabe von vielleicht zwölf Jahren stelzte ernsthaft über die Gasse und +fragte mit Würde, beide Hände tief in die Hosentaschen gesenkt: »Warum +weinst du denn?« Die Kleine hob das Gesicht, und Philipp Unruh, der im +dunklen Schatten stehen blieb, erkannte das Mädchen der Frau Süßmilch. +»Ich kann meine Aufgabe nicht lernen, sie ist zu schwer,« schluchzte das +Kind. Der Knabe räusperte sich, spreizte die Beine, legte die Hände auf +den Rücken und begann: »Du bist meine schlechteste Schülerin, Süßmilch. +Aus dir wird im Leben nichts werden. Du hast ja lauter Heu im Kopfe. +Pfui!« Philipp Unruh sah, daß ihn der Bursche nachäffte, und errötete in +seinem Versteck. Das kleine Mädchen aber trocknete die Augen, stützte +den Kopf in das Händchen, schaute wehmütig zum klaren Sternenhimmel auf +und sagte aus tiefstem Herzensgrund: »Ach ja! Unser Herr Lehrer ist ein +sehr böser Mann.« + +Der Lehrer ging langsam über die Gasse, nahm das Mädchen auf die Arme +und küßte es lächelnd auf die Stirn. + + + + +Treunitz und Aurora + +Bekenntnisse eines Offiziers + + +Die Stille des Gefängnisses ist der Selbsteinkehr günstig. Ich werde +also das Papier zu meinem Beichtiger machen und der Wahrheit gemäß +berichten, wie sich die Dinge abgespielt haben, und wie ich zu der Tat +gelangt bin, durch die ich mein Leben verwirkt habe. Ich bin des Todes +schuldig und ich werde aus dieser Erkenntnis alle Folgerungen ziehen, zu +denen ich als Mann und Soldat so berechtigt als verpflichtet bin. +Immerhin könnte ich beschönigend von einem verhängnisvollen Irrtum +sprechen, durch den mein Glück, meine Freiheit, meine Zukunft, meine +ganze Existenz der Vernichtung preisgegeben wurde, aber die Schmach +würde dadurch um nichts geringer werden, und wenn ich gleich die +furchtbare Leidenschaft, die mich ergriffen und ruiniert hat, zu +verurteilen imstande bin, so ist es selbst in diesem Augenblick noch +unmöglich, sie gänzlich aus meinem Herzen zu reißen. + +Ich bin mit der Vorliebe für den Soldatenstand geboren. Doch trieb mich +dabei keineswegs Ehrgeiz oder Ruhmsucht; auch nach Abenteuern stand mir +nicht der Sinn, wie das bei Knaben oder Jünglingen sonst der Fall zu +sein pflegt, sondern ich wollte meine Person in den Dienst des +Vaterlandes stellen, und wonach ich strebte, war eine würdige Verwendung +meiner Kräfte und Fähigkeiten. Ich besaß Mut und war körperlich gewandt +und tüchtig; auch hatte ich, was für den Militär jedes Ranges von +Wichtigkeit ist, Disziplin im Leibe, das Talent und den Willen zur +unbedingten sachlichen Unterordnung. Da ich von Haus aus vermögend bin, +meine Mutter besitzt eine große Gutsherrschaft bei Arnstein, wurde der +Wahl meines Berufs kein Hindernis in den Weg gelegt, und nach +Absolvierung der Schule trat ich als Freiwilliger bei der Marine ein. +Aber ich fand dort kein Genügen, das Leben war eintöniger, als ich +gedacht, und nach Verlauf von zwei Jahren trat ich zur Feldartillerie +über, wo ich mich als brauchbarer Offizier eines gewissen Ansehens +erfreute und wegen meiner Begabung für militärwissenschaftliche Fächer +die besondere Gunst der Vorgesetzten genoß. + +Da entbrannte in Südafrika der Burenkrieg; ich sah die Gelegenheit, +etwas zu leisten, ich hatte keine Lust mehr am Garnisons- und +Manöverdienst; die Verhältnisse, unter denen ich mich bewähren konnte, +erschienen mir zu klein; kurz und gut, ich erbat den Abschied, zur +Verwunderung und zum Bedauern meiner Kameraden, die mich gerne hatten, +mich aber nach diesem für sie unbegreiflichen Schritt eines Mannes, der +die begründetste Aussicht auf Karriere hat, für einen unbesonnenen +Haudegen hielten. + +Ich habe da unten die Bluttaufe erhalten, die Fremde tat mir wohl, das +wilde äußere Leben band mich fester in mich selbst. Als ich nach +geschlossenem Frieden in die Heimat zurückkehrte, war ich ein anderer +Mensch, und wenn ich noch einen Rest von unreifer Romantik in mir +gehabt, so hätte ihn die ernsthafte Zeit, die ich verlebt, mit Stumpf +und Stiel ausgetrieben. Ich erfuhr die Genugtuung, sogleich wieder als +Offizier in die Armee eingereiht zu werden, und es war der froheste Tag +meines Lebens, als ich wieder den dunklen Rock der Artilleristen +anziehen durfte. Ich hatte nebenbei die Gewißheit, zum Generalstab +berufen zu werden; dies geschah auch, und um meine kühnsten Erwartungen +zu übertreffen, wurde ich mit einer Aufgabe betraut, die sonst nur +selten einem Offizier meines Dienstalters gestellt wurde; man entsandte +mich als Berichterstatter der mazedonischen Vorgänge nach Saloniki. + +Ich war noch nicht zwei Monate auf meinem Posten, da brach in unsern +afrikanischen Kolonien der Aufstand der Schwarzen aus. Jetzt lag der +Fall anders denn damals, wo ich das Heer hatte verlassen müssen, um ins +Feld zu kommen; jetzt konnte ich mich meinem kaiserlichen Herrn und +Kriegsherrn selber zur Verfügung stellen. Da man tüchtige Offiziere +suchte, wurde mein Anerbieten ohne Verzug berücksichtigt, ich wurde zum +Hauptmann bei der Schutztruppe ernannt, und vier Wochen später war ich +schon auf See. + +Ist ja richtig; es war eine elende Katzbalgerei mit den schwarzen +Rackern, und viel gutes deutsches Blut ist geflossen, aber wars gleich +sauer, so wars doch nahrhaft, wie unsere Exzellenz zu sagen liebte. Es +war ein schönes freies Leben, wie ich alles noch sehe und spüre! Die +sengende Mittagshitze und die Morgenkühle, die zerstörten Pontonks und +die infamen Wege, der Feind in Busch und Dickicht und die unaufhörlichen +Schüsse aus den Baumkronen! Wie das surrte und schwirrte und sang und +heulte, so dicht, daß es einen erstaunte, wenn man seine Gelenke noch +zusammenhängen fühlte. Hungrig legte man sich schlafen, den Revolver im +Arm, an Feueranzünden nicht zu denken, und weh dem, der vom Durst +getrieben zu den Wasserlöchern schlich, er ward in der Frühe mit Kirris +erschlagen gefunden. Da war man doch ein Kerl, da konnte man sich +bewähren, da spürte man seine Pulse. + +Leider bin ich bei den Gefechten am Waterberg verwundet worden. Ich +konnte nicht mehr Dienst tun und mußte alsbald die Heimreise antreten. +Dritthalb Monate blieb ich in Berlin; man machte viel Aufhebens mit mir, +und viele Leute feierten mich wie einen Blücher, was mir oft die +Schamröte ins Gesicht trieb, denn ich war mir nicht bewußt, etwas +Sonderliches verrichtet zu haben. Aber dergleichen gibt sich, und wenn +man Verdienste hat, empfiehlt es sich, sie den Leuten nicht durch die +eigene Gegenwart lästig zu machen. Eine Zeitlang war von meiner Aufnahme +als Lehrer in die Kriegsakademie die Rede, doch, vor die Wahl gestellt, +zog ich schließlich den subordinierten Posten eines Batteriechefs in der +Provinz vor, allerdings mit der baldigen Anwartschaft auf den +Majorsrang. Meine Mutter kränkelte, ich wünschte in ihrer Nähe zu leben, +und des unruhvollen, weltstädtischen Treibens, an dem ich nie Freude +gehabt, war ich ohnedies müde. + +Dazu kam noch, daß mir die Fremde ganz wie mit einem Male den Blick +verwandelt hatte. Entweder war ich nicht mehr derselbe, oder die Heimat +war nicht mehr dieselbe. Aufrichtig gesagt: die Luft im Reich gefiel mir +nicht. Sie war mir zu wetterwendisch; winterlich scharf von oben und +giftig süß von unten, fast wie eine afrikanische Nacht. Nichts wurde mit +Wohlwollen reguliert, alles mit Manometer, und wer hinten nicht gestoßen +wurde, der ging nach vorne nicht weiter. Unsre jungen Herren fand ich so +ohne jede Herzlichkeit, daß sich einem der Gaumen zusammenzog, wenn man +mit ihnen redete. Immer bloß aufs Elegante versessen, geschniegelt wie +die Reitpferde und trocken wie Stiefelsohlen. Die Aristokraten hochnäsig +und zimperlich, die Bürgerlichen streberhaft und vom frischen Reichtum +verdorben und verweichlicht, das Volk rebellisch und respektlos. Keiner, +der aus Eigenem was vorstellte, erst durch sein Geld oder sein Amt oder +seine Orden oder seine Hemdbrust. Großes Maul, ja, aber kein freies +Wort, keine offene Meinung. Hölzernes Getue galt für Form, +kaltschnäuziges Nörgeln für Geist und öde Prahlhanserei für +Selbstbewußtsein. + +Wenn man mir die Berechtigung abstreitet, eine solche Sprache zu +führen, so habe ich allerdings keine andere Antwort, als den Hinweis auf +eine bis dahin ehrenhafte Existenz. Es war mir eben die Laune verdorben, +und eher trübgestimmt als hoffnungsvoll kam ich nach der kleinen +Garnison. Auch hier fühlte ich mich nicht wohl; ich begann mich zu +langweilen; ich merkte alsbald, was das heißt, in einer Provinzstadt zu +leben, die trotz ihrer vierzigtausend Einwohner etwas ist wie ein Sparta +des Altertums, mit ebenso streng geschiedenen Kasten, nur daß die +kriegerische Härte der Vorschriften durch minder folgenschwere, aber +keineswegs leicht zu übertretende Bestimmungen gesellschaftlichen +Charakters ersetzt werden. Da sind die Spitzen der Behörden, die +militärischen Würdenträger, die Industriellen, die Gutsbesitzer, die +jungen Leute, die eine Rolle spielen, die andern, die bloß eine spielen +möchten; da ist die Generalin oder Oberstin, die das Wetter macht, und +die kleine Apothekersgattin, die gerade noch geduldet ist; da ist die +reiche Fabrikantenfrau, die ihre Toiletten aus Berlin bezieht, und die +Frau Amtsrichter, die aus ihrem Wirtschaftsgeld mittelst rührender +Entbehrungen den Preis für ein einziges schwarzes Seidenkleid erübrigt, +das sie unter Beihilfe der Köchin und eines Mädchens vom Lande selber +näht und das ihr die abendlichen Feste verbietet, wenn der Stoff an den +Ärmeln den fatalen Mattglanz zu zeigen beginnt. Zu Kaisers Geburtstag +gibt der Regierungspräsident einen Ball; zur Errichtung eines +Kriegerdenkmals wird eine künstlerische Soiree veranstaltet, bei welcher +allerlei junge Mädchen wegen ihrer Fortschritte in Gesang und +Klavierspiel beklatscht werden; man geht ins Theater, man wird zur +Enten- und Hasenjagd geladen, und die verheirateten Frauen holen sich +aufregende Romane aus der Leihbibliothek. Einmal im Monat ist +Parademarsch, am Sonntag nach der Kirche spielt die Regimentskapelle +auf dem Residenzplatz, abends sitzt man dann im Kasino oder im +Speisesaal des Hotels de l’Europe, und nach elf Uhr nachts lungern nur +noch irgendwo hinter abgesperrten Türen ein paar ausgestoßene Existenzen +an einem Kartentisch, und zwei Studenten brüllen vor dem Fenster einer +begehrten Kellnerin das Krambambuli. + +Alle diese kennen einander und wissen vieles von einander und verbergen +sich voreinander und schätzen einander und sind einander im Wege und +passen einander auf. Das enge Zusammenleben begünstigt Klatsch und +Übelrednerei; jeder kehrt den Schmutz vor des Andern Tür; Dummheit, +Bosheit, Neid und Mißgunst lassen selbst den Redlichen nicht +ungeschoren, alles, was Aufsehen macht, findet Teilnahme, alles, was in +der Mode ist, Nachahmung; für ernsthafte Interessen ist wenig Sinn. Dies +erfuhr ich bald. So sehr es anfangs meinem Selbstgefühl schmeichelte, +daß ich nun auch zu Hause ein jemand war, der Beachtung verdiente und +Ansehen genoß, denn es war ja meine engste Heimat dahier, so wenig wurde +ich meines Wirkens froh. Ich kam mir vor wie ein verfaulender Baum. + +Ich erinnere mich nicht mehr genau, an welchem Tag es war, als ich die +Majorin Westermark kennen lernte. Ich schließe daraus, daß sie mir +damals wenig Eindruck gemacht hat. Ich sah sie zum erstenmal bei der +Frau von Rütten, die eine Freundin meiner Mutter ist, und die, wie mir +meine Mutter vorsichtig verriet, die löbliche Absicht hatte, mich mit +ihrer siebzehnjährigen Tochter zu verheiraten. Ich machte mir aber +nichts aus dem Mädchen, und das ist lediglich mein Fehler, da sie ein +hübsches und vernünftiges, obschon etwas nüchternes Geschöpf ist. Nach +allem, was ich bereits über die Majorin gehört, hatte ich mir eine +junonische Gestalt gedacht und war deshalb überrascht, sie so klein, +zart und kindhaft zu finden. Ihr Wesen gab in Gesellschaft nichts her, +nichts von Welt und nichts von Innerem, ihr Lächeln war kühl, in der +Bewegung der Lippen zeigte sich eine gewisse Naschhaftigkeit; am meisten +gefielen mir die Augen, die blau, durchsichtig, ausgedehnt und voll +Perlmutter waren, mit Brauen, schwarz und fein wie zwei Sepiastriche. + +Eine solche Stadt wie die, in der ich mich befand, hat alle Späherblicke +immer auf den Punkt geheftet, wo eine ungewöhnliche Erscheinung +hervortritt und sich auf ihre besondere Art gebärdet. Ich habe schon +angedeutet, daß das vielfache Gerede über die Majorin auch zu mir +geflossen war. »Was sagen Sie zu der Frau? Ach, Sie wissen nicht? Sie +wissen nicht, was die Spatzen von den Dächern pfeifen?« Nein, ich wußte +es nicht, ich bezeigte auch kein Interesse dafür. »Sie verstellen sich +doch wohl. Oder glauben Sie, daß das eine glückliche Ehe ist? Der Mann +ist zwanzig Jahre älter, Sie begreifen. Die Frau hatte früher einen +reichen, schlesischen Branntweinbrenner, von dem sie geschieden ist. Sie +ist schön wie das Laster, und so elegant, daß unsre Damen vor Neid nicht +schlafen können; echte Pariser Hüte, echte Brüsseler Spitzen, echte +Pelze, Diamanten wie ein persischer Prinz, und Parfüms, Parfüms sage ich +Ihnen, überwältigend wie eine Ananasbowle nach einem Jagdritt.« – »Nun +ja, der Major ist sicherlich reich.« – »Nein, die Frau hat Geld, die +Frau. Der Major ist ein Sonderling. Ich möchte ihm gern meine Augen +leihen.« + +O Bosheit aus dem Winkel, die du Augen verleihen willst, dachte ich mir. +Aber die üblen Gerüchte waren hartnäckiger als meine Gleichgültigkeit. +Ich traf eines Tages einen Freund in der Stadt, einen jungen Ingenieur, +der irgendwo in der Nähe den Bau einer Eisenbahnbrücke leitete. Wir +waren als Gymnasiasten ein paar Jahre lang unzertrennlich gewesen, und +es bereitete mir lebhaftes Vergnügen, ihn wiederzusehen. Wir kamen oft +zusammen, bald in einer Weinstube, bald in seiner oder meiner Wohnung; +und wie es schon so geht, einmal gerieten wir beim Gespräch auch auf +Aurora Westermark und die über sie umlaufenden Gerüchte. Mein Freund +kannte sie nur flüchtig, aber er war einer jener Menschen von +instinktivem Scharfblick, die in andern Seelen lesen zu können scheinen, +und deren Urteil sich daher von selber Vertrauen erzwingt. + +Deutlich steht mir noch jene Stunde vor Augen und genau ist mir noch +jedes seiner Worte gegenwärtig, die ich nur mit innerem Unwillen +anzuhören vermochte. »Diese Frau hat die Gabe, unschuldig zu scheinen +und Leidenschaften einzuflößen«, sagte er ungefähr. »Wie sie den schwer +zugänglichen Major umgarnt hat, das ist gewiß ein Kunststück gewesen. +Ich weiß nicht, ob dir die Umstände bekannt sind; es war während der +großen Manöver vor zwei Jahren; umschwärmt von den Offizieren eines +ganzen Stabes, hatte sie sich’s offenbar in den Kopf gesetzt, den +sprödesten und verstocktesten zu gewinnen, denjenigen, für den eine +Weltdame etwas war wie ein seltenes Schmuckstück, das er sich verschafft +ohne Freude und Verständnis, nur weil er gerade bei Geld und guter Laune +ist und weil es von andern gerühmt und begehrt wird. Sie hatte den +schlechtesten Ruf. Man sagt, daß sie Liebe verkauft hatte, unumwunden +und unter Vorwänden, um einer Perlenkette willen, um eines Ränkespiels +willen, um nichts ungenossen vorübergehen zu lassen von den Lockungen +der Jugend, aus Gefallsucht, aus Sinnlichkeit, aus Langerweile, aus +Schwäche, aus Lust an der Selbsterniedrigung, aus Vergnügen an einer +doppelten Existenz in zwei Sphären der bürgerlichen Welt, von denen die +eine nicht weiß, was in der andern geschieht, so daß die +Geschicklichkeit, der einen die Kunde aus der andern vorzuenthalten, +etwas von der Spannung eines Revolverdramas mit sich bringt und die +sonst leeren Tage mit dem Tumult verschwiegener Betätigung erfüllt. Ich +bin gewiß,« fuhr mein Freund fort, gegen den ich in diesem Augenblick +eine nicht zu überwindende Empfindung des Hasses, ja des Abscheus hegte, +»ich bin gewiß, daß sie’s gegenwärtig nicht viel besser treibt. Ich +glaube nicht, daß sie je von Liebe erfahren hat, sondern nur von +Aufregungen, Sorgen, abwägenden Interessen, Kränkungen des Stolzes, +Gefahren der Enthüllung und die Überzeugung von der Nichtswürdigkeit der +Männer, so wie eben solchen Frauen die Männer sich zeigen müssen.« + +»Aber was wäre denn das für ein Leben!« rief ich kopfschüttelnd. »Welche +Einsamkeit setzt das voraus, welche Kraft, alle diese Dinge in der +Stille mit sich selber abzumachen!« + +Mein Freund zuckte die Achsel. »Es ist das Leben eines Menschen, der auf +glühenden Kohlen tanzt und sich stellen muß, als ging’s über einen +harmlosen Teppich«, antwortete er. »Wir haben eine Menge solcher +Equilibristen in der Gesellschaft, und das vertrackte und verlogene +Dasein, das wir führen, fordert die unruhigen Köpfe geradewegs dazu +heraus.« + +»Gibt es denn irgendwelche faktischen Delikte?« fragte ich. + +»Es heißt, daß sie mit jedem hübschen Offizier abenteuert; daß sie sich +jedem Laffen hingibt, der sich der Mühe der Werbung unterzieht und den +Preis nicht zu hoch findet, den Preis des Verrats nämlich. Auch sagt +man, daß sie seit Jahren eine dauernde Beziehung zu einem Berliner +Fabrikanten unterhält, der außerdem günstige Börsengeschäfte für sie +vermitteln soll, den sie irgendwie draußen oder in der Stadt trifft und +der eine unerklärliche Gewalt über sie ausübt, vielleicht die Gewalt +bedenkenloser Brutalität. Daß der Major darüber in vollständiger +Ahnungslosigkeit verbleibt, gehört zu unsern sonderbaren, aber nicht +ungewöhnlichen sozialen Geheimnissen. Alle wissen, er nicht; alle +raunen, er ist taub. Man schont ihn wahrscheinlich, man schont seine +Stellung, seine Häuslichkeit, und sie hinwiederum profitiert von der +Achtung, deren ihr Gatte genießt. Auch macht ihr Auftreten, ihre +Schönheit, ihre vollendete Haltung die Argwöhnischen vorsichtig, und den +Mut der Übelredner zunichte. Sie hat ja eine Art zu gehen, zu stehen, zu +reiten, zu lachen, zu tanzen, die blendend ist, das muß man zugeben. Was +tut’s, wenn bisweilen an den Grenzen des Bezirks ein Flämmchen aufzischt +und einen Schritt der heimlichen Pfade beleuchtet? Oft sehen Augen, +denen keine Zunge dient, die zu reden weiß, und ein anderes Mal +schwatzen Mäuler, wo Augen nichts gesehen haben.« + +Ich bekenne, daß mich dieses Gespräch bis in die Nieren erkältete. Dies +»es heißt« und »man sagt« erfüllte mich mit Mißtrauen gegen den Freund, +mit einer Art Furcht vor ihm; ich ging ihm von da an für lange Zeit aus +dem Wege. Seine Ehrlichkeit erschien mir durchaus böswilliger Natur; ich +bildete mir ein, daß ich einer ritterlichen Pflicht gehorchte, indem ich +mich in meinem Innern auf die Seite einer wehrlosen Geschmähten schlug. +Kleinstädtischer Klatsch, sagte ich mir, läßt den reinlich Denkenden +eher zum Anwalt des Besudelten werden, als daß er die Partei von Feinden +nimmt, die sich verbergen. Es war ein Selbstbetrug, dem ich mich hingab. +Die Frau hatte ganz einfach mein Gefallen erweckt, und das wollte ich +mir verhehlen. Ich traute ihr Schlimmes nicht zu, ich sah ein Kind in +ihr, verführerisch, am Ende mißleitet, aber nicht verworfen. Ich +sträubte mich nicht gegen die Freundlichkeit, die der Major alsbald in +auffälliger Weise gegen mich an den Tag legte. Ich besuchte oft sein +Haus, und es schien sich ganz von selbst zu geben, daß ich manche +Stunden mit Aurora allein verbrachte. + +Sie gestand mir, daß sie von Anfang an aufs innigste gewünscht habe, +meine Bekanntschaft zu machen, denn sie habe beim ersten Blick gefühlt, +daß ich ihr mit Wohlwollen gegenüber getreten sei. Dies mußte ich +bestätigen, ihre schmeichelhaften Worte über meine Vergangenheit, meine +Taten, meinen Ruhm usw. lehnte ich höflich ab. Die nichtigen Dinge, von +denen sie mit mir plauderte, gewannen einen Reiz von Scherzhaftigkeit, +dann wieder von anmutiger Melancholie. Vertrauen schien sie als +selbstverständlich zu betrachten und war nicht einmal bedachtsam in +ihrem Tadel über die Lebensführung anderer. Sie sprach mit einer +unvergleichlich musikalischen Stimme, weich im Ton, klagend in der +Färbung, hie und da mit einer Bemerkung voll Witz und Geist. Ihr Zuhören +war sympathisch durch den Blick eines wißbegierigen Schülers. Sonst war +sie nicht selten gequält, beunruhigt, verschüchtert, also gar nicht mehr +Dame. Sie eroberte unbedingt, ich hätte ihr alles geglaubt, und ich +glaubte auch alles, selbst das Unwahrscheinlichste, wennschon mir ihr +Wesen manchmal wie Dünensand vorkam; erst denkt man etwas Festes zu +halten, und wenn man zupackt, verrinnt und verrieselt alles zwischen den +Fingern. + +Im Verkehr mit ihrem Mann sah ich sie von gemessener Liebenswürdigkeit, +Nachsicht mehr gewährend als beanspruchend, gegen launenhafte +Bärbeißigkeit sich mit ironischer Duldermine wappnend, wobei ein +forschender und spöttisch-kühner Blick den Beobachter zum +Mitverschworenen machte. Der Major erweckte den Eindruck eines +gutmütigen Mannes; er war untersetzt und korpulent und trotz seiner +Jahre nur mäßig ergraut; doch pflegte er den Schnurrbart mit einer +Pomade zu behandeln, die diesem das Ansehen eines frisch lackierten +Gegenstandes gab. Sein Blick war flackernd wie der eines viel und +fruchtlos arbeitenden Menschen; in der Tat verhinderte er nur durch +einen fast überstürzten Eifer im Dienst seine langgefürchtete +Kaltstellung. Er gehörte zu jenen Offizieren vom alten Schlag, die durch +Rauheit und martialisches Auftreten an verjährte Verdienste erinnern und +den Mangel an gegenwärtigen verdecken wollen. Er liebte die Jagd, schöne +Pferde und Hunde; doch mit diesen Leidenschaften verbarg er nur den +Groll gegen ein Regime, das ihn zur schimpflichen Rolle eines Mitläufers +und stummen Bittstellers verurteilte, und er erfüllte seine +Obliegenheiten wie mit zusammengebissenen Zähnen, war immer in Hast und +Angst, und, wie alle unsicheren Beamten, von übertriebener Strenge gegen +Untergebene und übertriebener Devotion gegen Vorgesetzte. + +Ich glaube, mit solchem Urteil kein Unrecht an dem Major zu begehen; +alle diese Umstände waren ja mehr oder weniger öffentliches Geheimnis. +Ich habe beschlossen wahr zu sein, und so muß auch dieses gesagt werden. +Es trifft nicht zu, daß ich dem Major ohne Achtung begegnet bin; ich +hatte anfangs sogar Gefallen an ihm, wie er an mir, erst im Verlauf der +Begebenheiten wandelte sich meine Gesinnung auf so verderbliche Art. + +Ich begleitete Aurora ins Theater, auf die Promenade, ich kam zu ihren +Teestunden, und so vergingen Wochen, ohne daß ich ein Arg gegen mich +selber faßte. Wenn ich Gäste bei ihr traf, zeigte sie mir +unmißverstehlich, daß ihr Gäste zur Last waren und daß ich allein es +nicht war. Ein solcher Beweis von Freundschaft heischte Dank, und ich +blieb, nachdem alle sich verabschiedet hatten, auch der Major, der die +späten Nachmittagsstunden im Kasino verbrachte und mit einem +Oberleutnant vom Train Schach spielte. Oftmals mußte ich ihr von meinen +Kriegserlebnissen erzählen, wobei sie atemlos lauschte. Wie sagt doch +Othello? »Ich sprach von harten Unglücksfällen, manch rührendem Geschick +zu See und Land, wie ich nur auf ein Haar dem Tod entronnen, von grausen +Schlünden, öden Wüsteneien, von Klüften, Felsen, himmelhohen Bergen, von +Kannibalen, die einander fressen. Und dies zu hören, war Desdemona +innerlich gespannt.« Und als er geendet, lohnte ihn das Fräulein mit +einer »Welt von Seufzern« und wünschte, sie hätte es nicht vernommen, +und wünschte doch, Gott hätte aus ihr einen solchen Mann gemacht. + +War auch Aurora nicht dermaßen bezaubert, so stellte sie sich doch +ähnlich und ihre Teilnahme war jedenfalls echt. Auch schrieb sie mir +Verdienste zu, die ihr trotz aller Selbstverständlichkeit groß und neu +dünkten, und vor allem erschien ich ihr verläßlich. Verläßlichkeit war +ihr Ideal, wie wenn ihr das Geschick einen Trumpf im Spiel hätte +vorgeben können durch die bewunderte Tugend eines andern. + +Heute seh’ ich dies klar, damals bestrickte mich ihr bedenkenloses +Anschmiegen. Da ich merkte, daß sie wenig oder nichts las, brachte ich +Bücher, unter andern schenkte ich ihr die Frithjofssage, ein Gedicht, +für welches ich begeistert war. Sie gestand mir aber offen, daß Verse +sie langweilten und daß sie zum Lesen überhaupt keine Geduld hätte; so +ließ ich es denn sein. Sie wurde jetzt bisweilen karg in der +Unterhaltung und von unverständlicher Vorsicht. Darin lag etwas +Verwirrendes, denn ich fühlte mich einer Person gegenüber, die ihrer +Rede wenig Gewicht beimißt, weil sie Bedeutsames verschweigen muß. Sie +hatte immer den auffangenden Blick im Auge, der meine Ungeduld erregte. +Ich fragte, hörte, antwortete und war mit der gleichen Aufmerksamkeit +beschäftigt, dem Zwitschern eines Vogels oder dem Surren des Windes zu +lauschen. Was kann der Major mit einem solchen Weib beginnen? dachte ich +oft verwundert; er ist ein Soldat, aber kein Orchideenzüchter. Himmel, +wenn ich dies Gesicht beständig um mich wüßte, ich wäre versucht, damit +zu verfahren, wie die Kinder, die ihre geliebtesten Puppen aufschneiden, +um herauszubringen, was drinnen ist. + +So fing es an, mit Abwehr und Wißbegier fing es an. Und wenn es ihr +Entschluß war, mein ruhiges Herz in Flammen zu setzen, was bedurfte es +da noch viel? Eines Abends fragte sie mich unumwunden nach meinen +bisherigen Herzenserlebnissen und darauf mit Offenheit zu entgegnen, war +leicht und schwer in einem. Ich hatte nicht viel zu berichten. Schon als +Primaner hatte ich Verachtung für die Liebeleien gewisser Kommilitonen +empfunden, und fernerhin war mir jede leidenschaftliche Entäußerung ein +Greuel gewesen. Ich war freilich kein Kostverächter, kein Joseph; ich +nahm stets, was man mir bot, aber zu langgesponnenen Verhältnissen +fehlte mir die Zeit, und an die sogenannten großen Passionen glaubte ich +nicht. Amüsement, ja; doch durfte es nicht zum Katzenjammer führen; +alles übrige schien mir Bummelei und Jugendeselei. Ich weiß, es war +erbärmlich, daß ein Kerl wie ich eigentlich nur von käuflicher Liebe +wußte, nur von Vergnügen und nichts von Hingabe, nur von Dirnen und +nichts von Frauen. Aber das passiert heute tausendmal, es ist viel +häufiger, als man denkt, und gerade diejenigen, die ihre Stirn am +aufdringlichsten mit dem Heldenlorbeer schmücken, sind, wenn man die +Sachen bei Licht betrachtet, ebensolche Jämmerlinge. Dagegen lebt +wahrscheinlich in dem Kopf jedes Frauenzimmers eine Vorstellung von +Durchschnittspoesie und Schmökerromantik, die ihr unentbehrlich ist wie +ein Luxuskleid, auch wenn sie selbst dergleichen nie erlebt hat und so +wenig davon hält wie ein Moslem von der Hostie. + +Ich wußte nicht, wie mir geschah, als ich nun plötzlich fand, daß ich +eine Armut verraten hatte, über die mir bis jetzt kein Skrupel +aufgestiegen war. Schon atmeten wir in einer verderblichen Luft. Wir +verständigten uns durch Blicke und Mienen, und die Selbstbeherrschung, +die wir zu üben wähnten, war nur eine Gaukelei. Ich sagte mir im Anfang +bisweilen: die Frau ist kalt, oder noch schlimmer, kühl; die Frau +rechnet, die Frau lauert. Aber da war ihre Sanftmut, ihre zarte Stimme, +ihr ergebenes, verstörtes, beschwichtigendes Lächeln; da hatte sie eine +sonderbare, oft wiederkehrende Bewegung der Hände, die darin bestand, +daß sie die Finger ineinanderflocht, um sie dann wie verzweifelt in den +Schoß einzusenken. Das riß mich aus allem Gleichmut. + +Ihr Wesen blieb mir rätselhaft, bis sie mir eines Tages erzählte, wie +ihre erste Ehe das Werk habsüchtiger Eltern und Verwandter gewesen sei; +der Mann ein Trinker, ein Wucherer, ein Lüstling. Sie versicherte mir, +daß sie im Zusammenleben mit ihm unberührt geblieben sei, und daß +hauptsächlich deswegen nach drei qualvollen Jahren die Scheidung +ausgesprochen werden konnte. Sie sprach dann von ihren Reisen, von +zermarternder Unruhe, vom Wunsch nach Frieden, von ihrem Ekel an Welt +und Männern, und da lernte sie Westermark kennen; sie dachte an ihm +einen Beschützer zu finden, sie fühlte eine herzliche Kameradschaft für +ihn, sie habe sich betören lassen und ihn geheiratet. Als sie nun lange +schwieg, blickte ich sie fragend an. + +Ja, darüber sei Schweigen geboten, sagte sie, darüber, was jetzt kam, +müsse geschwiegen werden. + +Geheimnis also? nicht anrührbares Geheimnis? Auroras Gesicht glich einer +Uhr, die plötzlich stehen bleibt. Geheimnisse binden, auch wenn sie +nicht enthüllt werden. Aber mein Inneres war schon zu sehr ergriffen, +als daß ich aus Delikatesse hätte auf Teilnahme verzichten mögen. Ich +bat in der dringlichsten Weise um Aufklärung. »Wozu? was soll es +nützen?« antwortete mir Aurora. »Warum sollte ich Sie in eine +Ungeheuerlichkeit einweihen, die mich allein schon übermäßig bedrückt +und lebensuntüchtig macht? Sie würden mir nicht glauben, Sie dürfen mir +nicht glauben, denn wer bin ich? Ein verlorenes, verachtetes Geschöpf, +der Gegenstand unsauberer Gespräche am Biertisch, die wehrlose Beute +aller Nachrichtenjäger der ganzen Stadt, mit meinem Namen in jede +Spelunke geschleppt, beneidet, bewacht, einsam, unerhört einsam und +unerhört verraten. Wollt’ ich bekennen, was ich in diesem Haus für ein +Leben zubringe, so würde ich ja vielleicht auch Sie verlieren, der mir +gutgesinnt ist. Nein, nein, erlassen Sie mir das, gönnen Sie mir die +harmlosen Stunden mit Ihnen.« + +Man sagt gemeinhin, und die Erfahrung macht mich geneigt, dem +beizupflichten, daß Männer über dreißig, wenn sie zum erstenmal in ihrem +Leben der Gewalt einer Leidenschaft erliegen, sich in nichts von der +Unbesonnenheit und Kopflosigkeit der Jünglinge unterscheiden, daß sie im +Gegenteil noch großmütiger ihr Gefühl, noch bereitwilliger ihren Stolz, +noch unbedingter ihr Vertrauen verschwenden. Ich habe versucht, das +Unheil zu bekämpfen, als es da war, ich habe mich noch mit aller Kraft +gewehrt, als es mich umschlang. Vielleicht hätte ich es bezwingen +können; vielleicht gab es einen Tag, eine Stunde, wo ich noch Meister +des Verhängnisses werden konnte, wo ich mit dem Gedanken an ein +Abschiedswort, dem Vorsatz einer Reise zu der Frau ging. Aber da mochte +es scheinen, als rede die Frau mit einem andern Ton denn gestern; als +sei die Hand, die sie mir bot, verwandelt worden. Wenn Früchte reif +sind, fühlen sie sich gleichsam wärmer an, und so hatte sich etwa ihre +Hand angefühlt, wie eine reife Frucht. + +Einverständnis genug; Erwiderung genug; es braucht nicht mehr als den +Abglanz der eigenen Sehnsucht in dem geliebten Antlitz und Auge, nicht +mehr als ein gestammeltes Wort, als einen flehentlichen Blick, und +Pflicht, Gewissen, Zukunftsfurcht entschwinden für immer in der +Süßigkeit und Betäubung eines jähen Sicherkennens. Jetzt sind die Tore +zugeschlossen, und es gibt keine Reise mehr. Ich entsinne mich eines +Tages, wo ich mit Begierde die Gesellschaft eines Mannes suchte, eines +Freundes, den außerhalb meines beruflichen Kreises zu finden mir höchst +erwünscht war. Da traf ich den Ingenieur, von dem ich schon gesprochen, +durch Zufall auf der Gasse. Er blieb unschlüssig stehen, ich reichte ihm +die Hand. Ich verzieh ihm alles, was er über Aurora Westermark geäußert +hatte, noch mehr, ich empfand das Bedürfnis, ihn mit der wunderbaren +Frau näher bekannt zu machen, und ich war überzeugt, daß er sie mit +andern Augen ansehen würde. Das Vorhaben war leicht, als Freund Auroras +durfte ich es wagen, ihn einfach zu einem ihrer Empfangsnachmittage +mitzunehmen. Ich fing alsbald davon an, er war ziemlich betroffen, +erwiderte jedoch, wenn ich Wert darauf lege, wolle er mir gern +willfahren, obwohl seine Zeit ihm die Pflege gesellschaftlicher +Beziehungen sonst nicht gestatte. Wenn ich mir heute dies Gespräch +überlege, so muß ich glauben, daß in meinem Benehmen etwas Krankhaftes, +ja sogar Krankes enthalten sein mußte, denn der junge Mann blickte mich +bisweilen fast mitleidig von der Seite an und meinte schließlich, es tue +ihm aufrichtig leid, wenn er mich damals durch seine unüberlegte +Offenheit verletzt habe. Am nächsten Tag gingen wir zusammen zur +Majorin; Aurora nahm ihn mit Herzlichkeit auf, und sie schmeichelte ihm +durch eine gewissermaßen sachliche Hochachtung, die bei Frauen selten +ist, und die hier am Platze war. Er kam nun bisweilen an Montagen und +Donnerstagen, blieb aber zumeist auffallend schweigsam, trotzdem ihm +Auroras Sympathie durchaus nicht verborgen blieb. Einmal gingen wir +zusammen weg, und ich sagte ganz unvermittelt zu ihm: »Hast du nun dein +Urteil revidiert? Gibst du nicht zu, daß das ein Geschöpf ist, wie es so +vollendet nur aus der Meisterhand Gottes hervorgehen kann?« Und als er +nur mechanisch nickte, fügte ich hinzu: »Ich hoffe, daß du mich nicht +mißdeutest, und daß du meine Worte so auslegst, daß wir uns auch +weiterhin gerade in die Augen sehen können.« + +»Mehr brauche ich nicht zu wissen«, entgegnete er ernst und anscheinend +überrascht. Er besuchte von da an das Westermarksche Haus nicht mehr. + +Warum ich die Art meines Verhältnisses zu Aurora vor dem Verdacht eines +Freundes schützen zu müssen glaubte, weiß ich kaum. Ich hatte keinen +Zweifel an ihrer Ehre und Reinheit. Aber das namen- und gesichtslose +Hörensagen, unter dem ihr Ruf litt, war eine Qual sondergleichen für +mich. Ich hätte mich gerne gestellt, aber wie durfte ich dies, wer hätte +mir das Recht dazu eingeräumt? Ein Blick, ein zweideutiges Lächeln, ein +Achselzucken, ein irrlichterndes Wort dann und wann, es überlief mich +kalt, wenn ich dessen nur nachträglich gedachte; ich fand mich beleidigt +und geschmäht, bald genug bekam ich zu spüren, daß das verleumderische +Geschwätz auch schon meinen eigenen Namen bespritzte; aus dem Bewußtsein +meiner Schuldlosigkeit, und, da Aurora sich mir gegenüber noch mit +keinem Hauch etwas vergeben hatte, zog ich den Schluß, daß all die +andern Anwürfe und Gerüchte ebenso trugvoll, lügnerisch und boshaft +seien wie dieses. Traurigkeit und Ingrimm nahmen von mir Besitz, ich +sonderte mich ab von den Kameraden wo es nur irgend anging, und hatte +ich vorher schon für unliebenswürdig gegolten, so erklärte man mich +jetzt für abstoßend hoffärtig, oder mildesten Falls für einen finstern +Einsiedler. Ja, ich haßte sie, diese still beieinander hockenden +Aufpasser, Schlimmredner und Giftkocher, diese gutangezogenen Megären +und unbezahlten Spione, die ihrem Dünkel und ihrem Müßiggang kein +unterhaltsameres Spiel wußten, als die nie wieder gutzumachende +Besudelung eines schönen Herzens und edlen Charakters, denn so erschien +mir Aurora. + +Indessen wucherte das Grübeln über die furchtbaren Andeutungen, die sie +mir in bezug auf ihr eheliches Leben getan, heimlich in mir fort. Ich +wagte sie nicht mehr daran zu erinnern, ich wollte nicht mehr fragen, +ich glaubte zartfühlend zu sein, doch meine Seelenruhe kam dabei +schlecht weg. Tausend Vermutungen erwog ich, bis in die Träume hinein +verfolgte mich das haltlose Denken, und so geschah es denn doch, daß ich +einstmals, wir saßen im oberen Gesellschaftszimmer vor der Terrasse +einander gegenüber, daß ich die Frage stellte, mitten in eine ruhende +Minute hinein, in der mir zu Sinn war, als hörte ich das Ziehen der +Wolken am herbstlichen Himmel. Aurora erschauerte; sie sah mich eine +Weile zornig an, plötzlich stand sie auf, kehrte sich mit dem Gesicht +gegen das Fenster, und ich gewahrte am Zucken ihrer Schultern, daß sie +weinte. Während ich ratlos dasaß und meine Taktlosigkeit verwünschte, +hörte ich die säbelrasselnden, plumpen Schritte des Majors auf der +Flurtreppe. Aurora wandte sich um, mit erschrockenen Augen starrte sie +gegen die Türe und flüsterte: »Ich kann ihn jetzt nicht sehen.« Damit +verließ sie das Zimmer. Der Major trat ein und zeigte ein verwundertes +Gesicht, als er mich allein sah. Er begrüßte mich mit zusammengekniffenen +Augen und begann mit mir ruhig über dienstliche Angelegenheiten zu +sprechen. Meine Nerven waren bis zur Unerträglichkeit gespannt, ich +hörte kaum, was er sagte, und ich verfolgte seine Schritte und +Bewegungen mit einem beunruhigten und haßähnlichen Gefühl. Plötzlich +fragte er mich, wo seine Frau sei. Ich antwortete, sie sei vor wenigen +Minuten hinausgegangen. Sein Gesicht verdüsterte sich: »Sie macht mir +viel Kopfzerbrechen mit ihren Launen«, sagte er seufzend, indem er sich +schwer in einen Sessel fallen ließ. »Ich sollte mich wirklich mehr um +sie bekümmern,« fuhr er fort, »aber, lieber Treunitz, Sie haben keine +Ahnung, was für Plackereien ich ausgesetzt bin; es kostet mich +Überwindung genug, sie nichts merken zu lassen, aber wer kann immer +heiter sein, wenn’s einem an den Kragen geht? So eine Frau will nichts +als eitel Wonne um sich sehen; ich kann’s ihr nicht verdenken, sie ist +jung. Mag sie sich nur amüsieren, ich lege ihr keine Balken über den +Weg. Doch wie gesagt, die Launen, die Launen!« + +Was er mit den Launen meinte, konnte ich mir nicht enträtseln. Es war +mir eine Pein, ihn zu hören, andrerseits rührte mich sein Wesen, und er +erschien mir durchaus nicht als böse. Ich wußte nur unbestimmte +Redensarten zu erwidern. Meine Situation kam mir ebenso bedrückend wie +die seine kläglich vor. Ich verabschiedete mich von ihm. Als ich über +den Korridor schritt, stand Aurora neben der Treppe. Sie winkte mir, ihr +zu folgen. Ich trat in ein kleines, boudoirähnliches Gemach. Aurora +blickte mich forschend an. Etwas Trauriges, aber nicht bloß Trauriges, +sondern auch Wildes, eine Art von Außersichsein in ihren Zügen brachte +mich vollkommen um den Verstand. Plötzlich umschlangen mich ihre Arme, +und ich fühlte ihre Lippen auf den meinen. »Geh, geh«, stieß sie dann +durch die verpreßten Zähne hervor. Ich ging. + +Mir brannte Hirn und Herz. Nie mehr über diese Schwelle, rief es in mir. +Ich scheute mich, den Menschen in die Augen zu blicken. Und doch war ich +glücklich; ich hatte ihre Schultern gespürt, ihre Arme, ihren Mund. Ich +begab mich nach Hause, lief wie toll in meinem Zimmer auf und ab, ging +wieder fort und stand in der Nacht, ich weiß nicht wie lange, vor der +Villa des Majors, zu den schwarzen Fenstern emporstarrend. Die Stunden +bis zum andern Nachmittag schlichen qualvoll hin. Als ich zu Aurora kam, +waren Gäste da. Sie scherzte und plauderte wie gewöhnlich. Dies war mir +unbegreiflich. Erst um sechs Uhr waren wir allein. Mit rauher Stimme bat +ich sie um Aufklärung. Ich sagte, daß ich den Zustand des Zweifels und +der schlimmen Befürchtungen nicht mehr ertragen könne. + +»Was wollen Sie von mir?« entgegnete sie hart. Ich blickte sie erstaunt +an, aber sie senkte nicht die Augen und flammte mich drohend an. Da +packte ich ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen. Sie ließ mich ruhig +gewähren, indes sie den Kopf in die andere Hand stützte. »Wenn ich alles +sagen wollte, wer könnte mir glauben«, murmelte sie vor sich hin, und +ihr Körper schrumpfte zusammen wie unter der Gewalt eines physischen +Schmerzes. »Gehen wir ein wenig ins Freie«, schlug sie vor. Wir gingen +in den Garten. Dort erzählte sie mir alles; während wir über die dunklen +Wege schritten, schilderte sie mir ihre Ehe. Sie schilderte mir diese +Ehe als ein Martyrium, das ohne Beispiel war. Sie schilderte den Major +als einen argwöhnischen, neidischen, boshaften, ohnmächtigen, +lügenhaften, und gewalttätigen Greis. Sie sagte mir, daß er sie schlüge. +(O Gott, der Speichel im Munde wurde mir bitter wie Galle.) An ihr räche +er die Unbill und Zurücksetzung, die er überall zu erleiden wähne. Wo er +ihre Wünsche erfülle, sei es zum Schein; wenn er sich freundlich stelle, +sei es zum Schein. Er behandle sie schlimmer als einen Hund. Seit +sechzehn Monaten lebe sie wie in einem Starrkrampf, und was sie lache +und rede, wisse sie nicht. Zuerst habe sie geschwiegen aus Furcht vor +ihm, dann aus Furcht vor der Welt, denn noch einmal als geschiedene Frau +bodenlos und heimatlos dastehn, das zu ertragen, sei sie nicht fähig, +lieber wähle sie den langsamen Tod aus Kummer, Zorn und Angst. + +Ich glaubte. Man denke nach, ob es für mich eine andere Möglichkeit gab, +als zu glauben. Es gibt im Ungeheuerlichen einen Punkt, wo der Zweifel +erstickt, anstatt genährt wird. Man kann der Raserei mißtrauen, man kann +der Wut oder dem Haß mißtrauen, aber der sanften, schwermütigen und +verzweifelten Ruhe, mit der mich Aurora zum Mitwisser ihres Geheimnisses +machte, ist schwer zu mißtrauen. Ich wußte zu wenig von Leidenschaft, zu +wenig von dieser schrecklichen Narkose des Gemüts. Die Gewohnheit kalter +Sinnenlust und bezahlter Vergnügungen hatte mich einem Sträfling ähnlich +gemacht, der die Kette nicht mehr spürt, aber vor Freude verrückt wird, +wenn man ihm die Freiheit schenkt. + +Wie hätte ich ahnen sollen, was in diesem Weibergehirn vor sich ging? +ahnen sollen, daß Neugier sie zur Verderberin und Verbrecherin machen +konnte? Neugier, wie weit sie mich zu treiben imstande war! Sie glaubte +nicht an Männer, sie glaubte nicht an mich. Daß ich in der Schlacht +gewesen, daß ich Feindesblut und eigenes Blut vergossen hatte, das +verlockte sie, und sie wollte mich erproben. Sie wollte ihre Macht an +mir erproben. Sie hatte die unbestimmte Sehnsucht, Urheberin einer Tat +zu werden, aber sie glaubte nicht an diese Tat, so wenig wie sie an +Worte, Schwüre, Vorsätze und Empfindungen glaubte. Die unergründliche, +unermeßliche Leere ihrer Brust verzerrte ihr alles ernste Bestreben, +Wissen, Wollen, Denken und Vollbringen zu spottwürdigen Schemen. Und so +wurde meine Ergebenheit zu einem Piedestal für ihren lasterhaften +Willen, und es war eine unheimliche Begierde in ihr, mich zu entfalten, +mich gleichsam auseinanderzureißen, um zu sehen, – was in mir drinnen +sei. Dieses und sonst nichts. + +Das weiß ich jetzt; ich habe es erfahren müssen in einer Stunde, die +mich aus dem Himmel in die Hölle stürzte, einer Stunde, wie sie +vielleicht nur wenige Menschen je erlebt haben, und die ich auch um +keinen Preis noch einmal erleben möchte. Aber wie hätte ich es damals +spüren oder nur denken sollen? frage ich. Vor mir stand eine Frau, jung +und unvergleichlich schön, den Sammet rührender Duldung in den Augen, +und so hingeschmolzen vor meinem Wort und schlechten Trost, daß ein Tier +weich geworden wäre. Kann man das noch Verstellung oder Heuchelei +nennen? Ist dies nicht vielmehr eine böse zauberische Kraft, für die es +noch keinen Namen gibt? + +Ich will es nicht versuchen, meinen jammervollen Zustand zu schildern. +Ich wandelte herum wie ein Vergifteter, auch schmeckte mir kein Bissen +mehr. Daß ich liebte, war kein Glück mehr für mich, daß ich geliebt +wurde, spürte ich nur wie im Traum. Wie ich es fertigbrachte, mich +täglich anzukleiden, zu waschen, zu frühstücken und den Obliegenheiten +meines Berufs zu genügen, ist mir heute noch ein Rätsel. Offenbar gibt +es irgendeine Maschine in unserm Innern, welche die alltäglichen +Pflichten gewohnheitsmäßig erfüllt. Eines Tages war ich bei meiner +Mutter zu Tisch, und da ich alle Speisen unberührt ließ, stellte sie +mich plötzlich in ernstem Ton zur Rede. Sie sagte, sie wisse alles; sie +beschwor mich, von Aurora zu lassen und nannte sie eine gefährliche +Kokette. Ich packte ihre Hände, wie man die Fäuste eines Gegners packt, +der zum Schlag ausholt. »Auch du,« rief ich, außer mir vor Wut und +Enttäuschung, »auch du gehst zu den Verleumdern. Du weißt ja nichts von +ihr. Ach, wenn du wüßtest, wenn du wüßtest, es soll sich mir nur einer +stellen! nur einmal Aug’ in Auge! Mich dürstet ja danach, sie vor die +Pistole zu bekommen, die feigen Hunde!« Meine Mutter war erschrocken, +sie umarmte mich schluchzend und sagte: »Daß du den Appetit verloren +hast, mein Junge, ist für mich das beste Zeichen, daß deine Leidenschaft +verderblich und unnatürlich ist.« + +So zeigt sich einem jeden die Welt anders; dem einen von der +Herzensseite, dem andern von der Magenseite. Aber meine Mutter hatte +Recht. Dennoch vermied ich es in der Folge, sie zu besuchen, und vom +November bis zum Februar sah ich sie nur zweimal. Auch mit andern +Menschen sprach ich nicht mehr als das Notdürftigste; ich gab jeden +Verkehr auf und stellte Aurora meine freie Zeit völlig zur Verfügung. +Nachdem ich mich lange in einem Zustand der Zerschmetterung befunden +hatte, begann ich die Unhaltbarkeit der Lage zu spüren, um so mehr, als +meine finstere Apathie in Aurora sichtlich eine gewisse Ungeduld +erweckte. Ich sagte zu ihr, ich müsse mich mit dem Major schlagen. Sie +erwiderte mit der ihr eigenen brennenden und faszinierenden Ruhe: »Wie? +Du willst dein Leben gegen das seine in die Wagschale werfen? Ein +Zufall, und er bleibt Sieger, und ich, verlassener als je, bin nicht nur +auf seine Gnade angewiesen, sondern habe auch noch dich verloren. Bevor +du mir das antust, schieß’ ich mir selber eine Kugel in den Kopf, das +sollst du wissen.« + +Ihre Beredsamkeit war groß. Es ist von jeher meine Schwäche gewesen, daß +ich gegen beredsame Naturen schnell unterlag. Ich faßte den Plan einer +Flucht. »Fliehen wir!« schlug ich ihr vor, »ich bin reich, laß uns übers +Meer fahren und ein neues Leben anfangen.« + +Sie schüttelte den Kopf. »Fliehen heißt, mich in den Augen der Welt für +schuldig und ungetreu bekennen,« sagte sie. »Heutzutage ist die Welt zu +klein für solche Wagnisse. Wer kann mich zwingen oder mir es als +nützlich einreden, daß ich wie ein Dieb in der Nacht ein Haus verlassen +soll, in dem man mit Füßen auf mich getreten ist, in dem man mich +bespien und besudelt hat? Nein, Treunitz, das kann ein stolzer Mann +nicht von mir wollen.« + +Da stand ich wie ein Schüler. »Was wollen wir also tun?« fragte ich. + +»So geben wir uns doch auf!« rief sie trotzig und wie ermüdet. Ich +schwieg, muß jedoch sehr blaß geworden sein, denn sie sah mich an, erst +besorgt, dann nachdenklich, düster und kalt. An jenem Tag verstand ich +den Blick noch nicht. Der nächste Tag war Allerseelen. Ich war gegen +Abend gekommen, und Aurora bat mich dringend, zu Tisch zu bleiben. Ich +konnte es ihr nicht verweigern, obwohl mir vor dem Beisammensein mit dem +Major graute. Ich hatte dienstlich mit ihm nichts zu schaffen; in der +Stadt sah ich ihn fast nie, von den Veranstaltungen der Offiziere hielt +ich mich fern; daß ich dennoch sein Haus betrat, dennoch an seiner Tafel +speiste, fähig war, ihn zu begrüßen, ihm zuzuhören und zu antworten, +dies alles müßte mich als einen hinterhältigen und niedrigen Charakter +denunzieren, wenn es nicht durch die Macht, die Aurora über mich +ausübte, einigermaßen erklärt würde. Ihre Worte hatten eine solche +Gewalt über mich, daß in meinem Kopf gar keine Überlegung mehr war, wenn +sie einmal gesprochen hatte. Da ich sie selber dulden sah, glaubte ich +es unserer Liebe schuldig zu sein, mich ebenfalls zu beherrschen und +alles zu versuchen, um ihr Los zu erleichtern. Was für Kämpfe und Leiden +mich dies kostete, davon will ich nicht reden. + +Mit dem Augenblick, wo der Major das Zimmer betrat, pochte mir das Herz +vor Haß, Ingrimm und Verachtung bis in den Schlund hinauf. Ich gewahrte +ihn nur wie durch Schleier, jede seiner Bewegungen erregte mir Ekel, bei +jedem seiner Worte zuckte ich zusammen; meine Stimme klang heiser, und +wer weiß, wozu es gekommen wäre, wenn ich nicht Auroras Blick wie einen +geisterhaften Bann beständig auf mir ruhen gefühlt hätte. Mitten in +einem belanglosen Gespräch unterbrach sich der Major, stocherte mit der +Gabel im Salat, führte ein Blättchen an die Lippen, indem er daran +leckte, und warf dann Besteck und Serviette mit einem Fluch auf den +Tisch. »Kreuzmillionenschwerenot,« schrie er, »wie oft soll ich denn +noch sagen, daß ich den Salat mit Zitrone und nicht mit Essig angemacht +will! Was haben denn die gottverdammten Frauenzimmer sonst zu denken? +Bin ich denn der Niemand im Hause, daß man Schindluder mit mir treibt? +Wahrhaftig, eine Lammsgeduld gehört dazu.« + +In diesem rüden Feldwebelton ging’s noch eine Weile weiter, bis er +aufsprang, die Tür hinter sich zudonnerte und hinausstürzte. + +Ich war vollkommen perplex. Das Blut stieg mir langsam zu Kopf, und ich +blickte Aurora schweigend an. Sie saß da und lächelte wie eine Frau, die +es endlich zur Augenscheinlichkeit gebracht hat, was sie sonst nur +insgeheim erleidet. »Dies ist ein Affront,« murmelte ich, »ich werde ihn +zur Rechenschaft ziehen.« Aurora lachte. »Zur Rechenschaft ziehen? Einen +Unzurechnungsfähigen? Was fällt dir ein!« erwiderte sie herrisch. +»Abrechnen mit einem Vieh!« + +Ich zitterte vor innerem Frost an allen Gliedern. Und wie mich nun +Aurora so anschaute, mit blitzendem Blick, mit geschlossenen Lidern und +mit einer unbeweglichen Stirn, da war es mir, als ob mein Herz in +siedendes Wasser getaucht würde, und, Gott möge mir verzeihen, ich fing +an, jenen Blick zu verstehen, er ging auf in meiner Brust wie das +Saatkorn in gedüngtem Boden. Es war mir klar, es war ein unabwendbarer +Beschluß, daß der Major von meiner Hand sterben müsse. Aurora zu retten, +war mein einziger wütender Drang, ich fühlte meine Liebe zu ihr so +ungeheuer, daß ich die wenigen Worte, die alles entschieden, trotz des +Flüsterns mit einer Festigkeit hervorbrachte, als ob dieses +Fürchterliche eine alltägliche Angelegenheit sei. Aurora, der aus +weitoffenen Augen die Tränen über das Gesicht liefen, hörte plötzlich +zu weinen auf, ihre linke Hand bebte mir entgegen, ich ergriff die Hand +und bedeckte mein Gesicht damit. + +Der Major kam nach einer Viertelstunde zurück und bat, anscheinend sehr +betreten, um Entschuldigung, die ich meinerseits kalt quittierte. +»Aurora,« rief er gezwungen scherzend, »komm einmal zu mir.« Sie erhob +sich sogleich und trat eilig vor ihn hin. Diese Bewegung sklavischer +Unterwürfigkeit und Angst rührte mich tief. Daß sie wahrscheinlich nur +für mich berechnet war, ahnte ich ja nicht. Wie Napoleon, wenn er einen +seiner Günstlinge wieder versöhnen wollte, zupfte der Major seine Gattin +am Ohrläppchen und lachte. Unter irgendeinem Vorwand verabschiedete ich +mich alsbald. + +Ich war jetzt bei ziemlich kaltem Blut, und während der ganzen Nacht +überlegte ich meinen Plan. Am nächsten Vormittag um elf Uhr traf ich +Aurora, wie oft bei schönem Wetter, im Stadtpark. Ich vermochte, mit ihr +davon zu sprechen. Es fiel mir auf, daß sie dabei fortwährend mit +niedergeschlagenen Augen lächelte. Dies dünkte mich sehr kurios. Ich +wußte nicht, war es Unglaube, Befriedigung, Gedankenlosigkeit oder +irgendeine Träumerei. Der Ausdruck ihrer Züge rief eine dunkle +Erinnerung in mir hervor. Erst viel später entsann ich mich, daß vor +Jahren, als ich in Basel war, das Bild der Herzogin vom sogenannten +Basler Totentanz eine lange nicht verwischbare, fast unheimliche Wirkung +auf mich ausgeübt hatte. Es war genau dieses süß-friedsame Gesicht, in +dem etwas Wildes und Kindisches war, eine zerstreute und lustige +Grausamkeit und ein Lächeln, als ob der Tod nur ein Schreckmittel für +Schwachköpfe sei. + +Nun, was half’s; ich war darum nicht weniger verstrickt, der Gedanke +wurde uns vertraut. Er erweckte kein Schaudern mehr in mir. Er nahm +Gestalt an, und ich war von ihm besessen. Gleichwohl quälte mich Auroras +Verhalten. Wenn wir eine Zeitlang ernst über das Vorhaben gesprochen +hatten, klatschte sie plötzlich in die Hände und lachte, als ob es sich +um ein Märchen handle, an dem zu sinnen angenehm war, das aber niemals +in Erfüllung gehen könne. Dergleichen regte mich ungemein auf. Wenn sie +mir die Perfidien und zahllosen tyrannischen Handlungen ihres Gatten +klagte, beobachtete sie mit Angst, bisweilen mit einem Gemisch von +Freude und hungriger Erwartung die geringste meiner Gebärden. Mein +Geständnis, daß mich ihre Berichte unsinnig folterten, schien sie oft +beinahe fröhlich zu stimmen, und es bestürzte mich, wenn sie unmittelbar +nach einem der unheilvollen Gespräche mit dem Vergnügen eines kleinen +Mädchens einen Hut probieren konnte und sich selber in den Spiegel +hinein entzückt anlächelte. Ich habe während der ganzen Monate Dezember +und Januar in keiner Nacht mehr als zwei Stunden Schlaf genossen, und am +Ende sah ich aus wie ein Schwindsüchtiger. + +Dazu die gestohlenen Liebesstunden, in denen meine Leidenschaft nur +durch versprechungsvolle Küsse Genüge fand. Was Genüge! Ein +verzweifeltes Aufflackern war es immer wieder, das den Körper ruinierte +und mir alle Klarheit des Gemüts und Geistes raubte. Aurora gab sich mir +nicht hin; sie erklärte, das schände sie, sie wolle sich nicht noch mit +Lug und Trug beladen, sie wolle ihr Gewissen fleckenlos bewahren. Ich +ehrte diese Gründe, ich konnte nicht wissen, daß es ihr bloß darum zu +tun war, mein Gefühl ins Maßlose zu steigern. Denn sie, sie hatte ja +genossen! Sie wollte sich einnisten in der Anbetung eines +vertrauensseligen Mannes, das verlieh ihr einen Halt, eine letzte Würde +und weckte vielleicht ihr abgestumpftes Herz zu einer Regung von +Zärtlichkeit. Das war es, das war das Ganze, und ich Tropf lief in die +überdeckte Falle und stürzte so tief, daß keine Faser an meinem Leibe +heil blieb. + +Eines Abends um sieben Uhr kam Aurora in meine Wohnung, dicht +verschleiert. Sie war still und finster, wie ich sie nie gesehen. Sie +entblößte ihre Brust und zeigte mir einen blutigen Striemen. Ich +stotterte eine Frage. »Dies ist von ihm«, sagte sie dumpf. Da schlug ich +besinnungslos mit der Faust um mich und zertrümmerte das Fenster. Mit +meiner von Glassplittern verwundeten Hand wollte ich sie an mich ziehen, +aber sie, auf das Blut starrend, wich sehr erschrocken zurück. »Du +weißt, ich kann kein Blut sehen«, hauchte sie. »Und doch sollst du bald +Blut sehen«, antwortete ich. »Nein sehen nicht«, versetzte sie abermals +hauchend. »Ach, wenn das wäre«, fügte sie hinzu und schaute mich glühend +an, »wenn du das vollbringen könntest, dann könnte ich sterben aus Liebe +zu dir.« + +Daß sie gewagt hatte, zu mir zu kommen, erschütterte mich, da ich in +dieser Verwegenheit nur eine Handlung des Vertrauens und der Zuneigung +erblickte. Besorgt um ihren Ruf, holte ich selber einen Wagen; ich +begleitete sie, und während der Fahrt setzten wir Tag und Stunde der Tat +fest. Ich sagte »morgen«. Aurora antwortete, morgen sei der große Ball +im Kasino, da wolle sie noch einmal tanzen. Dieses »noch einmal« +zerstreute eine unangenehme Verwunderung, die mir der Einwand zunächst +erregt hatte. Ich sagte also: übermorgen. Sie wünschte auch dieses +nicht. Sie sagte, am Sonntag sei in Weidenberg Jahrmarkt, ihre Mädchen +und der Bursche des Majors hätten für den Nachmittag und die Nacht +Urlaub erbeten, und so könne ich ins Haus kommen ohne Gefahr, einen +Unberufenen zu wecken. Ich fügte mich, obwohl mir jeder Tag und +besonders jede Nacht bis dahin zur Ewigkeit werden mußte. An das, was +nachher kam, dachte ich nicht im geringsten. Vermutlich spürte ich +schon, daß ich auf eine Zukunft nicht mehr zu rechnen hatte. + +Als ich am nächsten Mittag in Gesellschaft des Regimentsadjutanten über +den Domplatz ging, gewahrten wir einen sehr fetten und auffallend +elegant gekleideten jungen Menschen, der offenbar fremd in der Stadt +war. In der Provinz wird der Fremdling, und gar der Großstädter durch +ein Etwas in Miene und Schritt sofort erkennbar. Ich hatte nur einen +Blick auf ihn geworfen und fühlte gleich den äußersten Widerwillen gegen +dies abgelebte, hochmütige und bornierte Gesicht. Der Regimentsadjutant +zwinkerte mit den Augen und bemerkte spöttisch: »Aha, da ist ja der +Fabrikant Dotterwachs aus Berlin.« + +Mich durchfuhr eine unklare Erinnerung von nicht sympathischer Art, aber +erst hernach fiel mir ein, daß das vielleicht jene Person sein könne, +von der mein Freund, der Ingenieur, gesprochen. Als ich am Nachmittag in +die Westermarksche Villa kam, wurde mir gesagt, die gnädige Frau sei +nicht zu Hause. In meiner Wohnung angelangt, übergab mir mein Bursche +einen Brief. Es war ein anonymes Schreiben folgenden Inhalts: »Wenn Sie +das geheime Absteigequartier der Majorin Westermark kennen lernen +wollen, so verfügen Sie sich in den dritten Stock des Hauses Nummer 15, +Schönlandstraße. Eine frühere Kammerjungfer und jetzige Vertraute der +Majorin ist Kupplerin und Mieterin dortselbst.« + +Ich zerriß den Fetzen und heftete nicht zwei Gedanken daran, schon, weil +mir die Sache zu albern erschien. Leider hatte ich Aurora versprochen, +auf den Kasinoball zu kommen, wenn auch nur, um sie zu sehen. Ich +überwand meine Abneigung, die mir in der jetzigen Stimmung derlei +Festlichkeiten hassenswert machte, schob aber die Stunde möglichst +hinaus, und so war es bereits recht spät, als ich den Saal betrat. +Aurora war von einem Kreis junger Leutnants umgeben. Sie war hinreißend +schön; die Haut von Busen, Hals und Antlitz glänzte wie Silber, darunter +floß fischhaft das dunkelgrüne Spitzenkleid; sie war heiter, allzu +heiter; und ich, ich war finster. Ich war einer Ohnmacht nahe, so +schrecklich empfand ich in diesem Augenblick meine leidenschaftliche +Liebe. Frau von Rütten, an der ich nicht grußlos vorübergehen konnte, +saß mit einigen andern Leuten in einer Säulennische. Alle diese Leute +sahen mich mit seltsamen Blicken an, wenigstens schien es mir so. Ich +bemerkte darunter auch das siebzehnjährige Kind, mit dem man mich hatte +verheiraten wollen. Ich glaubte die Augen dieses Mädchens mit einem +rührenden Gefühl auf mich gerichtet. Ich wandte mich hastig ab und hatte +gerade noch Zeit, dem Major Westermark aus dem Weg zu gehen, der auf +mich zukam, lachend und winkend, als ob ich sein bester Freund wäre. Es +überrieselte mich eiskalt. + +Ich stellte mich nun an das untere Ende des Saales und starrte in das +lichtübergossene Geflimmer der Uniformen und Roben. Die Walzermusik +stimmte mich traurig, und ich weiß nicht, wie es zuging, aber ich mußte +beständig an den Mann denken, den ich mittags gesehen, und dessen +fleischige und gemeine Züge nicht aus meiner Vorstellung schwinden +wollten. Ich sah ihn essen, ich sah ihn Bier trinken, ich sah ihn +widerlich lachen und prahlen, und voll Bitterkeit dachte ich mir: das +ist also der jetzige Deutsche, ein solcher Mann darf den Namen eines +Deutschen führen; Emporkömmling; dickfelliger, ohrenloser, +aufgeblasener, herzloser Geselle, dem alles gehört und der nichts +respektiert; und so sind sie alle, sie haben das Zittern verlernt und +brauchen wieder einmal die Peitsche des Schicksals. Dabei kannte ich den +Mann doch gar nicht und verband nur einen Eindruck mit dem Groll über +eine allgemeine Kalamität, denn ich war in diesen Dingen schon zum +Schwarzseher geworden und war deshalb auch nicht mehr mit innerer Freude +Soldat. + +Nach dem Kotillon gelang es mir, Aurora für ein kurzes Alleinsein zu +erobern. In ihrem Wesen war etwas Schmachtendes, das ich nicht lediglich +der Wirkung des Tanzes zuschreiben mochte. Die Luft zitterte zwischen +unsern Mündern und unsre Blicke bohrten sich fest ineinander. Trotzdem +Leute um uns herumstanden, hatte sie die Verwegenheit, mich zu fragen, +ob es beim Sonntag abend verbleibe, und als ich schweigend und bestürzt +nickte, lächelte sie mit entblößten Zähnen. Noch lange nachher, als sie +sich schon von mir entfernt hatte, beobachtete ich, daß ihre Augen +bisweilen forschend, ja ängstlich auf mir ruhten. Plötzlich ging sie zu +ihrem Mann, sagte ihm ein paar Worte und verließ den Saal. Der Major, +der bei Frau von Rütten saß, erhob sich, um ihr zu folgen. Sie kehrte +noch einmal um, und sie redeten wieder eine Weile miteinander, dann ging +Aurora. Der Major schien unschlüssig und zeigte ein nachdenkliches +Gesicht. Da Aurora nicht zurückkam, entschloß ich mich, Frau von Rütten +zu fragen, ob sie wisse, was geschehen sei. Sie antwortete mir kalt, die +Majorin habe sich nicht wohl gefühlt und sei nach Hause gefahren; sie +habe nicht gewünscht, daß der Major sie begleite, weil sie bestimmt +wiederkommen wollte. Ich wunderte mich und wurde besorgt. Ehe eine +Viertelstunde verflossen war, hatte ich mich in aller Stille aus dem +Saal entfernt, nahm außen meinen Mantel und eilte nach der +Westermarkschen Villa. Daß meine Abwesenheit unter der Ballgesellschaft +bemerkt und auffällig gefunden werden könne, darüber machte ich mir +keine Gedanken. Da ich im Souterrain der Villa noch Licht sah, läutete +ich am Gartentor. Eine Mädchenstimme fragte vom Fenster aus, wer da sei. +Ich erkundigte mich, ob sich die gnädige Frau noch oben befinde; weil +der Wagen nicht da war, mußte ich annehmen, daß sie schon zurückgekehrt +wäre. Das Mädchen erwiderte mir, die gnädige Frau sei auf dem Ball. Sie +sei aber doch vor kurzem nach Hause gefahren, versetzte ich. Dies wurde +verneint. + +Ich spazierte auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf und ab und +wartete, bis die Glocke zwölf schlug. Darauf machte ich mich wieder auf +den Weg und dachte, sie habe am Ende das Kasino gar nicht verlassen. Als +ich in die Wilhelmstraße einbog, rasselte eine Droschke an mir vorüber +und blieb etwa zweihundert Schritte weiter stehn, ungefähr in der Mitte +des Wegs zwischen mir und dem Kasino. Es stieg ein Herr aus, und der +Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Der Herr kam mir auf demselben +Trottoir entgegen, und ich erkannte den Fabrikanten aus Berlin. Er trug +einen Zylinder und rote Handschuhe. Sein fettes Gesicht hatte einen +angestrengt überlegenden Ausdruck, und seine Lippen waren wie zum +Pfeifen gespitzt. Niedergeschlagen, ohne recht zu wissen, weshalb, +wandelte ich noch ziemlich lange Zeit auf den Straßen herum. Als ich +dann wieder den Ballsaal betrat, erfuhr ich, daß Westermarks schon nach +Hause gefahren seien. Dies beschwichtigte mich einigermaßen. + +Als ich am folgenden Nachmittag zu Aurora kam, fand ich sie lesend. Sie +hatte unter alten Sachen gekramt und ein Stammbuch aus ihrer Mädchenzeit +entdeckt. Ich beugte mich über sie und sah, daß ihre Blicke auf einen +Vers gerichtet waren, der in großväterischen Schriftzügen ein vergilbtes +Blatt bedeckte. Er lautete: + + Mit einer Blume zu spielen, ist dir erlaubt, + und sie zu pflücken. + Mit einem Herzen, das du geraubt, + sollst du nicht tücken. + Vergiß nicht, o Mann, o Weib, + Herz, das sich schenkt, ist Gottes Leib. + +»Ein hübscher Spruch«, sagte ich. Aurora schaute mich geistesabwesend +an. Sie ergriff meine Hand und hielt sie fest. Ihre Finger waren heiß. +Ihr Wesen war so gemsenhaft scheu und so bedrängt, daß ich den +Augenblick sehnlich herbeiwünschte, wo ich ihr zurufen konnte: du bist +erlöst. Sie hatte viel Gesichter und jeden Tag zeigte sich mir ein +neues. Hätte sie nur ein einziges Gesicht besessen, so hätte ich +vielleicht ergründen können, was in ihr vorging; aber von der +hinschmelzenden Schwermut bis zur Trunkenheit des Vergnügens alle +Verwandlungen mitzuerleben, hatte ich kein Talent. Ich hätte lernen +müssen zu sehen, bevor ich sie liebte. + +Endlich brachte ich es über mich, sie zu fragen, wo sie gestern während +des Balles gewesen sei. Ihr Gesicht verfinsterte sich erschreckend. +»Bedeutet dies Mißtrauen?« flüsterte sie langsam. Ich schüttelte den +Kopf. »Hast du denn gar keine Geheimnisse?« fragte sie in derselben +düstern Weise. »Gar keine«, antwortete ich. »Aber ich,« fuhr sie fort, +»ich habe Geheimnisse, und auch die sollst du lieben. Bin ich nicht mit +meinem ganzen Dasein so und soviel tausend Zuschauern offenbar? Wenn ich +kein Geheimnis hätte, müßte ich sterben. Übrigens magst du wissen,« +fügte sie hinzu, »daß gegenwärtig ein ehemaliger Freund von mir in der +Stadt weilt, ein Mensch, dem ich einst viel zu verdanken hatte, der aber +meine Dankbarkeit jetzt ausbeutet. An Bedrückern hat es mir nie gefehlt. +Aber von alledem sprechen wir ein andermal.« »Ein andermal?« versetzte +ich mit stockender Stimme. »Ja, ein andermal«, bekräftigte sie mutig +oder auch gedankenlos. Sie näherte sich mir, legte ihre Hände auf meine +Wangen und flüsterte: »Ach, wir werden viel beieinander sein müssen, +damit ich dir alles, alles sagen kann.« So verstand sie es, mich zu +beunruhigen und mich sicher zu machen mit ein und derselben Rede. + +Als es zu dunkeln begann, gingen wir gegen den Fluß hinaus spazieren. Es +war dies ein einsamer Weg, wo selten jemand zu sehen war. Da wir uns am +folgenden Tag nicht sehen wollten, verabredeten wir alle Einzelheiten +des mörderischen Vorhabens. Aurora gab mir den Schlüssel zur +Gartenpforte. Der Hund, der während der Nacht im Garten frei war, +brauchte keine Sorge für mich zu sein, denn das Tier kannte mich, die +beiden Jagdhunde wurden nachts in den Verschlag neben den Keller +gesperrt. Den Hausschlüssel könne sie mir nicht geben, sagte Aurora, es +sei nur ein einziger vorhanden, und den habe ihr Mann. Sie wollte an der +Rückseite der Villa das Flurfenster offen lassen, dort sollte ich +einsteigen und mich der Stiefel entledigen, bevor ich ins Schlafzimmer +des Majors ging, das er unversperrt zu lassen pflegte. Daß sie keinen +Hausschlüssel besaß, war eine Lüge, davon konnte ich mich selbst +überzeugen, ehe zweimal vierundzwanzig Stunden vergingen. Den Grund +dieser Lüge vermag ich allerdings auch jetzt noch nicht einzusehen. +Vielleicht wollte sie die Vorbereitungen abenteuerlicher machen, oder, +was wahrscheinlicher ist, sich vor Überraschungen sicherstellen. Dies +schlug fehl durch meine aufrichtige Entschlossenheit. + +Ich gestehe, daß mich schauderte. Aber ich war ja schon verdammt durch +den Willen. Die Ausübung war nur noch eine mechanische Folge für mich. +Aurora verwunderte mich dann und wann durch eine Miene des Staunens und +eine mir unerklärliche, neugierige Spannung. Während des Rückwegs jedoch +blieb sie bei einer Weide stehn, strich mit ihren Händen den Schnee von +einem Ast und warf sich plötzlich, erst lachend, dann weinend an meine +Schulter. + +In welcher Verfassung ich den nächsten und den übernächsten Tag +verbrachte, ist zu beschreiben unmöglich. Wozu sollte ich auch dabei +verweilen. Erst im Gefängnis habe ich erfahren, daß der Major gerade an +jenem Sonntag sein Geburtsfest feierte und daß ihn Aurora mit einer +neuen Jagdflinte, einem neuen Portefeuille und einem Paar von ihr selbst +gestickter Pantoffeln beschenkte. Gleichfalls habe ich erfahren, daß sie +ihm, wie das Stubenmädchen aussagte, schon am Morgen die Erlaubnis +abschmeichelte, den Abend außer Haus verbringen zu dürfen, bei einer +Freundin, die aus Stettin gekommen sei. Um zwei Uhr nachmittags schickte +sie den Burschen des Majors mit einem Brief in meine Wohnung. In diesem +Brief standen nur die Worte: »Aufschieben. Gründe mündlich.« Ich bekam +aber den Brief nicht mehr in die Hand, und das war ein Unglück. Ich war +um zwölf Uhr zum letztenmal in meinem Zimmer gewesen, hatte Zivilkleider +angelegt, den Revolver zu mir gesteckt und war über Land gegangen. Ich +hatte mir vorgenommen, nicht mehr nach Hause zurückzukehren, denn mir +graute vor den vier Wänden. Dies war, wie gesagt, ein Unglück. + +Die schrecklichste Unruhe trieb mich draußen über Landstraßen, durch +Wiesen, Äcker und Wälder. Ich war todmüde, als ich spät abends in die +Stadt zurückkam, aber mein Kopf war klar. Um dreiviertel zwölf stand ich +vor dem Gartentor der Villa. Im Zimmer des Majors brannte kein Licht +mehr. Ich wußte, daß er sich täglich um elf Uhr zur Ruhe begab, denn des +Morgens war er der erste Offizier in der Kaserne. Ich sperrte die +Gartentür auf, und als ich nach der Rückseite des Hauses ging, folgte +mir der große Bernhardinerhund mit freundlichem Wedeln seines Schweifes. +Als ich das bezeichnete Fenster, entgegen der mit Aurora getroffenen +Verabredung, fest zugeschlossen fand, stutzte ich. Eine Weile war ich +ratlos. Ich zog aus dem Umstand nicht den vernünftigen Schluß, den ich +hätte ziehen sollen. Ich beschloß zu tun, was die Diebe und Einbrecher +tun. Mit der pelzbehandschuhten Hand preßte ich so lange an das Glas, +bis es sprang. Die Jagdhunde im Verschlag fingen an zu bellen, da sich +aber sonst nichts regte, entfernte ich mit Bedachtsamkeit die Scherben, +öffnete den Innenriegel und stieg ein. Ich hatte Gummisohlen an den +Stiefeln und stieg unter dem fortwährenden Gekläff der Hunde die Treppe +hinan bis zum Schlafzimmer des Majors, in das ich ohne zu zögern +eintrat. Es war eine ziemlich stürmische Mondscheinnacht, und obgleich +der Mond häufig durch Wolken verdeckt wurde, fiel doch durch das +unverhängte Fenster Licht genug, daß ich den Major sehen konnte. Er +hatte eine Mütze auf dem Kopf und schnarchte laut. Er erschien mir sehr +dick. Dicke Menschen waren mir von jeher zuwider, und in diesem +Augenblick empfand ich nur die rein tierische Abneigung gegen den Mann. +Als ich neben das Bett trat, gewahrte ich auf dem Nachtkästchen ein +Buch, und ich konnte im Mondlicht ohne Mühe den Titel auf dem bunten +Umschlag lesen. Es waren »Lederstrumpfs Erzählungen«. Einfältig und +lächerlich kam es mir vor, daß ein Soldat in den Jahren des Majors +solches Zeug zur Abendlektüre wählte; aber diese Betrachtung ließ mich +nur um so mehr spüren, wie schändlich es sei, einen Mann im Schlafe zu +töten. Einer derartigen Regung fühlte ich mich nicht gewachsen, ich +legte meine linke Hand auf die Schulter des Majors, in der rechten hielt +ich den Revolver. Der Major wachte sofort auf und sah mich stier an. +»Nehmen Sie einen Revolver,« sagte ich kalt, »wir müssen uns auf der +Stelle schießen.« Seine Augen rollten furchtsam im Kreis, und es war, +als verstehe er mich nicht. Ich wiederholte meine Worte. Er fing an zu +murmeln; ich schnitt ihm die Rede ab und wiederholte meine Worte. Er +schüttelte sich ein wenig und sprach jetzt deutlich, ich hörte nichts +und wiederholte abermals meine Worte. Plötzlich sprang er auf, die +andere Seite des Bettes war ebenfalls wandlos, er taumelte aus dem Bett +und schrie mit heiserer Stimme um Hilfe. + +Da schoß ich. Ich schoß zweimal. Er streckte gleich darauf die Arme in +die Luft und stürzte zu Boden. Ich näherte mich ihm und sah, daß er tot +war. Es rann mir eisig durch alle Glieder. Ich verließ das Zimmer und +ging über den Korridor hinüber zu Auroras Schlafgemach. Sie mußte die +Schüsse gehört haben. Was jetzt? fuhr es mir durch den Kopf; das +beständige Geheul der Hunde machte mich rasend. Ich hatte mir das +Nachher ganz und gar nicht vorgestellt, aber daß ich mich nun +gemütsruhig entfernte, um zu warten, bis am Morgen die Untat, als von +einem Unbekannten verübt, entdeckt wurde, das ging nicht an. Ich fühlte, +daß ich sterben müsse, und es entstand in mir der Wunsch, daß Aurora mit +mir sterben möge. Wie ward mir aber, als ich Auroras Zimmer leer fand +und ihr Bett unberührt! Ich schritt der Reihe nach durch alle Zimmer des +Stockwerks, und die wohlbekannten Möbel und Bilder blickten mich an, wie +lebendige Dinge. Indes ich wie ein Gespenst dort herumirrte, vernahm ich +das Rollen eines Wagens auf der Straße. Ich stand gerade wieder auf dem +Korridor, welcher auf eine Tür zulief, die gegen einen kleinen +Gassenbalkon oder Vorbau führte. Diese Tür öffnend, trat ich hinaus und +kam eben recht, als der Wagen vor der Gartenpforte hielt. Durch die +kahlen Baumzweige hindurch konnte ich sehen, daß Aurora ausstieg. Ich +erblickte aber noch jemand im Wagen, ein Gesicht erschien am Fenster, +das ich wohl erkannte. Aurora blickte flüchtig am Haus empor, aber nicht +dorthin, wo ich stand, sondern gegen die Seite, wo des Majors Zimmer +war. Darauf beugte sie sich noch einmal in den Wagen, ich sah einen +roten Handschuh auf ihrem Arm und ich hörte sie flüstern und lachen. +Gott! ich hatte kaum mehr die Kraft zu stehen, ich spürte, daß mich die +Blässe überströmte wie Sand. Treunitz! Treunitz! schrie es in mir, du +hast verspielt. + +Aurora war inzwischen ins Haus gegangen, den Schlüssel hatte ich in +ihrer Hand blinken gesehen, ihre Schuhe schlürften auf den Steinfliesen +im untern Flur, dann knarrte eine Tür, dann wieder eine. Ich ging in den +Flur, blieb aber in der Ecke stehen. Aurora kam mit den beiden +Jagdhunden die Stiege herauf. Sie hielt die Tiere, die sich wie toll +gebärdeten, fest an der Leine. Wahrscheinlich hatte das unaufhörliche +Gebell Furcht in ihr erweckt, und sie hatte den Verschlag geöffnet, um +die Hunde mitzunehmen. Sie gewahrte mich nicht, sie ging in ihr Zimmer. +Ich hörte, wie sie mit beinahe wilden Lauten die Hunde zu bändigen +suchte, was ihr jedoch nicht gelang. Ich kehrte unterdes zum Zimmer des +Majors zurück, blieb aber auf der Schwelle stehen. Jetzt trat Aurora mit +der Kerze auf den Flur, sie hatte noch den Hut auf, der lange Schleier +hing zu beiden Seiten herunter wie zwei blaue Fahnen. Die Hunde, der +Leine entledigt, stürzten an mir vorüber in das Zimmer des Majors. Sie +blieben an der Leiche stehen und verbellten den toten Mann wie ein im +Feuer verendetes Stück. Aber auf einmal wurden sie alle beide still und +winselten nur noch. Aurora schaute mit kaltem Blick in den Raum, dann +mit demselben kalten Blick auf mich und fragte mit dem seltsamsten +Gleichmut: »Was hast du denn da gemacht?« Und als ich schwieg, fuhr sie +mit genau derselben matten und unbewegten Stimme fort: »Er ist wohl +tot?« Und als ich abermals schwieg, begann sie wieder: »Warum hast du +denn das getan?« + +Im ersten Augenblick glaubte ich den Verstand verloren zu haben. Ich +konnte kein Wort aus meiner Kehle pressen, meine Zähne rieben sich +hörbar aufeinander, und ich mußte das unbegreifliche Weib nur immerfort +anstarren. Sie blickte sich noch einmal um, etwa wie wenn man in einem +Museum Bilder anschaut, dann pfiff sie den Hunden und ging. Die Hunde +folgten nicht, sie hörten nicht auf zu winseln. Da entfernte sie sich +allein. Sie ging in ihr Zimmer. Ich blieb wie versteinert auf meinem +Platze, die beiden Tiere zu sehen und zu hören, war mir plötzlich das +hellste Grauen. Ich fing an zu zittern und wußte nicht, woran ich denken +sollte. Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit verflossen war, möglich eine +halbe Stunde, möglich eine ganze, als ich mich entschloß, in Auroras +Zimmer zu gehen. Die Türe war unversperrt. Aurora war im Bett, die +brennende Kerze stand noch auf dem Nachttisch. Im Zimmer selbst war die +größte Unordnung, Kleider und Wäschestücke lagen umher, eine kleine +Reisetasche stand, wie zum Gepacktwerden, offen auf einem Stuhl. Ich +blieb am untern Bettpfosten stehn und fragte Aurora, ob sie es denn +nicht gewollt habe. Aus den Kissen heraus antwortete sie: »Laß mich +jetzt schlafen.« »Um Gotteswillen!« flüsterte ich. Da erhob sie den Kopf +und fragte kalt, ob ich das Billett nicht erhalten habe. »Was für ein +Billett?« fragte ich. Sie sah mich unwillig an, lachte plötzlich und +sagte fast verächtlich und als ob ich ihr völlig fremd sei: »Gehen Sie +hinaus und lassen Sie mich schlafen. Es schickt sich nicht, daß Sie bei +meinem Bette sind.« Mit diesen Worten blies sie die Kerze aus, und ich +hörte sie wieder leise ins Kissen lachen. + +Ich begriff es nicht. Ich hätte begriffen, wenn sie zornig, wenn sie +wütend, wenn sie verzweifelt gewesen wäre, ich hätte alles begriffen, +aber dies begriff ich nicht. Mir war es, als ob aus einer schönen +Verkleidung ein Unhold hervorgetreten wäre, ein bestialisches Gebilde, +ein grinsendes Affenwesen, wie es dermaßen furchtbar die Welt noch nicht +erblickt. Ich tastete mich hinaus, das Entsetzen lag mir in allen +Gliedern. Auf dieselbe Weise, wie ich gekommen war, mußte ich auch das +Haus verlassen. Nachdem ich das Gartentor aufgesperrt und hinter mir +zugeklappt hatte, warf ich den Schlüssel über den Zaun zurück. Es war +ein Uhr, als ich nach Hause kam. Auf dem Tisch lag Auroras Brief. Ich +öffnete ihn nicht. Es war mir alles zum Ekel und alles rätselhaft. Ich +legte mich erschöpft aufs Bett und schlief bis sieben Uhr. Als mein +Bursche kam, beauftragte ich ihn, eine Droschke zu holen, und zog +unterdes die Uniform an. Ich fuhr in die Kaserne und wartete in der +Kanzlei auf den Obersten. Er erschien erst gegen neun Uhr; er war bleich +und fragte mich, ob ich schon wisse. Die Ermordung des Majors war +bereits in der Stadt bekannt. Ich bat ihn um ein Wort unter vier Augen. +Mein Geständnis machte seinem wohlwollenden und gegen mich stets +vertraulichen Wesen ein schnelles Ende. Ich mußte den Degen abliefern +und wurde sogleich inhaftiert. Dies alles war von keinem Belang mehr für +mich. Ich wurde gefragt, ob ein Zweikampf beabsichtigt gewesen sei. Ich +verneinte, weiß aber kaum, warum. Ich hätte meine Verteidigung darauf +bauen können, ich tat es nicht. Ich hätte ja dem Major eine zweite Waffe +in die Hand drücken können, bevor ich das Haus verließ. Ich tat es +nicht, weil es mir gleichgültig war. Ich erfuhr von der Verhaftung +Auroras, von dem Erstaunen und dem Schrecken, den meine Tat überall +erregte, und auch dieses war mir gleichgültig. Am andern Morgen besuchte +mich der Oberst, fragte, ob ich vor dem Transport ins Militärgefängnis +noch etwas zu ordnen hätte, legte ein Terzerol auf den Tisch und stellte +sich ans Fenster. Ich tat nicht, was er erwartete. Er entfernte sich +ohne Gruß. Die Kameraden glaubten, daß ich aus Feigheit unterlassen +habe, ein Ende zu machen, aber dem ist nicht so. Ich habe nichts vom +Feigling in mir. Ich war bloß regungslos in meinem Innern. Ich war ganz +wie aus Blei. Ich grübelte beständig ins Finstere hinein. Erst mit dem +Verlauf vieler Tage kam ich wieder zur Besinnung. Ich fing an, meine +Beichte dem Papier anzuvertrauen. Ich hinterlasse sie der geringen Zahl +meiner Freunde. Es ist mir nun klar, daß mich die Menschen für schuldig +halten und daß ich zu sterben die Pflicht habe. Ich selbst, ich kann +nicht sagen, ob ich mich schuldig fühle oder nicht. Ich kann es nicht +sagen. Aurora hat es ja gewollt. Um meiner Mutter willen bitte ich um +ein anständiges Begräbnis. + +Und nun geschehe, was geschehen muß. + + + + +Hilperich + + + Ein Schiffer fährt den dunklen Strom + Hinunter ohn Bedacht. + Die Lüfte ruhn, das Wasser schweigt, + Und mählig wird es Nacht. + + +Kanzlist Johann Querschneider zu Nürnberg, ein seltsamer Kauz, ein +Hungerleider doch nach Diogenes’ Art, erzählt: + +Vierundzwanzig Jahre sind seit meines Vaters Tod verflossen. Ich bin ein +uneheliches Kind und führe den Namen meiner Mutter. Bis zu meinem +zweiundzwanzigsten Jahr wußte ich von meinem Vater nichts, nicht einmal +ob er lebte. Ich hatte mich nicht sonderlich dafür interessiert; Gott +weiß aus welchem Grund ich stets darüber hinweg dachte. Meine Mutter +verfuhr in diesem Punkt sehr kategorisch. Wenn ich fragte, so lachte sie +mir ins Gesicht. Ich zerbrach mir nicht den Kopf, sondern lebte so hin, +nicht schlechter und nicht besser als andere; Geld hatten wir wenig, +litten aber keinen Mangel. Meine Mutter bezog irgendwoher eine kleine +Pension, besorgte Nähereien für einige Bürgersfrauen im Bezirk, und ich +selbst war beim Amtsgericht als Schreiber angestellt. + +Ich lebte also und beschäftigte mich nach meiner Art. Bis zu meinem +zweiundzwanzigsten Jahr wie gesagt. Da ereignete es sich eines Morgens +im Frühling, ich ging gerade zum Amt, daß ich im düsteren Korridor +unseres uralten Gerichtsgebäudes ein junges Mädchen stehen sah, welches +forschend und unruhig den langen Gang bald hinauf, bald hinunter +blickte. Ich trat zu ihr hin und fragte unverhohlen nach ihrem Begehren. +Sie antwortete etwas in italienischer Sprache, und da ich sie nicht +verstand, schüttelte ich den Kopf und ging langsam meiner Wege. Das ist +ein teuflisches Frauenzimmer, sagte ich mir, denn ich hatte im Leben +Schöneres nicht gesehen. Voller Gedanken kam ich in die Amtsstube und +setzte mich an meinen Tisch. Drei Personen von den Parteien waren schon +anwesend. Der Diener schrie in den Flur hinaus: »Bianca Spinola!« und +das schöne Mädchen trat ein. + +Die Verhandlung betraf einen schwierigen und absonderlichen Fall. Der +alte Rat Hilperich (ein Mann, den jedes Kind auf der Straße kannte, und +dessen abenteuerliche Vergangenheit den Gegenstand vieler Erzählungen +bildete) war auf den Einfall gekommen, eines seiner unehelichen Kinder, +ein junges Mädchen aus dem Trentino, an einen Bankbeamten zu +verheiraten. Alles war schon im besten Zug gewesen, die jungen Leute +selbst im Einvernehmen, als plötzlich die Mutter des Beamten mit Zeter +und Mordio erschien: der junge Ehekandidat sei gleichfalls ein Kind +Hilperichs. Was der alte Herr vorerst gründlich bestritt. So kam die +Sache vors Gericht und bildete lange Zeit das Gelächter der amtlichen +Personen und der ganzen Stadt. Mit Neugierde sah ich den alten Mann an, +der nun vor dem Richter erschienen war. Sicherlich zählte er mehr denn +siebzig Jahre, obwohl seine blauen Augen strahlend und lebhaft waren. +Seine hagere und etwas gebogene Gestalt hatte etwas Majestätisches, und +dieser Eindruck wurde verstärkt durch das Trotzige, Verbissene, +Verächtliche seines Gesichtes. Wenn unter den zusammengezogenen Brauen +die Augen verschwanden und die verkniffenen, schmalen Lippen sich hinter +dem weißen Bart wie hinter dünnem Buschwerk versteckten, mochte man wohl +Furcht empfinden, und das rote Gesicht, das vom Alter weniger versengt +schien als von den Leidenschaften, konnte man nicht leicht vergessen. +Das ist also der alte Hilperich, dachte ich mir und mußte gleichzeitig +lächeln, weil ich sah, daß die Sonne auf die schwarze Kappe und den +schwarzen Bart des Richters ein goldenes Emblem gemalt hatte. Das alles +sehe ich noch deutlich. Auch den hübschen und verschwiegen aussehenden +jungen Mann, den Bankbeamten; er hatte eine Narbe mitten auf der Stirn. +Dann seine Mutter, eine sehr dicke Frau, welche fortwährend +Schokoladestückchen aus der Tasche zog, wodurch aber die Redekraft ihrer +Zunge keineswegs verringert wurde. Dann das junge Mädchen, aber von +diesem will ich jetzt nicht reden. Der Richter wiegte den Kopf, fragte +dies und jenes, und seine Klugheit war bald erschöpft. + +Ich weiß nicht mehr, wie ich daheim beim Mittagessen die Sprache auf den +alten Hilperich brachte. Ich erzählte die ganze Geschichte, die mir sehr +belustigend erschien. Meine Mutter aber verlor sofort ihr munteres +Wesen, wurde nachdenklich und entfernte sich vom Tisch. Der Zufall fügte +es – ich bin alt genug geworden, um das Wort Zufall nicht ohne ein +Gefühl von Andacht hinzuschreiben – daß ich an demselben Tage der jungen +Trentinerin wieder begegnete. Wir trafen uns nämlich beim Krämer, wo sie +für ein Gewürz, das sie kaufen wollte, den deutschen Ausdruck nicht +wußte. Ich machte nun den Dolmetsch, und zwar auf die komischste Weise +der Welt, denn ich verstand ja selber nichts von der fremden Sprache. +Ich schleppte alles herbei, was in dem Laden zu finden war, und stapelte +es vor der schönen Dame auf, wie man einem fremden Monarchen etwa die +Reichtümer eines Magazins zeigt. Es gab ein großes Gelächter, und der +Krämer selbst, der mein guter Bekannter war, fand sich bei dem Spaß am +besten amüsiert. + +Da die junge Bianca, wie ich mit Mühe erfuhr, in der Nähe wohnte, +begleitete ich sie nach Hause, und es verursachte uns weiterhin großes +Vergnügen, uns zu verständigen. Unsere Mißverständnisse waren so heiter, +daß eins das andere übertraf und wir gewiß mehr davon hatten, als von +einer regelrechten Unterhaltung. Ich sah, daß sie ein Mädchen aus dem +Volk war, und daß es nicht schwer fiel, sie heiter zu stimmen und ihr zu +gefallen. Ja, ich gefiel ihr, und meine drollige Zeichensprache, mein +Murmeln und Kauderwelsch trieben Tränen des Lachens in ihre schönen +Augen. + +Überflüssig, von all den Einzelheiten zu erzählen; nicht lange darauf +konnte ich Bianca mit meiner Mutter bekanntmachen. Meine Mutter +erinnerte sich sofort daran, was ich ihr von jener Verhandlung erzählt +hatte. Sie führte mich beiseite und fragte mich sehr ernst, ob das jene +Bianca Spinola sei. Mein unbefangenes Ja machte sie noch ernster und +feierlicher, so daß ich besorgt zu werden anfing. Aber ich wußte nicht, +was ich daraus machen sollte. Am folgenden Morgen, es war ein Sonntag, +gebot sie mir, mich sorgfältiger als sonst anzukleiden, denn ich war +immer ein wenig nachlässig darin. Sie nahm mich also wie einen +Schuljungen mit sich und führte mich zu einem alten Haus in der +Pfannenschmiedsgasse. Wir stiegen zwei knarrende Treppen empor, und +meine Mutter zog die Klingel. An der Art ihrer Gebärde sah ich, daß ihr +Gemüt heftig bewegt war, und ich fragte sie darum. Aber sie gab mir +keine Antwort. Mein Erstaunen wuchs, als ich das Porzellanschildchen an +dem gelben, staubigen Gitter sah, welches den Korridor von der Stiege +trennte. Hilperich las ich; aber ehe ich meine Mutter von neuem fragen +konnte, erschien eine Bedienerin. Meine Mutter zog einen Brief aus der +Tasche und sagte, sie wolle auf Antwort warten. Die Frau führte uns in +ein großes, leeres Zimmer, welches nichts als einen Spiegel und ein +paar Stühle enthielt. Vor dem Spiegel stand ein dünner Mann mit einer +Glatze und richtete sich eine rote Krawatte. Unser Eintreten störte ihn +nicht im mindesten; ich war erstaunt, denn nie hatte ich ein so +verhungertes, grämliches und furchtsames Gesicht gesehen. + +Die Bedienerin kam alsbald zurück und bat meine Mutter, ihr zu folgen. +Wieder verging eine Weile, während ich saß und lauerte und mir den Kopf +zerbrach über das, was vorging. Der dünne Mann stelzte komisch vor mir +auf und ab, murmelte und schielte mich von der Seite an, so daß ich +lachen mußte. Endlich öffnete sich die Türe, der alte Rat kam heraus, +faßte mich schnell ins Auge, schritt auf mich zu, nahm meinen Kopf +zwischen seine beiden Hände, verkniff seine Lippen streng, nickte und +küßte mich auf die Stirn. Im Rahmen der Tür stand meine Mutter und sagte +mit ganz verweintem Gesicht: Johann, das ist dein Vater. Immer +sonderbarer wurde mir zumut, und das Sonderbarste war mir wohl in diesem +Augenblick, daß mein Freund mit der roten Krawatte ganz ruhig weiter +auf- und abstelzte, als ob er daran gar nichts Auffälliges fände oder es +längst vorausgesehen hätte. Es ist wahr, das Wort Vater machte in diesem +Augenblick keinen Eindruck auf mich, aber wer will mir das verübeln? Ich +erinnere mich, daß ich für meine Mutter ein unbestimmtes Mitleid empfand +und daß ich mich im übrigen weit weg wünschte. Auch war ich erstaunt und +verlegen und wurde es immer mehr, so daß mir der Schweiß auf die Stirne +trat. + +Ich erinnere mich, daß meine Mutter und der alte Mann einander noch +lange Zeit gegenübersaßen und über die Vergangenheit plauderten. Der Rat +Hilperich, den ich nicht einmal in Gedanken Vater zu nennen wagte, blieb +dabei gelassen, ja sogar ein wenig spöttisch. Es fiel mir auf, daß die +fernliegendsten und vergessensten Dinge ihm so nahe schienen wie die +Gegenwart. Er sprach nicht wie ein alter Mann und nicht wie ein junger +Mann, sondern als ob er ein Gebieter über die Zeit und über die Jahre +wäre, und als ob es für ihn kein Verschwinden gäbe. Das ist mir freilich +jetzt viel deutlicher als damals; denn ich habe ja erst durch ihn +gelernt, was menschlich ist, abzuwägen. + +Die Rede kam auch auf mich, auf meinen Beruf und meine Beschäftigung. +Die Mutter rühmte meine Fähigkeiten; ihre Augen glänzten dabei, als ob +sie von etwas Großem spräche, und ich mußte lachen. Das schien meinem +Vater zu gefallen. Er nahm meine Hand, tätschelte sie ein wenig und sah +mich halb liebevoll an und halb wie einen seltsamen Zwerg. Plötzlich +aber sprang er auf und kreischte mit einer zerbrochenen, gehässigen +Stimme: Mittelmann, scheren Sie sich zum Teufel! Und der schweigsame +Spaziergänger machte sich wie ein armer Hund auf die Beine. Mein Vater +lachte uns triumphierend an und wandte sich dann unvermittelt zu mir. Er +habe viele Schreibereien, sagte er, und brauche einen, dem er sein +ganzes Vertrauen schenken könne. Er glaube, daß ich nicht auf den Kopf +gefallen sei, denn ich sei ja von seinem Blut. Wenn es mir recht sei, +möge ich täglich zwei Stunden zu ihm kommen; es wäre nicht umsonst, und +meine Stelle beim Amt könne ich ja behalten. Ich erklärte mich bereit, +und meine Mutter fing sogleich vor Freude wieder zu weinen an. So +entließ er uns. + +Am andern Morgen brachte ein Dienstmann ein herrliches Geschenk für +meine Mutter, eine Stehlampe, deren gläserne Kugel von zwei nackten +Frauen getragen wurde. Das war ein zarter Beweis für die Gesinnungen +meines Vaters, und mit Genugtuung trat ich den Weg zu seinem Hause an. +Ich war so in Nachdenken verloren, daß ich beinahe überfahren worden +wäre. Beständig sah ich mich an einem Wendepunkt meines Schicksals, das +sich glänzend vor mir aufrollte. + +Ich fand meinen Vater in seinem Wohnzimmer. Er war in Unterhosen, +betrachtete mich komödiantisch forschend, mit seinem gewohnheitsmäßigen, +halb grinsenden Lächeln, doch mit ernst blitzenden Augen. Man hatte ihm +gegenüber das Gefühl, daß man stets scharf beobachtet war, und daß +nichts seiner Beobachtung entging. Alles an ihm war voll Leben und +Lebendigkeit trotz seiner schlottrigen, mageren, baufälligen Gestalt. +Das Zimmer war vernachlässigt und unordentlich. Keine Bilder schmückten +die Wände. Neben dem Bett hing ein riesenhaftes Löschblatt, vom Gebrauch +schwarz marmoriert, und auf dem Boden stand ein Schreibedeckel neben +einem eisernen Tintenfaß, denn mein Vater pflegte im Bett zu schreiben. +Wäschestücke, Briefe und Schachteln lagen umher; auf einer gelben +Kommode pendelten zwei Uhren, von denen die eine Mitternacht oder +Mittag, die andere fünf Uhr wies. + +Mein Vater hieß mich sogleich vor dem Schreibtisch Platz nehmen und +diktierte mir eine ziemlich unverständliche Abhandlung, welche, wenn ich +mich recht entsinne, Kultur und Mode hieß. Später erfuhr ich, daß er +dergleichen viel schrieb, und manches, was mir recht überflüssig vorkam. +Er tat es für Geld. Das war mir im Anfang unerklärlich, denn ich wußte +nicht nur, daß er ein schönes Privatvermögen besaß, sondern auch, daß er +das Geld verstreute, als ob es Kleie wäre. Er besah es nicht, sondern +gab hin, nach allen Seiten. Dabei lebte er selbst in strenger +Einfachheit, war genügsam wie ein Bauer, stand mit der Sonne auf, im +Winter und im Sommer. Bald, bald erfuhr ich, wohin das viele Geld +wanderte. Aber darüber laßt mich vorerst nicht reden. Damals verwirrte +es meinen Sinn wie vieles andere Neue, und heute noch, in der +Erinnerung, bewegt es mich sehr. Einmal, während ich bei ihm schrieb – +es war immer noch über Mode und Kultur, denn das ging von Adams Zeiten +an – kam ein Brief mit der Post. Mein Vater las ihn, und sein Gesicht +zeigte dabei Zorn und Haß. Da! herrschte er mich an und warf das +zusammengefaltete Papier vor mich hin. Ich schlug es auseinander und +überflog ein Schreiben voller Vorstellungen und Vorwürfe; Religion +bildete die Quelle der Beredsamkeit, so daß bisweilen der Ton etwas +Prophetisches und Salbungsvolles hatte. Zum Schluß wurde der verderbte +Greis flehentlich gebeten, in den Schoß der Kirche zurückzukehren. + +Ich hatte von der geschiedenen Ehe meines Vaters munkeln hören. Dieser +Brief war von seiner Frau. Sie verdummt in den Händen der Pfaffen, sagte +der Alte bitterböse zu mir; aber zugleich nahm ich einen traurigen +Ausdruck in seinem Gesicht wahr, der mir naheging. Er schickte mich an +diesem Tag fort. Als ich am folgenden Tag wiederkam, schenkte er mir +eine wunderschöne, goldene Uhr – für meine Dienste, wie er sich +ausdrückte, hieß mich jedoch abermals gehen. Als ich durch den Korridor +schritt, sah ich ein Mädchen von nicht mehr als fünfzehn Jahren, die +voll Unbefangenheit in Blick und Miene an mir vorüberging, in die +Wohnung meines Vaters. Sie war sehr elegant gekleidet, doch hatte man +gleich den Eindruck, daß dies etwas Selbstverständliches an ihr war. Ich +schaute ihr neugierig, fast freudig nach, und die Freude an meinem +Geschenk ließ mich ihre flüchtige Erscheinung doch nicht vergessen. + +Als ich nach Hause kam, traf ich zu meinem Erstaunen Bianca Spinola bei +uns. Sie war auf Geheiß meines Vaters gekommen, wie ich hörte; sie solle +nur mit uns Umgang suchen, hatte er gesagt. Ich lachte und erwiderte, +daß es wie in einer türkischen Familie sei, aber im Grunde fand ich +etwas Wohliges und Geheimnisvolles in der neuen Verwandtschaft von +fernher. Bianca Spinola sprach schon viel besser deutsch; ihr +Radebrechen entzückte meine Mutter. Ich selbst fühlte mich gehobener +durch ihre Gegenwart, doch ohne die frühere Bewegtheit; auch war mein +Kopf voll von Gedanken. Ich zeigte meine prächtige Uhr, die eitel +Bewunderung weckte, und wir waren herzhaft vergnügt den ganzen Abend +über. + +Ich weiß nicht mehr recht, ob es der darauffolgende Tag war, an dem ich +von Mittag bis zum Abend bei meinem Vater Briefe schrieb. Ich erinnere +mich nur, daß es draußen stürmte und regnete und gewitterte. Mein Vater +saß an der Seite des Tisches und diktierte. Er schien eine große +Vermögensordnung im Sinn zu haben, denn in allen Briefen war davon die +Rede; auch zeigte die ganze Art meines Vaters wohlerwogene Entschlüsse. +Meines Vaters ... An diesem Tag wurde mein Gehirn aufgeweckt, und ich +sah mich nur als ein Körnchen unter vielen. Ich sah einen wahren +Stammvater vor mir, dessen langes Leben, ein Leben, welches er noch +nicht fühlte, in der Erzeugung von Kindern verflossen war. Freilich +damals war es mir nur wie ein Schauer; heute verstehe ich. Jeder Brief +war entweder an einen Sohn oder an eine Tochter oder an eine frühere +Geliebte gerichtet, die jetzt alterte und arm war, und der er ein +Scherflein zukommen ließ. Hier gab er Ratschläge und ermunterte, dort +setzte es eine Strafpredigt; im Norden und im Süden, so schien es, hatte +seine Jugend die gleichen Erfolge aufzuweisen gehabt, und in der Heimat +selbst erblühte kräftig der junge Nachwuchs aus seinem Blut. Manchmal +hatten mir Leute gesagt, daß Fürstinnen und Prinzessinnen von Liebe zu +ihm geplagt worden seien, ja, daß eine gewisse Herzogin, nun schon bei +hohen Jahren, oftmals ein Plauderstündchen beim alten Hilperich einhole. +Das hatte man mir erzählt, und ich leugne nicht, daß ich dazu ein +ungläubiges Gesicht aufgesetzt hatte. Jetzt wurde mir die Zeit zur +Lehrerin, und ich verlachte meine eigene Zweifelsucht. Ich erfuhr +freilich im Lauf der Zeit, daß mein Vater einst eine große Rolle +gespielt habe. Der Hof und das Volk hätten gleichermaßen Vertrauen in +ihn gesetzt; jener hätte seinen Kopf, dieses sein Herz zu würdigen +gewußt, und beide seien auf ihre Rechnung gekommen. Im Revolutionsjahr +soll er der Regierung wichtige Dienste geleistet haben, und man sagte, +daß er auf die Neugestaltung unseres Strafgesetzes den größten Einfluß +ausgeübt hätte. Ich erwähne alles dies mit Ängstlichkeit, denn ich kann +nicht dafür bürgen. Aber zwei Umstände will ich noch anmerken, die für +meine Augen ein Licht über meines Vaters Leben verbreiteten. Einmal +zeigte er mir ein Ölgemälde, das ihn selbst in seinen jungen Jahren +darstellte. Man konnte nichts Liebenswürdigeres sehen! Um die Stirne +glitten braune Locken, die Augen blickten freundlich träumend, und das +griechisch runde Kinn war fest wie ein junger Apfel. Der Maler mochte +phantasiert haben, aber sicherlich hatte ihm das Entzücken über das +lebendige Antlitz die Arbeit verschönt. Ich dachte mir damals, so muß +man aussehen, um der Welt mehr zu sein, als sie uns ist. Oder vielleicht +denk ich dies heute, denn damals war ich jung. + +Das zweite ist dies. Vor etwa zehn Jahren lernte ich einen alten Mann +kennen, der mir von meinem Vater erzählte, und zwar in einem Ton wie von +eigenen Heldentaten. Dieser Mann hatte meinen Vater als Fünfzigjährigen +noch gekannt und behauptete, daß seine Anmut, sein weltmännisches +Betragen, sein Witz und seine Güte einen eigenen Ruhm genossen hätten. +Mein Erzähler berichtete tausend Einzelheiten mit einfältigem, aber +rührendem Eifer. Nicht das jüngste Fräulein habe ihm zu widerstehen +vermocht, dem Graubart, sagte der Schelm und lachte wie ein gackerndes +Hühnchen. Schon damals sei die Zahl seiner Kinder zum Gegenstand vieler +Witze geworden, und als er sich um diese Zeit verheiratete, hatte man in +der Stadt gesagt, nun sei der Sultan zur Galeere verurteilt. Aber +Hilperich war weiterhin auch Sultan geblieben, so meinte mein +humoristischer Mann und fügte hinzu: wer ihn kannte, vermochte durchaus +nicht an seinen Tod zu glauben. Etwas Starkes, Über den Tod-Starkes sei +in ihm gewesen. + +Die Briefe, die mir mein Vater diktierte, mochten für einen Unvertrauten +etwas Geheimnisvolles, sogar Wahnsinniges haben. Denn wer sollte denken, +daß ein und derselbe Mann Söhne, Töchter, Frauen in allen Richtungen der +Windrose besitze? Mich selbst zwang damals etwas Seltsames zu +ungeprüfter Hinnahme. Ihr müßtet gesehen haben, wie mein Vater jedem +einzelnen Brief gegenüber ein besonderer Mann wurde! Bei dem einen wurde +sein Gesicht hämisch und verdrossen; bei dem andern leuchtete es +erinnerungsvoll; jetzt war er karg und spröde, später von zärtlicher +Geschwätzigkeit; hier verurteilte ihn ein kluger Ratschlag zu langem +Nachdenken, dort war er zornig wie eine alte Katze, schlug vor Zorn auf +den Tisch, fletschte die Zähne, und ich, ich wußte keinen Grund, sah +ein Stück Vergangenheit wie in den Scherben eines Spiegels. Aber +zugleich muteten mich all die Gesichter vertraut an, denen ich mich +schreiberhaft zugewandt hatte. Ich trug etwas nach Hause, was ich vordem +nicht besessen hatte; wer kann dafür Worte finden? Kummer und Freude sah +ich fließen in der weiten Gasse der Zeit. Mein Vater, ein fleißiger +Angler, angelte sein Teil heraus. Was er nach Haus trug, war sein, wie +meins, was ich. + +Jetzt muß ich aber etwas Neues erzählen, denn viel Verwirrendes drängt +sich vor mir. Damit ich jedoch nicht vergesse, will ich erwähnen, daß +ich an jenem Abend vor meines Vaters Haus den Mittelmann traf (den +dünnen Mann mit der roten Krawatte) der mir eine Viertelstunde lang +Unsinn vorschwatzte. Er tat so, als sei er wohl Hilperichs Kind, doch +enthalte man ihm dies Recht vor. Darüber schwatzte der Arme wie ein +Besessener; später erzählte mir mein Vater, daß dies Mittelmanns fixe +Idee sei, mit der er seit Jahren durch alle Kneipen hausieren gehe. Oder +glaubst du, daß einer, den ich gemacht, so aussieht? fuhr mich mein +Vater grob an, stieß mich mit dem Zeigefinger vor die Stirn, lachte aber +sogleich in seiner keuchenden Weise. + +Es war an einem Oktoberabend, kaum eine Woche nach jenem Brieftag, und +ich hatte meine Arbeit eben beendigt, da kam jenes junge Mädchen zur Tür +herein, welches mir damals an der Treppe begegnet war. Mit allen Zeichen +der Bestürzung und Eile ging sie auf meinen Vater zu und flüsterte +etwas. Der alte Mann warf den Kopf zurück und blickte mit einem +drohenden Ausdruck ins Leere. Darauf schielte er mich boshaft und +finster von der Seite an und befahl mir durch eine Gebärde, zu gehen. +Bevor ich aber noch meinen Hut ergriffen, hatte mein Vater eine der +Türen geöffnet, die aus seinem verwahrlosten Schlafgemach in ein mir +bisher unbekanntes Zimmer führte. Dorthin sah ich nun die beiden gehen, +und mein Blick erhaschte zugleich gierig den fremden Raum, den mein +Vater nie betreten hatte, während ich zugegen war. Ich gewahrte nun ein +kleines Boudoir, das meinen unverwöhnten Augen einen fürstlichen Prunk +zeigte. Aber es schien mir zugleich wohnlich und warm drinnen, und als +ich auf der Straße war, empfand ich eine Begierde nach diesem Gemach wie +nach einem verbotenen, verzauberten Garten. + +Die kurze Szene, kaum der Rede wert für einen Unbeteiligten, hatte +trotzdem tiefen Eindruck auf mich gemacht. Zu Hause fand ich Bianca +Spinola, welche zum Essen blieb und den ganzen Abend bei uns verbrachte; +meine Mutter war bei trefflicher Laune; ich blieb schweigsam und +nachdenklich. Ich mußte fortwährend an das junge Fräulein denken, und +das nicht vielleicht mit den Gedanken von Mann zu Weib. Es war so, daß +sie vor meinem inneren Auge nicht entwich und ich mich quälte, zu +ergründen, was mir an ihr, seltsam genug, ein für alle mal unergründlich +schien. Noch jetzt, wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihren +graziösen, müden Gang. (Sie ging, als ob sie wüßte: so wie ich muß man +gehen, aber wer wird darauf achten?) Ihre Verachtung der Welt schien +groß, aber kindlich. Sie hatte etwas Bemitleidenswertes und zugleich +Damenhaftes, etwas Wiegendes und Achtloses. Ihre Augen, voll Trauer und +Ironie, zeigten zwei reine Augensterne wie schöne braune Perlen in +gefrorener Milch. + +So schwebt sie mir vor, und was ich weiterhin erfuhr, erhorchte und +herausspionierte, will ich hier gleich sagen. Nicht nur als neugieriger +Tor wollte ich wissen, sondern was meinen Vater anging, ich nahm es +immer stärker wahr, betraf mich tief. Um seiner würdig zu werden, hatte +ich mich in den letzten Monaten mit einem bunten Studieren abgegeben. +Auf eigne Faust lernte ich fremde Sprachen, trieb allerlei Wissenschaft, +ohne Plan und Kraft, aber mit mehr Erfolg, als man bei einem Menschen +wie mir vermuten sollte. Doch die größte Ausdauer zeigte ich bei der +Erforschung des Verhältnisses zwischen meinem Vater und Henriette, eben +jenem Mädchen, das ich bei ihm und vorher schon im Korridor gesehen +hatte. Den leisen Andeutungen entnahm ich Wissenswertes; Ohr und Auge +waren geschärft und einmal, gleichsam als Belohnung kam es zwischen mir +und meinem Vater zu einer wirklichen Plauderstunde. Er hatte Zutrauen zu +mir gefaßt; das wußte ich, oder ich weiß es jetzt; denn damals gab ich +mir nicht Rechenschaft über die Dinge, sondern nahm sie nur mit Glut in +mich auf. + +Eine flüchtige Leidenschaft hatte die Ehe meines Vaters geknüpft. Den +damals schon Sechsundfünfzigjährigen hatte eine kühle und elegante Dame +rasch entflammt. Doch bald bröckelte aller Schmuck von jener Frau ab wie +von einer schlecht getünchten Wand. Sie war zäh in ihrem Dünkel und +besaß eine unverwüstliche Einfalt. Ein bösartiges Schaf und doch wollte +sie herrschen, sagte mein Vater unverhohlen von ihr. Er selbst war für +die Ehe wie Feuer für Stroh; nach drei Jahren führten die +Unverträglichkeiten zum Bruch, und die Frau ergab sich den Pfaffen. Mein +Vater führte sein Leben weiter, ungestümer noch, als ob ihn der Ehekampf +erregt hätte, aber eines war, das ihn sogar der Frau verpflichtete: +Henriette. Er liebte diese Tochter mit der ganzen unbeschreiblichen +Gewalt seines Temperamentes, und wenn ich es recht bedenke, war es etwa +so, daß man sein Gefühl für Henriette und das für seine übrigen Kinder +in die zwei Schalen einer Wage legen konnte, und jenes einzige wäre +schwerer gewesen als die andern alle. Auch mich liebte der Alte, auch +den blonden Ingenieur, den ich kannte, auch die drei Töchter aus Prag, +wie er sie hieß, auch den überseeischen Kapitän oder den hübschen +lebhaften Studenten, der einer Frühlingsliebe am Meer entstammte, aber +wir alle waren gegen Henriette wie blasse Sterne gegen den Mond. Wie +wunderlich, daß aus der einzigen Verbindung, die sich in Alltäglichkeit +und Haß verlor, sein Liebstes kam. + +Da er ihre Erziehung nur bis zum dritten Lebensjahr überwachen konnte +und das Kind der Frau verbleiben mußte, hatte in der ersten +Trennungszeit seine väterliche Sorge alle andern Interessen vertilgt. Er +konnte nicht täglich das Haus einer Verabscheuten betreten, welche +ihrerseits das nicht sehr geliebte Kind dem Wüstling, wie sie seinen +Vater nannte, entfremden wollte. Der Vater bestach die Dienstboten, ja +er wußte es durchzusetzen, daß eine ihm ergebene Person das Mädchen +völlig in ihre Obhut bekam. Diese würdige Frau Jakobea führte Tag für +Tag Henriette in die Wohnung ihres Vaters. + +Tag für Tag also, seit zwölf Jahren, hatte mein Vater eine paradiesische +Stunde in dem kleinen Gemach, das nur für ihn und Henriette war, und +welches gemütlich und heimlich auszustatten er nicht müde wurde. Kein +Kunstgegenstand war ihm zu teuer, um dieses oder jenes Eck zu schmücken, +und mit Geschmack und Phantasie begabt, gestaltete er diesen Raum zu +einem Werk gleich einem Künstler, der aus Sehnsucht nach Vollkommenheit +seine letzte Arbeit bis ans Grab schleppt. In den Kinderjahren +Henriettes spielte der alte Mann mit ihr und vergaß Zeit, Arbeit und +Vergnügen darüber. Das frühkluge Mädchen fand selbst dem Spiel gegenüber +eine Überlegenheit, welche komisch und reizvoll wirkte. Wenn auch nichts +Starkes in ihr war, so doch etwas Sanftes, im Sanften Tüchtiges (da sie +doch wußte, wie angenehm es war, sanft zu sein). Indem sie das Spiel +beiseite schob, spielte sie, aber schon frühe wußte sie aus Klugheit für +Ernstes ernst zu bleiben. Ihr Vater wollte sie aus den Reihen des +Geschlechts erheben, wollte sie gleichsam mit Weisheit und Voraussicht +kränzen, eben mehr zu Schmuck als zu Nutzen. Er selbst, in allen Künsten +der Verführung Meister, wollte sie vielleicht auch gegen einen jüngeren +Hilperich schützen. Ich erfuhr späterhin, daß er schon in ihrem zehnten +Jahr den Storch aus ihrer Phantasie vertrieb, daß er ihr langsam, mit +Nachdruck und Würde das Menschlichste nahe brachte. Nichts Verschleiertes +also gab es mehr; er gedachte sie zu ehren durch Vertrauen und zu +beruhigen durch Wissen. Schon mit dreizehn Jahren kam Henriette allein, +und schwer ist es zu sagen, was _sie_ im tiefen Grund des Herzens zum +Vater trieb. Er saß stets lange vor ihrem Kommen im Henriettenzimmer und +wartete wie auf eine Geliebte. Sie kam, erregt durch die Heimlichkeit +ihres Besuches (ach, das hatte mein Vater nicht ermessen!), lächelte, +plauderte, fragte und urteilte, war plötzlich müde und verstimmt, +kopfhängerisch und von entzückendem Pessimismus. So wuchs sie heran und +teilte sich zwischen dem Haus des Vaters und der Mutter. Ihr ganzes +Wesen wurde so entzwei geschnitten. + +Das Ende des Jahres nahte heran. Zu Weihnachten schenkte mir mein Vater +einen wundervollen spanischen Mantel, den er einst in Sevilla gekauft. +Er war mit roter Seide gefüttert und aus dem kostbarsten schwarzen Tuch +gefertigt, das ich je gesehen; wenn man ihn auf die Erde breitete, war +er so groß wie ein Zeltdach. Als ich mit diesem Geschenk freudestrahlend +durch das Vorzimmer ging, stürzte Mittelmann auf mich los, der noch +immer irgendwo da herumlungerte. Mit kreideweißem Gesicht stellte er +atemlose Fragen an mich, ob er etwas geschenkt bekomme, was es sei und +wie es aussehe. Ich war sehr unfreundlich gegen ihn, aber ich hätte es +vielleicht nicht sein sollen. Der arme Mensch war immer hungrig und +machte der alten Bedienerin den Hof, um ein paar Bissen zu ergattern. +Dabei ging er mit seinen Sohnesansprüchen an Hilperich umher wie mit +einem sicheren Kapital, und was ihn in seinem Glauben so befestigte, war +nur das Gewäsch eines Anverwandten, der einst im Hilperichschen Hause +Aufwärter gewesen war. + +Mein Vater ging in diesen Tagen mit einer festlichen geheimnisvollen +Miene herum. Er diktierte mir einen Aufsatz, der den merkwürdigen Titel +führte: »Die Erziehung zur Liebe«, und von dem ich nicht das mindeste +verstand. Zwei Tage vor Neujahr wurden wir fertig. Es war schon dunkel, +mein Vater stand lange Zeit am Fenster und blickte auf die schneeblaue +Straße. Plötzlich wandte er sich heftig um und fragte scharf: Na, willst +du kommen? Ich wußte nicht, was er meinte, und blieb still. Er stampfte +zornig auf den Boden, lachte verächtlich, doch bald wurde er sanft und +streichelte mir die Wangen. Ich hatte dabei meist ein schüchternes, fast +furchtsames Gefühl; denn wenn er liebevoll tat, war er oft gefährlich. +Doch erklärte er mir kichernd, daß es am Sylvesterabend »etwas gäbe«, +und damit mußte ich zufrieden sein. + +Am folgenden Abend zog ich meine besten Kleider an und war voll +Erwartung. Jedenfalls ist Henriette da, dachte ich mir; denn ich wußte, +daß ihre Mutter sich seit Wochen in einem Kloster aufhielt und das junge +Mädchen die ohnehin gewohnte Freiheit so in noch höherem Maße genoß. Ich +sah in Henriette durchaus keine Schwester, eher eine ganz Fremde, aber +liebe Fremde. + +Als ich hinkam, war Henriette schon da, auch eine alte, vornehme Dame +mit glatten, silberweißen Haaren, die in einem Lehnstuhl saß und mich +spöttisch anlächelte. Mein Vater schalt mich, weil ich zu spät gekommen. +Ich schämte mich, denn ich hatte es für sehr vornehm gehalten. Stolz und +vornehm war ich mit meinem spanischen Mantel durch die Straßen +geschritten. + +Wir saßen im Henriettenzimmer, und ich wagte mich kaum zu bewegen, so +sehr gefiel mir alles, was ich erblickte. Herrliche Teller und Gläser +schmückten den weißen Tisch; von der Decke hing ein zwölfarmiger +Leuchter herab, ganz von Gold, wenigstens schien es mir so. Die Fenster +waren mit dunkelblauem Stoff verhängt, und an den Wänden hingen die +schönsten Bilder. Henriette trug ein einfaches, blaues Kleid, und ihr +Gesicht hatte etwas Geplagtes. Sie sprach wenig, aber immer sehr betont +und aufmerksam, und die alte Dame, deren schwarzseidenes Kleid beständig +knisterte, weil sie so belebt war, schien voller Liebe gegen sie. Ich +glaube, daß sie eine sehr vornehme Person war; weder damals noch später +erfuhr ich ihren Namen. Aber was sie auch sein mochte, ihr gewinnendes +Wesen ließ mir jedes heimliche Forschen frevelhaft erscheinen. Sie duzte +meinen Vater, wie er sie, und eine lange Vertraulichkeit, viel +Zusammenerleben mußten es sein, die einen so herzlichen Ton geschaffen +hatten, wie er unter ihnen bestand. + +Während des Essens erhob sich mein Vater zu einem Trinkspruch. Ich +erinnere mich heute nicht mehr an seine Worte. Damals schien es mir +hinreißend, ihn so zu hören, und mein Blick, der auf ihn gerichtet war, +zitterte förmlich. Er sprach zu uns von seinem Leben, von dem was +untergeht und was bleibt, Erinnerungen, die wie Schiffe am Horizont +vorbeizogen, – und eines ist mir unvergeßlich. Er sagte: Wenn ich einmal +alt sein werde ... Er war im Oktober dreiundsiebzig geworden. Er dachte +so wenig an den Tod wie ein Knabe. + +Als er geendet hatte, stand Henriette auf, beugte sich zu ihm und küßte +ihn auf die Nasenspitze. Das war ihre Art etwas Scherzhaftes mußte dabei +sein. Die alte Dame klatschte in die Hände. Mit einem kindlichen, fast +mädchenhaften Lachen ergriff sie das Glas und sagte, indem ihre Augen +tief und warm strahlten: Mein unsterblicher Hilperich soll leben. Wer +sie und Henriette zusammen sah, den mochten wohl sonderbare Gedanken +über Jugend und Alter gefangen nehmen. + +Mein Vater wurde immer aufgeräumter. Er stieß mich in die Seite, drohte +mir mit Prügeln, wenn ich fortführe, so schweigsam zu sein. Henriette +antwortete etwas zu meiner Entschuldigung, was mir sehr verständig +vorkam. Überhaupt fand ich ihren Verstand immer bewundernswerter. Über +alles ringsumher schien sie sich spielerisch klar zu werden. Dennoch sah +ich Unruhe in ihren Augen. + +Wie lang ist es eigentlich her, daß wir uns schon kennen? fragte die +alte Dame in träumerischer Erinnerung. + +Mein Vater wiegte den Kopf. Lange, lange, erwiderte er und tat einen +tiefen Schluck aus dem Glase. + +Ich glaube, es war an dem Tage, da Goethe starb, fuhr sie fort und +lächelte. Mich durchzuckte es wunderbar, und ihr Seufzen kam mir +lieblich vor, womit sie weiterredete, (indem sie einen Blick auf +Henriette heftete): So blühen die Jungen auf und werden den Alten teuer. +Was wirst du tun, wenn Henriette heiratet? fragte sie und blinzelte +dabei schalkhaft. + +Sie heiratet nicht, entgegnete der Greis kurz. Oder nicht sobald, fügte +er hinzu, indem er das Ohr bis auf die Schulter senkte; heiraten ist ein +Unfug. + +Gut. Sie ist ja auch noch jung. Aber schließlich, Weib ist Weib. Nicht +wahr? Die alte Dame zeigte ihre weißen Zähne und ließ den Blick naiv +fragend von einem zum andern gehen. Dann lachte sie und fuhr heiter +fort: Alle schreien wir: nie, und auf einmal sagen wir ganz leise Ja. +Gut, Heirat hin oder her, aber – ihr Blick wurde plötzlich versonnen – +nimm an, man verführt sie dir. Wie? Nun ja, das ist schon dagewesen. Du, +der Freidenkende, was wirst du tun? + +Henriette lachte mit gesenkten Augen kurz vor sich hin. Mein Vater kniff +die Lippen zusammen und erwiderte mit einem unbestimmt jovialen Ausdruck +und mit weinglänzenden Augen: Das ist plausibel; ich sag ihr: Gehe hin, +was du verdienst ist dein Gewinn. Nachdem er dies gesagt hatte, stand er +so heftig auf, daß der Stuhl hinter ihm zur Erde fiel, schlug mit der +Faust auf den Tisch und brüllte oder kreischte: Ich würde sie zum +Fenster hinunter werfen. + +Henriette erhob sich, gänzlich blaß, ging zum Kamin und hielt wie +frierend die Hände dagegen. Mein Vater folgte ihr, klopfte mit der +flachen Hand auf ihren Rücken, lachte, setzte sich und nahm sie auf sein +Knie. Sie hielt aber die Augen geschlossen. + +Da die Glocken zu läuten anfingen, erhob sich auch die alte Dame vom +Tisch, öffnete ein Fenster, so daß man nun die Glockenschläge dröhnend +und deutlich von allen Seiten vernahm. Der kalte Winter dampfte herein, +und Leute schrien auf der Gasse. Die alte Dame blickte andächtig gegen +den Himmel, und ich blieb sitzen wie ein Vergessener. + +Noch im Traum in der Nacht sah ich die wohlwollende alte Dame, die +vielleicht gegen keinen Menschen Böses hegte; meinen Vater, von +Lebenskraft und -Größe erfüllt wie einen Gott des Altertums; Henriette, +unentschieden, graziös und fatalistisch kühl. Es war mir einen +Augenblick im Traum, sonderbar, als übe sie nur Nachsicht mit meinem +Vater, ihrem Vater, beuge sich dennoch gütig unter seiner Liebe. + +Den Neujahrstag verbrachte ich mit der Mutter, und als ich am nächsten +Tag zu meinem Vater kam, fand ich ihn unruhig und finster. Er begrüßte +mich kaum, sagte, es sei nichts los heute. Ohne Arges zu denken, ging +ich wieder. Am nächsten Tag erklärte mir die Bedienerin, der Herr Rat +sei nach Z. gegangen. Mich erstaunte das; er konnte dort nur das Kloster +besuchen, in welchem seine Frau war. Vor dem Hause lungerte Mittelmann +herum. Ohne weiteres erklärte er mir in seiner singenden, hastigen +Redeweise, daß Henriette verschwunden sei. Der einzelnen Ausdrücke +erinnere ich mich nicht mehr, die das dünne Männlein gebrauchte, aber +mir wurde der Kopf heiß. + +Den Tag darauf war ich nicht wenig überrascht, meinen Vater und +Mittelmann miteinander Schach spielen zu sehen. Ich wagte nicht zu +reden, nicht zu fragen, setzte mich und sah zu. Das Gesicht meines +Vaters war verändert wie ein laubreicher Baum nach einer Orkannacht. +Aber mit ruhiger Hand schob er die Figuren, ohne den Blick vom Brett zu +erheben. Seine weißen Wimpern schienen schwer. Er verlor die Partie; +Mittelmann grinste entzückt, als ihm mein Vater verächtlich einen Gulden +hinwarf, und ohne von meiner Anwesenheit Notiz zu nehmen, begannen sie +eine neue Partie. Plötzlich aber stieß mein Vater das Tischchen mit dem +Fuße um, und von dem Getöse erschreckt, flüchtete Mittelmann in eine +Ecke. Mit schweren Schritten ging mein Vater auf und ab, dann ergriff er +nacheinander die Stehuhr, die Lampe, eine Wasserkaraffe, den +Handspiegel und seine Waschschüssel und warf sie mit voller Wucht gegen +die Dielen. Sein Gesicht war blau, die Adern an der Stirn und an den +Händen wie Stricke geschwollen; so ging er auf mich Zitternden zu, +packte mich beim Kragen, schüttelte mich mit riesiger Kraft wie eine +Puppe und schrie hohl krächzend: Wo ist sie? Wer hat sie verführt? Wo +ist sie? Schaff sie mir her, Lumpenhund! Dann ließ er ab von mir, +öffnete das Fenster, wie um Luft zu schöpfen, und stieß einen langen, +tiefen Seufzer aus, der wie das Geheul eines Hundes klang. Die +Bedienerin war aus der Küche gekommen und betrachtete schweigend und +erschrocken das Bild der Verwüstung. + +Wie ich heim kam, wie ich die Nacht verbrachte, was in meinen Gedanken +vorging, das weiß ich nicht mehr. Ich säumte nicht, am folgenden Tag +wieder zu meinem Vater zu gehen; wie gestern fand ich ihn mit Mittelmann +Schach spielend. Wie gestern beachtete er mich nicht, und ich sah +geduldig zu. Der Abend kam, und es geschah nichts. Fast wäre ich froh +gewesen um einen Ausbruch seines Zorns. Aber er saß still und in sich +gekehrt. Alle Tage ging ich hin, wartete, trauerte. Immer fand ich ihn +mit Mittelmann beim Schach und hie und da beim Domino. Zu arbeiten gab +es nichts für mich; ich haßte und verwünschte das Schachspiel und das +andere Spiel, verwünschte Mittelmann in meinem Herzen. Was mein Vater +auch sagen mochte, Mittelmann wiederholte es wie ein lästiges Echo, auch +wenn es eine Beschimpfung war, die ihm selbst galt. Seine Körperhaltung +zeigte die tiefste Unterwürfigkeit, aber zugleich die Unruhe eines +Kobolds. Wenn eine Partie für ihn schlecht stand, hüpfte er auf seinem +Sitz, wiegte sich aufgeregt hin und her, steckte die dünnen Fingerchen +in den Mund, murmelte sinnlose Worte, fuhr förmlich wehklagend mit der +Hand über die Stirn, und wenn er keine Rettung mehr sah, zeigte sein +Gesicht einen Ausdruck geisterhafter Frechheit. Dies schien meinem Vater +zu behagen und ihn zu erwärmen. + +Die Ungeduld, zu wissen, verzehrte mich. Ich dachte mich an Mittelmann +zu halten, der doch beständig um meinen Vater war. Ich hatte erfahren, +daß er ein Zeitungsreporter war, und glaubte, einen guten Spion an ihm +zu haben. Ich nahm ihn mit in ein Wirtshaus und ließ ihm Speisen, Wein +und Bier vorsetzen. Zwei Stunden hindurch aß er, ohne daß in seinem +Munde Raum für ein überflüssiges Wort verblieb. Mich erbarmte seiner, +wie er mit vollen Backen stammelte oder glückselig auf die heißen +Kartoffeln blies. Ich ließ es also dabei bewendet sein und begriff, daß +Mittelmann meinem Vater nichts anderes war, denn ein Haustier, ein +folgsamer Hund, der sprechende Hund. Er brauchte ihn nur, um für sein +düsteres Schweigen ein Ohr zu haben. + +Henriette war fort; sie hatte sich einem an den Hals geworfen, und war +Gott weiß wohin gegangen, ohne Wort noch Zeichen. Mehr wußte ich nicht +und konnte nichts sonst erfahren. Für meinen Vater war ich wie Luft. +Warum, das weiß ich selber nicht. Oft stieg es mir bitter auf: hat er +ihr das Blut vererbt, so vielleicht auch die Tat; aber es zu sagen, +hütete ich mich wohl. + +An einem wunderschönen, sonnigen Nachmittag kam ich hin und fand Bianca +Spinola in seiner Schlafstube. Das Henriettenzimmer war zugeschlossen, +war seit dem Neujahrstag nicht mehr betreten worden. Ja, sogar die +leeren Teller und Flaschen standen noch auf dem Tisch, wie mir Bianca +später erzählte. Die Bedienerin war am Feiertag über Land gefahren, und +schon am Abend war das Unheil geahnt und mein Vater hatte die Türen +versperrt. + +Bianca war also da. Mein Vater lag auf seinem mageren Bett, und sie saß +am Fußende und hielt ein Buch in den Händen, aus welchem sie Verse ihrer +Heimatsprache vorlas. Mein Vater sah mich fremd und unwillig an, schloß +aber gleich wieder die Augen, um weiter zu lauschen. Nie habe ich ein +schöneres Bild gesehen; das schlanke heitere Mädchen mit den +tintenschwarzen Haaren und den regungslos hingestreckten Greis und die +helle Februarsonne im Zimmer und dazu wie Musik die italienischen Worte. +Ich entfernte mich auf Zehen. In dem kühlen Vorzimmer schlief auf einem +Stuhl fahl und zusammengesunken der wunderliche Mittelmann. + +Am Abend erzählte mir Bianca etwas Schreckliches. Ihrem welschen Gerede +entnahm ich nur, daß mein Vater jetzt herumging und sich vor dem Sterben +fürchtete. Er! Sie habe ihn beobachtet, sagte Bianca, auch habe er +gesprochen. Die Phantasie des jungen Mädchens war wie durch Gespenster +erschüttert. Ich glaubte ihr nicht. Meine Mutter lachte sogar darüber. + +Mit bangem Sinn trat ich das nächste Mal den mir so vertrauten Weg in +die alte Gasse an. Mein Vater war allein. Er saß am Fenster und starrte +vor sich hin. Mit schüchternen Worten suchte ich ihn zu einem +Spaziergang zu bewegen. Er verzog die Lippen verächtlich und erwiderte +nichts. Ich begriff meinen Vater, begriff seine Einsamkeit. Als es +dunkelte, wollte ich gehen; jedoch er hielt mich zurück mit einem +Gebaren, das ich noch nicht an ihm bemerkt hatte. Er wurde sanft, seine +Stimme klang weich und wie zerbrochen; er bat mich, die Lampe +anzuzünden, und als dies geschehen war, wurde er sichtlich ruhiger. Er +sagte, er wollte nicht mehr diktieren, ihm sei das zu mühsam, er wollte +sich überhaupt um all die Geschichten nicht mehr kümmern. Zum erstenmal +wagte ich es, von Henriette zu sprechen. Er sah mich groß an und +schüttelte den Kopf. Das Frauenzimmer hat jetzt mehr Pläsier von der +Welt als von mir, sagte er und kicherte zynisch vor sich hin. Ich wußte +keine Antwort, verbarg meine Überraschung. Wieder wollte ich aufbrechen, +denn ich fürchtete ihn zu stören. Er nahm meine Hand zwischen seine +beiden, hielt sie fest und sagte, ich sollte warten, bis er im Bette +sei. Dann nahm er eine Kerze, öffnete die Tür zu dem großen Zimmer, +leuchtete hinein, ging mit schlürfenden Schritten dem Licht förmlich +nach, spähte in alle Ecken, spähte auch in den Flur hinaus, wobei er +kurz auflachte, wie um irgend einen Lauerer aufzustören, und ich saß da, +schaudernd und von neuem begreifend. + +Man darf es nicht wagen, sagte er zurückkommend und schielte mich von +der Seite an. Man ist nirgends sicher. Wenn du die Treppe hinuntergehst, +kannst du dir das Genick brechen, mein Söhnchen. Überall wartet etwas +auf dich, und was du verlachst, kann dein Verderben sein. + +Er entkleidete sich mit Hast, warf sich auf das Bett und seufzte. Jetzt +kannst du gehen, brummte er mürrisch, aber sieh zu, daß das Schloß +einklappt. + +Ich ging. Es war schon späte Nacht. Ich irrte herum und kam bis in die +Vorstädte. + +In den nächsten acht Tagen suchte ich meinen Vater nicht mehr auf. Eine +neue Stellung, die ich erlangt hatte, nahm mich sehr in Anspruch. Aber +während dieser Zeit wurde mein Geist so von Unruhe gepeinigt, daß ich +für die Arbeit ganz abgestumpft wurde. Dennoch hielt mich etwas Schweres +ab, zu ihm zu gehen. Ich war feig, ja, ich fürchtete mich vor seiner +Furcht. Es war der letzte Sonntag im Februar, als ich mich meiner +Pflicht erinnerte. Still war ich herumgegangen und hatte niemandem etwas +davon gesagt; und auch das quälte mein Gewissen, als hätte die Welt +helfen können. + +Es regnete an diesem Tag. Obgleich so viele Jahre verflossen sind, +erinnere ich mich, daß vor meines Vaters Haus ein Betrunkener lag, und +daß dies einen fatalen Eindruck auf mich machte; besonders das matte, +gedunsene, gleichgültige Gesicht des Mannes und seine halboffenen Augen. +Johlende Kinder sprangen um ihn herum. + +Oben öffnete mir die Bedienerin. Wieder fand ich meinen Vater allein, +und zwar in dem großen, leeren Zimmer. Er saß neben dem Spiegel, vor dem +kleinen, runden Schachtisch. Er hatte mich nicht bemerkt, meine Schritte +nicht gehört. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt und war anscheinend +in tiefes Sinnen verloren. Kein Laut störte die Ruhe; nichts Belebtes +machte die Einsamkeit vergessen. Es sah aus, als ob er seit vielen +Stunden so sitze, mit etwas Unerklärlichem beschäftigt. Endlich wagte +ich es, laut den Tagesgruß zu rufen, und er hob langsam den Kopf. Er +besann sich, nickte; ich trat näher, und er gab mir die Hand wie er in +guten Stimmungen zu tun pflegte, fest, mit festem Druck. Aber sein +Aussehen war verstört. + +Ich denke über die Toten nach, die hinter mir liegen, sagte er. Ich +schaue zurück, und jedes Jahr ist ein Zaunpfahl, an dem eine Leiche +hängt. + +Es ist das allgemeine Los, Vater, entgegnete ich beengt. + +Sein Gesicht verzerrte sich wie vor einer Flamme. Allgemeine Los? Warum? +Warum? Antworte, du Zeisig? Warum fühl ich dabei? Warum? Warum weiß ich +davon? Warum erst alles und dann nichts? He? Warum? Er stand auf und sah +mich gebieterisch an. + +Gott will es, flüsterte ich. + +Gott? Wer ist Gott? Was kann Gott wollen, was nicht ich will? Muß ich +sterben, weil ein Gott will, den ich nicht kenne? Ich glaube nicht an +den Tod. Oder wie? Wer könnte mich von meinem eigenen Tod überzeugen? Er +blickte gegen das regennasse Fenster und gegen den Himmel; sein Hals war +dunkelrot gefärbt, und die rechte Hand war geballt. Und doch, was ist zu +tun? fuhr er nun mit feierlicher Stimme fort, ohne seine Stellung zu +verändern. Es nützt nichts, daß ich leben will, leben, leben. Es nützt +nichts, daß ich weiß, auch ihr werdet tot sein, wenn ich’s bin. Es nützt +nichts. Wenn’s auch nur noch zehn Jahre sind, was sind zehn Jahre für +mich? + +Ich erinnere mich, daß ich etwas sagte von unserer Liebe für ihn. Aber +er schwieg und hörte nicht. Langsam wanderte er auf und ab, die Hände +auf dem Rücken und wiederholte noch einmal vor sich hin: was sind zehn +Jahre für mich? Mir standen plötzlich die hellen Tränen in den Augen, +und voll Betrübnis schlich ich davon. Immerfort glaubte ich ihn zu +hören, den anklägerischen Ton seiner Stimme, den Trotz seiner Worte; +immer sah ich ihn einsam in seiner leeren Stube gehen und konnte nicht +die Inbrunst und das Furchtbare seiner Augen vergessen, als er ausrief: +Was kann Gott wollen, das nicht ich will? Raum und Zeit verachtend, +stand er im Mittelpunkt des Weltalls, allein, aufrührerischen Geistes, +ein aufrührerischer Fährmann, die abendliche Flut des Lebens befahrend. +Die Jahre konnten ihm nichts sein, denn seine Seele hatte stets den +Augenblick besessen – und nun verloren. + +Den nächsten Tag verbrachte ich mit meinen Angelegenheiten. In der +Nacht, die folgte, fand ich keinen Schlaf. Die Luft schien mir schwül, +und kaum daß es Morgen geworden, trieb es mich nach der Wohnung meines +Vaters. Als ich in sein Schlafzimmer trat, sah ich ihn ruhig auf dem +Bett liegen, und daneben hockte Mittelmann, das Schachbrett vor sich, +anscheinend stumpfsinnig in ein Problem vertieft. Mich wunderte das so +früh am Tag. Mittelmann gewahrte mich und sagte scheu: Ich war die ganze +Nacht hier, es war um zwölf Uhr, solange spielten wir. In dieser +Stellung brachen wir ab. Sehr interessante Stellung, sehen Sie nur. + +Geschwätzig redete er weiter. Ich blickte unbeweglich auf die +geschlossenen Augen des Greises. Sein Gesicht zeigte denselben Ausdruck +des Trotzes, wie vor zwei Tagen. + +Die Fenster waren geöffnet, und die Sonne strahlte herein. Ich wurde so +traurig wie nie zuvor; und doch war es mir, als hätte ich meinen Vater +schon tot hingestreckt gesehen damals, als Bianca ihm vorlas. + +Am nächsten Tag begrub man ihn. Den armen Mittelmann führte ich darnach +in ein Wirtshaus und gab ihm satt zu essen. + + + + + * * * * * + +Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane + +Dritte Reihe + + 1. Bd. Th. Fontane, Irrungen Wirrungen + 2. Bd. Björnstjerne Björnson, Mary + 3. Bd. Gabriele Reuter, Frauenseelen + 4. Bd. Laurids Bruun, Van Zantens Insel der Verheißung + 5. Bd. Sophie Hoechstetter, Passion + 6. Bd. Knut Hamsun, Redakteur Lynge + 7. Bd. Hermann Bahr, Theater + 8. Bd. Gustaf af Geijerstam, Pastor Hallin + 9. Bd. Bernhard Kellermann, Yester und Li +10. Bd. Felix Hollaender, Das letzte Glück +11. Bd. Jonas Lie, Auf Irrwegen +12. Bd. J. Wassermann, Der niegeküßte Mund + +Jeden Monat erscheint ein Band + + * * * * * + +Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane + +Bisher erschienen unter anderen: + +Gabriele d’Annunzio: Lust I/II +Hermann Bahr: Theater +Herman Bang: Am Wege +Björnstjerne Björnson: Mary +Laurids Bruun: Van Zantens glückliche Zeit +Theodor Fontane: L’Adultera +Gustaf af Geijerstam: Thora +Knut Hamsun: Redakteur Lynge +Hermann Hesse: Unterm Rad +Felix Holländer: Das letzte Glück +Bernhard Kellermann: Yester und Li +E. von Keyserling: Beate und Mareile +Jonas Lie: Eine Ehe +Peter Nansen: Julies Tagebuch +Thomas Mann: Der kleine Herr Friedemann +Gabriele Reuter: Liselotte von Reckling +Jakob Schaffner: Die Erlhöferin +Emil Strauß: Der Engelwirt + + * * * * * + +Werke von Jakob Wassermann +bei S. Fischer, Verlag, Berlin + + +Die Juden von Zirndorf. +Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Vierte Auflage. Geheftet 4 Mark, +in Leinen 5 Mark, in Leder 6 Mark 50 Pfg. + +Kaum je hat ein jüdischer Poet seinen Glaubensgenossen, und über das +Judentum der Gegenwart überhaupt schärfere, und zutreffendere Dinge +gesagt als Wassermann in diesem Buche. Die besten Eigenschaften des +jüdischen Volkes erscheinen in ihm selbst verkörpert, vor allem der +kritisch-skeptische Sinn, der auch sich selbst nicht schont. Mit diesem +verbindet sich auch bei Wassermann eine starke, jedoch mehr mystisch als +sinnlich glühende Phantasie, der namentlich in dem phantastischen +»Vorspiel« des Romans eine glänzende poetische Leistung gelungen ist. +Dieses Vorspiel bildet den Grundakkord zu der in unseren Tagen +spielenden Geschichte der »Juden von Zirndorf«, in denen ein begabter +Jüngling Agathon, der das edelste Judentum verkörpert, die von einem +brutalen Christen erduldete Schmach durch einen Mord an seinem Peiniger +rächt. + (Neue Zürcher Zeitung) + + +Die Geschichte der jungen Renate Fuchs. +Elfte Auflage. Geheftet 6 Mark, in Leinen 7 Mark 50 Pfg. + +Jedes große, befreiende Buch muß ein Buch der Erlösung und der +Wiedergeburt sein. Dies ist ein Buch von der Erlösung der Frauen, »die +alten sinnlichen Vorurteilen zu mißtrauen beginnen, die ihr Schicksal, +ihr Frauenschicksal erleben und nicht länger leibeigen sein wollen«. – +Seit dem »Grünen Heinrich« Kellers ist in deutscher Sprache kein so +interessanter und tiefsinniger Roman erschienen. + (Die Zukunft) + + +Der Moloch. +Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Vierte Auflage. Geheftet 4 Mark, +in Leinen 5 Mark, in Leder 6 Mark 50 Pfg. + +Ein bedeutendes Werk! Bedeutend durch die ernste Idee, die ihm zugrunde +liegt, bedeutend durch die psychologische und gestaltende Kunst, mit der +Wassermann jene Idee zu einem groß und breit angelegten, lebensvollen +Gemälde gestaltet hat!... Der Verfasser hat dieses psychologische +Problem in der Tat auch vollständig, seinem Wesen entsprechend, +psychologisch behandelt, und zwar in geradezu bewundernswerter Weise. +Mag das Weltbild, das Wassermann hier entwirft, ein einseitiges sein, +mögen einzelne weniger interessierende Seiten seines Bildes gar zu breit +aufgeführt, mag selbst die ihm zugrunde liegende Idee nicht unbedingt +anzuerkennen sein und das Poetische etwas zu kurz kommen –, so viel +bleibt gewiß, daß das umfangreiche Werk von Anfang bis zum Ende eine +Stimmung ausströmt, die unwiderstehlich fesselt und mit der Macht fast +eines Erlebnisses wirkt. + (Berner Bund) + + +Der niegeküßte Mund – Hilperich. +Novellistische Studien. Geheftet 2 Mark, in Leinen 3 Mark. + +In diesen Novellen hat die Wassermannsche Erzählungskunst eine mehr als +respektable Höhe erreicht. Es sind belletristische Kunstwerke von einer +so feinen und sicheren Arbeit, wie wir ihrer in der heutigen deutschen +Literatur nicht viele besitzen. Was sie vornehmlich auszeichnet, ist +ihre gute Haltung im Sinne der epischen Kleinkunst. Wie hier alles in +den Verhältnissen abgewogen ist, wie anmutig und doch streng die Linie +fließt, wie der Zierat sich verteilt, Licht und Schatten sich verhalten, +Ausführung und Andeutung zueinander stehen – alles das verrät einen in +Deutschland sehr seltenen Kunstverstand und ungemein viel Talent. + (Die Zeit, Wien) + + +Alexander in Babylon. +Roman. Dritte Auflage. Geheftet 3 Mark 50 Pfg., in Leinen 4 Mark 50 Pfg., +in Leder 6 Mark. + +Nichts als der reale Gang der geschichtlichen Ereignisse von Alexanders +Rückkehr aus Indien bis zu seinem vorzeitigen Tode wird uns erzählt, +dies freilich in farbigreicher kulturhistorischer Ausmalung und mit +ebenso kühner als intensiver Psychologie. So ist dieses Buch weit mehr +ein Prosaepos als ein Roman, und es bietet weit mehr eine faszinierende +Ausdeutung der Geschichte als etwa eine Spannungserzeugung durch +pragmatische Verwicklungen. Auf jeden Fall aber ist es ein Kunstwerk, +sowohl durch die Geschlossenheit seiner Komposition wie durch seine kaum +genug zu preisende sprachliche Behandlung. Es gehört zu unsern schönsten +deutschen Prosabüchern. Manche Kapitel verdienten in den Schulen gelesen +zu werden. Auf solche Weise wird Geschichte lebendig gemacht und +beseelt. + (Neue Freie Presse, Wien) + + +Die Schwestern. +Drei Novellen. Dritte Auflage. Geheftet 2 Mark, in Halbleder 3 Mark, +in Leder 4 Mark. + +Der Vortrag dieser Geschichten ist stilistisch meisterhaft, in der +Schilderung des Tatsächlichen von der Einfachheit der altitalienischen +Novellen, dabei hin und wieder blitzend von seltsam geschliffenen +Wortprägungen spezifisch Wassermannscher Art. Nur einem kabbalistischen +Grübelsinn, einer so heißen Phantasie wie der dieses deutschen +Orientalen konnte es gelingen, die Verrücktheiten der kastilischen +Isabella so tief poetisch märchenhaft zu durchleuchten und aus den zwei +phantastisch konstruierten Kriminalfällen das Rauschen geheimnisvoller +seelischer Unterströmungen so hervortönen zu lassen. + (Literarisches Echo) + + +Die Masken Erwin Reiners. +Roman. Siebente Auflage. Geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark. + +Dieser Roman wird einmal in der Entwicklungsgeschichte der modernen +Literatur eine wichtige Rolle spielen. Man wird ihn als einen alles +Wesentliche zusammenfassenden und reflektierenden Spiegel des zügellosen +Individualitätsstrebens betrachten, das doch das entscheidende Merkmal +unserer modernen Romanliteratur bleibt, von ihm zugleich aber eine +Wendung zum realen Leben datieren. Es sind einige Kapitel in dem Roman, +die wie das Morgenrot einer neuen Klassik anmuten. + (Westermanns Monatshefte) + + +Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig + + + + +[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf +Grundlage der 1911 in der Reihe »Fischers Bibliothek zeitgenössischer +Romane« erschienenen Ausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält +eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen +Korrekturen. Soweit möglich, wurden die Korrekturen der typographischen +Fehler anhand der Erstausgabe im Albert Langen Verlag, München, 1903 +überprüft (Der niegeküßte Mund und Hilperich). Die Verlagswerbung wurde +am Ende des Buchs gesammelt. + +p 011: Komma ergänzt: glänzenden, gefährlichen +p 013: Freundes empor, der ihm um zwei Kopflängen -> ihn +p 017: Drittel Kapitel -> Drittes +p 037: erwiderte der Lerhre -> Lehrer +p 053: dagegewesen -> dagewesen +p 071: Dinkeslbühler -> Dinkelsbühler +p 071: Der Lehrer entgegenete nichts darauf. -> entgegnete +p 103: Zustand des Zweifelsund -> Zweifels und +p 140: Punkt ergänzt: Scherben eines Spiegels. +p 157: Gustav af Geijerstam -> Gustaf ] + + + +[Transcriber’s Note: This ebook has been prepared from the edition +published in 1911 as part of the series "Fischers Bibliothek +zeitgenössischer Romane". The table below lists all corrections applied +to the original text. Where available, the corrections have been +cross-checked with the first print of "Der niegeküßte Mund" and +"Hilperich" published at Albert Langen Verlag, München, 1903. The +publisher’s advertisements have been collected at the end of the book. + +p 011: added comma: glänzenden, gefährlichen +p 013: Freundes empor, der ihm um zwei Kopflängen -> ihn +p 017: Drittel Kapitel -> Drittes +p 037: erwiderte der Lerhre -> Lehrer +p 053: dagegewesen -> dagewesen +p 071: Dinkeslbühler -> Dinkelsbühler +p 071: Der Lehrer entgegenete nichts darauf. -> entgegnete +p 103: Zustand des Zweifelsund -> Zweifels und +p 140: added period: Scherben eines Spiegels. +p 157: Gustav af Geijerstam -> Gustaf ] + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Der niegeküßte Mund, by Jakob Wassermann + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK Der niegeküßte Mund *** + +***** This file should be named 17143-0.txt or 17143-0.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + https://www.gutenberg.org/1/7/1/4/17143/ + +Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders +Europe at at http://dp.rastko.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at https://www.pglaf.org. + + +Section 3. 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Thus, we do not necessarily +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + + +Most people start at our Web site which has the main PG search facility: + + https://www.gutenberg.org + +This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. diff --git a/17143-0.zip b/17143-0.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..1599893 --- /dev/null +++ b/17143-0.zip diff --git a/17143-8.txt b/17143-8.txt new file mode 100644 index 0000000..dc557e9 --- /dev/null +++ b/17143-8.txt @@ -0,0 +1,4540 @@ +The Project Gutenberg EBook of Der niegeküßte Mund, by Jakob Wassermann + +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with +almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Der niegeküßte Mund + Drei Erzählungen + +Author: Jakob Wassermann + +Release Date: November 23, 2005 [EBook #17143] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER NIEGEKÜßTE MUND *** + + + + +Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders +Europe at at http://dp.rastko.net + + + + + + + Der niegeküßte Mund + + Drei Erzählungen von + Jakob Wassermann + + + + S. Fischer, Verlag, Berlin + + Alle Rechte vorbehalten. + + + + +Inhalt + +Der niegeküßte Mund ...... 7 +Treunitz und Aurora ...... 81 +Hilperich ................ 127 + + + + +Der niegeküßte Mund + + +Erstes Kapitel + +Schon von ferne sieht man den gelben, alten, fünfeckigen Turm mit seinem +dunklen Ziegeldach, das einer Nachthaube gleicht. Er schließt eine +breite, stille Straße mit seltsam regelmäßigen Häusern ab, die sich wie +Zierrat ausnehmen. Mit seinem Torbogen scheint er auf den gebrechlichen +Schultern zweier Häuser zu stehen; das eine ist die Wirtschaft zum +lustigen Pfeifer, das andere gehört dem Doktor Maspero. Die Straße setzt +sich verengert bis zum Marktplatz fort, welcher den Eindruck eines +städtischen Mittelpunkts macht. Viele ruhige Gassen und Gäßchen zweigen +von da ab: zum Schießanger, zur Altmühlbrücke, zur Kirche, und ein ganz +schmaler Gang zwischen der Apotheke und dem Bezirksamt zur jüdischen +Synagoge, einem lustigen Bau aus rotem Backstein, gekrönt von zwei +dickbäuchigen Kuppeln. Ringsherum zieht sich ein weitläufiger +Obstgarten, der den Tempelvorhof gegen die Straße frei läßt. Aber diese +Straße hat nur noch ein einziges Stirngebäude, eingeklemmt zwischen +uraltem Häusergerümpel, doch nicht minder alt und nicht minder +baufällig: das Schulhaus. Sechsundsechzig Kinder, Knaben und Mädchen, +werden hier täglich von Herrn Philipp Unruh in die Geheimnisse des +Alphabets und der Arithmetik eingeführt. + +Es gibt Namen und Namen. Manche sind ihrem Besitzer wie aus dem Wesen +geschnitten, manche passen zu ihm wie etwa die Synagoge zum Obstgarten. +Ein solcher Obstgarten, um den Vergleich müde zu machen, war der Name +jenes Lehrers. Er selbst und der Kreis seines Daseins waren voller Ruhe. +Die kleine Stadt lag unter dem Horizont der Ereignisse. Die Leute von +Gunzenhausen verrichteten ihre Geschäfte bei Tage und schliefen in der +Nacht und von eisernen Gesetzen wurden die Stunden geregelt. Uhren und +Kalender hatten nur einen äußerlichen Wert. Die Glocke schlug, aber was +sie schlug, brauchte an keines Hörers Ohr zu tönen. Die Zeit ging, wie +sie seit Ewigkeiten gegangen war, aber wohin sie ging, gab keinem +Verstand ein Rätsel. Nur die Eisenbahnzüge, die das friedliche +Altmühltal hinab- und hinaufrollten, brachten einen Duft von Welt mit, +von Geschehnissen, vom Wandel der Dinge, von den traurigen und heiteren +Spielen, die in den Ländern vor sich gehen, welche eingespannt liegen +zwischen den Ozeanen. + +Philipp Unruh war also ein Ruhiger mit den Ruhigen. Er war auch kein +Philippos, kein Pferdefreund, sondern eher der beschaulich schreitenden +Katze zugeneigt. In seinem Amt war er weder rühmenswert, noch gab er zu +tadeln Grund. Seit einem Dezenium rollte das Jahrwerk ab ohne sein +Hinzutun. Es glitt ihm vor den Händen vorbei, ähnlich wie bei +geschickten Arbeitern, die ohne Augen, ohne Licht vollbringen könnten, +was Zwang und Gewohnheit sie gelehrt. Der Tag zerfiel in Stunden; +einzelne Stunden bedeuteten Fächer, und jedes Fach war ein Häuflein +Eingelerntes, bereit, in ein Schock mehr oder minder williger Gehirne +gestopft zu werden. Diese kleine Maschinensammlung um Philipp Unruh war +seine Schule, in welcher er gleichmütig herumschritt und hantierte und +mit Wohlwollen und kühler Befriedigung dem ordnungsmäßigen Verlauf der +Dinge anwohnte. + +Derselbe Mann, der weder alt noch jung, weder lustig noch traurig, weder +lebendig noch tot war, hatte eine Liebhaberei, welche fast mehr als +diesen Namen verdiente, weil sie den eigentlichen Zirkel seines Wesens +überschritt. In seiner dumpfen Kammer, aus der der hellste Sommertag die +Dämmerung nicht vertreiben konnte, weil rings Dächer und Galerien ihr +den Himmel nahmen, gab es eine lange Reihe von Folianten: Chronika und +Memoria und ernsthafte Darstellungen, die Geschichte aller Zeiten und +Völker enthaltend. Darin las und grübelte, studierte und spekulierte +Philipp Unruh seit Jahr und Tag. War gleich gelehrter Eifer im Spiel, -- +etwas wie Abenteuergelüst war sicher auch dabei. Und wohl noch eines. +Während um ihn die Zeit starr lag gleich einem gefrorenen See, erblickte +er durch seine Bücher ein aufgewühltes Meer von Leben. Für ihn war die +Gegenwart nur der Schatten, das lautlose Widerspiel der bunten, +glänzenden, gefährlichen und anziehenden Vergangenheit. Seine Stube, das +zufriedene Städtchen, das stille fränkische Land, das war die Gegenwart. +Die Vergangenheit war Europa, Asien, Ägypten, waren mörderische +Schlachten, strahlende Revolutionen, versinkende Reiche. Hier war der +Doktor, der Apotheker, der Bürgermeister, der Schulrat. Dort war eine +Gesellschaft von Königen, genialen Feldherrn, erhabenen Verbrechern, +blutgierigen Empörern, ruhmvollen Märtyrern und unerschrockenen +Entdeckern. Es gab glänzende Künstler, Propheten, falsche Herzöge, +aufopfernde Bürger, heroische Weiber, Vaterlandshelden und märchenhafte +Städte. Und solchem Reichtum gegenüber, der unerschöpflich vor ihm lag, +der seine Sinne entzündete, seinen Geist bewegte, seine Träume mit +unvergleichlichen Gestalten bevölkerte, sollte ihm der matte Tag noch +etwas bedeuten? Er ahnte das Schicksal, das seine Hand von Jahrtausend +zu Jahrtausend spannt, das die Kleinen vernichtet, um die Großen zu +erhalten; das ganze Länder verbrennt, um die Asche zum Mörtel für das +Häuschen eines Heilands zu verwenden, das jedes Ereignis menschlichem +Maß entrückt, jeden Zufall zur Bestimmung wandelt. Deshalb hatte sich +unter seinem rötlichen, buschigen Schnurrbart jenes Lächeln eingenistet, +das ebenso kindlich war, wie es für weise gelten konnte. Deshalb hatte +er kein Verständnis für die kleine Spottsucht des Doktor Maspero und +keine Teilnahme für den Kummer der Frau Süßmilch, deren Töchterchen dem +ABC feindlich gegenüber stand. Der Herr Adjutant (man nannte ihn so, +obwohl niemand sich erinnern konnte, ihn jemals in einer Uniform gesehen +zu haben) sagte, der Unruh zähle seine fünfunddreißig Jahre doppelt. Und +da er es zu Frau Federlein sagte, welche die Frau des Nachtwächters war, +erfuhren es alle Leute, die in der Abgeschlossenheit des Lehrers etwas +Verdächtiges und Geheimnisvolles sahen. + + +Zweites Kapitel + +Wie heute hatte Doktor Maspero fast täglich einen Begleiter, der die +nächtliche Heimkehr vom Wirtshaus verkürzte. Er plauderte in seiner +finster-spöttischen Manier mit dem Baron, der die Apotheke besaß. Es gab +manchmal ausgedehnte und tiefsinnige Gespräche in der Nacht, wenn das +Kartenspiel beendet war. Der Doktor war ein Mann, klein wie ein Zwerg, +hager wie ein Knabe, hatte auch die Bewegungen eines Knaben, sprach +überlaut und meist grimmig, auch wenn er witzig war. Sein bärbeißiges +Wesen glich einer Schutzwaffe gegen die länger gewachsenen Menschen. + +Lispelnd und visionär erzählte der Baron von seinem neuen Provisor. Das +Lispelnde und Visionäre war ihm stets eigen. Seine Art erinnerte an +frische Butter, so reinlich, mild und appetitlich war er. Er war den +schönen Künsten ergeben und verdankte dieser Neigung das Zerflossene und +Selbstgefällige seiner Natur. Immer ging er durch die Straßen wie +jemand, der sagen will: Seht, welch ein Träumer bin ich. + +Der Doktor drückte seine Verwunderung aus, daß er den neuen Provisor, +der doch schon vier Wochen hier sei, noch nicht gesehen habe, und fragte +nach dem Namen. + +»Apollonius Siebengeist,« erwiderte der Baron, und seine Blicke waren +verloren ins schwarze Firmament gerichtet. + +»Einstampfen lassen! Einstampfen lassen! So heißt man nicht,« kreischte +der Doktor mit unbegründeter Wut und lauschte auf den Beifall seines +Freundes empor, der ihn um zwei Kopflängen überragte. Auch er war nicht +ohne Beziehung zum geistigen Leben der Nation. Sein ungestümer Witz war +eine Frucht der Bildung. Sein Ideal unter den Bücherschreibern war +jener Saphir, der einst nach des Doktors Ansicht die Welt aus ihren +Fugen gerüttelt. + +Der Baron entgegnete langsam und bedeutungsvoll, daß Siebengeist aus +einer guten Familie sei, jedoch sei sein Gehirn nicht in gehöriger +Ordnung. Er habe etwas Koboldartiges an sich, etwas Sozialdemokratisches. +Darauf antwortete der Doktor, indem er mit zwei Fingern seine Nasenspitze +kniff, der Apotheker möge ihm doch ein Pülverchen zur Beruhigung +zubereiten, eine staatserhaltende Mixtur. + +»Rizinusöl!« platzte der Baron heraus und brach über diesen unerwarteten +Geistesblitz in solch brüllendes Hoho-Gelächter aus, daß der +Nachtwächter Federlein an der Marktecke erschrocken stehen blieb. +Geringschätzig verzog der Doktor den Mund, während der sanfte Apotheker +noch lange nicht zur Ruhe kommen konnte. Und während sie ihren Weg durch +die außerordentlich stille Nacht fortsetzten, sprach man noch von den +Theatervorstellungen, welche für die nächsten Tage angekündigt waren, +denn eine Wandertruppe wollte im fränkischen Hof ihr Lager aufschlagen. +Der Doktor war vom Redakteur des Tageblatts als Kritiker gewonnen +worden, und der Baron hatte die Absicht, dem Direktor ein Vorspiel in +Versen zu schreiben. + +Beim Schulhaus winkte der Doktor leutselig zum dunkeln Fenster hinauf, +aus dem der Lehrer auf die Straße sah. Die Glocke schlug eben elf Uhr. +Der Doktor fragte empor, ob Philipp Unruh morgen zur Auktion kommen +werde. »Es soll auch Bücher geben,« fügte er mit überlegenem Spott +hinzu. Die beiden Männer wünschten gute Nacht und waren bald in der +Finsternis verschwunden. + +Der Lehrer wußte, daß es Bücher bei der Versteigerung geben würde. Der +jüdische Kantor war gestorben, ohne Angehörige zu hinterlassen, und +dessen Habseligkeiten kamen unter den Hammer. Insbesondere wußte Unruh +um eine alte Ansbacher Chronik, die der Kantor nie hatte verkaufen noch +verleihen wollen. Daran erinnert, freute er sich jetzt, vergaß die +trüben Gedanken, die ihn beherrscht, musterte lächelnd den schwarzen +Vorbau der Synagoge, schaute straßauf, straßunter, ruhegewohnt, +friedesicher und achtete der Kälte nicht. Schnee fiel, flaumig +anzusehen, aufglitzernd im Licht einer einzigen Laterne. Indes, jene +allzuschnell vertriebenen Gedanken kehrten zurück. + +Er hatte etwas Seltsames gelesen. Unlängst war er bei seinem Schwager, +einem Schwestermann in Teilheim, gewesen. Das ist ein Örtchen in der +Nähe Hesselbergs und mitten im sogenannten Hahnenkamm. Der Freund besaß +eine Krämerei, und beim Herumstöbern in Kisten und Kasten, wie es +Philipp Unruhs Besuch mit sich brachte, fand sich ein vergessener +Schmöker vor, benagt von Motten und Mäusen, um alles Ansehen gebracht +durch Liegen und Staub. Der Krämer hatte schmunzelnd den Fund +verschenkt, welcher die Aufzeichnungen einer Marquise Bourguignon +enthielt, von einem Kammerherrn, Exzellenz, behäbig und schnörkelhaft in +das Deutsch des achtzehnten Jahrhunderts übertragen. + +Nun sitzt da weltfern und lebensfremd ein Schulmeisterlein in seiner +engen Kammer und vertieft sich dumpfen und erschrockenen Sinnes in die +frivolen Erinnerungen der Hofdame. Ein goldgieriger Räuber steigt durchs +Fenster, aber das Fräulein, fast noch ein Kind, gibt gutlaunig Edleres +hin. Der würdige Pater im Beichtstuhl zeigt sich nachsichtig gegen +Sünden, an deren Begehung er teilnehmen darf. Auf der Treppe küßt die +reizende Marquise ihrem Geliebten das Herz aus dem Leibe, während zehn +Stufen höher der arme Gatte nach der Lampe ruft. Mönch und Nonne, Fürst +und Lakai, Bauer und Soldat, Kavalier und Bürgerin nehmen teil am +übermütigen Tanz der Liebe, ja die Dinge der unbelebten Welt sind +ergriffen vom heiteren Taumel, der Himmel wiederhallt vom frohsinnigen +Gelächter, und die graziösen Geister der Galanterie werfen jauchzend +bunte Tücher über Gräber und Schlachtfelder. Was Gesetze, Philosophen, +Zukunft, Religion! Kein Schauer der Ewigkeit für diese lächelnde +Bacchantin und ihre Liebeskünste. + +Es sind ja längstvergangene Zeiten, dachte schließlich Philipp Unruh +furchtsam. Das ist damals so gewesen, durfte damals so sein, denn es war +eine Zeit der Barbarei, eine wilde, sittenlose Zeit. Heute ist die Welt +still geworden; nichts ist mehr zu erblicken von solch übertriebenem +Abenteuerzeug. Ein jeder Mann geht wacker dem Geschäfte nach, ein jedes +Weib wohnt züchtig in seinem Hause, und es regiert die Ordnung. Törichte +Leidenschaften der Vergangenheit mit eurem Überschwang und eurer +Gefährlichkeit, dachte der Lehrer mitleidig und war zufrieden damit, +einem besseren Jahrhundert anzugehören. + +Daneben war aber etwas Unbestimmtes und Hinterlistiges, das ihn quälte. +Bei all dem Herumdenken suchte er sich heimlich zu beschwindeln, und das +wußte er. Exzellenz Kammerherr hatte sich da eine teuflische Sache +ausgesucht für seine lahme Feder. Mit böser Zähigkeit kamen und gingen +Bilder, und Philipp Unruh schaute sie an mit wildfremden Gefühlen. Er, +der alle Dinge über sich ergehen und herabsinken ließ wie Schnee, fühlte +plötzlich etwas wie Lebenslast und -besinnung. + +Endlich schien es ihm genug des Träumens. Er schloß das Fenster, ging +noch eine Weile zwischen den leeren Schulbänken auf und ab, trotz der +Dunkelheit sicher den Weg findend und suchte dann seine Studier- und +Schlafstube auf, um sich zur Ruhe zu begeben. + + +Drittes Kapitel + +Ziemlich viele Menschen waren in der Kantorwohnung versammelt, +Ortswürdenträger und andere Leute. Es gab auch solche, die nur gekommen +waren, um für eine Stunde der Winterkälte zu entrinnen. Der Auktionator +war ein dicker Mann mit einer militärischen Fistelstimme. Bei den +billigen Gegenständen wurde er herablassend, fast gnädig, und sein +Würdegefühl stieg um so mehr, je geringer sich die Kauflust erwies. +Doktor Maspero erstand einen Schreibtisch, der Bürgermeister ein Dutzend +leere Flaschen, der Trödler Most die Gebetbücher, das »Kasino« einen +Teppich. + +»Eine Chronik!« rief der Auktionator finster. + +»Eine Chronik für Unruh!« witzelte der Doktor. + +»Eine Chronik der Markgrafschaft Ansbach,« sagte der Auktionator streng, +wartete, bis das Gelächter zu Ende war und fügte verächtlich hinzu: +»Zwei Mark zum ersten.« + +»Drei Mark,« murmelte Philipp Unruh schüchtern. Einige kehrten sich +lächelnd um, denn er stand an der Rückwand des Raums. Die Geschäftigkeit +hier hatte ihn aus irgend einem Grund betrübt gemacht. Alle Gegenstände, +die unter den Hammer kamen, hatten einen Schein von Persönlichem, von +Zusammengehörigkeit, sahen aus wie Glieder einer Familie, die in die +Welt verstreut werden sollten. Etwas wie Todestrauer lag über ihnen, +besonders über dem schwarzen Ledersofa im Winkel. Es war, als säße der +alte Kantor unsichtbar darin und betrachte mit mürrischem Gesicht die +entrückte, kunterbunte Welt. + +Die Fistelstimme rief mit beleidigtem Ausdruck den Taler zum zweitenmal +ab. + +»Fünf Mark,« sagte jemand, der eben eingetreten war. Alle drehten sich +um, und die Mienen wurden zurückhaltend und unzufrieden, als man den +neuen Provisor sah. + +Philipp Unruh erbebte. Er blickte nach Apollonius Siebengeist und dachte +erbittert: der reine Adonis. Warum er gerade diese Bezeichnung wählte, +und warum es in einer gehässigen Bedeutung geschah, blieb ihm +rätselhaft. Der Auktionator nahm das höhere Angebot mit erwachendem +Interesse zur Kenntnis. + +»Zwei Taler«, erwiderte der Lehrer mit dünner und unsicherer Stimme. Die +Leute wurden neugierig, drängten sich zusammen und sahen zu, als ob ein +Hahnenkampf vor sich ginge. Der Lehrer schämte sich wie jemand, der auf +irgend eine Weise Interesse erregt, ohne es rechtfertigen zu können. + +»Drei Taler,« sagte Siebengeist mit kaltem Lächeln. Er stand an den +Pfosten gelehnt, beide Hände in den Taschen seines Pelzmantels, in der +nachlässigen Haltung eines Mannes von Welt. In Philipp Unruh erwachte +ein trüber Zorn. Doch wie alle schwachen Menschen, die sich beleidigt +oder übervorteilt sehen, hatte er den Wunsch, dem Gegner sein Anrecht +logisch und herzlich zu beweisen. Er hatte die dunkle Empfindung, als +müsse er hingehen und dem Manne sagen, wie viel ihm der Besitz der +Chronik wert sei, und wie er sich darauf gefreut habe, sie erwerben zu +können. Besonders den Umstand seiner Freude und Erwartung wollte er +betonen. Indessen haßte und verachtete er gleichzeitig den fremden +Eindringling, und in einer Aufwallung dieser Gefühle bot er zehn Mark. +Der Doktor machte ein faunisch entzücktes Gesicht und eine +triumphierende Gebärde, der Auktionator nickte beifällig und schnupfte +geräuschvoll aus einer braunen Papierdüte. Jedoch andere Gesichter sah +der Lehrer auf sich gerichtet, deren prüfender Hohn ihn erschreckte, +und als der Provisor nachlässig noch weiter steigerte, verließ er +schweren Schrittes den Raum mit den Gefühlen eines Menschen, über den +ein falscher Urteilsspruch ergangen ist. + +Ein trüber Wintertag war es; alle Scheiben waren mit Eisblumen bedeckt. +Der Schnee lag hoch und rein und blendete die Augen des Lehrers. Auf +einem Zaun, dessen Pfähle weiße, runde Kappen trugen, saßen drei Spatzen +und zwinkerten bekümmert den Vorübergehenden an. Aus dem Schulhaus drang +ein betäubender Lärm. Unter seiner Ladentüre stand der Bäcker und +schaute spöttisch lachend hinauf. Kunigunde, die Wirtschafterin, +begegnete ihm auf der Stiege und kicherte dumm vor sich hin. Er lächelte +plötzlich freundlich, als ob er mit jemand eine liebenswürdige +Unterhaltung führte, doch schien es ihm unzuvorkommend und bedrückend, +daß dieser Jemand bildlos im Raum verblieb. + +Das Schulzimmer war zum Schlachtfeld geworden. Kriegsgeheul ertönte, und +Gegenstände flogen durch die Luft, die einst einer andern Bestimmung +geweiht waren. Die schwarze Tafel, in eine Generalstabskarte verwandelt, +war mit Hieroglyphen bedeckt. Die Reiterei hatte sich des ganzen Globus +bemächtigt, und ein dämonisch kleiner Knabe saß auf dem Nordpol und +fuchtelte mit beiden Armen. Einige Amazonen hatten die Gegend des +Katheders besetzt und sangen Kampfgesänge. Der Lehrer blieb auf der +Schwelle stehen, schöpfte Atem und schrie eine fürchterliche Drohung in +den Raum. Sechsundsechzig Paar Augen blickten ihn bestürzt und +schuldbewußt an. Alle Kinder setzten sich mit geschäftsmäßiger Kühle auf +ihre Plätze. Sie erwarteten eine unheilvolle Untersuchung. Der Kleine +vom Nordpol hatte sich beim Herunterspringen die Hosen an der Erdachse +zerrissen und saß leichenblaß da. Indes begann der Lehrer zu diktieren: +Der Hamster und der Igel; eine Geschichte, worin die Häßlichkeit des +Geizes eine große Rolle spielte. Die Enttäuschung der Kinder war groß. +Sie hätten die gleichgültige Hamstergeschichte gern entbehrt gegen das +aufregende Prozeßverfahren, das einer Vormittagsschlacht sonst zu folgen +pflegte. Immerhin ereignete sich noch etwas sehr Merkwürdiges, was den +Fortgang des einschläfernden Diktats angenehm unterbrach. Die Tür wurde +heftig aufgerissen, und Apollonius Siebengeist trat herein. Er hatte ein +dickes Buch unter dem Arm, schritt gerade auf das Pult zu, legte den +Folianten nieder und sagte zu Philipp Unruh mit emporgezogenen Brauen: +»Ich bringe Ihnen Ihre Chronik. Ich wollte Ihnen damit ein Geschenk +machen. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen einzuwenden.« Er grüßte mit +übertriebener Unbefangenheit, doch mit schüchternem Blick und ging. + +Einige Kinder lachten; das brünette Fräulein Süßmilch auf der dritten +Bank fand sich am meisten erlustigt. Sie war blutrot im Gesicht und +konnte kaum aufhören, in ihre Schürze hineinzulachen. Philipp Unruh war +verwirrt und beschämt. Mit der schablonenhaften Strenge, die ein +wichtiges Erziehungsmittel war, befahl er Ruhe und stellte sich an das +Fenster. Es ist etwas Schönes um den Winter, dachte er mit jener Wärme +im Innern, welche kühne Hoffnungen erzeugt. Draußen mag es stürmen, ich +stehe da, um zuzuschauen. Schlaf und Frieden ist alles. Wie schön, wenn +es dämmert und ich durch den Schnee wandere, den bläulichen Schnee, und +kein Laut dringt aus der Erde. + +Mit liebevoller Sorgfalt legte er die Chronik in die Pultschublade, und +bald darauf schlug es elf Uhr. Die Sechsundsechzig stürmten davon, und +der Lehrer rüstete sich zu einem Spaziergang. An der Ecke bei dem +Kasino stand Apollonius Siebengeist und plauderte mit einem Mann, der +einen großen roten Zettel an das Hauseck klebte. Philipp Unruh grüßte +und war sichtlich bemüht, etwas Weitläufiges und Kameradschaftliches in +seinen Gruß zu legen. + +»Wir werden jetzt Großstadt,« sagte Siebengeist lebhaft, »bekommen ein +Theater. Und was für ein ungewöhnliches Stück sie da ankündigen!« + +Der Lehrer tat überrascht, obwohl er in der Zeitung davon gelesen hatte. +Er hauchte in seinen Schnurrbart, der ein wenig steifgefroren war, und +rieb die Hände. + +»Sagen Sie, lieber Onkel,« wandte sich Siebengeist an den Zettelmann, +»habt ihr denn hübsche Schauspielerinnen?« + +Der Zettelmann machte eine großartige Physiognomie. »Bei mir ist die +Blüte unseres Standes engagiert«, entgegnete er kurz und majestätisch. + +»Aber Onkelchen, sind Sie denn der Direktor?« rief Siebengeist erstaunt. + +Der Schauspieler bestätigte es. »Mein Name ist Schmalich«, sagte er mit +dem Stirnrunzeln eines berühmten Mannes. + +Scheinbar interessiert besah sich Philipp Unruh den angeklebten Zettel. +»Melchior oder die Leiden des Alters«, hieß das Stück, ein Lebensbild in +zehn Abteilungen. Einige Leute waren stehengeblieben und starrten +neugierig auf das rote Papier. Der Direktor nahm seinen Kleistertopf und +entfernte sich mit feierlichem Gruß. Auch der Lehrer wandte sich zum +Gehen und war kaum einige Schritte weit, als er Siebengeist an seiner +Seite sah. Der Provisor begann zu reden, als ob es ihm nur um Worte zu +tun sei. Er schimpfte über das Nest, in das ihn ein unwirsches Geschick +verschlagen habe; er machte sich über Himmel und Erde lustig, und etwas +Knisterndes, Sprudelndes, Glattes war an ihm. Viele Zuckungen gingen +über sein Gesicht. Seine Augen hafteten an vielen Punkten zugleich. Dem +Lehrer ward es unbehaglich wie neben einer gefährlichen Maschine. +Siebengeist aber schlug einen weiten Spaziergang vor, da ja heute +Mittwoch sei. »Der ganze Nachmittag liegt vor Ihnen«, sagte er. »Gehen +wir ein wenig hinaus in den Schnee.« + +Philipp Unruh wagte nicht, nein zu sagen. Er war überhaupt weder ein +Nein- noch ein Ja-Sager, und hier fand er sich verpflichtet, Wünsche zu +erfüllen. Siebengeist redete weiter, bespöttelte die Büchersucht des +Lehrers und sprach im allgemeinen vernichtend über das Gelehrtentum. +»Was wollen Sie denn mit Ihren Namen und Zahlen, Onkelchen? Erklären Sie +sich doch. Die Geschichte? So? Die Geschichte ist ein altes Weib. Alles, +was war, ist wertlos. Jener Komödiant und sein Theater ist jetzt +wichtiger als alle Moses, Marc-Aurel, Robespierre und Lasalle. Der +Unterrock meiner Geliebten wiegt das ganze babylonische Reich auf. +Freilich, tausend Jahre sind euch nichts, denn auch die Stunden sind +euch nichts.« + +Der Lehrer blickte verängstigt auf seinen Weg. Nichts Erschreckenderes +für ihn als diese Reden, deren Sinn ihm vorüberglitt wie Wasser. Das +Heftige, Sprunghafte, dabei Lachende und Kühne im Wesen seines +Begleiters machte ihn schülerhaft verzagt. Eine Weile schwieg +Siebengeist und pfiff nur vor sich hin. Weiß und still dehnten sich die +ebenen Felder. Unbestimmte Laute kamen aus Fernen, die vom Nebel +verhüllt waren. Im glatten Schnee waren zahllose Hasenfährten und +Krähenfüße sichtbar, am Waldrand trippelte eine Rebhühnerschar mit +schwachen, seufzenden Schreien. In der Luft war ein Sieden und Sausen, +hervorgebracht durch das merkwürdige, schwere Schweigen ringsumher. + +»Sind Sie verheiratet?« fragte Siebengeist wie ein Untersuchungsrichter. +»Nein? Sind Sie verliebt?« + +Der Lehrer wurde blaß und schüttelte unwillig den Kopf. Siebengeist +lachte hell wie ein Kind. »Waren Sie je verliebt? Wissen Sie, Onkelchen, +man könnte Sie geradezu für einen Eunuchen halten, wenn man nicht wüßte, +daß Sie ein deutscher Bücherwurm sind. Sie verachten natürlich die +Liebe, sofern sie nicht auf dem Papier verewigt ist. Haben Sie mal von +einer gewissen Ninon de l'Enclos gehört? Ein wundersames Frauenzimmer. +Sie hat ganze Generationen mit Liebe beschenkt. Ich war damals ein +Gascognischer Prinz und in mancher Nacht küßte ich die unsterblichen +Lippen. Seitdem ist die Welt bitter geworden. Onkelchen, was heutzutage +sich Weib nennt, ist wert, eingesalzen zu werden. Ich habe keines kennen +gelernt, in dem nicht die dumme Gans oder die Xantippe steckt. Sie sind +schlecht, eitel, feig, anmaßend, sitzen stets auf dem Galanteriestühlchen +und sind mit Leidenschaft der Lüge ergeben. Dagegen liest man in den +Kunstbüchern von den erlauchtesten Idealgestalten. Davor warne ich Sie, +Onkelchen. Durch diese Literatur geht ein Riß. Sehn Sie doch nur, ein +Mann wie ich, Prinz von Geblüt, sitzt auf dem Trockenen und weiß nichts +anzufangen mit seinen Gefühlen, geht sehnsüchtig in der Welt umher und +gafft sich die Augen aus nach dem Bild der Liebe. Nun, ich gebe mir noch +eine kurze Frist, dann wähle ich ein angenehmes und schmerzloses Gift.« +Er lachte wieder fein kindliches Lachen. + +Der Lehrer wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es ist ein Traum, +dachte er zweifelnd und betrübt und sah auf das Bahngeleise hinüber, auf +dem ein Schnellzug einherraste. Er freute sich auf seine Abendstunden, +auf seine Chronik, auf seine stille Abgeschiedenheit. Indessen forderte +ihn der Provisor auf, mit ihm in einem Wirtshaus in Altenmuhr zu essen, +und noch viel weniger als früher wagte er es abzuschlagen. Doch +Siebengeist wurde merkwürdig schweigsam, ballte nur hier und da Schnee +zusammen und warf ihn auf die Baumkronen, daß es knisterte. Dann lachte +er und freute sich. + +In der niedrigen, heißen Wirtsstube saßen Fuhrleute beim Bier. +Siebengeist berührte kaum die Speisen. Er stocherte nachdenklich in +seinen weißen Zähnen, während der Lehrer tüchtig zugriff. »Gelehrsamkeit +stärkt den Magen«, bemerkte Siebengeist sarkastisch. »Wissen Sie, was +mir eingefallen ist? Ich forme mir eine Jungfrau aus Schnee: schön, rein +und klug. Ich gebe ihr das Herz eines treuen Hundes und die Augen einer +edlen Häßlichen, die in Verborgenheit lebte. Das Ganze belebt, wäre ein +Wunder an Vollkommenheit.« + +Philipp Unruh dachte: wenn dieser Mann Apotheker ist, werden die Kranken +seltsame Mixturen erhalten. Sein ordnungsliebendes Gemüt begann sich zu +empören. Er betrachtete den Provisor scharf von der Seite und mußte sich +gestehen, daß er ein schönes Gesicht habe, ein intelligentes Auge, einen +weichen, schwärmerischen Mund. + +Auf dem Heimweg stockte jedes Gespräch. Die Ruhe der Natur war ein +Befehl zur Ruhe für die Wanderer. Schon begann das beschneite Gelände +bläulich zu schimmern. Wie schwärzliche Gestalten standen die Bäume da, +streckten die Äste verzweifelt gegen den Himmel. Philipp Unruh empfand +seinen Begleiter wie eine schwere Bürde. Er vermochte nicht zu überlegen +und nicht zu denken in seiner Gegenwart. Unsichere Schuldgefühle +belästigten ihn. + +Als sie den Marktplatz des Städtchens entlang schritten, begegnete +ihnen der Baron Apotheker und lud sie ein, den Nachmittagskaffee in +seinem Hause zu nehmen. »Meine Frau wird sich freuen«, sagte er süßlich +und in einem Ton, als spräche er von einer majestätischen Person. +Siebengeist nickte zerstreut und nahm des Lehrers Arm, der verschüchtert +und abwartend der Einladung folgte. + +Es war ein uraltes Haus mit vielen Ecken und Winkeln, breiten, finstern +Stiegen, geheimnisvollen Türen und knarrenden Dielen, worin die Apotheke +war. Es stammte noch aus der Markgrafenzeit und teilte jedem seiner +Bewohner etwas von seinem verschlossenen, düstern, eckigen und +altmodischen Wesen mit. Aus der Tiefe des Flurs kam die Baronin und rief +den Provisor zu sich hin. Philipp Unruh und der Apotheker gingen daher +voran, doch da es schon finster war, bat der Baron seinen Gast, +stehenzubleiben und eilte voraus, um ein Licht zu bringen. Der Lehrer +lehnte sich aufseufzend an die breite, gotische Brüstung und hörte +Stimmengeflüster auf der Stiege, das alsbald wieder verstummte. In +diesem Augenblick kam der Baron mit der Lampe den Korridor entlang, und +ein Lichtstrahl erhellte das ganze Treppenhaus. Da sah Philipp Unruh, +wie sich zwei umschlungen hielten und küßten. Die Frau hing am Halse +Siebengeists mit geschlossenen Augen. Er aber hatte die Augen offen, und +es war, als sähe er weit über sie hinweg, in eine weite Ferne, und sein +Blick war düster und starr. Das dauerte im Schein des Lichts keine +Sekunde, aber der Lehrer glaubte, Zeuge eines grauenvollen Verbrechens +gewesen zu sein. Als er dem Apotheker folgte, trugen ihn die Füße kaum, +und seine Zähne schlugen heftig aufeinander. Der Baron drehte sich um +und lachte in seiner Hohomanier. »Armer Teufel,« sagte er, »klapperkalt +ist ihm.« Und er brüllte in die Küche, daß es von allen Mauern +widerhallte: »Johanna, heißes Wasser zum Grog!« Gleich darauf begann er +wieder zu lispeln und lispelte von der Poesie des Winters, während das +andere Paar scheinbar harmlos plaudernd die Stube betrat. + +Gemütliche Wärme herrschte in dem großen Zimmer, dessen Decke gewölbt +war wie in einer Kapelle. Der Ofen für sich war ein kleines Haus. Der +Baron las seinen Prolog für das Theater vor, wobei Siebengeist ergeben +in seine Tasse blickte. Offenbar waren die Gäste nur dieser Dichtung +wegen herbeigeschleppt worden, denn der Baron las mit der studierten und +zugleich naiven Wichtigkeit des Dilettanten, der sich ängstlich +vorbereitet hat. Es kamen da viele Reime vor, und manche Gedanken, die +eines Barons außerordentlich würdig waren, um wieviel mehr eines +Apothekers. Die Hippogryphen waren zu diesem Ritt kostbar gesattelt +worden, und vom großen Stall der Metaphern war, was Beine hatte, +mitgelaufen. Zeit und Ewigkeit, Vaterland und Wissenschaft, Kunst und +Natur waren, mit Traratrompetlein bewaffnet, auf einen erbaulichen +Kothurn gestiegen und grinsten zum Vergnügen aller Mitbürger aufgeregt +herab. Des Dichters Stirn war in Schweiß gebadet und sein blonder, +zierlicher Schnurrbart zitterte rhythmisch mit. + +Zu anderer Zeit hätte Philipp Unruh hohes Gefallen an der Produktion +gefunden. Aber der gemütliche Raum schien jetzt von schwülen Mysterien +erfüllt. Er sah Siebengeist gequält und grübelnd sitzen und wagte es +endlich, auch die junge Frau anzuschauen. Überrascht und erschreckt +senkte er den Blick nieder. Die schwarzen Augen der Baronin waren +begeistert auf die Lippen ihres Mannes gerichtet, und sie lächelte +begeistert. Zorn und Scham erwachten in dem Lehrer. Er atmete in +Lügenluft, aber eine ihm bisher unbekannte Empfindung sinnlicher +Neugier ergriff ihn. Als der Apotheker geendet hatte, lief die Frau +beglückt auf ihn zu, umarmte und küßte ihn stürmisch. Dem Lehrer graute. +Gefährlich, tückisch und verschlagen zeigte sich ihm das Weib, und er +sah dem Provisor ins Gesicht, der mit einem dummen Lächeln gegen das +Fenster blickte. + +Auf einmal schrie jemand auf der Gasse laut und vernehmlich Feuer, und +gleichzeitig ertönte die Sturmglocke. Siebengeist öffnete das Fenster +und fragte hinunter. Es brenne beim alten Schulhaus, hieß es. Philipp +Unruh stürzte davon, nur vom Gedanken an seine Bücher erfüllt. + + +Viertes Kapitel + +Eine der Galerien, morsches, altersschwaches Zeug, stand lichterloh in +Brand. Es sah unheilvoll aus, denn was da an Häusergerümpel +beisammenstand, war sehr empfänglich für das Feuer. Die Flammen +erfüllten den Hof, schlugen über das Dach des Schulhauses, und es gab +ein Schock von Kindern, welches mit verbrecherischer Spannung darauf +wartete, daß jenes verhaßte Gebäude zur Stunde vom Erdboden verschwinden +würde. Diejenigen Leute aber, denen es gleichgültig sein durfte, ob es +Schulferien gab oder nicht, zeigten sich aufgeregt, und die Turmglocke, +die solche Gelegenheiten gern ergriff, um einen prahlerischen Lärm zu +erzielen, vermehrte die Angst der Gemüter. Ihre kurzen Schläge glichen +dem Pochen eines schreckenerfüllten Herzens. Es rückte die Feuerwehr an +mit mutigen Messinghelmen und verzagten Gesichtern und diese guten +Menschen verübten nun ihrerseits wieder solchen Skandal mit Trompeten +und Kommandieren und einem rasselnden Spritzenwagen und himmelhohen +Leitern, daß der Tumult größer wurde als die Gefahr. Statt zu handeln +und sich unterzuordnen, machte sich jeder auf besondere Weise wichtig +und benahm sich als eine verdienstvolle Autorität in Gummischläuchen +oder im Wassertragen oder im Klettern und Fensterzertrümmern. + +Philipp Unruh stürmte in die Küche, nahm eine große Kohlenkiste, die er +in seine Studierstube schleifte und warf dort mit erstaunlicher +Handfertigkeit seine Bücher hinein. Unheimlich sah es aus, wie er von +den düsterroten Flammen beleuchtet in atemloser Geschäftigkeit die +schwarze Kiste mit den alten Folianten füllte. Mit einer Kraft, die er +als Zuschauer verwundert beobachtet hätte, zerrte er den schweren Kasten +zur Stiege, ließ ihn unter großem Gepolter herabgleiten, und erst unten +fanden sich zwei Männer, die ihm halfen, seinen Schatz auf die Straße zu +tragen. Zwischen zwei Schneehaufen blieb die Kiste stehen. Erleichtert +betrat der Lehrer wieder das Haus, um wenn es nötig war, auch die +übrigen Habseligkeiten zu bergen. Die Wirtschafterin lief heulend im +Flur herum. Da niemand noch an Gefahr für das Schulhaus dachte, klomm +Unruh allein empor, sah sich um, fand es merkwürdig still, hörte nur das +Geprassel des Feuers und das Zischen der Wasserstrahlen. Schränke und +Wände waren blutigrot; die Fensterscheiben zitterten vor Hitze, doch mit +jedem Augenblick verminderte sich die Gefahr. Die Holzgalerie brannte ab +wie Papier und die Steinmauer wurde schwarz von Ruß. Im Hofe stand die +Feuerwehr, eine Schar von Todesverächtern. + +Philipp Unruh trat wieder auf die Straße. Er winkte den Gemeindediener +herbei, daß er ihm helfe, die Kiste zurückzutragen. Allein die Kiste war +verschwunden. Der Raum zwischen den beiden Schneehaufen war leer. In den +weichen Schnee war ein tiefes Rechteck eingedrückt, sonst war nichts zu +sehen. »Wo sind denn die Bücher?« fragte der Lehrer mechanisch, und +blickte sich befremdet um. »Gutmann, wo ist meine Kiste?« schrie er +einen vorübergehenden Feuerwehrmann an, und sein Gesicht verzerrte sich. +Gutmann zuckte beschäftigt die Achseln. Der Gemeindediener versuchte zu +trösten und öffnete nachdenklich sein Schnapsfläschchen. Einen um den +andern rief der Lehrer an, aber keiner wußte etwas. Eine Gruppe sammelte +sich, die Ratschläge gab und Meinungen austauschte. Der Polizist Grünhut +stellte sich ein und schrieb Notizen in ein verschmiertes Buch. Der +Lehrer hatte zuerst gejammert, jedem geklagt, einige um Beistand +gebeten; jetzt wurde er still. Die Gewißheit, daß man ihm seinen +teuersten Besitz entwendet habe, begann als etwas Ungeheures auf ihm zu +lasten. Er fühlte sich vom Himmel selbst verwundet; beleidigt und +verwundet in seinem innersten Wesen. Die Ungerechtigkeit, unter der er +so zu leiden hatte, erstickte seine Überlegungen, raubte jedes Maß, jede +Berechnung für das, was ihm zugestoßen. Hier lag ein Verbrechen vor, +unerhört und frevelhaft. Wer durfte einen armen Friedlichen auf solche +Art zu Schaden bringen? Er war ein Lehrer, nichts weiter, und +verrichtete ehrlich sein Geschäft. Er war vor andern um nichts +bevorzugt. Oder wurde es so bitter gerächt, daß er dem harten Brot des +Berufs etwas Wohlgeschmack und Süßigkeit hinzugefügt? + +Breit und mit Würde angestopft, kam der Herr Wachtmeister des Wegs. Er +versprach leutselig, sich der Sache anzunehmen. »Wacker,« sagte er, +»wacker,« ein Lieblingswort, welches er grundlos bevorzugte. Der +Polizist trank aus des Gemeindedieners Flasche und eilte in die Nacht, +den Dieb zu verfolgen. Man schickte zum Bäcker und zum Schneider +nebenan. Dieser begann zu schimpfen, man bringe ihn um seinen Ruf, jener +tat sehr unschuldig und besorgt. Das Verschwinden der Kiste blieb ein +finsteres Rätsel. Philipp Unruh ging noch immer auf der Straße hin und +her, blickte mit zusammengepreßten Zähnen in die Nacht. Die Leute +entfernten sich langsam. Es war neun Uhr und Schlafensstunde nah. Auf +dem Brandplatz blieben zwei von den Messingbehelmten, lagerten sich an +ein Kohlenfeuer und tranken zahllose Krüge Bier, die aus dem »lustigen +Pfeifer« geholt wurden. + +Doktor Maspero war der letzte, der vor den trostlosen Beraubten hintrat. +Er schaute prüfend zu dem Lehrer empor und sagte übelgelaunt: »Es ist ja +gerade so, als ob Sie eine lebendige Familie verloren hätten. Pfui, +Unruh, das heißt sich zum Narren stempeln.« + +»Lieber Herr Doktor,« entgegnete der Schulmeister unwillig und ohne die +Stimme zu erheben, »wer etwas verliert, muß am besten wissen, was er +verliert.« + +Der Doktor brummte, zog die Augenbrauen in die Höhe, kicherte in sich +hinein und wünschte gute Nacht. + + +Fünftes Kapitel + +Doktor Maspero hatte gut lachen; er wußte, wo die Bücher hingeraten +waren. Nicht ganz ein Komplott und mehr als ein Einfall trug die Schuld. +Das kleine Männchen mit dem Alleswissergesicht versuchte sich gern in +der Seelenheilkunde. Auch der Apotheker und der Schulrat hatten Teil +daran. Diese behördliche Person billigte das Treiben des Lehrers nicht. +Obwohl von Pflichtversäumnissen bislang keine Rede sein konnte, -- hinter +stummen Bücherdeckeln erhebt sich oft ein unheilvoller Geist. Niemand +konnte das gründlicher bestätigen als der Baron. »Verderblich ist das +Wort,« lautete sein gebildetes Orakel. Der Doktor seinerseits mischte +sich mit Leidenschaft in fremde Angelegenheiten. Er war ein Schnüffler +und mißtraute allen Leuten, bei denen er Geheimnisse vermutete. Er haßte +die Schweigenden, haßte die Leute, die anspruchslos ihres Weges gehen +und in sich verschließen, was sie im Innern beschäftigt. Er haßte jene, +die sich für irgend etwas mit wahrem Gefühl einsetzen und hielt sie für +Lügner. Jeder Einsame galt ihm als Verräter an einem öffentlichen Wohl. +Seine Zwerggestalt war der Grund eines wunderlichen, giftigen Ehrgeizes. +War er den andern körperlich unterlegen, so wünschte er doch brennend, +sonstwie zu herrschen. Daher sein penetranter Witz, seine angebliche +Verachtung der Frauen; daher seine seltsame Eifersucht auf alles Große, +was immer in der Welt geschah; daher seine Freude, sogenannte Wahrheiten +zu sagen, seine unermüdliche Geschwätzigkeit, seine Gier, zu +verurteilen, gehört zu werden, belacht zu werden, zu glänzen. Er war der +erste gewesen, der Unternehmungen gegen die Bücherwut des Lehrers +geplant hatte. Seine Motive waren menschenfreundlich; er sagte es. Aber +es waren Worte geblieben bis zum Tag der Feuersbrunst. Da hatte er das +Herausschleppen der Kiste beobachtet und war zum Bäcker geeilt, der für +einen guten Spaß alles Brot im Ofen schwarz werden ließ. Alsbald war die +Kiste unter dem Ladentisch verschwunden, und der Bäcker drückte sein +gründliches Mißfallen an der Studierwut des Lehrers aus, vermutete +Schwarzkunst und teuflische Zauberei dahinter. Der Doktor empfahl ihm, +die Bücher ordentlich zu bewahren, und verhielt sich so, als ob ein +reformatorischer Gedanke jeden Schritt in dieser Angelegenheit +vorbestimmt habe. + +Auf dem Heimweg empfand Doktor Maspero ein verwickeltes System zu der +Tat, die er gegen Philipp Unruh unternommen, ein System, welches +zugleich philosophischer und pädagogischer Natur war. Als er sich der +letzten Konklusion nahte, bemerkte er die Gestalt des Provisors +Siebengeist, die am Zaun des Kasinogartens lehnte, als ob sie steif +gefroren wäre, und die Augen des jungen Mannes beobachteten gespannt den +Mond am klaren Himmel. Erschrocken blieb der Doktor stehen und sagte mit +unsicherer Bosheit: »Sie sind mir ein gespenstischer Herr da.« + +Siebengeist senkte den Kopf und blickte den Doktor von der Seite an. +»Dieser Kerl ist mein Feind,« erwiderte er langsam, die Faust gegen den +Mond ballend. »Ich kann nicht schlafen, so lang er am Himmel steht.« + +»Also ein Romantiker,« meinte der Doktor, spöttisch in den Ton des +Arztes verfallend, »ein Romantiker mit kalten Füßen also.« + +Siebengeist begleitete schweigend den Doktor die Straße hinab. Der Herr +Adjutant kam ihnen entgegen, grüßte schreiend und lachend, als ob er +eben von einer Amerikareise zurückgekehrt wäre und verschwand lautlos +in der Nacht. Selten sind die Schlauen auch im Schweigen schlau. Der +Doktor erzählte Siebengeist mit geheimnisvollem Wesen die Geschichte von +den geraubten Büchern, und das philosophische System enthüllte sich in +Beweiskraft. Siebengeist hatte nichts darauf zu antworten. Er nahm +Schnee in die Hand und drückte ihn gegen seine Stirne. »Der Mond ist +mein Feind,« murmelte er. »Mich verdrießt sein Grinsen, seine Klarheit, +sein erborgtes Licht, seine anspruchsvolle Nutzlosigkeit. Er steht da +droben und hat sein Amüsement von der Welt. Und ich, ich muß mir den +Kopf im Schnee kühlen, fiebernd vor Überdruß.« + +Sie standen vor dem Turmbogen, und der Doktor blickte verdutzt sein +Haustor an, wußte nichts zu entgegnen als: »Sie sind verliebt, junger +Freund.« Er hatte bei den Redereien des Provisors ein Gefühl wie jemand, +den man aus dem ersten Schlaf weckt, um ihm die Anfangsgründe der +Eskimosprache beizubringen. Doch tat er verständnisvoll aus Furcht vor +einer möglichen Überlegenheit des andern. + +»Richtig: eine meisterhafte Vermutung!« rief Siebengeist, mit dem Stock +an das morsche Tor schlagend, daß es drinnen dumpf widerhallte. + +»O, ich bin ein geriebener Hund, was die Weiber betrifft,« sagte der +Doktor. »Ich kenne alle Schliche darin. Wie sieht sie aus, was ist sie, +wie ist sie?« + +»Wie sie aussieht? Je nun, das ist schwer. Eine gut funktionierende +Nase, zwei erfahrene Augen, ein redseliger, lügnerischer Mund. Wie sie +ist? Ebenso feig wie dumm, ebenso habgierig wie eitel, ebenso frech wie +leer, ebenso gestorben wie die andern Leute hier herum. Aber Sie denken, +ich spiele deshalb den Verschmäher? Ei, Doktor, da irren Sie sich. Der +Rock ist alles, es lebe der Rock. Genug davon. Zuviel Wucht für die +taube Nuß.« + +Unter dem Torbogen des Turms schallte ein leichter Schritt. Es ging da +ein junges schwarzgekleidetes Mädchen, dessen Kopf mit einem Schal +verhüllt war. Es sah nicht aus, als ob sie Eile hätte, denn sie ging +mehr für sich hin, verloren und abgekehrt, den Kopf leicht vorgeneigt, +und in ihrem Schritt war sowohl Müdigkeit als auch Verträumtheit +enthalten. Siebengeist folgte ihr mit den Blicken, als ob sich sein +Schatten in Bewegung gesetzt hätte, denn es war schon etwas +Ungewöhnliches, daß zur Schlafenszeit in offener Gasse jemand ging, der +nicht Eile zeigte, schlafen zu gehen. + +Des Doktors Schlüssel kreischte im verrosteten Schloß. Herr Maspero, +Siebengeist beobachtend, gab seine liebenswürdige Nachsicht durch ein +Lächeln kund, einem Veteranen gleich, der beim Anblick der Spielflinte +eines Knaben an die großen Schlachtenkanonen denkt. Dann verabschiedete +er sich in der akademischen Steifheit, die ihm eigen war. Er betrat den +öden Flur seines Hauses, in dessen Hintergrund bei der Treppe eine +nimmermüde Stehuhr ihr schläfriges Ticken seit Jahrzehnten ertönen ließ. +Sechstausend Nächte und mehr noch lief das Werk im stummen +Pflichtgefühl, und wenn es abends zehn Uhr war, kreischte der Schlüssel +im verrosteten Schloß, und der Zwergdoktor sagte irgend einem gute +Nacht, der vor dem Tore stand, riegelte sich ab von der Welt, machte die +alten Dielen durch seine kleinen Füße knarren, hob an der Treppe das +Kerzchen gegen das Zifferblatt, wobei in seinen grauen, unruhigen Augen +etwas Fragendes aufblitzte, das unbehaglich und ängstlich den +Fortschritt der Zeit wahrnahm. Die akademische Steifheit verlor sich, +das leutselige oder sarkastische Lächeln verschwand. Unsichtbare +Schatten der Zukunft schienen in dem stillen Haus emporzuwachsen, vom +Flur bis in die Bodenkammer, und wehe, wenn sie einmal so weit +gelangten, die beiden geschäftigen Zeiger der Doktorsuhr stehen bleiben +zu heißen. So wird den Masperos allmählich die ganze Welt zu einer Uhr: +die Hausmauern, von denen der Kalk abbröckelt; der Nachtwächter, dessen +Stimme zitternder und leiser die Stunden ruft; der Wald, von dessen +Bäumen die Blätter fallen; die Erde, die sich mit Schnee bedeckt; die +Sonne, die hinter Frühjahrsnebeln blutet; ja, sogar die Kinder, denen +der Schuster von Jahr zu Jahr größere Stiefeln machen muß. + +Am nächsten Tag wußten die Sechsundsechzig von komischen Sachen zu +wispern, die sie in der Schule gehört. Von zehn bis elf war +Geschichtsstunde gewesen, ein Fach, das bisher aus einigen Namen und +Zahlen bestanden hatte, mühsam und überflüssig zu lernen. Heute war der +Lehrer, die Hände auf dem Rücken, hin- und hergegangen und hatte +unaufhörlich geredet. Ungerechtigkeit sitze auf dem Thron der Erde. Die +Geschichte sei nichts anderes als die Wissenschaft von der +Ungerechtigkeit. Was ein Edler unternehme, werde hundert Unwürdigen +preisgegeben, und ist es Gott, welcher das Glück eines Einsamen bewacht, +so seien seine Augen matt, seine Sinne erschöpft vom Anblick der +Zerrüttung und des Übels. So sprach der Unbesonnene zu Kindern: Dinge, +die weitab vom Kreis seines Amtes lagen, und sein Mund zitterte unter +dem buschigen, herabhängenden Schnurrbart. Als das Schulzimmer leer war, +setzte er sich vor den Globus, und so traf ihn Doktor Maspero, der beim +Bäcker gewesen war und nun aus freundschaftlicher Besorgtheit auch den +Lehrer besuchte. Philipp Unruhs Blicke waren fest auf einen Punkt in der +Wüste Saharah gerichtet, dann liefen seine Augen meridianaufwärts über +Hellas und den Hellespont, durchsegelten das Schwarze Meer und blieben +stumpfsinnig nach rascher Landwanderung in der Nähe Sibiriens liegen. +»Sie werden sich erkälten bei solchem Klimawechsel,« scherzte der +Doktor. + +»Überall da leben Menschen,« erwiderte der Lehrer, mit einem vertieften +Ausdruck emporblickend. »Lauter fremde Menschen.« + +Der Doktor geriet vor dem grabenden Blick Unruhs in Verlegenheit. Er +fragte sich umsonst, was er sagen solle. + +Die Pausestunden verflossen, und die kurze Schulzeit des Nachmittags +verging. Der Lehrer wandelte betrübt zwischen den Bänken umher, und +beruhigte so den ängstlichen Geist der Kinder wieder. Gegen Abend +klopfte es an die Türe von Unruhs eigenem Zimmer und Apollonius +Siebengeist trat ein, warf den Hut irgendwohin und den Mantel nach, rieb +sich am Ofen die Hände wie jemand, der einträgliche Geschäfte gemacht +hat, und achtete kaum auf die erstaunten Mienen des Lehrers. »Eine +gemütliche Stube haben Sie da,« sagte er, sich fröhlich umschauend. »Ich +komme zu Ihnen, weil ich niemand hier weiß, mit dem sichs plaudern läßt. +Die meisten Leute, mit denen man redet, hören gar nicht, sondern +besinnen sich nur auf die Antwort. Heute brauch ich aber partout einen +Zuhörer und ein warmes Öfchen. Aber Schulmeister! Onkelchen! Sie sehen +aus wie der selige Griesgram.« + +»Alle meine Bücher sind mir gestohlen worden,« murmelte der Lehrer +klagend. + +Siebengeist kratzte seinen Kopf und pfiff leise in die Ofennische. Dann +machte er ein pfiffiges Gesicht, das ihm außerordentlich gut stand, trat +dicht vor den Lehrer hin und legte beide Hände auf dessen Schultern. +»Und wenn ich Ihnen nun verspreche, daß Sie Ihren Schatz wiederhaben +sollen?« fragte er lächelnd. + +Philipp Unruh sprang auf. »Sie wissen? Was verlangen Sie dafür?« rief er +mit überraschender Leidenschaftlichkeit. + +Siebengeist lachte und errötete. In seinen Augen war ein so +merkwürdiges, verlorenes Glänzen, daß es wohl jeder bemerkt hätte, der +sich besser auf Menschen verstand als dieser Philipp Bücherwurm. +»Allerdings verlange ich etwas dafür,« sagte Siebengeist, und sein +Lächeln kehrte wieder, das jetzt etwas Durstiges und Gedankenfernes +hatte. »Sie kennen doch den Theaterdirektor, den Herrn, der mit dem +Kleister so königlich hantiert? Sie erinnern sich doch? Gut. Gehen Sie +heute ins Theater. Man gibt die erste Vorstellung. Und wenn das Stück +aus ist, suchen Sie auf irgend eine Weise zu dem majestätischen Herrn zu +kommen, knüpfen ein Gespräch an, indem Sie sich entzückt stellen über +seine Leistung als Graf oder General oder Bettler, was er eben in dem +Stück vorstellt. Der Mann wird butterweich werden, oder ich kenne die +Komödianten nicht. Dann fangen Sie an, von seiner Truppe zu sprechen, +laden ihn vielleicht zu einer Flasche Wein ein und kommen so auf Myra zu +sprechen. Das ist eine von den Schauspielerinnen. Schreiben Sie sich den +Namen auf: Myra. Einen andern hat sie momentan nicht.« + +»Myra,« redete Philipp Unruh nach, nicht begreifend, was er solle. + +Siebengeist schritt erregt auf und ab, legte die Hand auf die Stirn und +fuhr etwas leiser und eintöniger fort. »Wenn der würdevolle Schuft nicht +reden will, so schieben Sie ihm Geld in die Hand. Ich gebe Ihnen, was +Sie brauchen. Fragen Sie also nach Myra. Wie sie lebt, woher sie kommt, +weshalb sie sich beim Theater aufhält, ob sie ... ob sie Liebschaften +hat oder gehabt hat, -- nun, jetzt wissen Sie ja genug. Heiliger Himmel!« +Er lachte überstürzt, setzte sich am Ofen nieder und schaute in die +Glut. Dann, als verstünde er das Schweigen des Lehrers, begann er wieder +und redete in das Ofenloch hinein: »Fürchten Sie nicht, daß Sie etwas +Unehrenhaftes tun. Sie retten dabei nur mein irdisches Heil. Ich selbst +kann es nicht übernehmen. Ich kann den Namen dieser Person nicht +aussprechen, ohne etwas zu spüren, -- eine innere Feuersbrunst! Und müßte +ich hören, wovor mir schon in Gedanken graut, ich erschlüge den +Kleisterbaron, so wahr ich bin. Die Leute beim Theater reden wasserklar +einer über den andern. Nun, Schulmeister, wollen Sie das unternehmen für +mich? Hier ist das Billett; alles ist vorbereitet.« + +Der Lehrer zauderte, fremdartig berührt durch das Wesen des jungen +Mannes. Die Versprechung mit den Büchern erschien ihm plötzlich +märchenhaft, wie alles, was der Provisor tat und sagte. Aber auch das +erriet Siebengeist mit der sicheren Gabe des von seinen Zwecken ganz +erfüllten Menschen. »Ihre Bücher, meine Hand darauf, sollen Sie wieder +haben!« rief er und fügte mit übertriebenem Pathos hinzu: »Es sind da +infame Ränke im Spiel, die ich zerstören werde.« + +Philipp Unruh reichte dem jungen Mann seine Hand, schüchtern und voller +Zweifel. Siebengeist lächelte freudig und unbefangen und zeigte seine +weißen Zähne. »Ich vertraue Ihnen darum das alles,« sagte er nun wieder +in seiner natürlich gewinnenden Weise. »Sie sind ein Stiller, ein +stiller Freund. Wenn Sie mehr Zutrauen zu sich hätten, könnten Sie +weiter oben stehen in der Welt. Berichten Sie mir nur alles, was Sie da +erfahren, und merken Sie sichs mit dem Herzen. Sie wissen nicht, was für +mich davon abhängt. Beobachten Sie jedes Augenzwinkern, jeden +Gedankenstrich in der Rede. Die Leute sagen vieles ohne Worte. Helfen +Sie mir heute, und ich will Sie als meinen liebsten Freund betrachten.« + +Siebengeist sagte das mit einer Herzlichkeit, die auch kühle Seelen +erwärmt hätte. Der Lehrer hörte verwundert zu und beinahe mechanisch +fragte er: »Warum nur? Warum?« + +Siebengeist setzte sich an den Tisch, drehte ein wenig an dem Docht der +Lampe, lächelte zart und erinnerungsvoll, wobei seine Augen strahlend +und weit wurden. Dann sagte er, als ob er zur Lampe rede: »Da trifft man +irgend einen Wanderer auf der Straße, in der Nacht, im Schnee und gleich +schmieden sich Schicksale zusammen. Und man geht mit dem sonderbaren +Wesen, spricht kaum, erfährt kaum einen Namen, nichts als einen lumpigen +Theaternamen. Myra! Was für eine unverständliche Zusammenstellung von +Buchstaben? Bis gestern noch etwas so unbekanntes wie der eigene +Todestag, heute ein Ereignis, von dem alle Stunden schwer sind. Ich +begreif' es nicht, was die Leute Erleben nennen. In einem Geheimnis +schlendern wir herum.« + +Voll Teilnahme, Sympathie und aufrichtiger Gesinnung blickte der Lehrer +sein Gegenüber an. Er ahnte, daß ihm etwas wie ein wirklicher Mensch +begegnet sei. + + +Sechstes Kapitel + +Ein Brummbaß, zwei Geigen und eine Klarinette machten eine vortreffliche +Musik vor Beginn des Stückes. Der »große Saal« des fränkischen Hofes, +der eigentlich nur eine geräumige Wirtsstube war, füllte sich mit +Zuschauern. Die Sitze der vorderen Reihen bestanden aus wirklichen +Stühlen, während für die minder vermögenden Leute lange Bretter über +Bierfässer gelegt waren. Alles strömte herbei, was für Kunst und Bildung +eingenommen war. Man sah die Spitzen des »Kasino«, einer preiswürdigen +Vereinigung der eleganten Kreise: die Frau Notar mit ihren Töchtern, die +Frau Oberamtmann, die Frau Steuerrat, die Frau Expeditor, die Frau +Apotheker, die Frau Major, die Frau Schulrat. Sodann zeigten sich die +weniger ausgezeichneten Damen, die jüdischen Kaufmannsfrauen, die +Handwerkerfrauen, welche aus Ehrfurcht vor jenen Titularherrlichkeiten +nur zu flüstern wagten. Nicht so gebieterisch nahm sich die vornehme +Männerwelt aus, aber man weiß, daß die stumme Würde keineswegs die +geringere bedeutet. Es war eine Luft von Frohsinn und heiterer +Erwartung, denn so versammelt das Theater stets die gutgestimmten +Elemente, aller Nebeninteressen entledigt, um im entzückenden Spiel, +nicht nur vor den Augen der eleganten Kreise, die Macht der Kunst zu +erproben. Alles ist da einer edleren Erhebung geweiht. Niemand stellt +sich ein, etwa nur um einen Schauspieler zu bewundern, oder um eine +kostbare Robe sehen zu lassen, oder einen mißliebigen Verfasser um den +verdienten Erfolg zu bringen. + +Der Vorhang erhob sich, und mit feierlichem Schritt erschien der +Direktor, um den dichterischen Prolog des Barons von sich zu geben. Der +Vortrag des Poems war nicht ohne Geschmack. Der Redner schrie oder +brüllte nur, wenn es kaum zu umgehen war. Bei der Stelle: Wahrheit und +Natur sind eins! streckte er beide Arme von sich, wie um ein Gespenst +abzuwehren, und machte eine Generalpause, -- eine verblüffende und gut +gewählte Einzelheit. Als der Prolog zu Ende war, bekam die erste Geige +ein ergreifendes Solo zu spielen. Der Baron saß mit tiefsinnigem und +beglücktem Gesicht in der ersten Reihe, und einige Honoratioren kamen, +ihm gerührt und mit Achtung die Hand zu schütteln. Seine Frau aber war +in weicher Hingebung an seine Schulter gelehnt und blickte schmachtend +ins Leere. Im Grund konnte sie nur schlecht ihre Verstimmung und ihren +Ärger verhüllen, denn nicht der Provisor saß zu ihrer Linken, wie es +verabredet war, sondern Philipp Unruh. Der wagte weder um sich noch +neben sich zu blicken, ihn schüchterte der vornehme Platz ein, und er +war froh, als der Vorhang für »Melchior oder die Leiden des Alters« +aufging und eine atemlose Stille im Publikum eintrat. Nur die Baronin +hörte er bisweilen vor sich hinseufzen. + +Es kam da ein alter und ein junger Mann vor. Der alte Mann hieß Melchior +und war der Vater, der junge hieß Balthasar und war der Sohn. Der Sohn +war ein verwerfliches Subjekt, denn er wollte Soldat werden, während der +Alte wünschte, daß er sich zur Theologie wende. Die Verwerflichkeit +dieses Sohnes ging so weit, daß er sich in ein armes Mädchen verliebte, +und als die betrübende Tatsache nicht länger zu verheimlichen war, +erschien das Mädchen selbst vor dem bitterbösen aber rechtschaffenen +Melchior, welcher vom Direktor mit dem Gefühl eines gekränkten +Patriarchen gespielt wurde. Die Person, welche die Rolle der armen +Liebenden spielte, hatte zuerst nur wenige Worte zu sprechen; und sie +sprach nicht, sondern flüsterte nur hastig und erschreckt, mit +Seitenblicken auf die Zuhörer. Man hatte sie jämmerlich kostümiert: eine +Mischung von Empiredame und Fabriksmädchen; aber in ihren Bewegungen +verleugnete sich jedes Kostüm, war etwas, das anstatt aller Worte +redete, und nicht aus der Rolle, sondern aus dem Wesen. Dies ist +sicherlich Myra, dachte sich der Lehrer, und was ihn in Erstaunen und +Verwirrung setzte, war Myras schöner Mund. Ihn dünkte, daß er einen +ähnlichen Mund nie gesehen habe. Er sah Trauer und Anmut darin, Güte und +Verschwiegenheit, Sehnsucht und frühen Tod. Es waren so jähe und starke +Empfindungen, daß er dabei nicht auf sich selbst und seine Gedanken +achtete, sondern sich nur einer Folge von seltsamen Einflüsterungen +übergab. Myra verließ den Schauplatz und es wurde still auf der Bühne, +obwohl noch immer Leute hin- und hergingen und sich erhitzten. Myra kam +wieder, und die Luft schien von Wohlgeruch, ja von einem weithertönenden +Gesang erfüllt. Die Lippen des schönen Mundes hoben sich und senkten +sich in einer sanften, geheimnisvollen Bewegung, wie wenn der Nachtwind +über zwei Rosenblätter huscht, die auf einen Marmorstein verweht sind. +Und abgesehen von aller Schwermut war damit eine Art unsichtbarer, +tiefer Heiterkeit verbunden, welche vielen Frauen das Seherische und +zugleich das Vertrauenswürdige verleiht. Philipp Unruh saß vorgebückt +da, hatte seine Hände flach zusammengedrückt und zwischen die Knie +geschoben und fürchtete, daß jeder ihn beobachten müsse, und daß es um +den Ruf seiner Vernunft geschehen sei. Auch diese Empfindung war ihm +unklar. Sein ganzes Wesen geriet in eine Verworrenheit, welche +Traumgefühle in ihm erzeugte. Myras Stimme wurde lauter und klarer, aber +wenn sie sprach, blieben ihre Züge unbeweglich. Als Schauspielerin +mußte sie das Mitleid eines Kenners wie Doktor Maspero erregen, und als +die Sache unter großen Bemühungen bis zum Vaterfluch jenes +ungewöhnlichen Melchior gediehen war, schrieb der erwähnte kritische +Herr bedenkliche Notizen auf ein Rezeptpapier. Einige Leute, die es +sahen, nickten respektvoll einander zu, denn der Geist der Verneinung +ist an jedem Platze hochgeachtet. Melchior begann eben nebst +verschiedenen anderen Dingen auch sich selbst zu verfluchen, als sich +unter den Damen im Zuschauerraum eine wachsende Panik bemerkbar machte. +Eine Ratte lief im Saal umher, verbreitete einen Schrecken, gegen den +alle Wirkungen des zehnaktigen Lebensbildes verblaßten. Stets ist es die +gemeinsame Gefahr, welches die Standesunterschiede verschwinden läßt. +Bleich und zitternd erhoben sich die Frauen, und das Podium für das +Schauspiel hatte plötzlich die Bedeutung einer Insel im Ozean. Melchior +hörte auf, Melchior zu sein und machte für die Flüchtlinge, die nicht +bis zur Saaltür hatten gelangen können, die Honneurs. Unten im Ozean +waren nur noch Männer ernst und pflichtbewußt damit beschäftigt, das +Untier aufzuspüren und zu töten. Auch Philipp Unruh hatte sich erhoben, +verließ mechanisch den Raum und stand bald in dem verödeten Wirtsgarten +draußen. Es wehten milde Lüfte, und der Schnee war weich geworden. +Überall waren sickernde Geräusche vernehmbar; von den Bäumen und von den +Rinnen tropfte das Tauwasser. Vor dem Tor eines Schuppens hockten zwei +Katzen eng aneinander geschmiegt, und sie rührten sich nicht, sondern +blickten stumpfsinnig in die flimmernden Lichter vom nahen Bahnhof. Nun +war weiterhin ein ganz finsterer Winkel, denn der Schuppen grenzte an +die Kegelbahn, und die beiden Mauern bildeten eine tiefe Ecke. + +Vor der Holztüre des Schuppens stand ein kleiner Handwagen und daneben +eine Bank, auf welche sich der Lehrer setzte, Stille vor sich, Stille +hinter sich, aber im Innern mancherlei Stimmen und Laute. Und als er so +in einem Zustand fremdartigen Lauschens dasaß, knirschte der Schnee +unter langsamen, näherkommenden Tritten. Eine Mädchengestalt tauchte +auf, die den Kopf gesenkt trug und am Eck des Schuppens wie ermüdet +stehen blieb. Als fürchte sie, gehört zu werden, setzte sie ihren Weg +mit kaum vernehmlichem Auftreten fort bis zu dem Handwagen, auf dessen +Deichsel sie sich setzte, die Ellbogen auf das Wagenbrett stützend. Das +alles verfolgte Philipp Unruh genau, da seine Augen sich längst an das +Dunkel gewöhnt hatten. Aber in einem unbewußten Drang von Scham und +Furcht wandte er seine Augen ab, und in demselben Moment hörte er ein +Schluchzen, dessen Unaufhaltsamkeit offenbar nur durch fest +zusammengepreßte Lippen gemildert wurde. Den Lehrer begann es am ganzen +Körper zu frieren, und sein Blick umschleierte sich. Er dachte nichts +als den märchenhaften Namen Myra und sah nichts als einen Mund, der sich +krampfhaft im Schmerz verschloß. Hatte sie nicht einmal vier Wände, um +sich ausweinen zu können? daß ein dumpfer, kalter Schuppenwinkel im Hof +dazu dienen mußte? Doch wagte er sich nicht zu rühren. Gequält und +bedrückt ging er mit sich zu Rate, als wisse er den Grund und wäre +fähig, Hilfsmittel zu finden. + +Eine dröhnende Stimme rief: »Myra!« Die Weinende verstummte, erhob sich +und ging gegen das Haus. Philipp Unruh wartete lange, denn er wollte +nicht, daß ihn jetzt jemand aus diesem Winkel gehen sehe. Ihn wunderte +die Ruhe der Natur. Himmel und Erde schienen ihm noch erfüllt vom +Widerhall jenes Weinens. Er stand auf und setzte sich auf die Deichsel +des Handwägelchens, das unter seiner Last ächzte. Ihn erstaunte es, daß +er nun in demselben engbegrenzten Raume war, in dem Minuten vorher Myras +Herz geschlagen. Als ob er sich eines Amtes unwürdig fühle, erhob er +sich wieder, und seine Gedanken richteten sich unvermittelt auf seine +äußere Erscheinung, auf seine wenig einnehmenden Züge, auf seinen +zerzausten, rötlichen, herabhängenden Schnurrbart. Ungeduldig verließ er +die Finsternis und eilte dem Haus zu. Wie groß war aber sein Schrecken, +sein feiger Schrecken, als er Myra noch auf der Schwelle stehen sah und +hinausstarren in die Nacht. Er erkannte im Schein des unbestimmten +Lichts, das aus dem Flur fiel, wie ihr Gesicht sich jäh belebte, als sie +ihn aus dem Grunde des Hofes kommen sah. Doch blieb er nicht stehen und +befand sich bald vor ihr, die sich an den Pfosten lehnte, um ihn vorbei +zu lassen. Er spürte ihren fragenden, unwilligen Blick und sah sie +verstört von der Seite an. Eine Gewalt von innen hinderte ihn, weiter zu +gehen, und er murmelte, indem er sich bemühte, einen teilnehmenden Ton +zu wählen: »Ich habe gehört. Aber zürnen Sie nicht deshalb.« Gott weiß, +weshalb ihm das alles abenteuerlich und entlegen vorkam und er an seine +Bücher dachte, wie an rettende Freunde. + +Myra erwiderte nichts. Sie nickte nur leicht mit dem Kopf. + +»Kann da niemand helfen?« fragte Philipp Unruh in kindischer +Unbeholfenheit, und als er das geringschätzige Zucken ihres Mundes +bemerkte, sagte er stotternd: »Ich denke, man hat die Ratte da drinnen +schon erwischt.« + +Das junge Mädchen sah den sonderbaren Kauz mit Überraschung an, lächelte +und erwiderte: »Ja, das ganze Nest ist leer.« Damit entfernte sie sich. + +Unentschieden, welcher Umstand nun den Lehrer mit solchem Glücksgefühl +beschenkte. Vielleicht war es nur das Lächeln, das mit eines Gedankens +Schnelligkeit über Myras nachdenkliches und erschöpftes Gesicht geflogen +war. Vielleicht, daß er das Lächeln einkassierte wie den Gewinst aus +einer Lotterie, und daß dabei etwas in ihm lebendig wurde, wie in jenen +Vernachlässigten, die sich plötzlich auffallend vom Glück begünstigt +sehen. Es kam ihm vor, als ob er in einer gesegneten Zeit lebe und in +einer angenehmen Stadt. Er trank am Gassenschank durstig ein Glas Bier; +darauf ward ihm mutig zu Sinn, und unternehmenden Schritts betrat er die +schon verödeten Straßen. Wer schrie da schon wieder beim Haus des +Hufschmieds und schwenkte grüßend den Hut, um dann schweigend wie vorher +seinen Weg fortzusetzen? Es war der Herr Adjutant, dessen fabelhafte +militärische Würde nur durch seine tiefeinsame Lebensweise +Glaubhaftigkeit behielt. Philipp Unruh blieb stehen und schaute ihm +nach. Ein Mann, hatte er sich sagen lassen, der sein Vermögen im Spiel +verloren und Weib und Kind in Armut, dem Tod geweiht, verlassen hatte, +der Goldgräber gewesen war und die neugewonnenen Schätze bei einem +Schiffbruch eingebüßt hatte. Und derselbe Mann lief hier umher, begrüßte +lärmend in der Nacht die Leute, sprach laut und eindringlich mit sich +selber, ein Rätsel für alle und für Philipp Unruh mit einem Mal eine +Kundgebung reichsten Lebens, wertvoller als eine ganze Bibliothek. Man +konnte hingehen und ihn fragen, und er konnte erzählen mit Lachen und +mit Weinen; in Büchern aber erzählte nur der Tod in einer bunten Maske. +Der Nachtwächter trottete vorbei, ließ sein Pfeifchen schrillen und +leierte seinen Singsang ab: daß man Feuer und Licht bewahren solle. Das +schläfrige Gesicht glänzte über der Laterne, und er grinste trunken in +den Schnee. Dann kamen hoch vom alten Turm die langsamen, dröhnenden +Stundenschläge, um weit hinauszuschallen in das Tal der Altmühl, in den +Wald und in die nahen Dörfer, ein Signal der Ruhe für Weib und Mann, für +die Flucher und die Betenden, die Lacher und die Schluchzenden, für den +Adjutanten und für Myra. Es war nicht zu leugnen, daß im Schlaf die Zeit +dahingeflossen war, während ungesehen und dem Schläfer greifbar nah das +Lebendige sich abspielte in Feierlichkeit und in Humor. + + +Siebentes Kapitel + +Vor dem Schulhaus lauerte Apollonius Siebengeist dem Lehrer auf, und +unbeschreiblich war sein Zorn, als Philipp Unruh sein Versäumnis +eingestand. Er schrie, daß man ihn betrogen und verraten habe. Er sagte +Schulmeisterlein, und das in einem Ton, der beleidigend wirkte. +Schließlich aber umarmte er den Geschmähten und sagte, daß er ihm danke, +denn er liebe seine Zweifel mehr als jene Gewißheit, vor der ihm bangte. +Doch wurde sein Wissensdurst noch in der selben Nacht gelöscht. Er +suchte die Wirtschaft zum lustigen Pfeifer auf, wo als letzter Gast ein +abenteuerlich aussehender Jüngling am Ofen saß. Es war der Komiker des +Theaters, wie sich aus einem rasch begonnenen Gespräch ergab. Wie alle +Komiker von Beruf war auch dieser nichts weniger als komisch, sondern +litt an einer bösartigen Dürre des Witzes, die ihm ein gramvolles und +verruchtes Aussehen gab. Siebengeist ließ eine ansehnliche Schar von +Flaschen aufmarschieren, denn bis zur Polizeistunde war es noch weit. +Der Jüngling erzählte bald von Myra, und es zeigte sich, daß seine +Sprache einen Klang ins Böhmische hatte, welcher nicht so sehr die +Verständlichkeit als musikalische Wirkungen förderte. + +Wiederum stand der Mond in klarer Höhe, als Siebengeist heimwärts +kehrte, aber nicht mehr als »sein Feind«. Es herrschte in den Gassen +eine Stille, für deren Süßigkeit und Lockung es nicht Worte noch +Gedanken gab. Was da zwischen den Häusern zog und ruhte, war wie +blaugrünes, zartes Gespinst, Mondrauch; der Schnee glänzte kalt wie +weißer Atlas. Eine Nacht für Myra; wenn sie auch litt, er wußte doch +wofür und Wahrheit mußte es sei. Trübe Dinge, die ein Komiker erzählt, +sind wahr. Sie hatte kein Wanderleben geführt. Die Mutter hatte als +Witwe in einer kleinen thüringischen Stadt gelebt, wohin Schmalichs +Wandertruppe kam. Lebenslustig und unzufrieden, durch Romanlektüre +verdorben und unerfahren, hatte sich die noch junge Frau dem jungen +Liebhaber der Schmiere an den Hals geworfen, wollte mit ihm ziehen, der +»Kunst« ein Opfer bringen. Und Myra folgte von Ort zu Ort und wurde erst +stutzig, als die Mutter im Theater mitzuspielen begann; von da an mußte +sie in Wirrheit und Fährlichkeit gerissen worden sein. Der Mutter +schwärmerisch zugetan, merkte sie nicht deren wachsende Kälte, spürte +zuletzt nicht ihren Haß. Myras Mutter, so sagte der Komiker, war +eifersüchtig auf die Tochter, und diese Eifersucht durchtränkte ihre +Handlungen bis in den feindseligen Ton eines bloßen Grußes. Myra wußte +nicht, wie ihr geschah. Ahnungslos wie bisher folgte sie an der Seite +ihrer Mutter dem Wanderleben der Komödianten. Und in Bamberg war sie +eines Tages allein, lag sie verlassen in einem armseligen Gasthof und +las die dürftigen Abschiedsworte der Mutter. Man erinnerte sich bei der +Truppe, sie ohnmächtig im Zimmer des Direktors gesehen zu haben. Sie +hatte nicht Geld noch Kleider noch Freunde, nichts, als was sie sich +selbst sein konnte. Man erinnerte sich des Tags, an dem sie zum +erstenmal im Schauspiel aufgetreten war, ein Gegenstand des Hohns für +die genialen Kollegen trotz der stummen Rolle. Aber Herrn Schmalichs +Ansicht war, daß ein reisendes Theater hübsche Frauenzimmer brauche, und +daß man auch das leidendste Gesicht in ein lustiges umschminken könne. +Man hatte Myra niemals anders gesehen, als sie heute war, und heute +schon war es, als trüge sie das Bild kommenden Unheils im Herzen. +Solchen Augen kann kein Gewordensein die Furcht vor dem Werdenden +nehmen. Zwischen Lügen, Schmutz, falscher Heiterkeit und wirklicher +Armut lebte sie vielleicht gleichmütig, vielleicht abwartend hin, und +Siebengeist sah sich schon als den, welcher erwartet wurde. Zu früh +erschien ihm ein Geheimnis gelüftet, das ihm beim Wein offenbart worden. +Zu früh nahm er das Geschehene als vergangen, ließ er seiner Hoffnung +freien Lauf. Und zwischen ihm und dem andern Einsamen im Schulhaus spann +die Nacht die gleichen Fäden der gleichen Gefühle und trieb irgendwo das +Verhängnis aus einem abgelegenen Grunde hervor, daß es weiter weben +möge, was sie spielerisch begonnen. + +Zu Philipp Unruh kam am Morgen der Schulrat. Es handelte sich um eine +gewichtige Beschuldigung. Die seltsamen Reden aus der Geschichtsstunde +waren beunruhigend zu den Ohren der Schulbehörde gedrungen. Der Herr +Schulrat hatte ein Bläschen auf der Nase und außerdem ein Horn auf der +Stirn, da er sich im Traum am Bettpfosten verwundet hatte. Beide +Verunzierungen jedoch gaben seinem Gesicht einen erhöhten Ausdruck der +Amtsgewalt, als könne einzig ein Schulrat darüber entscheiden, ob +Ungerechtigkeit auf dem Thron der Welt residiere. Der Lehrer war +erstaunt. Er wußte sich seiner Worte kaum zu erinnern, und als er +vernahm, was er selber gesagt, fand er es so widersinnig und +abgeschmackt, daß er beredter und liebenswürdiger als je den Mann mit +Bläschen und Horn vollständig beruhigte. Seiner Leidenschaft für Bücher +entsann er sich wie der sonderbaren Torheit eines andern; der Verlust +der Kiste kam einem gewöhnlichen Unfall gleich. Die Leute, die ihm +begegneten, hatten andere Gesichter, andere Bewegungen, andere Worte als +sonst. Die Kinder im Schulzimmer waren nicht mehr so sehr Gegenstände, +an denen der Stundenplan erledigt werden mußte. Ihre Augen waren +belebt, ihr Ungehorsam schien liebenswürdiger, ihre Unwissenheit +begreiflich, ihre Ungeduld gegen das Stillesitzen des Nachdenkens wert. + +Als er mittags an der Apotheke vorbeiging, sah er drinnen Siebengeist +allein, und er trat ein. Der Provisor war mit leidenschaftlichen +Gebärden beschäftigt, in einer kolbenartigen Schüssel eine dicke, +weißliche Masse zu zerreiben. Philipp Unruh setzte sich auf die +geschnitzte Bank und entschuldigte sein Betragen vom gestrigen Abend. +Der Provisor lachte, schalt ihn einen kreuzverkehrten Bruder, machte die +lustigsten Grimassen, während er aus Leibeskräften zu reiben fortfuhr. +Plötzlich verdüsterte sich sein Wesen, und er erzählte andeutend und +abgerissen einiges von dem, was er über Myra erfahren hatte. Es schien, +als verlangte ihn selbst nach Rat und Klarheit, doch der Lehrer konnte +nicht Einblick gewinnen in das Wirrsal der Erzählung. Er schwieg +beharrlich, wünschte, nichts gehört zu haben, und Siebengeist fing +wieder an, gesichterschneidend seine Salbe zu reiben. Plötzlich beugte +er sich zu Unruh herab, flüsterte, den Mund nahe dessen Ohr und den Arm +gegen eine Tür im dunkelsten Hintergrund ausstreckend. »Es steht eine +dort auf der Schwelle und lauscht. Bin ich jemand verschuldet, der mir +die Taschen mit Geschenken vollstopft? Ich nahm von jeder Dirne im Haus, +wie es die Nacht gewollt. Darf man sich darum an meine Schuhe klammern +und meine Kraft verringern, das zu erobern, woran mein Leben hängt? +Wohlgemerkt, nicht jedes Spänchen Holz macht eine warme Stube!« Er hatte +den Lehrer unter den Arm gefaßt und den Verschüchterten scheinbar +absichtslos in die Ecke geführt. Nun riß er die Türe auf und sagte die +letzten Worte laut, fast schreiend. Vor den beiden stand die Baronin, +zitternd, linnenweiß im Gesicht und blickte gemartert den Flurgang +hinab gegen die Straße. Siebengeist lachte und schlug die Türe wieder +zu. + +Es kam nun so viel Schwüles, Überraschendes und Neues, daß die Zeit +gewissermaßen ihre Abgemessenheit verlor. Ein Umhertaumeln zwischen +Wissen und Erraten, zwischen Angst und Mut, zwischen Fülle und +Entbehrung, ein Atmen in zitternder Luft, Reden ohne Besinnung, Träumen +ohne Schlaf, Bilder, die vom Sturm vorbeigejagt und manche doch +dauernder als Stein. + +Philipp Unruh saß in der kleinen Schankstube des fränkischen Hofs. Es +war wieder kalt geworden, und die Scheiben zeigten Eisfiguren, trotzdem +die Sonne vom blauen Himmel schien. Der Wirt und ein Viehhändler aus +Nördlingen saßen kartenspielend beim eisernen Öfchen. Aber das Geknister +des lustigen Feuers wurde bald übertönt von zornigen und heiseren +Männerstimmen aus dem Theatersaal. Es ist eine Schauspielprobe, dachte +der Lehrer, jedoch trat alsbald der Bonvivant aus dem Theater in die +Schankstube, verlangte grimmig einen Krug Bier und erzählte grimmig in +demselben Atem, daß die sentimentale Liebhaberin sich weigere, dem +Kritiker ihren Verehrungsbesuch abzustatten. Dergleichen sei noch nicht +dagewesen, so lange man Komödie spiele zwischen Himmel und Erde, und sei +um so abscheulicher, als der Doktor Maspero ein charmanter Herr sei, +welcher vortrefflichen Schnaps vorzusetzen wisse. Der Wirt hieb mit +Geräusch die Trumpf-Aß auf den Tisch; der Viehhändler schielte den +Schauspieler bösartig an. Im Saale war es still geworden, und auf einmal +kam Myra heraus. Philipp Unruh schaute sie eine Sekunde lang mit +blinzelnden Augen an, sah dann feig in eine Ecke, und es schien ihm, als +sänken seine Schultern schwer gegen den Tisch. Das Mädchen hatte +purpurrote Wangen, doch ihre Stirne war bleich, ihr Blick leer, +unsicher, stechend, ihr Rücken ein wenig gekrümmt. Sie ging, als suche +sie einen Ausgang, und blieb dann stehen wie in eine Falle geraten. Herr +Schmalich kam hinter ihr her, und auf seinen Mienen drückte sich +Verlegenheit aus. Sie wandte sich gegen den Direktor und sagte leisen +Tones und mit erschreckender Schnelligkeit eine Reihe von Worten, welche +niemand verstehen konnte. Ihre Stimme wurde immer lauter, doch die Worte +verloren alle Artikulation. Aus dem Theaterraum kamen zwei dicke +Schauspielerinnen und der Heldenvater und spendeten lachend Beifall, +während der Wirt und sein Kartenkumpan aufgeregt näher traten. Jetzt +begann Myra selbst zu lachen, und zwar so, daß der Lehrer wie Einhalt +gebietend seine bebenden Arme gegen sie ausstreckte. Da stürzte sie auf +den Boden, und Schaum quoll von ihren Lippen. Alle waren stumm und blaß +geworden und rührten sich nicht. Philipp Unruh, der sich selbst und jede +Scheu vergaß, stürzte herzu, kniete auf den Boden, legte den Arm unter +ihren Hals, murmelte verstört vor sich hin und beugte suchend sein +Gesicht gegen das ihre. + +Er konnte es niemals vergessen. Niemals die halbgeschlossenen und +halberloschenen Augen, ob haßerfüllt, ob dankbar, er wußte es nicht. Er +konnte die nahe Wärme ihres Körpers nicht vergessen, das verwirrte +schwarze Haar, das seine Schläfen streifte. Er empfand immerfort den +Druck ihres Nackens auf seinem Arm, den Hauch ihres Mundes neben seiner +Hand. Als er zitternd in der Schankstube kniete, voll Furcht, daß man +sie ihm raube, wollte er an kein Weiterleben denken, welches sich nur +die Erinnerung zum Besitz machen konnte. + +Andere Dinge kamen. Ihr Name erfüllte die Luft bei allem, was geschah. +Der Apotheker schickte in mysteriöser Weise herüber, um Unruh holen zu +lassen. Als der Lehrer kam, schritt der blasse Baron in bedeutsamer +Gangart im Zimmer auf und ab, erklärte ganz ohne weiteres, daß der +künstlerische Geist im Ort gehoben werden müsse, daß er als Gemeinderat +bereits in solchem Sinn vorgegangen sei und eine gewisse Summe zur +Verfügung gestellt habe, um das treffliche Institut des Herrn Schmalich +für die Dauer des Winters zu subventionieren. Ja, dann käme ein neuer +Wind, ja, dann käme ein edles Feuer unter die lauen Gemüter. Er selbst +habe ein Theaterstück verfertigt; er wolle weiter nichts verraten, aber +es suche seinesgleichen. Darauf schob er an beiden Türen die Riegel vor, +lud seinen Gast ein, vor dem prachtvoll mit Wein und kalten Speisen +gedeckten Tisch Platz zu nehmen, rückte die Lampe zurecht und schlug +eine sehr dicke Handschrift auf. Dieses Drama aller Dramen beschäftigte +sich ausschließlich mit einer neuen und respektablen Idee, wie man die +Wälder vor gänzlicher Ausrottung schützen könne. Aber von alledem hörte +der Lehrer nur das eine, daß er nicht zu fürchten brauche, Myra heute +oder morgen entschwinden zu sehen, und er liebte dieses stundenlange +Trauerspiel, von welchem seine Hoffnungen sich lösten gleich farbigen +Abendwolken aus trübem Moor. + +Tag und Nacht, Dunkelheit und Sonnenlicht wechselten nach anderen +Gesetzen als bisher, wie wenn der Wille, dem der Weltkreis untertan, +neue Erscheinungsformen erdacht hätte. Es waren sonderbare Empfindungen, +die Philipp Unruhs Herz bestürmten, als er, beim Biere sitzend, in +demselben Raum wie wenige Stunden vorher, Myra sich gegenüber sah. Drei +Schauspieler befanden sich bei ihr am Tisch, und sie lächelte wie +jemand, der alles mit Entschlossenheit abgeworfen hat, was ihn +belästigte. Doch war das Lächeln fremd und unerklärbar durch seine +Dauer und verursachte, daß man das eigentliche Gesicht nur wie durch +eine unendlich dünne Maske erkennen konnte. Die Wangen waren noch ebenso +rot, die Stirn noch ebenso bleich, der Hals noch ebenso vorgestreckt, so +daß der Rücken gekrümmt erschien. Die verkniffenen Augen blickten +mißtrauisch, listig, ziellos, bis plötzlich eine Art Schrecken in sie +geriet, der sie aufriß. Sie sah den Lehrer nicht, sah überhaupt nichts. +Später lachte sie über alles, was der Komiker sagte, und darnach +erhielten ihre Züge einen halb unwilligen, halb trostlosen Ausdruck. + +Die Mutter Myras und der Galan kamen zurück. Sie hatten offenbar in der +Welt mehr Hunger als Vergnügen gefunden. Die ehedem wohlhabende Witwe +hatte schon alles verschleudert, was sie besessen. Mit der einen Hand +hatte sie Liebe gegeben, mit der andern Geld; dementsprechend war die +eine beschmutzt, die andere leer. Zwischen Trübsinn und überreizter +Laune verzehrte sich ihr Gemüt, und viele Stunden lang konnte sie damit +zubringen, sich zu schminken, zu putzen, zu verjüngen. Am ersten Tag +schon war es so, saß sie bis in den Nachmittag vor dem Spiegel, rechts +und links je zwei Kerzen, denn draußen war dicker Nebel. Dann kam der +Schauspieler, und Myra mußte gehen. Sie erhob sich vom Kaffeetisch und +ließ die volle Tasse unberührt. Der schlanke junge Mann, dessen Gesicht +etwas von einem Cäsaren und etwas von einem Schäferhund hatte, sah ihr +nach; er wußte genau, was sie bei ihm zurückließ, und sie, förmlich +verwundet von seinem Blick, ging die Gasse hinauf und traf Siebengeist +unter dem Turmbogen. Sie atmete schwer, hörte kaum die Worte ihres +Begleiters und bat, er möchte sie in den Wald führen. Sie wanderten also +gegen den Burgstall hinauf (so heißt der Wald), und es war, als +schritten sie durch feuchten, bleiernen, grauen Rauch, so dick und +lastend lag der Nebel. Siebengeist verstummte bald. Zufällig kam Philipp +Unruh von den Holzschuppen herüber und stand mit einem Mal vor dem +schweigenden Paar. Ihm war, als habe ihn ein Schuß getroffen, und es +rieselte ihm kalt durch Mark und Bein. Jählings deckten sich ihm +geheimnisvolle Beziehungen auf, die bisher gleichsam hinter Häusermauern +verborgen waren, und ein allgemeiner, aber stürmischer Menschenhaß +erwachte in seiner Seele. Doch wie es ihm aus Visionen vertraut war, +ging ihm Myra einen Schritt entgegen. Sie stand so nahe bei ihm, daß er +ein Schneeflöckchen auf ihren Wimpern gewahren konnte, welches langsam +zerschmolz. Schüchtern und freundlich sagte sie: »Sie sind gut gegen +mich gewesen, ich weiß es, ich danke Ihnen. Gehen Sie doch ein wenig mit +uns.« Er schaute zu Boden und lachte lautlos, stotterte zwei, drei +Worte. Dann schaute er vor allem den kindlich schönen Mund an, der dies +gesprochen, und ein unbezähmbarer Wunsch erwachte in ihm, der um sich +griff wie Feuer im dürren Buschwerk. Er wünschte, jenen Mund küssen zu +dürfen, nichts weiter; aber das versetzte sein Wesen in einen Taumel, +der ebenso nahe der Verzweiflung wie der Erfüllung war. Mehr als ein +Traum und eine äußerliche Begierde; mehr als das bloße Aufwachen zu +einem Wertbewußtsein; mehr als die Hoffnung auf ein mittelmäßiges Glück. +Es war der elementare Schmerz und Rausch des dumpfen Menschen, der mit +Raubtierkraft an Gittern rüttelt, deren Vorhandensein er nicht begreifen +will. + +Myra hatte plötzlich das Verlangen, Schneeball zu werfen. Alle drei +nahmen auf einem freien Stück Feld vor dem Wald Aufstellung. Das junge +Mädchen war fröhlich bei der Sache, und der Lehrer sog ihr Wesen in sich +auf wie Lebensnahrung. Er sprach nicht, weder bei dem Spiel, noch bei +dem Waldgang später. Eine innige, überzeugende Gestalt wandelte an +seiner Seite. Er hörte ihre gepreßten Worte, die sie aus allen Winkeln +des Raums zusammenzusuchen schien, und die sie unsicher sprach mit +milder Stimme und bittender Gebärde. Er sah, wie sie schüchtern Fragen +stellte und schüchtern lächelte, wie sie über nichts in der Welt +genügende Klarheit erhielt und jeden anstaunte, der mit Sicherheit eine +Behauptung aufzustellen wußte; wie vieles ihr gefiel und wie viel sie +besitzen mochte und wie sie zugleich darüber unruhig war und die Fülle +ihres Wünschens als Vergehungen empfand; wie sie mit Sympathie umgeben +war wie der Erdball mit Luft und wie sie gleichwohl fürchtete, von +jedermann gehaßt zu sein: ein Wesen aus Fleisch und Blut, eine von +denen, die für das Glück geschaffen scheinen. + + +Achtes Kapitel + +Siebengeist war ein großmütiger Lustigmacher, der sich selbst vergessen +konnte, um Myra zu erheitern. Wenn er anfing, zu plaudern und Gesichter +zu schneiden, blieb sie nicht ernst. Was trieb er doch nicht alles! In +derselben Stunde war er Fabulist und Taschenspieler, Schlangenmensch und +komischer Musikant, sprang über die Tische und parodierte die +Schauspieler, formte Damen aus Schnee und dichtete närrische Sonette +über seine Laufbahn als Apotheker. Myra hatte viel Freude an ihm. Sie +schenkte ihm einen schmalen Reif mit einem winzigen Rubin, und dafür gab +ihr Siebengeist ein goldenes Herz, welches die Inschrift trug: /vers Dieu +va./ Philipp Unruh fühlte sich als Zaungast und suchte Einsamkeit. +Unsichtbar ging Myra an seiner Seite bei den weiten Spaziergängen, +unsichtbar ging sie in seinem Haus umher. Unhörbare Reden wechselte sie +mit ihm, schenkte ihm Vertrauen, billigte seine Entschlüsse. So +erhielten sein Sehen und Denken, seine Gebärden und Worte eine +verzweifelte und verschwiegene Glut. Auf allen Wegen, an allen Mauern +stand ihr Name, und wurde er wirklich genannt, so erschrak der Lehrer +wie ein Verbrecher, der unerkannt die Früchte seiner Tat genießt. So vor +Doktor Maspero, der beim nächtlichen Heimgang von Myra sprach. + +Der Provisor sei ein Narr, meinte dieser gescheite Mann, und alle Welt +habe recht, ihn zu verdammen wegen seiner Narrheit. Was für eine +Bedeutung habe dies törichte Scharmuzieren? Ein bettelarmes Persönchen, +das weder hübsch noch klug sei und zweifellos einen wahnsinnigen Zug in +den Augen trage. Niemand wisse, was sie dabei wolle. + +»Ein altes Wort lautet: was ein Weib will, das will Gott,« murmelte der +Lehrer. + +»So? Eine jammervolle Sentenz, Schulmeister! Ich glaube, Ihnen sitzen +Gespenster im Magen. Sei's drum! Ich gönne jedem sein Plätzchen an der +Sonne. Gute Nacht.« + +Der Lehrer fühlte sich verlassen. Er blickte spähend durch die fallenden +Schneeflocken, als erwarte er einen Freund, mit dem er die Nacht +verbringen könnte. In der Tat tauchte eine schwarze, hagere Gestalt aus +der Finsternis auf. Es war der Herr Adjutant. Beim Anblick des Lehrers +packte er sofort begeistert seinen Hut, schwenkte ihn gegen das +Firmament und schrie den Abendgruß, als ob er seinem Landesfürsten +zujauchzte. Gleich darauf ging er wieder stelzengerade und lautlos +seines Weges weiter, und sein gravitätischer Schritt machte den Schnee +klirren. Philipp Unruh empfand auf einmal eine wunderliche Sympathie für +diesen Mann, der seine einsame Wohnung nur mit einem zärtlich geliebten +Affen teilte, dem er den aparten Namen Kümmerlich gegeben hatte. + +Neben der Post befand sich ein uraltes Gebäude, in welchem Myra mit +ihrer Mutter wohnte. Die zwei Fenster waren erleuchtet und durch gelbe +Rollvorhänge verdeckt. Der Lehrer stand im Schnee auf der andern Seite +der Gasse und lehnte sich an die Türe des Kürschnerladens. Eine +Silhouette ward auf dem Vorhang sichtbar: das Profil eines Mannes, das +auftauchte und verschwand. Dann erschien derselbe Kopf noch einmal, nahe +beim Fenster und deshalb sehr klein und scharf und wurde unter +beständigem lebhaften Nicken immer größer. Ein zweites Bild, ein +Frauenhaupt erschien daneben, und beide verharrten nun in Ruhe, als ob +sie sich unverwandt ansähen, neigten einander zu, wichen von neuem +zurück, und gleichzeitig erschien am zweiten Fenster ein anderer +Schatten, bei dessen Anblick sich Philipp Unruhs Stirne unwillkürlich +verdüsterte. Dieser Schatten, klar begrenzt von Licht, war den beiden +übrigen bewegungslos zugewandt, als flösse sein Dasein von ihnen aus. +Haare fielen abenteuerlich in die Stirn, deutlich war die feine Nase +gezeichnet, deutlich der verschlossene Mund. Das ganze Spiel der drei +körperlosen Gestalten hatte etwas so Unwirkliches und Phantastisches, +daß der Lauscher bisweilen staunend in die Dunkelheit starrte, auf die +friedlichen Häuser im Umkreis, und mit eigentümlicher Gewalt die Ruhe +spürte, die in allen schneebedeckten Gassen ausgebreitet war. Aber dies +erschien ihm nur als ein täuschendes Kleid, unter dessen unbewegten +Falten verheerende Leidenschaften brüteten, um die Erde zu bedrohen und +zu erschüttern. Er selber war ergriffen, ja gefoltert und wagte nicht, +darüber ins klare zu kommen. Ungeduldigen neuen Lebens voll, sah er +millionenfaches Leben um sich in eisiges Schweigen gehüllt durch die +stummen Kräfte der Natur. + +Nun geschah etwas Sonderbares. Die beiden Schatten erhoben sich +gleichzeitig, ohne von einander zu weichen. Der dritte Schatten streckte +die Arme aus, flehentlich oder beschwörend. Dann glitt der eine +Frauenschatten zum zweiten Fenster. Die ausgestreckten Arme fielen +herab, und die ganze Gestalt versank. Die zweite wuchs geisterhaft +empor, beugte sich auf und nieder mit beängstigender Hast. Die +Silhouette des Mannes stand regungslos, eine Hand gegen das Gesicht +gepreßt, -- und plötzlich ward alles schwarz und finster. + +Der Lehrer seufzte bang. Unschlüssig und erratend stand er da, als ein +Tor zugeschlagen wurde und jemand auf die Straße gestürzt kam. Unruh +sah, daß es Myra war, in bloßen Kleidern, ohne winterliche Hülle, und +mit einem halben Ausruf schritt er ihr entgegen. Mit tastendem Schritt +näherte sie sich ihm, und er spürte ihre Hand in seinen Arm sich +förmlich einkrallen. Mit einem Blick, der von Angst, Erschöpfung und +Verzweiflung stier geworden war, schaute sie gleichsam durch sein +Gesicht hindurch. Das alles geschah lautlos. Auch im Hause regte sich +nichts, und die Fenster oben blieben schwarz. + +Philipp Unruh sah ein Geschöpf vor sich, auf dessen Wort und Aufschluß +er nicht rechnen durfte, das nur noch mit einem Schein äußeren Lebens +begabt, sich ihm überließ wie ein Gegenstand. Die augenscheinliche +Gefahr, die außerordentlichen Umstände verliehen ihm Besinnung und Kraft +des Entschlusses. Seine scheuen, dumpf brennenden Gefühle verkrochen +sich in der Stunde der Tat. Er nahm Myra auf den Arm und eilte mit ihr +durch die Nacht dem Schulhaus zu. Leicht schien ihm seine Last, aber das +ungewisse Vibrieren des Körpers in seinen Armen ließ beinahe sein Blut +stocken. Die leere, stumme Nacht eilte vor ihm her und verwirrte seinen +Blick. Er fragte sich gar nicht, wohin er anders mit der willenlosen +Myra gehen könne, als in seine eigene Behausung. Er hörte hinter sich, +doch ziemlich ferne schon, Stimmen in der Finsternis, und eine davon +schrie in hellem Ton immer wieder dasselbe Wort. Er achtete nicht +darauf, sah nur mit Neugierde und Mißtrauen die Straße entlang, denn ihm +schien, als sei er in ein bisher unbekanntes Land geraten. + +Das Schulhaus, ihm längst vertraut in jedem Winkel, barg heute Gefahren. +Unter dem Stiegeneck waren glänzende Augen. Hoch im Gitterfenster +leuchtete ein verräterisches Licht. Es war kein Mensch im ganzen +Gebäude, denn die Wirtschafterin schlief im Haus des alten Löwy. Bis zur +Kraftlosigkeit ermattet, nach Atem keuchend, schleppte er Myra die +Treppen empor, stieß die Zimmertüre auf, legte das junge Mädchen auf das +Bett und machte Licht. + +Sie hatte die Augen geschlossen. Zum erstenmal sah er ihr Gesicht +bleich. Er benetzte ihre Schläfe mit Wasser und murmelte ihren Namen vor +sich hin. Sie rührte sich nicht. Er legte das Ohr auf ihre Brust, und +als er keinen Herzschlag vernahm, wurden vor Schrecken seine Augen +feucht. Die verbrecherische Kraft eines kaum geahnten Wunsches habe ihn +gezwungen, sie hierherzubringen, so glaubte er jetzt. Er riß das Fenster +auf, um jemand zu erspähen, der zum Doktor laufen könne. Aber der Hof +lag finster und öde. Er schrie: Johanna! dann: Kunigunde! und noch +einige, denen er vielleicht den Schlaf aus den Lidern rufen konnte. Er +rannte ins Schulzimmer, schaute dort hinaus, straßauf, straßab, aber er +wurde nichts gewahr als eine drückende Verlassenheit, die sich zu regen +schien unter dem gleichmäßigen Fall der Schneeflocken. + +Jedoch als er zurückkam, von Frost und Angst geschüttelt, saß Myra +aufrecht im Bett. + +Sie lächelte; ein wunderliches, stumpfes, unveränderliches Lächeln. Die +schöne Rundung der Unterlippe, die feine, etwas träumerische Linie der +oberen traten in bezaubernder Klarheit hervor. Von einer eigentümlichen, +furchtsamen Freude ergriffen, sagte der Lehrer: »Sie sind wach?« und +seine Stimme bebte. Sein Beginnen kam ihm frevelhaft vor. Er hatte sich +ihrer bemächtigt, das war es. Eine Verantwortung nahte, vor der er +zusammenbrechen würde. Er bewunderte und fürchtete zugleich jene Person, +die er selbst noch vor einer halben Stunde gewesen war, jene wild und +unbekümmert handelnde Person. Sorgenvoll und überlegend stand er auf der +Schwelle, der Rechenschaft gewärtig, die man von ihm fordern würde. +Aber in seiner innersten Seele ergriff er Besitz von Myra und ging mit +sich zu Rate, ob er nicht das Tor vor Eindringlingen schützen solle. +Endlose Stunden der Nacht würden folgen, und am Morgen? Das Ende von +allem. + +Das junge Mädchen schauderte vor der hereinfließenden Kälte, und so +schloß er die Türe. Er setzte sich an das Bett und fragte Myra, ob sie +krank sei, er wolle gehen und den Arzt holen. + +Sie antwortete nicht, sondern blickte aufmerksam ins Licht der Lampe. +Mit traurigen Augen sah sie der Lehrer an. In wahrhaft ungestümer Gewalt +erwachte der Wunsch in ihm, den so nahen Mund zu küssen. Überlegungen +wie Kriegspläne formten sich, und er blickte dabei zurück auf sein Leben +wie in eine graue, regnerische Heide. Er lehnte die Stirn an den +Bettpfosten und fing unvermittelt zu weinen an wie ein Knabe. Die +Erkenntnis seiner Leidenschaft und seines leidenschaftlichen Gemütes +machte ihn in hohem Grade bestürzt, wie es oft bei religiösen und +einsamen Naturen der Fall ist. + +»Ach, du bist es, Wilhelm?« sagte Myra tonlos. »Warum liest du mir nicht +vor? Lies mir doch vor aus dem lustigen Stück.« Sie lächelte wie früher +und legte ihre Hand auf die seine. Philipp Unruh richtete sich auf und +hielt zitternd ihre Hand fest. Er vermeinte seine eigenen Gedanken zu +sehen, wie sie auf einmal wirr und schwarz wurden. + +»Nimm dasselbe Buch,« fuhr Myra leise fort. »Du weißt, was du auf eine +leere Seite geschrieben hast. Es war das Schönste, Seligste. Die Mutter +hat es gelesen und kam mit dem Messer gegen mich. /Oh, cela ne fait rien,/ +sagt Madam Biraud. Du siehst es ja, ich lache und jetzt lies, lies vor!« + +Als Philipp Unruh zögerte, wurde sie ungeduldig, und ihr Mund verzog +sich gramvoll. Da griff er mechanisch nach jener Ansbacher Chronik, die +ihm allein von seinen Büchern geblieben war, blätterte mit bebenden +Fingern und las von alten Ereignissen, vom markgräflichen Leben am Hof, +von den Emigranten, von Denkmälern und Baubefugnissen, von Pest und +Kriegsplage, kurz, was eben in solch einer Chronik Wichtiges zu stehen +pflegt. Inhaltsloser und sinnloser waren ihm niemals Worte vorgekommen. +Ihm schien, als grübe er Staub aus finstern Verstecken. Myra lauschte +entzückt jeder Silbe und freute sich, als ob es eine amüsante Szene sei, +deren Entwicklung sie zu hören bekomme. Allmählich wurden ihre Züge +schlaff; sie lehnte sich zurück, ihre Augen schlossen sich, und sie +schien zu schlafen, während der Lehrer aufgewühlten Herzens weiter las, +den stillen Raum mit seinen monotonen Lauten füllend. + +Plötzlich fuhr Myra empor. »Glaubst du es denn nicht,« rief sie aus, mit +einer inbrünstigen Hingebung in ihrer Stimme, in ihren Geberden, in +ihrem Gesicht, »glaubst du es denn nicht? Für dich könnte ich ja +sterben!« Sie lachte glücklich und fiel wieder auf das Kissen zurück. + +Philipp Unruh schlug die Chronik zu und stützte den Kopf in die Hand. +Ihm war bang und weich zu Mut. Diese Worte, gleichviel ob sie ihm galten +oder nicht, waren nun zu ihm gesprochen worden. Er durfte die +Vergangenheit vergessen, ohne sie betrauern zu müssen. Diese Worte +brachten sein Gemüt in Schwingung, wie der Glockenschall die Luft in +einer Kirche bewegt. Er wußte, eine solche Stunde des Zutrauens, eine +solche Nacht der Wunder würde nicht wiederkehren in seinem Leben, und +unersättlich sog er alle Hoffnungsmöglichkeiten in sich ein, als könne +dadurch seine Zukunft beschützt werden. Ringsum war alles Leben +lebendig, geschmückt durch Hingabe und Zärtlichkeit, ja selbst durch +Gefahr und Tod. Denn der Tod ist es wert, gestorben zu werden, wenn er +etwas raubt, das zu besitzen sich lohnt. So wurde sein Geist +weitschauend durch die Macht eines Augenblicks, welcher die Ewigkeit +enthielt. + +Er überzeugte sich, daß Myra nun wirklich schlief, und erhob sich +geräuschlos. Er legte das Buch auf die Lade und dachte angestrengt nach. +Wenn Myra krank lag und im Fieber redete, was sollte er dann mit ihr +beginnen? Die Leute waren zu fürchten, denen der Tag Kunde bringen +würde, wer nächtlicherweile in des Lehrers Haus eingezogen sei. Darüber +mußte er wachen, mehr als über sein Glück. Höher als dies stand ihm die +Sitte. Sie regelte nach seiner Überzeugung den Mechanismus der Welt im +kleinen wie im großen. + +Es war keine Zeit mehr zu versäumen. Betrübt warf er seinen Mantel +wieder um die Schulter, trat neben die Schlafende und blickte lange auf +das regungslose Gesicht, dem der Schlummer einen vergrämten und +angestrengten Ausdruck verliehen hatte. Dann stellte er die Lampe auf +den Schrank und ging leise hinaus. Er wollte zu Siebengeist, um mit ihm +zu beraten, was hier zu tun sei. + +Ohne das Tor zu versperren, betrat er die Straße. Es schlug zwölf Uhr +vom Turm. Der Himmel war klar geworden und zitterte vor Kälte. In +graublauer Dämmerung lagen Dächer und Giebel. + + +Neuntes Kapitel + +Nachdem er den Glockenstrang bei der Apotheke gezogen hatte, öffnete +sich unter dem spitzen Dachwinkel ein Fenster, und eine dünne +Mädchenstimme schrie herab, daß kein Mensch zu Hause sei. Die +Herrschaften und der Provisor seien auf dem Ball beim »Ratgeber«. Der +Provisor käme erst in einer Stunde zurück, und solang müßte man warten +oder zum Ratgeber schicken. + +Der Ratgeber war ein Hotel, welches sich eine Viertelstunde außerhalb +des Städtchens, auf der sogenannten »Höhe« befand. Dort schloß sich +unmittelbar der Wald an, der sich dann weit hinein erstreckt ins +mittlere Franken. Philipp Unruh entschloß sich rasch zu der Wanderung, +und noch auf der Landstraße sah er oben am Waldrand die strahlenden +Fenster und hörte, von Schritt zu Schritt deutlicher, den Brummbaß der +Tanzmusik. Es war eine Art Faschingsball, den die Gemeinde selbst +alljährlich mit großem Prunk veranstaltete. Dort waren nicht nur die +größten Notabilitäten des Ortes, sondern auch der Präsident des Kreises +anzutreffen, der von Ansbach herüberkam. + +Fern auf dem Bahnhof klirrte das Eisen der Waggons, welche rangiert +wurden. Der Schnee der Straße schimmerte hell. Die Sterne standen am +Himmel und schaukelten unruhig wie Lichter im Wasser. + +Wo sich der Weg gegen die Anhöhe hinaufbog, stand, auf der Landstraße +noch, ein kleines Wirtshaus. Im größeren Raum waren Knechte und Dirnen, +die nach der Musik einer Mundharmonika tanzten. Wie sich die Paare beim +düstern Schein einer Öllampe drehten, das gab ein wüstes und grelles +Bild. In der kleinen Stube lehnte ein Mann gegen das Fenster, die Stirn +gegen die Scheibe gepreßt, und der Lehrer erkannte sofort Apollonius +Siebengeist. Der Provisor seinerseits hatte ihn nicht wahrgenommen, denn +kein Zug veränderte sich in seinem Gesicht, welches trüb und verzerrt +aussah. Philipp Unruh bemerkte, daß das Zimmer leer war, und schritt dem +Eingang zu. Der Wirt begrüßte ihn mit einem lärmenden Freudenausbruch +und führte ihn durch einen stockfinstern Gang. Ohne daß es beide +merkten, folgte ihnen eine Frauengestalt, welche vom Ratgeber +herabgekommen war. Und als der Lehrer die Schwelle überschritt, drängte +sich jene vor und lief mehr als sie ging, auf Siebengeist zu. Sie hatte +eine schwarze Larve vor dem Gesicht, einen glatten langen Mantel über +dem Ballkleid, und ihre Augen leuchteten unnatürlich. »Ich wußte es ja, +daß du hier bist,« sagte sie mit heiserer Stimme. »Du machst den +Wegelagerer, lauerst einer Komödiantin auf.« -- »Was soll das?« +entgegnete Siebengeist mit merkwürdiger Geduld. »Ja, ich erwarte sie, +aber sie kommt nicht, kommt nicht, trotzdem sie es versprochen hat.« +Seine Stimme klang müde, und er veränderte seine Haltung nicht, sondern +blickte fortwährend durch das Fenster auf die nächtliche Straße. Der +Wirt hatte das Gesicht in die Türspalte gepreßt und grinste freundlich +und lauernd. Philipp Unruh ergriff die Klinke und schloß mit sanftem +Druck die Tür. Dann räusperte er sich achtungsvoll, um seine Anwesenheit +kundzugeben. Der Raum hier war wie eine Fortsetzung des engen Flurs, und +nur gegen das Fenster hin verbreitete die Kerze spärliches Licht, die im +Hals einer Weinflasche auf dem Tisch stand. + +»Was sorgst du dich, Liebster?« begann die Frau wieder und machte eine +flehentliche Gebärde. »Sieh mich doch an, bitte. Befiehl mir, daß ich +sie herbeiholen soll, die du liebst, und ich werde es tun. Befiehl mir, +aber sieh mich an, errette mein Leben.« -- »Wie kann ich dein Leben +erretten, da du meines zerstört hast,« erwiderte Siebengeist, starrer +noch als bisher. »Ich habe nicht besitzen dürfen, weil deine Künste mich +schwach werden ließen. Deine Verlockungen haben meinem Wunsch die Kraft +genommen, deshalb bin ich nicht würdig, das beste zu besitzen. An dir +hab ich mich verschwendet. Also geh in dein Haus und sei zufrieden.« + +Das Weib nahm ein Glas mit Wein vom Tisch, schleuderte es zu Boden, daß +die Scherben klirrten, und rief verzweifelt: »Dann soll _mein_ Wunsch +kraft haben, denn ich wünsche ihr den Tod!« Damit fiel sie in die Kniee, +rang die Hände und lehnte das Gesicht an die Hüften des regungslosen +jungen Mannes. + +Der Lehrer verharrte eine Zeit lang völlig gelähmt in dem Winkel +zwischen Tür und Ofen. Er dachte, gänzlich sich selbst entfremdet: die +Liebe ist eine Gewalt, welche den Menschen erniedrigt. Er dachte, daß es +besser sei, nicht zu wissen, als im Wissen zu sündigen. Wo früher rings +um ihn her ein friedliches Einerlei sich gedehnt, sah er jetzt +Gesichter, aus denen die Aufregungen des Leidens und des Verlangens +redeten. Es war, als ob ein träges, aber starkes Wesen in ihm schwere, +staunende Augen aufschlüge. + +Unter dem Zwang seines Anstandsgefühls trat er endlich mit vernehmlichem +Schritt gegen den Tisch zu und wünschte guten Abend. Die Baronin stutzte +und erhob sich rasch. Siebengeist drehte sich lässig um und blickte dem +Lehrer forschend, jedoch nicht ohne Freundlichkeit ins Gesicht. »Ich +komme,« sagte Philipp Unruh, indem sein eigenes Zimmer wie eine Insel +der Sehnsucht vor ihm aufstieg, »ich komme, um Ihnen, Herr Siebengeist, +etwas mitzuteilen.« Der Provisor, voller Ahnung, zog den Lehrer in den +entgegengesetzten, dunklen Teil des Zimmers. Seine Augen waren +umschattet und hatten einen zersplitterten Blick; die Stirn war unruhig; +das ganze sympathische Gesicht glich dem eines Spielers, der im Begriff +ist, einen hohen Einsatz zu verlieren. + +In schwerfälligen Worten brachte der Lehrer heraus, was sich ereignet +hatte. Ohne zu zaudern, ohne einen Laut von sich zu geben, warf +Siebengeist den Pelz um die Schultern, stülpte die Kappe über, winkte +dem Lehrer durch eine Handbewegung, ihm zu folgen, und beide eilten nun +hinaus und die Landstraße hinab. Als sie das Schulhaus erreicht hatten +und die enge Treppe emporklommen, war kaum eine Viertelstunde vergangen. + +Der Lehrer öffnete die Tür. Sein Blick fiel auf das Bett, welches leer +war. Myra war nicht im Zimmer. Jetzt erinnerte er sich, daß das Haustor +nur angelehnt gewesen war. »Sie ist fort,« murmelte er tonlos, und Kälte +rieselte über seinen schweißbedeckten Körper. »Hier lag sie auf dem +Bett, sehen Sie.« Und da er sich der Worte entsann, die sie zu ihm +gesprochen, verstummte er und schaute nachlauschend gegen die Wand, als +ob von dort ein Wiederhall ausflösse. + +»Was haben Sie gemacht, Schulmeister? Haben Sie geträumt?« stieß +Siebengeist hervor. Er rückte die Kappe gegen den Hinterkopf und legte +die Hand über die Stirn, die von wirren, nassen Haaren bedeckt war. Dann +griff er nach einem Gegenstand, der auf dem Tisch lag, mitten auf einem +weißen Blatt Papier. Es war das Herz mit dem /vers Dieu va./ Ein Zucken +ging über sein Gesicht, und er biß die Lippen zusammen. Das goldne Ding +fiel auf die Erde. -- »Vielleicht ist sie nach Hause zurück,« flüsterte +Siebengeist fragend, und Philipp Unruh gab durch Haltung und Blick seine +Willfährigkeit zu allem kund. Auf der Straße trafen sie den Nachtwächter, +welcher sehr betrunken war. Er wußte von nichts, nicht einmal ob es Tag +oder Nacht war, hatte niemand gesehen. Sie läuteten vor dem Haus, wo +Myras Mutter wohnte, und nach einiger Zeit kam eine Person von +ungewöhnlicher Beleibtheit zum Vorschein. Diese Person glich einem +Laubfrosch; sie trug einen moosgrünen Schlafrock und hatte einen +Schnurrbart, obwohl sie ein Weib war. Mit schnarrender Stimme berichtete +sie, daß der Schauspieler und die Frau vor einer Stunde mit dem +Münchener Eilzuge abgereist seien. Das junge Fräulein aber sei seit dem +Abend nicht heimgekehrt. Siebengeist reichte der Dame ein Talerstück und +bat in atemlosen Sätzen, sie möge ihm für ein paar Stunden eine gute +Laterne leihen. + +Sie wanderten über den Markt und über die Altmühlbrücke gegen die +Dinkelsbühler Landstraße hinaus mit ihrer Laterne. Schweigend legten sie +ihren sinnlosen Weg zurück, während der Schnee im Lichtschein glitzerte. +Beide waren von derselben Ahnung, derselben Unruhe aufs äußerste erregt, +aber jeder scheute des andern Wort oder Frage. Bisweilen blieb +Siebengeist stehen, hielt die Laterne hoch oder stieg auf einen +Meilenstein und spähte in das lautlose, finstere Winterland. »Jetzt +wollen wir auf Theilheim zu,« sagte Siebengeist, und mit einem Auflachen +fügte er hinzu: »Glauben Sie denn, daß eine einzige Nacht genügen wird, +sie zu finden?« -- »Es sind Wälder hier herum,« entgegnete der Lehrer. +»Aber es ist möglich, daß sie noch im Ort ist.« -- »Es ist möglich, ja. +Was ist nicht alles möglich! Es ist möglich, daß sie verschwunden +bleibt, und ich habe nicht ein einziges Mal -- --« »Was? --« »Diesen +wunderbaren Mund küssen dürfen.« Siebengeist blieb am Flußufer stehen, +warf den Kopf ein wenig zurück und drückte die Augen zu. Der Lehrer +entgegnete nichts darauf. + + +Zehntes Kapitel + +In derselben Nacht noch, gegen die Morgenstunden, kamen Tauwinde aus dem +Süden. Siebengeist und der Lehrer waren heimgekehrt und verbrachten +miteinander den schlaflosen Rest der Nacht in des Lehrers Zimmer. +Abgerissene Erzählungen überdeckten die suchenden Gedanken. Siebengeist +lachte über den Gang mit der Laterne, so wie nur er zu lachen verstand, +und der Lehrer dachte wieder: ein Adonis. Jedoch glaubte er sich +bevorzugt wie durch unvertilgbare Versprechungen. + +Zwischen sechs und sieben Uhr schlief er noch einen kurzen Schlummer der +Müdigkeit. Er träumte, daß er sich in den Affen Kümmerlich verwandelt +habe, daß er auf dem Dach des alten Turmes stehe und Grimassen schneide, +über die die ganze Welt und insbesondere eine Frau mit einer schwarzen +Larve unbändig lachen mußte. Doch wunderlicherweise hatte dieser Traum +für ihn etwas Quälendes, vielleicht deshalb, weil die Höhe des Turms ihn +trotz aller Grimassen mit Angst erfüllte. + +Als er um neun Uhr am Schulfenster stand und gleichgültig die +Ziegelmauern der Synagoge anstierte, liefen auf der Straße Menschen +zusammen. Ein Milchbauer hatte auf seinem Handwägelchen einen großen, +dunklen Gegenstand liegen, der sich wie ein menschlicher Körper ausnahm. +Der Milchbauer redete eifrig mit den Leuten und zwinkerte dabei erregt +mit den Augen. Der Lehrer öffnete das Fenster und rief hinunter, was es +denn sei. Man habe ein Mädchen erfroren auf dem Feld gefunden, hieß es, +und diejenigen, die das sagten, es war der Schmied, ein Marktweib und +der alte Löwy, gebärdeten sich außerordentlich sachkundig. Auch der +Bäcker kam aus seinem Laden, indem er den Mehlstaub von den dicken +Schenkeln klopfte. Die Kinder im Schulzimmer verließen alle ihre Plätze, +drängten sich mit Wildheit an die Fenster, und Philipp Unruh sah sich +alsbald seines Aussichtspunktes beraubt, da eine Horde von schwatzenden +Mädchen ihn umringt und zurückgeschoben hatte. Er fand kein strafendes +Wort, sondern blickte geistesabwesend auf einen der blondhaarigen +Kinderköpfe. + +Schnell wie Strohfeuer lief das Gerücht umher, daß eine Schauspielerin +von Herrn Schmalichs Truppe erfroren in den Feldern gefunden worden sei. +»Se woar im Schneei douglegn wier in ihrn Bettla,« sagte der Milchbauer +zu Doktor Maspero, der den Leichnam besichtigte. Auch der Bürgermeister +und ein gerichtlicher Funktionär stellten sich ein, und die Leute, die +den Totenwagen fuhren, zeigten sich verdrießlich über die Arbeit, die +nichts trug. + +»In diesem begabten Mädchen steckte das Zeug zu einer Ophelia,« sagte +Herr Schmalich zu den Mitgliedern seiner Truppe, als er die +Gedächtnisrede während der Probe hielt. Dann kam noch etwas vom Pantheon +der Kunst, vom Kampf ums Dasein und weiblicher Tugend. + +Die wahrhaft vornehmen Kreise nahmen das Ereignis mit Güte und Ruhe hin. +Nur die Frau Assessor, welche eine unglückliche Schwärmerei fürs Theater +hegte, schickte einen Immortellenkranz mit einer blaßroten Schleife, auf +welcher ein nicht weniger blasses Verslein zu lesen war. Die Frau +Oberamtmann geriet darüber in eine boshafte Aufregung und erzählte die +ganze Geschichte im Kasinohof dem Herrn Adjutanten. »Kann solche +Dummheit überboten werden!« rief die bewegte Dame aus. Der Herr Adjutant +lächelte verzwickt, und als er zu Hause war, stellte er sich breitbeinig +vor seinen Affen hin und redete ihn an: »Was sagst du, mein lieber +Kümmerlich: ist es nicht rätselhaft, wie selbst die Dummen merken, daß +die Dummen dumm sind?« Das Äffchen grinste höflich. + +»Der Tod ist ein Ereignis, mit welchem man rechnen muß,« sagte der Baron +Apotheker ernst und poetisch gestimmt zu seiner Frau, welche wie +versteinert am Bücherregal lehnte, mit herabhängenden Armen und +verschränkten Fingern. Ihr sonderbares Wesen veranlaßte den Dichter kaum +zu einem flüchtigen Nachdenken. Solche Naturen sind wie Messer ohne +Klingen. Sie gleichen einem Schützen, der in der drohenden Pose des +Anschlags steht, aber statt der Flinte ein Spazierstöckchen zwischen den +Schultern hält. Sie kriechen herum wie aufgeblasene Regenwürmer und +vermeinen einen Adlerflug zu nehmen. Bis zu ihrem Sterbebett werden sie +den Tod für ein Ereignis halten, das Beachtung verdient. + +Die junge Frau schleppte sich mühsam eine Treppe empor und pochte an +Siebengeists Zimmer. Da alles still blieb, drückte sie auf die Klinke, +jedoch die Tür war verschlossen. Da pochte sie abermals und rief ein +bittendes Wort, allein sie erhielt keine Antwort. Ihr schwindelte. Sie +ging herab in die Apotheke und fragte den zweiten Gehilfen, wo das +Strychnin sei. Im Grunde wußte sie, daß sie sich des Giftes nicht +bedienen würde. Auch sie war angesteckt vom Lügengeist des Herrn. Auch +sie hielt sich, wenn nicht für einen Adler, so doch für eine Schwalbe, +eine sehnsüchtige, nestsuchende und war nur ein armes Würmchen. + +Es war ein träumerischer Tag. Der Himmel, mattblau, grünlichblau, war +von schleierdünnen Wolken durchzogen. Allenthalben lief geschäftig +murmelndes Tauwasser zu Bächen zusammen. Durch den schwarzgesprenkelten +Ackerschnee ragten die Stoppeln vom letzten Herbst. Bis zu den fernsten +Waldgrenzen dehnte sich der Horizont, und die Februarsonne füllte das +Land mit frühlinghafter Wärme. + +Gegen die Zeit der Dämmerung kam Siebengeist zum Lehrer Unruh. »Machen +wir einen letzten Gang,« sagte der Provisor, dessen Augäpfel auffallend +ruhelos unter den Lidern hin und her irrten. Der Lehrer wußte sich nicht +zu erklären, was damit gemeint war, aber er folgte. Für ihn hatte die +Gegenwart noch keine Zunge. Wie ein Trunkener vergißt, was ihn trunken +gemacht, so hatte er die Ursache dessen, was in ihm wühlte, aus der +Empfindung verloren. Er begann nach rückwärts zu leben. Er erkannte sich +selbst und das, was aus ihm geworden war, mit der Klarheit einer +Halluzination. Ganz anders als früher schien es ihm jetzt seine eigene, +angeborene Sprache, wenn er redete, schien ihm sein Gefühl, was er +empfunden, und sein Urteil, was er beschlossen. Das Bild der Welt und +ihrer Menschen verlor völlig den Anschein der Selbstverständlichkeit und +des Unumstößlichen, und aus allen Dingen, aus allen Ereignissen, aus +jedem Gesicht, aus jedem Hinschwinden des Tages und der Nacht tauchte +etwas ungeheuer Geheimnisvolles auf, das ihn schaudern machte und ihn +mit einer noch ganz anderen Trauer erfüllte, als derjenigen, die er in +Siebengeist beobachtete. Aber wie sonderbar! Darüber schwebte wie das +Licht über einem finstern Wald etwas wie Freiheits- und +Einsamkeitsfreude. + +Sie waren zum Leichenhaus gewandert, einem Backsteinhäuschen, das +verlassen in der Abenddämmerung lag. Siebengeist ging zur +Totengräberwohnung und ließ aufsperren. Der Mann, unter dem Druck von +Siebengeists Hand willfährig geworden, brachte eine Art Stallämpchen mit +einem Blendblech und ließ die beiden allein. Zwei Särge standen +inmitten des Raums, halb aufrecht gegen eine Bank gelehnt. In dem einen +lag eine Greisin, deren Lider nicht ganz geschlossen waren, so daß sie, +was vor sich ging, argwöhnisch zu beblinzeln schien. Ihr Gesicht war +gelb wie frisches Baumholz und hatte einen außerordentlich höhnischen +und feindseligen Ausdruck. Auf ihrer faltigen Stirne lief gemächlich +eine Fliege umher. Der ganze Kopf bekam überdies durch eine hohe weiße +Haube mit blauen Bändern ein theatralisches und bizarres Aussehen. + +Daneben lag Myra. Auf der einen Wange war ein seltsamer roter Fleck, wie +ein Überbleibsel des Lebens. Die Unterlippe war ein wenig herabgesunken, +wodurch das Gesicht müde, fast schlaftrunken aussah. Die Stirne sah aus +wie geschliffen, und um die Augen lag ein abweisender, kindlich +überlegener Zug. Die Hände waren leicht gefaltet. Der Ärmel des Gewands +wurde leise von der Abendluft bewegt und erzeugte einen tierähnlichen +Schatten über den Fingern. + +Siebengeist kniete nieder und legte still den Kopf auf den Sargrand. +Sein Rücken begann zu zucken, und die rechte Hand suchte den Boden. Der +Lehrer dachte etwas Unbestimmtes, Frommes über den Tod, verwarf aber +leidenschaftlich diese Gedanken wieder und zwang seine Blicke, auf dem +mißtrauischen Gesicht der alten Frau haften zu bleiben. Er ärgerte sich +über die freche Fliege, die wie schlafend auf einem Augenlid saß. Und +plötzlich sah er, wie Siebengeist sich ein wenig erhob, seine Lippen +langsam dem Antlitz Myras näherte, und wie er lautlos seinen Mund auf +ihren toten Mund drückte. + +Philipp Unruh stieß einen schwachen Schrei aus und fühlte den Boden +unter sich wanken. Ihm brannte die Kehle und das Herz und das Gehirn, +als ob er im Feuer stände, aber mit unbegreiflicher und erschreckender +Raschheit kehrte eine eisige Ruhe in ihn zurück. Er legte die Hände vor +die Augen und kehrte das Gesicht dem Kirchhof zu und dem Stückchen Wald +hinter der Mauer. In diesem Augenblick hatte er Tod und Leben +gleichzeitig in einem elementaren Bild empfunden. + +Beim Heimwärtsgang stand die Mondsichel über den Dächern des Städtchens. +Von der Eisenbahn tönte ein langgezogenes Hornsignal herüber. Die +Dunkelheit ist lästig und drückend, dachte Philipp Unruh. Er begann den +Tag der Nacht vorzuziehen, wo eine bittere und verschwommene Traurigkeit +so leicht Nahrung finden konnte. Sie gingen hinter den Gärten am Rand +der Äcker und Siebengeist fing an zu reden. Er gefiel sich in Kapriolen +des Geistes, in blasphemischen Anklagen, seufzte schwer und war dann +wieder still. Alles nahm sich wie beabsichtigter Wahnsinn aus. Von +seinem hübschen Gesicht war wie im Rausch jede Besonnenheit +verschwunden, und was er tat, trug das Zeichen von überhebendem Schmerz. +»Gute Nacht, Schulmeister,« sagte er. »Meine Seele ist leer wie ein +ausgebranntes Haus.« + +Was er doch für Worte gebraucht, dachte der Lehrer. Er verspürte +plötzlich einen nagenden Hunger, denn seit vielen Stunden hatte er +nichts gegessen. Er trat neben dem Schulhaus in den Laden des Bäckers +und verlangte frisches Schwarzbrot und ein wenig Butter. + +»Ach du _mein_ Gott, sieht man den Herrn Lehrer auch einmal,« sagte der +Bäcker, und mit halb pfiffigem, halb verlegenem Gesicht schraubte er das +blakende Licht tiefer. Er war eigentlich recht bestürzt, denn auf dem +Ladentisch vor sich hatte er einen großen Folianten aus des Lehrers +Bücherkiste liegen. Er hatte sich eben nach Herzenslust an einer +Kriegsbeschreibung ergötzt. Der Lehrer sah sogleich das Buch und schlug +erstaunt die Hände zusammen: »Herr Bäckermeister, Sie wissen wohl gar +nicht, wessen Eigentum das ist?« sagte er unsicher, wie alle gutmütigen +Menschen, wenn sie einem andern auf Schelmenstreiche kommen. + +Was nun den Bäcker betrifft, so begann er eine Geschichte zu erzählen, +die durchaus kein Ende nehmen wollte. Diese Geschichte wurde allgemach +recht verwickelt und bot schließlich selbst dem Erzähler +Schwierigkeiten. Sprüche zur Weltweisheit mischten sich darein wie +Aniskörnchen in den Brotteig, nur zuletzt kam, einer Apotheose zu +vergleichen, der Preis des Handwerks, welches ebenso sein Gutes habe, +wie die Gelehrsamkeit. + +Philipp Unruh lächelte. Der humoristische Mann, der ihm gegenüber auf +dem Backtrog saß, hatte in der Glorie seiner Lügenhaftigkeit etwas +seltsam Versöhnendes, und es lag wie eine unwiderstehliche Heiterkeit in +jedem dieser Lügenworte, die weder gewogen, noch gezählt waren. Daß er +wieder in den Besitz seiner Bücher kam, erfreute ihn, doch in anderm +Grade, als er je geglaubt. Es war wie ein Geschenk, und er betrachtete +sein Eigentum wie etwas, das er nie besessen. Er wußte, daß es da nur +tote Dinge, tote Blätter gab. Die Vergangenheit ist etwas Gestorbenes, +dachte er; wer ihren Leichnam küßt, macht das Gesicht des Todes doppelt +furchtbar; was er berühren mag, wird dem Leben entfremdet sein. + +Es war ein so milder Abend, daß es den Lehrer wieder fort von seiner +Behausung trieb, und er beschloß, gegen das Altmühlufer hinunter zu +wandern. Als er in die enge Kirchengasse bog, sah er sich gegenüber auf +der Schwelle eines beleuchteten, schmalen Hausflurs ein kleines Mädchen +sitzen, welches das Gesicht in die Schürze gelegt hatte und weinte. Ein +Knabe von vielleicht zwölf Jahren stelzte ernsthaft über die Gasse und +fragte mit Würde, beide Hände tief in die Hosentaschen gesenkt: »Warum +weinst du denn?« Die Kleine hob das Gesicht, und Philipp Unruh, der im +dunklen Schatten stehen blieb, erkannte das Mädchen der Frau Süßmilch. +»Ich kann meine Aufgabe nicht lernen, sie ist zu schwer,« schluchzte das +Kind. Der Knabe räusperte sich, spreizte die Beine, legte die Hände auf +den Rücken und begann: »Du bist meine schlechteste Schülerin, Süßmilch. +Aus dir wird im Leben nichts werden. Du hast ja lauter Heu im Kopfe. +Pfui!« Philipp Unruh sah, daß ihn der Bursche nachäffte, und errötete in +seinem Versteck. Das kleine Mädchen aber trocknete die Augen, stützte +den Kopf in das Händchen, schaute wehmütig zum klaren Sternenhimmel auf +und sagte aus tiefstem Herzensgrund: »Ach ja! Unser Herr Lehrer ist ein +sehr böser Mann.« + +Der Lehrer ging langsam über die Gasse, nahm das Mädchen auf die Arme +und küßte es lächelnd auf die Stirn. + + + + +Treunitz und Aurora + +Bekenntnisse eines Offiziers + + +Die Stille des Gefängnisses ist der Selbsteinkehr günstig. Ich werde +also das Papier zu meinem Beichtiger machen und der Wahrheit gemäß +berichten, wie sich die Dinge abgespielt haben, und wie ich zu der Tat +gelangt bin, durch die ich mein Leben verwirkt habe. Ich bin des Todes +schuldig und ich werde aus dieser Erkenntnis alle Folgerungen ziehen, zu +denen ich als Mann und Soldat so berechtigt als verpflichtet bin. +Immerhin könnte ich beschönigend von einem verhängnisvollen Irrtum +sprechen, durch den mein Glück, meine Freiheit, meine Zukunft, meine +ganze Existenz der Vernichtung preisgegeben wurde, aber die Schmach +würde dadurch um nichts geringer werden, und wenn ich gleich die +furchtbare Leidenschaft, die mich ergriffen und ruiniert hat, zu +verurteilen imstande bin, so ist es selbst in diesem Augenblick noch +unmöglich, sie gänzlich aus meinem Herzen zu reißen. + +Ich bin mit der Vorliebe für den Soldatenstand geboren. Doch trieb mich +dabei keineswegs Ehrgeiz oder Ruhmsucht; auch nach Abenteuern stand mir +nicht der Sinn, wie das bei Knaben oder Jünglingen sonst der Fall zu +sein pflegt, sondern ich wollte meine Person in den Dienst des +Vaterlandes stellen, und wonach ich strebte, war eine würdige Verwendung +meiner Kräfte und Fähigkeiten. Ich besaß Mut und war körperlich gewandt +und tüchtig; auch hatte ich, was für den Militär jedes Ranges von +Wichtigkeit ist, Disziplin im Leibe, das Talent und den Willen zur +unbedingten sachlichen Unterordnung. Da ich von Haus aus vermögend bin, +meine Mutter besitzt eine große Gutsherrschaft bei Arnstein, wurde der +Wahl meines Berufs kein Hindernis in den Weg gelegt, und nach +Absolvierung der Schule trat ich als Freiwilliger bei der Marine ein. +Aber ich fand dort kein Genügen, das Leben war eintöniger, als ich +gedacht, und nach Verlauf von zwei Jahren trat ich zur Feldartillerie +über, wo ich mich als brauchbarer Offizier eines gewissen Ansehens +erfreute und wegen meiner Begabung für militärwissenschaftliche Fächer +die besondere Gunst der Vorgesetzten genoß. + +Da entbrannte in Südafrika der Burenkrieg; ich sah die Gelegenheit, +etwas zu leisten, ich hatte keine Lust mehr am Garnisons- und +Manöverdienst; die Verhältnisse, unter denen ich mich bewähren konnte, +erschienen mir zu klein; kurz und gut, ich erbat den Abschied, zur +Verwunderung und zum Bedauern meiner Kameraden, die mich gerne hatten, +mich aber nach diesem für sie unbegreiflichen Schritt eines Mannes, der +die begründetste Aussicht auf Karriere hat, für einen unbesonnenen +Haudegen hielten. + +Ich habe da unten die Bluttaufe erhalten, die Fremde tat mir wohl, das +wilde äußere Leben band mich fester in mich selbst. Als ich nach +geschlossenem Frieden in die Heimat zurückkehrte, war ich ein anderer +Mensch, und wenn ich noch einen Rest von unreifer Romantik in mir +gehabt, so hätte ihn die ernsthafte Zeit, die ich verlebt, mit Stumpf +und Stiel ausgetrieben. Ich erfuhr die Genugtuung, sogleich wieder als +Offizier in die Armee eingereiht zu werden, und es war der froheste Tag +meines Lebens, als ich wieder den dunklen Rock der Artilleristen +anziehen durfte. Ich hatte nebenbei die Gewißheit, zum Generalstab +berufen zu werden; dies geschah auch, und um meine kühnsten Erwartungen +zu übertreffen, wurde ich mit einer Aufgabe betraut, die sonst nur +selten einem Offizier meines Dienstalters gestellt wurde; man entsandte +mich als Berichterstatter der mazedonischen Vorgänge nach Saloniki. + +Ich war noch nicht zwei Monate auf meinem Posten, da brach in unsern +afrikanischen Kolonien der Aufstand der Schwarzen aus. Jetzt lag der +Fall anders denn damals, wo ich das Heer hatte verlassen müssen, um ins +Feld zu kommen; jetzt konnte ich mich meinem kaiserlichen Herrn und +Kriegsherrn selber zur Verfügung stellen. Da man tüchtige Offiziere +suchte, wurde mein Anerbieten ohne Verzug berücksichtigt, ich wurde zum +Hauptmann bei der Schutztruppe ernannt, und vier Wochen später war ich +schon auf See. + +Ist ja richtig; es war eine elende Katzbalgerei mit den schwarzen +Rackern, und viel gutes deutsches Blut ist geflossen, aber wars gleich +sauer, so wars doch nahrhaft, wie unsere Exzellenz zu sagen liebte. Es +war ein schönes freies Leben, wie ich alles noch sehe und spüre! Die +sengende Mittagshitze und die Morgenkühle, die zerstörten Pontonks und +die infamen Wege, der Feind in Busch und Dickicht und die unaufhörlichen +Schüsse aus den Baumkronen! Wie das surrte und schwirrte und sang und +heulte, so dicht, daß es einen erstaunte, wenn man seine Gelenke noch +zusammenhängen fühlte. Hungrig legte man sich schlafen, den Revolver im +Arm, an Feueranzünden nicht zu denken, und weh dem, der vom Durst +getrieben zu den Wasserlöchern schlich, er ward in der Frühe mit Kirris +erschlagen gefunden. Da war man doch ein Kerl, da konnte man sich +bewähren, da spürte man seine Pulse. + +Leider bin ich bei den Gefechten am Waterberg verwundet worden. Ich +konnte nicht mehr Dienst tun und mußte alsbald die Heimreise antreten. +Dritthalb Monate blieb ich in Berlin; man machte viel Aufhebens mit mir, +und viele Leute feierten mich wie einen Blücher, was mir oft die +Schamröte ins Gesicht trieb, denn ich war mir nicht bewußt, etwas +Sonderliches verrichtet zu haben. Aber dergleichen gibt sich, und wenn +man Verdienste hat, empfiehlt es sich, sie den Leuten nicht durch die +eigene Gegenwart lästig zu machen. Eine Zeitlang war von meiner Aufnahme +als Lehrer in die Kriegsakademie die Rede, doch, vor die Wahl gestellt, +zog ich schließlich den subordinierten Posten eines Batteriechefs in der +Provinz vor, allerdings mit der baldigen Anwartschaft auf den +Majorsrang. Meine Mutter kränkelte, ich wünschte in ihrer Nähe zu leben, +und des unruhvollen, weltstädtischen Treibens, an dem ich nie Freude +gehabt, war ich ohnedies müde. + +Dazu kam noch, daß mir die Fremde ganz wie mit einem Male den Blick +verwandelt hatte. Entweder war ich nicht mehr derselbe, oder die Heimat +war nicht mehr dieselbe. Aufrichtig gesagt: die Luft im Reich gefiel mir +nicht. Sie war mir zu wetterwendisch; winterlich scharf von oben und +giftig süß von unten, fast wie eine afrikanische Nacht. Nichts wurde mit +Wohlwollen reguliert, alles mit Manometer, und wer hinten nicht gestoßen +wurde, der ging nach vorne nicht weiter. Unsre jungen Herren fand ich so +ohne jede Herzlichkeit, daß sich einem der Gaumen zusammenzog, wenn man +mit ihnen redete. Immer bloß aufs Elegante versessen, geschniegelt wie +die Reitpferde und trocken wie Stiefelsohlen. Die Aristokraten hochnäsig +und zimperlich, die Bürgerlichen streberhaft und vom frischen Reichtum +verdorben und verweichlicht, das Volk rebellisch und respektlos. Keiner, +der aus Eigenem was vorstellte, erst durch sein Geld oder sein Amt oder +seine Orden oder seine Hemdbrust. Großes Maul, ja, aber kein freies +Wort, keine offene Meinung. Hölzernes Getue galt für Form, +kaltschnäuziges Nörgeln für Geist und öde Prahlhanserei für +Selbstbewußtsein. + +Wenn man mir die Berechtigung abstreitet, eine solche Sprache zu +führen, so habe ich allerdings keine andere Antwort, als den Hinweis auf +eine bis dahin ehrenhafte Existenz. Es war mir eben die Laune verdorben, +und eher trübgestimmt als hoffnungsvoll kam ich nach der kleinen +Garnison. Auch hier fühlte ich mich nicht wohl; ich begann mich zu +langweilen; ich merkte alsbald, was das heißt, in einer Provinzstadt zu +leben, die trotz ihrer vierzigtausend Einwohner etwas ist wie ein Sparta +des Altertums, mit ebenso streng geschiedenen Kasten, nur daß die +kriegerische Härte der Vorschriften durch minder folgenschwere, aber +keineswegs leicht zu übertretende Bestimmungen gesellschaftlichen +Charakters ersetzt werden. Da sind die Spitzen der Behörden, die +militärischen Würdenträger, die Industriellen, die Gutsbesitzer, die +jungen Leute, die eine Rolle spielen, die andern, die bloß eine spielen +möchten; da ist die Generalin oder Oberstin, die das Wetter macht, und +die kleine Apothekersgattin, die gerade noch geduldet ist; da ist die +reiche Fabrikantenfrau, die ihre Toiletten aus Berlin bezieht, und die +Frau Amtsrichter, die aus ihrem Wirtschaftsgeld mittelst rührender +Entbehrungen den Preis für ein einziges schwarzes Seidenkleid erübrigt, +das sie unter Beihilfe der Köchin und eines Mädchens vom Lande selber +näht und das ihr die abendlichen Feste verbietet, wenn der Stoff an den +Ärmeln den fatalen Mattglanz zu zeigen beginnt. Zu Kaisers Geburtstag +gibt der Regierungspräsident einen Ball; zur Errichtung eines +Kriegerdenkmals wird eine künstlerische Soiree veranstaltet, bei welcher +allerlei junge Mädchen wegen ihrer Fortschritte in Gesang und +Klavierspiel beklatscht werden; man geht ins Theater, man wird zur +Enten- und Hasenjagd geladen, und die verheirateten Frauen holen sich +aufregende Romane aus der Leihbibliothek. Einmal im Monat ist +Parademarsch, am Sonntag nach der Kirche spielt die Regimentskapelle +auf dem Residenzplatz, abends sitzt man dann im Kasino oder im +Speisesaal des Hotels de l'Europe, und nach elf Uhr nachts lungern nur +noch irgendwo hinter abgesperrten Türen ein paar ausgestoßene Existenzen +an einem Kartentisch, und zwei Studenten brüllen vor dem Fenster einer +begehrten Kellnerin das Krambambuli. + +Alle diese kennen einander und wissen vieles von einander und verbergen +sich voreinander und schätzen einander und sind einander im Wege und +passen einander auf. Das enge Zusammenleben begünstigt Klatsch und +Übelrednerei; jeder kehrt den Schmutz vor des Andern Tür; Dummheit, +Bosheit, Neid und Mißgunst lassen selbst den Redlichen nicht +ungeschoren, alles, was Aufsehen macht, findet Teilnahme, alles, was in +der Mode ist, Nachahmung; für ernsthafte Interessen ist wenig Sinn. Dies +erfuhr ich bald. So sehr es anfangs meinem Selbstgefühl schmeichelte, +daß ich nun auch zu Hause ein jemand war, der Beachtung verdiente und +Ansehen genoß, denn es war ja meine engste Heimat dahier, so wenig wurde +ich meines Wirkens froh. Ich kam mir vor wie ein verfaulender Baum. + +Ich erinnere mich nicht mehr genau, an welchem Tag es war, als ich die +Majorin Westermark kennen lernte. Ich schließe daraus, daß sie mir +damals wenig Eindruck gemacht hat. Ich sah sie zum erstenmal bei der +Frau von Rütten, die eine Freundin meiner Mutter ist, und die, wie mir +meine Mutter vorsichtig verriet, die löbliche Absicht hatte, mich mit +ihrer siebzehnjährigen Tochter zu verheiraten. Ich machte mir aber +nichts aus dem Mädchen, und das ist lediglich mein Fehler, da sie ein +hübsches und vernünftiges, obschon etwas nüchternes Geschöpf ist. Nach +allem, was ich bereits über die Majorin gehört, hatte ich mir eine +junonische Gestalt gedacht und war deshalb überrascht, sie so klein, +zart und kindhaft zu finden. Ihr Wesen gab in Gesellschaft nichts her, +nichts von Welt und nichts von Innerem, ihr Lächeln war kühl, in der +Bewegung der Lippen zeigte sich eine gewisse Naschhaftigkeit; am meisten +gefielen mir die Augen, die blau, durchsichtig, ausgedehnt und voll +Perlmutter waren, mit Brauen, schwarz und fein wie zwei Sepiastriche. + +Eine solche Stadt wie die, in der ich mich befand, hat alle Späherblicke +immer auf den Punkt geheftet, wo eine ungewöhnliche Erscheinung +hervortritt und sich auf ihre besondere Art gebärdet. Ich habe schon +angedeutet, daß das vielfache Gerede über die Majorin auch zu mir +geflossen war. »Was sagen Sie zu der Frau? Ach, Sie wissen nicht? Sie +wissen nicht, was die Spatzen von den Dächern pfeifen?« Nein, ich wußte +es nicht, ich bezeigte auch kein Interesse dafür. »Sie verstellen sich +doch wohl. Oder glauben Sie, daß das eine glückliche Ehe ist? Der Mann +ist zwanzig Jahre älter, Sie begreifen. Die Frau hatte früher einen +reichen, schlesischen Branntweinbrenner, von dem sie geschieden ist. Sie +ist schön wie das Laster, und so elegant, daß unsre Damen vor Neid nicht +schlafen können; echte Pariser Hüte, echte Brüsseler Spitzen, echte +Pelze, Diamanten wie ein persischer Prinz, und Parfüms, Parfüms sage ich +Ihnen, überwältigend wie eine Ananasbowle nach einem Jagdritt.« -- »Nun +ja, der Major ist sicherlich reich.« -- »Nein, die Frau hat Geld, die +Frau. Der Major ist ein Sonderling. Ich möchte ihm gern meine Augen +leihen.« + +O Bosheit aus dem Winkel, die du Augen verleihen willst, dachte ich mir. +Aber die üblen Gerüchte waren hartnäckiger als meine Gleichgültigkeit. +Ich traf eines Tages einen Freund in der Stadt, einen jungen Ingenieur, +der irgendwo in der Nähe den Bau einer Eisenbahnbrücke leitete. Wir +waren als Gymnasiasten ein paar Jahre lang unzertrennlich gewesen, und +es bereitete mir lebhaftes Vergnügen, ihn wiederzusehen. Wir kamen oft +zusammen, bald in einer Weinstube, bald in seiner oder meiner Wohnung; +und wie es schon so geht, einmal gerieten wir beim Gespräch auch auf +Aurora Westermark und die über sie umlaufenden Gerüchte. Mein Freund +kannte sie nur flüchtig, aber er war einer jener Menschen von +instinktivem Scharfblick, die in andern Seelen lesen zu können scheinen, +und deren Urteil sich daher von selber Vertrauen erzwingt. + +Deutlich steht mir noch jene Stunde vor Augen und genau ist mir noch +jedes seiner Worte gegenwärtig, die ich nur mit innerem Unwillen +anzuhören vermochte. »Diese Frau hat die Gabe, unschuldig zu scheinen +und Leidenschaften einzuflößen«, sagte er ungefähr. »Wie sie den schwer +zugänglichen Major umgarnt hat, das ist gewiß ein Kunststück gewesen. +Ich weiß nicht, ob dir die Umstände bekannt sind; es war während der +großen Manöver vor zwei Jahren; umschwärmt von den Offizieren eines +ganzen Stabes, hatte sie sich's offenbar in den Kopf gesetzt, den +sprödesten und verstocktesten zu gewinnen, denjenigen, für den eine +Weltdame etwas war wie ein seltenes Schmuckstück, das er sich verschafft +ohne Freude und Verständnis, nur weil er gerade bei Geld und guter Laune +ist und weil es von andern gerühmt und begehrt wird. Sie hatte den +schlechtesten Ruf. Man sagt, daß sie Liebe verkauft hatte, unumwunden +und unter Vorwänden, um einer Perlenkette willen, um eines Ränkespiels +willen, um nichts ungenossen vorübergehen zu lassen von den Lockungen +der Jugend, aus Gefallsucht, aus Sinnlichkeit, aus Langerweile, aus +Schwäche, aus Lust an der Selbsterniedrigung, aus Vergnügen an einer +doppelten Existenz in zwei Sphären der bürgerlichen Welt, von denen die +eine nicht weiß, was in der andern geschieht, so daß die +Geschicklichkeit, der einen die Kunde aus der andern vorzuenthalten, +etwas von der Spannung eines Revolverdramas mit sich bringt und die +sonst leeren Tage mit dem Tumult verschwiegener Betätigung erfüllt. Ich +bin gewiß,« fuhr mein Freund fort, gegen den ich in diesem Augenblick +eine nicht zu überwindende Empfindung des Hasses, ja des Abscheus hegte, +»ich bin gewiß, daß sie's gegenwärtig nicht viel besser treibt. Ich +glaube nicht, daß sie je von Liebe erfahren hat, sondern nur von +Aufregungen, Sorgen, abwägenden Interessen, Kränkungen des Stolzes, +Gefahren der Enthüllung und die Überzeugung von der Nichtswürdigkeit der +Männer, so wie eben solchen Frauen die Männer sich zeigen müssen.« + +»Aber was wäre denn das für ein Leben!« rief ich kopfschüttelnd. »Welche +Einsamkeit setzt das voraus, welche Kraft, alle diese Dinge in der +Stille mit sich selber abzumachen!« + +Mein Freund zuckte die Achsel. »Es ist das Leben eines Menschen, der auf +glühenden Kohlen tanzt und sich stellen muß, als ging's über einen +harmlosen Teppich«, antwortete er. »Wir haben eine Menge solcher +Equilibristen in der Gesellschaft, und das vertrackte und verlogene +Dasein, das wir führen, fordert die unruhigen Köpfe geradewegs dazu +heraus.« + +»Gibt es denn irgendwelche faktischen Delikte?« fragte ich. + +»Es heißt, daß sie mit jedem hübschen Offizier abenteuert; daß sie sich +jedem Laffen hingibt, der sich der Mühe der Werbung unterzieht und den +Preis nicht zu hoch findet, den Preis des Verrats nämlich. Auch sagt +man, daß sie seit Jahren eine dauernde Beziehung zu einem Berliner +Fabrikanten unterhält, der außerdem günstige Börsengeschäfte für sie +vermitteln soll, den sie irgendwie draußen oder in der Stadt trifft und +der eine unerklärliche Gewalt über sie ausübt, vielleicht die Gewalt +bedenkenloser Brutalität. Daß der Major darüber in vollständiger +Ahnungslosigkeit verbleibt, gehört zu unsern sonderbaren, aber nicht +ungewöhnlichen sozialen Geheimnissen. Alle wissen, er nicht; alle +raunen, er ist taub. Man schont ihn wahrscheinlich, man schont seine +Stellung, seine Häuslichkeit, und sie hinwiederum profitiert von der +Achtung, deren ihr Gatte genießt. Auch macht ihr Auftreten, ihre +Schönheit, ihre vollendete Haltung die Argwöhnischen vorsichtig, und den +Mut der Übelredner zunichte. Sie hat ja eine Art zu gehen, zu stehen, zu +reiten, zu lachen, zu tanzen, die blendend ist, das muß man zugeben. Was +tut's, wenn bisweilen an den Grenzen des Bezirks ein Flämmchen aufzischt +und einen Schritt der heimlichen Pfade beleuchtet? Oft sehen Augen, +denen keine Zunge dient, die zu reden weiß, und ein anderes Mal +schwatzen Mäuler, wo Augen nichts gesehen haben.« + +Ich bekenne, daß mich dieses Gespräch bis in die Nieren erkältete. Dies +»es heißt« und »man sagt« erfüllte mich mit Mißtrauen gegen den Freund, +mit einer Art Furcht vor ihm; ich ging ihm von da an für lange Zeit aus +dem Wege. Seine Ehrlichkeit erschien mir durchaus böswilliger Natur; ich +bildete mir ein, daß ich einer ritterlichen Pflicht gehorchte, indem ich +mich in meinem Innern auf die Seite einer wehrlosen Geschmähten schlug. +Kleinstädtischer Klatsch, sagte ich mir, läßt den reinlich Denkenden +eher zum Anwalt des Besudelten werden, als daß er die Partei von Feinden +nimmt, die sich verbergen. Es war ein Selbstbetrug, dem ich mich hingab. +Die Frau hatte ganz einfach mein Gefallen erweckt, und das wollte ich +mir verhehlen. Ich traute ihr Schlimmes nicht zu, ich sah ein Kind in +ihr, verführerisch, am Ende mißleitet, aber nicht verworfen. Ich +sträubte mich nicht gegen die Freundlichkeit, die der Major alsbald in +auffälliger Weise gegen mich an den Tag legte. Ich besuchte oft sein +Haus, und es schien sich ganz von selbst zu geben, daß ich manche +Stunden mit Aurora allein verbrachte. + +Sie gestand mir, daß sie von Anfang an aufs innigste gewünscht habe, +meine Bekanntschaft zu machen, denn sie habe beim ersten Blick gefühlt, +daß ich ihr mit Wohlwollen gegenüber getreten sei. Dies mußte ich +bestätigen, ihre schmeichelhaften Worte über meine Vergangenheit, meine +Taten, meinen Ruhm usw. lehnte ich höflich ab. Die nichtigen Dinge, von +denen sie mit mir plauderte, gewannen einen Reiz von Scherzhaftigkeit, +dann wieder von anmutiger Melancholie. Vertrauen schien sie als +selbstverständlich zu betrachten und war nicht einmal bedachtsam in +ihrem Tadel über die Lebensführung anderer. Sie sprach mit einer +unvergleichlich musikalischen Stimme, weich im Ton, klagend in der +Färbung, hie und da mit einer Bemerkung voll Witz und Geist. Ihr Zuhören +war sympathisch durch den Blick eines wißbegierigen Schülers. Sonst war +sie nicht selten gequält, beunruhigt, verschüchtert, also gar nicht mehr +Dame. Sie eroberte unbedingt, ich hätte ihr alles geglaubt, und ich +glaubte auch alles, selbst das Unwahrscheinlichste, wennschon mir ihr +Wesen manchmal wie Dünensand vorkam; erst denkt man etwas Festes zu +halten, und wenn man zupackt, verrinnt und verrieselt alles zwischen den +Fingern. + +Im Verkehr mit ihrem Mann sah ich sie von gemessener Liebenswürdigkeit, +Nachsicht mehr gewährend als beanspruchend, gegen launenhafte +Bärbeißigkeit sich mit ironischer Duldermine wappnend, wobei ein +forschender und spöttisch-kühner Blick den Beobachter zum +Mitverschworenen machte. Der Major erweckte den Eindruck eines +gutmütigen Mannes; er war untersetzt und korpulent und trotz seiner +Jahre nur mäßig ergraut; doch pflegte er den Schnurrbart mit einer +Pomade zu behandeln, die diesem das Ansehen eines frisch lackierten +Gegenstandes gab. Sein Blick war flackernd wie der eines viel und +fruchtlos arbeitenden Menschen; in der Tat verhinderte er nur durch +einen fast überstürzten Eifer im Dienst seine langgefürchtete +Kaltstellung. Er gehörte zu jenen Offizieren vom alten Schlag, die durch +Rauheit und martialisches Auftreten an verjährte Verdienste erinnern und +den Mangel an gegenwärtigen verdecken wollen. Er liebte die Jagd, schöne +Pferde und Hunde; doch mit diesen Leidenschaften verbarg er nur den +Groll gegen ein Regime, das ihn zur schimpflichen Rolle eines Mitläufers +und stummen Bittstellers verurteilte, und er erfüllte seine +Obliegenheiten wie mit zusammengebissenen Zähnen, war immer in Hast und +Angst, und, wie alle unsicheren Beamten, von übertriebener Strenge gegen +Untergebene und übertriebener Devotion gegen Vorgesetzte. + +Ich glaube, mit solchem Urteil kein Unrecht an dem Major zu begehen; +alle diese Umstände waren ja mehr oder weniger öffentliches Geheimnis. +Ich habe beschlossen wahr zu sein, und so muß auch dieses gesagt werden. +Es trifft nicht zu, daß ich dem Major ohne Achtung begegnet bin; ich +hatte anfangs sogar Gefallen an ihm, wie er an mir, erst im Verlauf der +Begebenheiten wandelte sich meine Gesinnung auf so verderbliche Art. + +Ich begleitete Aurora ins Theater, auf die Promenade, ich kam zu ihren +Teestunden, und so vergingen Wochen, ohne daß ich ein Arg gegen mich +selber faßte. Wenn ich Gäste bei ihr traf, zeigte sie mir +unmißverstehlich, daß ihr Gäste zur Last waren und daß ich allein es +nicht war. Ein solcher Beweis von Freundschaft heischte Dank, und ich +blieb, nachdem alle sich verabschiedet hatten, auch der Major, der die +späten Nachmittagsstunden im Kasino verbrachte und mit einem +Oberleutnant vom Train Schach spielte. Oftmals mußte ich ihr von meinen +Kriegserlebnissen erzählen, wobei sie atemlos lauschte. Wie sagt doch +Othello? »Ich sprach von harten Unglücksfällen, manch rührendem Geschick +zu See und Land, wie ich nur auf ein Haar dem Tod entronnen, von grausen +Schlünden, öden Wüsteneien, von Klüften, Felsen, himmelhohen Bergen, von +Kannibalen, die einander fressen. Und dies zu hören, war Desdemona +innerlich gespannt.« Und als er geendet, lohnte ihn das Fräulein mit +einer »Welt von Seufzern« und wünschte, sie hätte es nicht vernommen, +und wünschte doch, Gott hätte aus ihr einen solchen Mann gemacht. + +War auch Aurora nicht dermaßen bezaubert, so stellte sie sich doch +ähnlich und ihre Teilnahme war jedenfalls echt. Auch schrieb sie mir +Verdienste zu, die ihr trotz aller Selbstverständlichkeit groß und neu +dünkten, und vor allem erschien ich ihr verläßlich. Verläßlichkeit war +ihr Ideal, wie wenn ihr das Geschick einen Trumpf im Spiel hätte +vorgeben können durch die bewunderte Tugend eines andern. + +Heute seh' ich dies klar, damals bestrickte mich ihr bedenkenloses +Anschmiegen. Da ich merkte, daß sie wenig oder nichts las, brachte ich +Bücher, unter andern schenkte ich ihr die Frithjofssage, ein Gedicht, +für welches ich begeistert war. Sie gestand mir aber offen, daß Verse +sie langweilten und daß sie zum Lesen überhaupt keine Geduld hätte; so +ließ ich es denn sein. Sie wurde jetzt bisweilen karg in der +Unterhaltung und von unverständlicher Vorsicht. Darin lag etwas +Verwirrendes, denn ich fühlte mich einer Person gegenüber, die ihrer +Rede wenig Gewicht beimißt, weil sie Bedeutsames verschweigen muß. Sie +hatte immer den auffangenden Blick im Auge, der meine Ungeduld erregte. +Ich fragte, hörte, antwortete und war mit der gleichen Aufmerksamkeit +beschäftigt, dem Zwitschern eines Vogels oder dem Surren des Windes zu +lauschen. Was kann der Major mit einem solchen Weib beginnen? dachte ich +oft verwundert; er ist ein Soldat, aber kein Orchideenzüchter. Himmel, +wenn ich dies Gesicht beständig um mich wüßte, ich wäre versucht, damit +zu verfahren, wie die Kinder, die ihre geliebtesten Puppen aufschneiden, +um herauszubringen, was drinnen ist. + +So fing es an, mit Abwehr und Wißbegier fing es an. Und wenn es ihr +Entschluß war, mein ruhiges Herz in Flammen zu setzen, was bedurfte es +da noch viel? Eines Abends fragte sie mich unumwunden nach meinen +bisherigen Herzenserlebnissen und darauf mit Offenheit zu entgegnen, war +leicht und schwer in einem. Ich hatte nicht viel zu berichten. Schon als +Primaner hatte ich Verachtung für die Liebeleien gewisser Kommilitonen +empfunden, und fernerhin war mir jede leidenschaftliche Entäußerung ein +Greuel gewesen. Ich war freilich kein Kostverächter, kein Joseph; ich +nahm stets, was man mir bot, aber zu langgesponnenen Verhältnissen +fehlte mir die Zeit, und an die sogenannten großen Passionen glaubte ich +nicht. Amüsement, ja; doch durfte es nicht zum Katzenjammer führen; +alles übrige schien mir Bummelei und Jugendeselei. Ich weiß, es war +erbärmlich, daß ein Kerl wie ich eigentlich nur von käuflicher Liebe +wußte, nur von Vergnügen und nichts von Hingabe, nur von Dirnen und +nichts von Frauen. Aber das passiert heute tausendmal, es ist viel +häufiger, als man denkt, und gerade diejenigen, die ihre Stirn am +aufdringlichsten mit dem Heldenlorbeer schmücken, sind, wenn man die +Sachen bei Licht betrachtet, ebensolche Jämmerlinge. Dagegen lebt +wahrscheinlich in dem Kopf jedes Frauenzimmers eine Vorstellung von +Durchschnittspoesie und Schmökerromantik, die ihr unentbehrlich ist wie +ein Luxuskleid, auch wenn sie selbst dergleichen nie erlebt hat und so +wenig davon hält wie ein Moslem von der Hostie. + +Ich wußte nicht, wie mir geschah, als ich nun plötzlich fand, daß ich +eine Armut verraten hatte, über die mir bis jetzt kein Skrupel +aufgestiegen war. Schon atmeten wir in einer verderblichen Luft. Wir +verständigten uns durch Blicke und Mienen, und die Selbstbeherrschung, +die wir zu üben wähnten, war nur eine Gaukelei. Ich sagte mir im Anfang +bisweilen: die Frau ist kalt, oder noch schlimmer, kühl; die Frau +rechnet, die Frau lauert. Aber da war ihre Sanftmut, ihre zarte Stimme, +ihr ergebenes, verstörtes, beschwichtigendes Lächeln; da hatte sie eine +sonderbare, oft wiederkehrende Bewegung der Hände, die darin bestand, +daß sie die Finger ineinanderflocht, um sie dann wie verzweifelt in den +Schoß einzusenken. Das riß mich aus allem Gleichmut. + +Ihr Wesen blieb mir rätselhaft, bis sie mir eines Tages erzählte, wie +ihre erste Ehe das Werk habsüchtiger Eltern und Verwandter gewesen sei; +der Mann ein Trinker, ein Wucherer, ein Lüstling. Sie versicherte mir, +daß sie im Zusammenleben mit ihm unberührt geblieben sei, und daß +hauptsächlich deswegen nach drei qualvollen Jahren die Scheidung +ausgesprochen werden konnte. Sie sprach dann von ihren Reisen, von +zermarternder Unruhe, vom Wunsch nach Frieden, von ihrem Ekel an Welt +und Männern, und da lernte sie Westermark kennen; sie dachte an ihm +einen Beschützer zu finden, sie fühlte eine herzliche Kameradschaft für +ihn, sie habe sich betören lassen und ihn geheiratet. Als sie nun lange +schwieg, blickte ich sie fragend an. + +Ja, darüber sei Schweigen geboten, sagte sie, darüber, was jetzt kam, +müsse geschwiegen werden. + +Geheimnis also? nicht anrührbares Geheimnis? Auroras Gesicht glich einer +Uhr, die plötzlich stehen bleibt. Geheimnisse binden, auch wenn sie +nicht enthüllt werden. Aber mein Inneres war schon zu sehr ergriffen, +als daß ich aus Delikatesse hätte auf Teilnahme verzichten mögen. Ich +bat in der dringlichsten Weise um Aufklärung. »Wozu? was soll es +nützen?« antwortete mir Aurora. »Warum sollte ich Sie in eine +Ungeheuerlichkeit einweihen, die mich allein schon übermäßig bedrückt +und lebensuntüchtig macht? Sie würden mir nicht glauben, Sie dürfen mir +nicht glauben, denn wer bin ich? Ein verlorenes, verachtetes Geschöpf, +der Gegenstand unsauberer Gespräche am Biertisch, die wehrlose Beute +aller Nachrichtenjäger der ganzen Stadt, mit meinem Namen in jede +Spelunke geschleppt, beneidet, bewacht, einsam, unerhört einsam und +unerhört verraten. Wollt' ich bekennen, was ich in diesem Haus für ein +Leben zubringe, so würde ich ja vielleicht auch Sie verlieren, der mir +gutgesinnt ist. Nein, nein, erlassen Sie mir das, gönnen Sie mir die +harmlosen Stunden mit Ihnen.« + +Man sagt gemeinhin, und die Erfahrung macht mich geneigt, dem +beizupflichten, daß Männer über dreißig, wenn sie zum erstenmal in ihrem +Leben der Gewalt einer Leidenschaft erliegen, sich in nichts von der +Unbesonnenheit und Kopflosigkeit der Jünglinge unterscheiden, daß sie im +Gegenteil noch großmütiger ihr Gefühl, noch bereitwilliger ihren Stolz, +noch unbedingter ihr Vertrauen verschwenden. Ich habe versucht, das +Unheil zu bekämpfen, als es da war, ich habe mich noch mit aller Kraft +gewehrt, als es mich umschlang. Vielleicht hätte ich es bezwingen +können; vielleicht gab es einen Tag, eine Stunde, wo ich noch Meister +des Verhängnisses werden konnte, wo ich mit dem Gedanken an ein +Abschiedswort, dem Vorsatz einer Reise zu der Frau ging. Aber da mochte +es scheinen, als rede die Frau mit einem andern Ton denn gestern; als +sei die Hand, die sie mir bot, verwandelt worden. Wenn Früchte reif +sind, fühlen sie sich gleichsam wärmer an, und so hatte sich etwa ihre +Hand angefühlt, wie eine reife Frucht. + +Einverständnis genug; Erwiderung genug; es braucht nicht mehr als den +Abglanz der eigenen Sehnsucht in dem geliebten Antlitz und Auge, nicht +mehr als ein gestammeltes Wort, als einen flehentlichen Blick, und +Pflicht, Gewissen, Zukunftsfurcht entschwinden für immer in der +Süßigkeit und Betäubung eines jähen Sicherkennens. Jetzt sind die Tore +zugeschlossen, und es gibt keine Reise mehr. Ich entsinne mich eines +Tages, wo ich mit Begierde die Gesellschaft eines Mannes suchte, eines +Freundes, den außerhalb meines beruflichen Kreises zu finden mir höchst +erwünscht war. Da traf ich den Ingenieur, von dem ich schon gesprochen, +durch Zufall auf der Gasse. Er blieb unschlüssig stehen, ich reichte ihm +die Hand. Ich verzieh ihm alles, was er über Aurora Westermark geäußert +hatte, noch mehr, ich empfand das Bedürfnis, ihn mit der wunderbaren +Frau näher bekannt zu machen, und ich war überzeugt, daß er sie mit +andern Augen ansehen würde. Das Vorhaben war leicht, als Freund Auroras +durfte ich es wagen, ihn einfach zu einem ihrer Empfangsnachmittage +mitzunehmen. Ich fing alsbald davon an, er war ziemlich betroffen, +erwiderte jedoch, wenn ich Wert darauf lege, wolle er mir gern +willfahren, obwohl seine Zeit ihm die Pflege gesellschaftlicher +Beziehungen sonst nicht gestatte. Wenn ich mir heute dies Gespräch +überlege, so muß ich glauben, daß in meinem Benehmen etwas Krankhaftes, +ja sogar Krankes enthalten sein mußte, denn der junge Mann blickte mich +bisweilen fast mitleidig von der Seite an und meinte schließlich, es tue +ihm aufrichtig leid, wenn er mich damals durch seine unüberlegte +Offenheit verletzt habe. Am nächsten Tag gingen wir zusammen zur +Majorin; Aurora nahm ihn mit Herzlichkeit auf, und sie schmeichelte ihm +durch eine gewissermaßen sachliche Hochachtung, die bei Frauen selten +ist, und die hier am Platze war. Er kam nun bisweilen an Montagen und +Donnerstagen, blieb aber zumeist auffallend schweigsam, trotzdem ihm +Auroras Sympathie durchaus nicht verborgen blieb. Einmal gingen wir +zusammen weg, und ich sagte ganz unvermittelt zu ihm: »Hast du nun dein +Urteil revidiert? Gibst du nicht zu, daß das ein Geschöpf ist, wie es so +vollendet nur aus der Meisterhand Gottes hervorgehen kann?« Und als er +nur mechanisch nickte, fügte ich hinzu: »Ich hoffe, daß du mich nicht +mißdeutest, und daß du meine Worte so auslegst, daß wir uns auch +weiterhin gerade in die Augen sehen können.« + +»Mehr brauche ich nicht zu wissen«, entgegnete er ernst und anscheinend +überrascht. Er besuchte von da an das Westermarksche Haus nicht mehr. + +Warum ich die Art meines Verhältnisses zu Aurora vor dem Verdacht eines +Freundes schützen zu müssen glaubte, weiß ich kaum. Ich hatte keinen +Zweifel an ihrer Ehre und Reinheit. Aber das namen- und gesichtslose +Hörensagen, unter dem ihr Ruf litt, war eine Qual sondergleichen für +mich. Ich hätte mich gerne gestellt, aber wie durfte ich dies, wer hätte +mir das Recht dazu eingeräumt? Ein Blick, ein zweideutiges Lächeln, ein +Achselzucken, ein irrlichterndes Wort dann und wann, es überlief mich +kalt, wenn ich dessen nur nachträglich gedachte; ich fand mich beleidigt +und geschmäht, bald genug bekam ich zu spüren, daß das verleumderische +Geschwätz auch schon meinen eigenen Namen bespritzte; aus dem Bewußtsein +meiner Schuldlosigkeit, und, da Aurora sich mir gegenüber noch mit +keinem Hauch etwas vergeben hatte, zog ich den Schluß, daß all die +andern Anwürfe und Gerüchte ebenso trugvoll, lügnerisch und boshaft +seien wie dieses. Traurigkeit und Ingrimm nahmen von mir Besitz, ich +sonderte mich ab von den Kameraden wo es nur irgend anging, und hatte +ich vorher schon für unliebenswürdig gegolten, so erklärte man mich +jetzt für abstoßend hoffärtig, oder mildesten Falls für einen finstern +Einsiedler. Ja, ich haßte sie, diese still beieinander hockenden +Aufpasser, Schlimmredner und Giftkocher, diese gutangezogenen Megären +und unbezahlten Spione, die ihrem Dünkel und ihrem Müßiggang kein +unterhaltsameres Spiel wußten, als die nie wieder gutzumachende +Besudelung eines schönen Herzens und edlen Charakters, denn so erschien +mir Aurora. + +Indessen wucherte das Grübeln über die furchtbaren Andeutungen, die sie +mir in bezug auf ihr eheliches Leben getan, heimlich in mir fort. Ich +wagte sie nicht mehr daran zu erinnern, ich wollte nicht mehr fragen, +ich glaubte zartfühlend zu sein, doch meine Seelenruhe kam dabei +schlecht weg. Tausend Vermutungen erwog ich, bis in die Träume hinein +verfolgte mich das haltlose Denken, und so geschah es denn doch, daß ich +einstmals, wir saßen im oberen Gesellschaftszimmer vor der Terrasse +einander gegenüber, daß ich die Frage stellte, mitten in eine ruhende +Minute hinein, in der mir zu Sinn war, als hörte ich das Ziehen der +Wolken am herbstlichen Himmel. Aurora erschauerte; sie sah mich eine +Weile zornig an, plötzlich stand sie auf, kehrte sich mit dem Gesicht +gegen das Fenster, und ich gewahrte am Zucken ihrer Schultern, daß sie +weinte. Während ich ratlos dasaß und meine Taktlosigkeit verwünschte, +hörte ich die säbelrasselnden, plumpen Schritte des Majors auf der +Flurtreppe. Aurora wandte sich um, mit erschrockenen Augen starrte sie +gegen die Türe und flüsterte: »Ich kann ihn jetzt nicht sehen.« Damit +verließ sie das Zimmer. Der Major trat ein und zeigte ein verwundertes +Gesicht, als er mich allein sah. Er begrüßte mich mit zusammengekniffenen +Augen und begann mit mir ruhig über dienstliche Angelegenheiten zu +sprechen. Meine Nerven waren bis zur Unerträglichkeit gespannt, ich +hörte kaum, was er sagte, und ich verfolgte seine Schritte und +Bewegungen mit einem beunruhigten und haßähnlichen Gefühl. Plötzlich +fragte er mich, wo seine Frau sei. Ich antwortete, sie sei vor wenigen +Minuten hinausgegangen. Sein Gesicht verdüsterte sich: »Sie macht mir +viel Kopfzerbrechen mit ihren Launen«, sagte er seufzend, indem er sich +schwer in einen Sessel fallen ließ. »Ich sollte mich wirklich mehr um +sie bekümmern,« fuhr er fort, »aber, lieber Treunitz, Sie haben keine +Ahnung, was für Plackereien ich ausgesetzt bin; es kostet mich +Überwindung genug, sie nichts merken zu lassen, aber wer kann immer +heiter sein, wenn's einem an den Kragen geht? So eine Frau will nichts +als eitel Wonne um sich sehen; ich kann's ihr nicht verdenken, sie ist +jung. Mag sie sich nur amüsieren, ich lege ihr keine Balken über den +Weg. Doch wie gesagt, die Launen, die Launen!« + +Was er mit den Launen meinte, konnte ich mir nicht enträtseln. Es war +mir eine Pein, ihn zu hören, andrerseits rührte mich sein Wesen, und er +erschien mir durchaus nicht als böse. Ich wußte nur unbestimmte +Redensarten zu erwidern. Meine Situation kam mir ebenso bedrückend wie +die seine kläglich vor. Ich verabschiedete mich von ihm. Als ich über +den Korridor schritt, stand Aurora neben der Treppe. Sie winkte mir, ihr +zu folgen. Ich trat in ein kleines, boudoirähnliches Gemach. Aurora +blickte mich forschend an. Etwas Trauriges, aber nicht bloß Trauriges, +sondern auch Wildes, eine Art von Außersichsein in ihren Zügen brachte +mich vollkommen um den Verstand. Plötzlich umschlangen mich ihre Arme, +und ich fühlte ihre Lippen auf den meinen. »Geh, geh«, stieß sie dann +durch die verpreßten Zähne hervor. Ich ging. + +Mir brannte Hirn und Herz. Nie mehr über diese Schwelle, rief es in mir. +Ich scheute mich, den Menschen in die Augen zu blicken. Und doch war ich +glücklich; ich hatte ihre Schultern gespürt, ihre Arme, ihren Mund. Ich +begab mich nach Hause, lief wie toll in meinem Zimmer auf und ab, ging +wieder fort und stand in der Nacht, ich weiß nicht wie lange, vor der +Villa des Majors, zu den schwarzen Fenstern emporstarrend. Die Stunden +bis zum andern Nachmittag schlichen qualvoll hin. Als ich zu Aurora kam, +waren Gäste da. Sie scherzte und plauderte wie gewöhnlich. Dies war mir +unbegreiflich. Erst um sechs Uhr waren wir allein. Mit rauher Stimme bat +ich sie um Aufklärung. Ich sagte, daß ich den Zustand des Zweifels und +der schlimmen Befürchtungen nicht mehr ertragen könne. + +»Was wollen Sie von mir?« entgegnete sie hart. Ich blickte sie erstaunt +an, aber sie senkte nicht die Augen und flammte mich drohend an. Da +packte ich ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen. Sie ließ mich ruhig +gewähren, indes sie den Kopf in die andere Hand stützte. »Wenn ich alles +sagen wollte, wer könnte mir glauben«, murmelte sie vor sich hin, und +ihr Körper schrumpfte zusammen wie unter der Gewalt eines physischen +Schmerzes. »Gehen wir ein wenig ins Freie«, schlug sie vor. Wir gingen +in den Garten. Dort erzählte sie mir alles; während wir über die dunklen +Wege schritten, schilderte sie mir ihre Ehe. Sie schilderte mir diese +Ehe als ein Martyrium, das ohne Beispiel war. Sie schilderte den Major +als einen argwöhnischen, neidischen, boshaften, ohnmächtigen, +lügenhaften, und gewalttätigen Greis. Sie sagte mir, daß er sie schlüge. +(O Gott, der Speichel im Munde wurde mir bitter wie Galle.) An ihr räche +er die Unbill und Zurücksetzung, die er überall zu erleiden wähne. Wo er +ihre Wünsche erfülle, sei es zum Schein; wenn er sich freundlich stelle, +sei es zum Schein. Er behandle sie schlimmer als einen Hund. Seit +sechzehn Monaten lebe sie wie in einem Starrkrampf, und was sie lache +und rede, wisse sie nicht. Zuerst habe sie geschwiegen aus Furcht vor +ihm, dann aus Furcht vor der Welt, denn noch einmal als geschiedene Frau +bodenlos und heimatlos dastehn, das zu ertragen, sei sie nicht fähig, +lieber wähle sie den langsamen Tod aus Kummer, Zorn und Angst. + +Ich glaubte. Man denke nach, ob es für mich eine andere Möglichkeit gab, +als zu glauben. Es gibt im Ungeheuerlichen einen Punkt, wo der Zweifel +erstickt, anstatt genährt wird. Man kann der Raserei mißtrauen, man kann +der Wut oder dem Haß mißtrauen, aber der sanften, schwermütigen und +verzweifelten Ruhe, mit der mich Aurora zum Mitwisser ihres Geheimnisses +machte, ist schwer zu mißtrauen. Ich wußte zu wenig von Leidenschaft, zu +wenig von dieser schrecklichen Narkose des Gemüts. Die Gewohnheit kalter +Sinnenlust und bezahlter Vergnügungen hatte mich einem Sträfling ähnlich +gemacht, der die Kette nicht mehr spürt, aber vor Freude verrückt wird, +wenn man ihm die Freiheit schenkt. + +Wie hätte ich ahnen sollen, was in diesem Weibergehirn vor sich ging? +ahnen sollen, daß Neugier sie zur Verderberin und Verbrecherin machen +konnte? Neugier, wie weit sie mich zu treiben imstande war! Sie glaubte +nicht an Männer, sie glaubte nicht an mich. Daß ich in der Schlacht +gewesen, daß ich Feindesblut und eigenes Blut vergossen hatte, das +verlockte sie, und sie wollte mich erproben. Sie wollte ihre Macht an +mir erproben. Sie hatte die unbestimmte Sehnsucht, Urheberin einer Tat +zu werden, aber sie glaubte nicht an diese Tat, so wenig wie sie an +Worte, Schwüre, Vorsätze und Empfindungen glaubte. Die unergründliche, +unermeßliche Leere ihrer Brust verzerrte ihr alles ernste Bestreben, +Wissen, Wollen, Denken und Vollbringen zu spottwürdigen Schemen. Und so +wurde meine Ergebenheit zu einem Piedestal für ihren lasterhaften +Willen, und es war eine unheimliche Begierde in ihr, mich zu entfalten, +mich gleichsam auseinanderzureißen, um zu sehen, -- was in mir drinnen +sei. Dieses und sonst nichts. + +Das weiß ich jetzt; ich habe es erfahren müssen in einer Stunde, die +mich aus dem Himmel in die Hölle stürzte, einer Stunde, wie sie +vielleicht nur wenige Menschen je erlebt haben, und die ich auch um +keinen Preis noch einmal erleben möchte. Aber wie hätte ich es damals +spüren oder nur denken sollen? frage ich. Vor mir stand eine Frau, jung +und unvergleichlich schön, den Sammet rührender Duldung in den Augen, +und so hingeschmolzen vor meinem Wort und schlechten Trost, daß ein Tier +weich geworden wäre. Kann man das noch Verstellung oder Heuchelei +nennen? Ist dies nicht vielmehr eine böse zauberische Kraft, für die es +noch keinen Namen gibt? + +Ich will es nicht versuchen, meinen jammervollen Zustand zu schildern. +Ich wandelte herum wie ein Vergifteter, auch schmeckte mir kein Bissen +mehr. Daß ich liebte, war kein Glück mehr für mich, daß ich geliebt +wurde, spürte ich nur wie im Traum. Wie ich es fertigbrachte, mich +täglich anzukleiden, zu waschen, zu frühstücken und den Obliegenheiten +meines Berufs zu genügen, ist mir heute noch ein Rätsel. Offenbar gibt +es irgendeine Maschine in unserm Innern, welche die alltäglichen +Pflichten gewohnheitsmäßig erfüllt. Eines Tages war ich bei meiner +Mutter zu Tisch, und da ich alle Speisen unberührt ließ, stellte sie +mich plötzlich in ernstem Ton zur Rede. Sie sagte, sie wisse alles; sie +beschwor mich, von Aurora zu lassen und nannte sie eine gefährliche +Kokette. Ich packte ihre Hände, wie man die Fäuste eines Gegners packt, +der zum Schlag ausholt. »Auch du,« rief ich, außer mir vor Wut und +Enttäuschung, »auch du gehst zu den Verleumdern. Du weißt ja nichts von +ihr. Ach, wenn du wüßtest, wenn du wüßtest, es soll sich mir nur einer +stellen! nur einmal Aug' in Auge! Mich dürstet ja danach, sie vor die +Pistole zu bekommen, die feigen Hunde!« Meine Mutter war erschrocken, +sie umarmte mich schluchzend und sagte: »Daß du den Appetit verloren +hast, mein Junge, ist für mich das beste Zeichen, daß deine Leidenschaft +verderblich und unnatürlich ist.« + +So zeigt sich einem jeden die Welt anders; dem einen von der +Herzensseite, dem andern von der Magenseite. Aber meine Mutter hatte +Recht. Dennoch vermied ich es in der Folge, sie zu besuchen, und vom +November bis zum Februar sah ich sie nur zweimal. Auch mit andern +Menschen sprach ich nicht mehr als das Notdürftigste; ich gab jeden +Verkehr auf und stellte Aurora meine freie Zeit völlig zur Verfügung. +Nachdem ich mich lange in einem Zustand der Zerschmetterung befunden +hatte, begann ich die Unhaltbarkeit der Lage zu spüren, um so mehr, als +meine finstere Apathie in Aurora sichtlich eine gewisse Ungeduld +erweckte. Ich sagte zu ihr, ich müsse mich mit dem Major schlagen. Sie +erwiderte mit der ihr eigenen brennenden und faszinierenden Ruhe: »Wie? +Du willst dein Leben gegen das seine in die Wagschale werfen? Ein +Zufall, und er bleibt Sieger, und ich, verlassener als je, bin nicht nur +auf seine Gnade angewiesen, sondern habe auch noch dich verloren. Bevor +du mir das antust, schieß' ich mir selber eine Kugel in den Kopf, das +sollst du wissen.« + +Ihre Beredsamkeit war groß. Es ist von jeher meine Schwäche gewesen, daß +ich gegen beredsame Naturen schnell unterlag. Ich faßte den Plan einer +Flucht. »Fliehen wir!« schlug ich ihr vor, »ich bin reich, laß uns übers +Meer fahren und ein neues Leben anfangen.« + +Sie schüttelte den Kopf. »Fliehen heißt, mich in den Augen der Welt für +schuldig und ungetreu bekennen,« sagte sie. »Heutzutage ist die Welt zu +klein für solche Wagnisse. Wer kann mich zwingen oder mir es als +nützlich einreden, daß ich wie ein Dieb in der Nacht ein Haus verlassen +soll, in dem man mit Füßen auf mich getreten ist, in dem man mich +bespien und besudelt hat? Nein, Treunitz, das kann ein stolzer Mann +nicht von mir wollen.« + +Da stand ich wie ein Schüler. »Was wollen wir also tun?« fragte ich. + +»So geben wir uns doch auf!« rief sie trotzig und wie ermüdet. Ich +schwieg, muß jedoch sehr blaß geworden sein, denn sie sah mich an, erst +besorgt, dann nachdenklich, düster und kalt. An jenem Tag verstand ich +den Blick noch nicht. Der nächste Tag war Allerseelen. Ich war gegen +Abend gekommen, und Aurora bat mich dringend, zu Tisch zu bleiben. Ich +konnte es ihr nicht verweigern, obwohl mir vor dem Beisammensein mit dem +Major graute. Ich hatte dienstlich mit ihm nichts zu schaffen; in der +Stadt sah ich ihn fast nie, von den Veranstaltungen der Offiziere hielt +ich mich fern; daß ich dennoch sein Haus betrat, dennoch an seiner Tafel +speiste, fähig war, ihn zu begrüßen, ihm zuzuhören und zu antworten, +dies alles müßte mich als einen hinterhältigen und niedrigen Charakter +denunzieren, wenn es nicht durch die Macht, die Aurora über mich +ausübte, einigermaßen erklärt würde. Ihre Worte hatten eine solche +Gewalt über mich, daß in meinem Kopf gar keine Überlegung mehr war, wenn +sie einmal gesprochen hatte. Da ich sie selber dulden sah, glaubte ich +es unserer Liebe schuldig zu sein, mich ebenfalls zu beherrschen und +alles zu versuchen, um ihr Los zu erleichtern. Was für Kämpfe und Leiden +mich dies kostete, davon will ich nicht reden. + +Mit dem Augenblick, wo der Major das Zimmer betrat, pochte mir das Herz +vor Haß, Ingrimm und Verachtung bis in den Schlund hinauf. Ich gewahrte +ihn nur wie durch Schleier, jede seiner Bewegungen erregte mir Ekel, bei +jedem seiner Worte zuckte ich zusammen; meine Stimme klang heiser, und +wer weiß, wozu es gekommen wäre, wenn ich nicht Auroras Blick wie einen +geisterhaften Bann beständig auf mir ruhen gefühlt hätte. Mitten in +einem belanglosen Gespräch unterbrach sich der Major, stocherte mit der +Gabel im Salat, führte ein Blättchen an die Lippen, indem er daran +leckte, und warf dann Besteck und Serviette mit einem Fluch auf den +Tisch. »Kreuzmillionenschwerenot,« schrie er, »wie oft soll ich denn +noch sagen, daß ich den Salat mit Zitrone und nicht mit Essig angemacht +will! Was haben denn die gottverdammten Frauenzimmer sonst zu denken? +Bin ich denn der Niemand im Hause, daß man Schindluder mit mir treibt? +Wahrhaftig, eine Lammsgeduld gehört dazu.« + +In diesem rüden Feldwebelton ging's noch eine Weile weiter, bis er +aufsprang, die Tür hinter sich zudonnerte und hinausstürzte. + +Ich war vollkommen perplex. Das Blut stieg mir langsam zu Kopf, und ich +blickte Aurora schweigend an. Sie saß da und lächelte wie eine Frau, die +es endlich zur Augenscheinlichkeit gebracht hat, was sie sonst nur +insgeheim erleidet. »Dies ist ein Affront,« murmelte ich, »ich werde ihn +zur Rechenschaft ziehen.« Aurora lachte. »Zur Rechenschaft ziehen? Einen +Unzurechnungsfähigen? Was fällt dir ein!« erwiderte sie herrisch. +»Abrechnen mit einem Vieh!« + +Ich zitterte vor innerem Frost an allen Gliedern. Und wie mich nun +Aurora so anschaute, mit blitzendem Blick, mit geschlossenen Lidern und +mit einer unbeweglichen Stirn, da war es mir, als ob mein Herz in +siedendes Wasser getaucht würde, und, Gott möge mir verzeihen, ich fing +an, jenen Blick zu verstehen, er ging auf in meiner Brust wie das +Saatkorn in gedüngtem Boden. Es war mir klar, es war ein unabwendbarer +Beschluß, daß der Major von meiner Hand sterben müsse. Aurora zu retten, +war mein einziger wütender Drang, ich fühlte meine Liebe zu ihr so +ungeheuer, daß ich die wenigen Worte, die alles entschieden, trotz des +Flüsterns mit einer Festigkeit hervorbrachte, als ob dieses +Fürchterliche eine alltägliche Angelegenheit sei. Aurora, der aus +weitoffenen Augen die Tränen über das Gesicht liefen, hörte plötzlich +zu weinen auf, ihre linke Hand bebte mir entgegen, ich ergriff die Hand +und bedeckte mein Gesicht damit. + +Der Major kam nach einer Viertelstunde zurück und bat, anscheinend sehr +betreten, um Entschuldigung, die ich meinerseits kalt quittierte. +»Aurora,« rief er gezwungen scherzend, »komm einmal zu mir.« Sie erhob +sich sogleich und trat eilig vor ihn hin. Diese Bewegung sklavischer +Unterwürfigkeit und Angst rührte mich tief. Daß sie wahrscheinlich nur +für mich berechnet war, ahnte ich ja nicht. Wie Napoleon, wenn er einen +seiner Günstlinge wieder versöhnen wollte, zupfte der Major seine Gattin +am Ohrläppchen und lachte. Unter irgendeinem Vorwand verabschiedete ich +mich alsbald. + +Ich war jetzt bei ziemlich kaltem Blut, und während der ganzen Nacht +überlegte ich meinen Plan. Am nächsten Vormittag um elf Uhr traf ich +Aurora, wie oft bei schönem Wetter, im Stadtpark. Ich vermochte, mit ihr +davon zu sprechen. Es fiel mir auf, daß sie dabei fortwährend mit +niedergeschlagenen Augen lächelte. Dies dünkte mich sehr kurios. Ich +wußte nicht, war es Unglaube, Befriedigung, Gedankenlosigkeit oder +irgendeine Träumerei. Der Ausdruck ihrer Züge rief eine dunkle +Erinnerung in mir hervor. Erst viel später entsann ich mich, daß vor +Jahren, als ich in Basel war, das Bild der Herzogin vom sogenannten +Basler Totentanz eine lange nicht verwischbare, fast unheimliche Wirkung +auf mich ausgeübt hatte. Es war genau dieses süß-friedsame Gesicht, in +dem etwas Wildes und Kindisches war, eine zerstreute und lustige +Grausamkeit und ein Lächeln, als ob der Tod nur ein Schreckmittel für +Schwachköpfe sei. + +Nun, was half's; ich war darum nicht weniger verstrickt, der Gedanke +wurde uns vertraut. Er erweckte kein Schaudern mehr in mir. Er nahm +Gestalt an, und ich war von ihm besessen. Gleichwohl quälte mich Auroras +Verhalten. Wenn wir eine Zeitlang ernst über das Vorhaben gesprochen +hatten, klatschte sie plötzlich in die Hände und lachte, als ob es sich +um ein Märchen handle, an dem zu sinnen angenehm war, das aber niemals +in Erfüllung gehen könne. Dergleichen regte mich ungemein auf. Wenn sie +mir die Perfidien und zahllosen tyrannischen Handlungen ihres Gatten +klagte, beobachtete sie mit Angst, bisweilen mit einem Gemisch von +Freude und hungriger Erwartung die geringste meiner Gebärden. Mein +Geständnis, daß mich ihre Berichte unsinnig folterten, schien sie oft +beinahe fröhlich zu stimmen, und es bestürzte mich, wenn sie unmittelbar +nach einem der unheilvollen Gespräche mit dem Vergnügen eines kleinen +Mädchens einen Hut probieren konnte und sich selber in den Spiegel +hinein entzückt anlächelte. Ich habe während der ganzen Monate Dezember +und Januar in keiner Nacht mehr als zwei Stunden Schlaf genossen, und am +Ende sah ich aus wie ein Schwindsüchtiger. + +Dazu die gestohlenen Liebesstunden, in denen meine Leidenschaft nur +durch versprechungsvolle Küsse Genüge fand. Was Genüge! Ein +verzweifeltes Aufflackern war es immer wieder, das den Körper ruinierte +und mir alle Klarheit des Gemüts und Geistes raubte. Aurora gab sich mir +nicht hin; sie erklärte, das schände sie, sie wolle sich nicht noch mit +Lug und Trug beladen, sie wolle ihr Gewissen fleckenlos bewahren. Ich +ehrte diese Gründe, ich konnte nicht wissen, daß es ihr bloß darum zu +tun war, mein Gefühl ins Maßlose zu steigern. Denn sie, sie hatte ja +genossen! Sie wollte sich einnisten in der Anbetung eines +vertrauensseligen Mannes, das verlieh ihr einen Halt, eine letzte Würde +und weckte vielleicht ihr abgestumpftes Herz zu einer Regung von +Zärtlichkeit. Das war es, das war das Ganze, und ich Tropf lief in die +überdeckte Falle und stürzte so tief, daß keine Faser an meinem Leibe +heil blieb. + +Eines Abends um sieben Uhr kam Aurora in meine Wohnung, dicht +verschleiert. Sie war still und finster, wie ich sie nie gesehen. Sie +entblößte ihre Brust und zeigte mir einen blutigen Striemen. Ich +stotterte eine Frage. »Dies ist von ihm«, sagte sie dumpf. Da schlug ich +besinnungslos mit der Faust um mich und zertrümmerte das Fenster. Mit +meiner von Glassplittern verwundeten Hand wollte ich sie an mich ziehen, +aber sie, auf das Blut starrend, wich sehr erschrocken zurück. »Du +weißt, ich kann kein Blut sehen«, hauchte sie. »Und doch sollst du bald +Blut sehen«, antwortete ich. »Nein sehen nicht«, versetzte sie abermals +hauchend. »Ach, wenn das wäre«, fügte sie hinzu und schaute mich glühend +an, »wenn du das vollbringen könntest, dann könnte ich sterben aus Liebe +zu dir.« + +Daß sie gewagt hatte, zu mir zu kommen, erschütterte mich, da ich in +dieser Verwegenheit nur eine Handlung des Vertrauens und der Zuneigung +erblickte. Besorgt um ihren Ruf, holte ich selber einen Wagen; ich +begleitete sie, und während der Fahrt setzten wir Tag und Stunde der Tat +fest. Ich sagte »morgen«. Aurora antwortete, morgen sei der große Ball +im Kasino, da wolle sie noch einmal tanzen. Dieses »noch einmal« +zerstreute eine unangenehme Verwunderung, die mir der Einwand zunächst +erregt hatte. Ich sagte also: übermorgen. Sie wünschte auch dieses +nicht. Sie sagte, am Sonntag sei in Weidenberg Jahrmarkt, ihre Mädchen +und der Bursche des Majors hätten für den Nachmittag und die Nacht +Urlaub erbeten, und so könne ich ins Haus kommen ohne Gefahr, einen +Unberufenen zu wecken. Ich fügte mich, obwohl mir jeder Tag und +besonders jede Nacht bis dahin zur Ewigkeit werden mußte. An das, was +nachher kam, dachte ich nicht im geringsten. Vermutlich spürte ich +schon, daß ich auf eine Zukunft nicht mehr zu rechnen hatte. + +Als ich am nächsten Mittag in Gesellschaft des Regimentsadjutanten über +den Domplatz ging, gewahrten wir einen sehr fetten und auffallend +elegant gekleideten jungen Menschen, der offenbar fremd in der Stadt +war. In der Provinz wird der Fremdling, und gar der Großstädter durch +ein Etwas in Miene und Schritt sofort erkennbar. Ich hatte nur einen +Blick auf ihn geworfen und fühlte gleich den äußersten Widerwillen gegen +dies abgelebte, hochmütige und bornierte Gesicht. Der Regimentsadjutant +zwinkerte mit den Augen und bemerkte spöttisch: »Aha, da ist ja der +Fabrikant Dotterwachs aus Berlin.« + +Mich durchfuhr eine unklare Erinnerung von nicht sympathischer Art, aber +erst hernach fiel mir ein, daß das vielleicht jene Person sein könne, +von der mein Freund, der Ingenieur, gesprochen. Als ich am Nachmittag in +die Westermarksche Villa kam, wurde mir gesagt, die gnädige Frau sei +nicht zu Hause. In meiner Wohnung angelangt, übergab mir mein Bursche +einen Brief. Es war ein anonymes Schreiben folgenden Inhalts: »Wenn Sie +das geheime Absteigequartier der Majorin Westermark kennen lernen +wollen, so verfügen Sie sich in den dritten Stock des Hauses Nummer 15, +Schönlandstraße. Eine frühere Kammerjungfer und jetzige Vertraute der +Majorin ist Kupplerin und Mieterin dortselbst.« + +Ich zerriß den Fetzen und heftete nicht zwei Gedanken daran, schon, weil +mir die Sache zu albern erschien. Leider hatte ich Aurora versprochen, +auf den Kasinoball zu kommen, wenn auch nur, um sie zu sehen. Ich +überwand meine Abneigung, die mir in der jetzigen Stimmung derlei +Festlichkeiten hassenswert machte, schob aber die Stunde möglichst +hinaus, und so war es bereits recht spät, als ich den Saal betrat. +Aurora war von einem Kreis junger Leutnants umgeben. Sie war hinreißend +schön; die Haut von Busen, Hals und Antlitz glänzte wie Silber, darunter +floß fischhaft das dunkelgrüne Spitzenkleid; sie war heiter, allzu +heiter; und ich, ich war finster. Ich war einer Ohnmacht nahe, so +schrecklich empfand ich in diesem Augenblick meine leidenschaftliche +Liebe. Frau von Rütten, an der ich nicht grußlos vorübergehen konnte, +saß mit einigen andern Leuten in einer Säulennische. Alle diese Leute +sahen mich mit seltsamen Blicken an, wenigstens schien es mir so. Ich +bemerkte darunter auch das siebzehnjährige Kind, mit dem man mich hatte +verheiraten wollen. Ich glaubte die Augen dieses Mädchens mit einem +rührenden Gefühl auf mich gerichtet. Ich wandte mich hastig ab und hatte +gerade noch Zeit, dem Major Westermark aus dem Weg zu gehen, der auf +mich zukam, lachend und winkend, als ob ich sein bester Freund wäre. Es +überrieselte mich eiskalt. + +Ich stellte mich nun an das untere Ende des Saales und starrte in das +lichtübergossene Geflimmer der Uniformen und Roben. Die Walzermusik +stimmte mich traurig, und ich weiß nicht, wie es zuging, aber ich mußte +beständig an den Mann denken, den ich mittags gesehen, und dessen +fleischige und gemeine Züge nicht aus meiner Vorstellung schwinden +wollten. Ich sah ihn essen, ich sah ihn Bier trinken, ich sah ihn +widerlich lachen und prahlen, und voll Bitterkeit dachte ich mir: das +ist also der jetzige Deutsche, ein solcher Mann darf den Namen eines +Deutschen führen; Emporkömmling; dickfelliger, ohrenloser, +aufgeblasener, herzloser Geselle, dem alles gehört und der nichts +respektiert; und so sind sie alle, sie haben das Zittern verlernt und +brauchen wieder einmal die Peitsche des Schicksals. Dabei kannte ich den +Mann doch gar nicht und verband nur einen Eindruck mit dem Groll über +eine allgemeine Kalamität, denn ich war in diesen Dingen schon zum +Schwarzseher geworden und war deshalb auch nicht mehr mit innerer Freude +Soldat. + +Nach dem Kotillon gelang es mir, Aurora für ein kurzes Alleinsein zu +erobern. In ihrem Wesen war etwas Schmachtendes, das ich nicht lediglich +der Wirkung des Tanzes zuschreiben mochte. Die Luft zitterte zwischen +unsern Mündern und unsre Blicke bohrten sich fest ineinander. Trotzdem +Leute um uns herumstanden, hatte sie die Verwegenheit, mich zu fragen, +ob es beim Sonntag abend verbleibe, und als ich schweigend und bestürzt +nickte, lächelte sie mit entblößten Zähnen. Noch lange nachher, als sie +sich schon von mir entfernt hatte, beobachtete ich, daß ihre Augen +bisweilen forschend, ja ängstlich auf mir ruhten. Plötzlich ging sie zu +ihrem Mann, sagte ihm ein paar Worte und verließ den Saal. Der Major, +der bei Frau von Rütten saß, erhob sich, um ihr zu folgen. Sie kehrte +noch einmal um, und sie redeten wieder eine Weile miteinander, dann ging +Aurora. Der Major schien unschlüssig und zeigte ein nachdenkliches +Gesicht. Da Aurora nicht zurückkam, entschloß ich mich, Frau von Rütten +zu fragen, ob sie wisse, was geschehen sei. Sie antwortete mir kalt, die +Majorin habe sich nicht wohl gefühlt und sei nach Hause gefahren; sie +habe nicht gewünscht, daß der Major sie begleite, weil sie bestimmt +wiederkommen wollte. Ich wunderte mich und wurde besorgt. Ehe eine +Viertelstunde verflossen war, hatte ich mich in aller Stille aus dem +Saal entfernt, nahm außen meinen Mantel und eilte nach der +Westermarkschen Villa. Daß meine Abwesenheit unter der Ballgesellschaft +bemerkt und auffällig gefunden werden könne, darüber machte ich mir +keine Gedanken. Da ich im Souterrain der Villa noch Licht sah, läutete +ich am Gartentor. Eine Mädchenstimme fragte vom Fenster aus, wer da sei. +Ich erkundigte mich, ob sich die gnädige Frau noch oben befinde; weil +der Wagen nicht da war, mußte ich annehmen, daß sie schon zurückgekehrt +wäre. Das Mädchen erwiderte mir, die gnädige Frau sei auf dem Ball. Sie +sei aber doch vor kurzem nach Hause gefahren, versetzte ich. Dies wurde +verneint. + +Ich spazierte auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf und ab und +wartete, bis die Glocke zwölf schlug. Darauf machte ich mich wieder auf +den Weg und dachte, sie habe am Ende das Kasino gar nicht verlassen. Als +ich in die Wilhelmstraße einbog, rasselte eine Droschke an mir vorüber +und blieb etwa zweihundert Schritte weiter stehn, ungefähr in der Mitte +des Wegs zwischen mir und dem Kasino. Es stieg ein Herr aus, und der +Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Der Herr kam mir auf demselben +Trottoir entgegen, und ich erkannte den Fabrikanten aus Berlin. Er trug +einen Zylinder und rote Handschuhe. Sein fettes Gesicht hatte einen +angestrengt überlegenden Ausdruck, und seine Lippen waren wie zum +Pfeifen gespitzt. Niedergeschlagen, ohne recht zu wissen, weshalb, +wandelte ich noch ziemlich lange Zeit auf den Straßen herum. Als ich +dann wieder den Ballsaal betrat, erfuhr ich, daß Westermarks schon nach +Hause gefahren seien. Dies beschwichtigte mich einigermaßen. + +Als ich am folgenden Nachmittag zu Aurora kam, fand ich sie lesend. Sie +hatte unter alten Sachen gekramt und ein Stammbuch aus ihrer Mädchenzeit +entdeckt. Ich beugte mich über sie und sah, daß ihre Blicke auf einen +Vers gerichtet waren, der in großväterischen Schriftzügen ein vergilbtes +Blatt bedeckte. Er lautete: + + Mit einer Blume zu spielen, ist dir erlaubt, + und sie zu pflücken. + Mit einem Herzen, das du geraubt, + sollst du nicht tücken. + Vergiß nicht, o Mann, o Weib, + Herz, das sich schenkt, ist Gottes Leib. + +»Ein hübscher Spruch«, sagte ich. Aurora schaute mich geistesabwesend +an. Sie ergriff meine Hand und hielt sie fest. Ihre Finger waren heiß. +Ihr Wesen war so gemsenhaft scheu und so bedrängt, daß ich den +Augenblick sehnlich herbeiwünschte, wo ich ihr zurufen konnte: du bist +erlöst. Sie hatte viel Gesichter und jeden Tag zeigte sich mir ein +neues. Hätte sie nur ein einziges Gesicht besessen, so hätte ich +vielleicht ergründen können, was in ihr vorging; aber von der +hinschmelzenden Schwermut bis zur Trunkenheit des Vergnügens alle +Verwandlungen mitzuerleben, hatte ich kein Talent. Ich hätte lernen +müssen zu sehen, bevor ich sie liebte. + +Endlich brachte ich es über mich, sie zu fragen, wo sie gestern während +des Balles gewesen sei. Ihr Gesicht verfinsterte sich erschreckend. +»Bedeutet dies Mißtrauen?« flüsterte sie langsam. Ich schüttelte den +Kopf. »Hast du denn gar keine Geheimnisse?« fragte sie in derselben +düstern Weise. »Gar keine«, antwortete ich. »Aber ich,« fuhr sie fort, +»ich habe Geheimnisse, und auch die sollst du lieben. Bin ich nicht mit +meinem ganzen Dasein so und soviel tausend Zuschauern offenbar? Wenn ich +kein Geheimnis hätte, müßte ich sterben. Übrigens magst du wissen,« +fügte sie hinzu, »daß gegenwärtig ein ehemaliger Freund von mir in der +Stadt weilt, ein Mensch, dem ich einst viel zu verdanken hatte, der aber +meine Dankbarkeit jetzt ausbeutet. An Bedrückern hat es mir nie gefehlt. +Aber von alledem sprechen wir ein andermal.« »Ein andermal?« versetzte +ich mit stockender Stimme. »Ja, ein andermal«, bekräftigte sie mutig +oder auch gedankenlos. Sie näherte sich mir, legte ihre Hände auf meine +Wangen und flüsterte: »Ach, wir werden viel beieinander sein müssen, +damit ich dir alles, alles sagen kann.« So verstand sie es, mich zu +beunruhigen und mich sicher zu machen mit ein und derselben Rede. + +Als es zu dunkeln begann, gingen wir gegen den Fluß hinaus spazieren. Es +war dies ein einsamer Weg, wo selten jemand zu sehen war. Da wir uns am +folgenden Tag nicht sehen wollten, verabredeten wir alle Einzelheiten +des mörderischen Vorhabens. Aurora gab mir den Schlüssel zur +Gartenpforte. Der Hund, der während der Nacht im Garten frei war, +brauchte keine Sorge für mich zu sein, denn das Tier kannte mich, die +beiden Jagdhunde wurden nachts in den Verschlag neben den Keller +gesperrt. Den Hausschlüssel könne sie mir nicht geben, sagte Aurora, es +sei nur ein einziger vorhanden, und den habe ihr Mann. Sie wollte an der +Rückseite der Villa das Flurfenster offen lassen, dort sollte ich +einsteigen und mich der Stiefel entledigen, bevor ich ins Schlafzimmer +des Majors ging, das er unversperrt zu lassen pflegte. Daß sie keinen +Hausschlüssel besaß, war eine Lüge, davon konnte ich mich selbst +überzeugen, ehe zweimal vierundzwanzig Stunden vergingen. Den Grund +dieser Lüge vermag ich allerdings auch jetzt noch nicht einzusehen. +Vielleicht wollte sie die Vorbereitungen abenteuerlicher machen, oder, +was wahrscheinlicher ist, sich vor Überraschungen sicherstellen. Dies +schlug fehl durch meine aufrichtige Entschlossenheit. + +Ich gestehe, daß mich schauderte. Aber ich war ja schon verdammt durch +den Willen. Die Ausübung war nur noch eine mechanische Folge für mich. +Aurora verwunderte mich dann und wann durch eine Miene des Staunens und +eine mir unerklärliche, neugierige Spannung. Während des Rückwegs jedoch +blieb sie bei einer Weide stehn, strich mit ihren Händen den Schnee von +einem Ast und warf sich plötzlich, erst lachend, dann weinend an meine +Schulter. + +In welcher Verfassung ich den nächsten und den übernächsten Tag +verbrachte, ist zu beschreiben unmöglich. Wozu sollte ich auch dabei +verweilen. Erst im Gefängnis habe ich erfahren, daß der Major gerade an +jenem Sonntag sein Geburtsfest feierte und daß ihn Aurora mit einer +neuen Jagdflinte, einem neuen Portefeuille und einem Paar von ihr selbst +gestickter Pantoffeln beschenkte. Gleichfalls habe ich erfahren, daß sie +ihm, wie das Stubenmädchen aussagte, schon am Morgen die Erlaubnis +abschmeichelte, den Abend außer Haus verbringen zu dürfen, bei einer +Freundin, die aus Stettin gekommen sei. Um zwei Uhr nachmittags schickte +sie den Burschen des Majors mit einem Brief in meine Wohnung. In diesem +Brief standen nur die Worte: »Aufschieben. Gründe mündlich.« Ich bekam +aber den Brief nicht mehr in die Hand, und das war ein Unglück. Ich war +um zwölf Uhr zum letztenmal in meinem Zimmer gewesen, hatte Zivilkleider +angelegt, den Revolver zu mir gesteckt und war über Land gegangen. Ich +hatte mir vorgenommen, nicht mehr nach Hause zurückzukehren, denn mir +graute vor den vier Wänden. Dies war, wie gesagt, ein Unglück. + +Die schrecklichste Unruhe trieb mich draußen über Landstraßen, durch +Wiesen, Äcker und Wälder. Ich war todmüde, als ich spät abends in die +Stadt zurückkam, aber mein Kopf war klar. Um dreiviertel zwölf stand ich +vor dem Gartentor der Villa. Im Zimmer des Majors brannte kein Licht +mehr. Ich wußte, daß er sich täglich um elf Uhr zur Ruhe begab, denn des +Morgens war er der erste Offizier in der Kaserne. Ich sperrte die +Gartentür auf, und als ich nach der Rückseite des Hauses ging, folgte +mir der große Bernhardinerhund mit freundlichem Wedeln seines Schweifes. +Als ich das bezeichnete Fenster, entgegen der mit Aurora getroffenen +Verabredung, fest zugeschlossen fand, stutzte ich. Eine Weile war ich +ratlos. Ich zog aus dem Umstand nicht den vernünftigen Schluß, den ich +hätte ziehen sollen. Ich beschloß zu tun, was die Diebe und Einbrecher +tun. Mit der pelzbehandschuhten Hand preßte ich so lange an das Glas, +bis es sprang. Die Jagdhunde im Verschlag fingen an zu bellen, da sich +aber sonst nichts regte, entfernte ich mit Bedachtsamkeit die Scherben, +öffnete den Innenriegel und stieg ein. Ich hatte Gummisohlen an den +Stiefeln und stieg unter dem fortwährenden Gekläff der Hunde die Treppe +hinan bis zum Schlafzimmer des Majors, in das ich ohne zu zögern +eintrat. Es war eine ziemlich stürmische Mondscheinnacht, und obgleich +der Mond häufig durch Wolken verdeckt wurde, fiel doch durch das +unverhängte Fenster Licht genug, daß ich den Major sehen konnte. Er +hatte eine Mütze auf dem Kopf und schnarchte laut. Er erschien mir sehr +dick. Dicke Menschen waren mir von jeher zuwider, und in diesem +Augenblick empfand ich nur die rein tierische Abneigung gegen den Mann. +Als ich neben das Bett trat, gewahrte ich auf dem Nachtkästchen ein +Buch, und ich konnte im Mondlicht ohne Mühe den Titel auf dem bunten +Umschlag lesen. Es waren »Lederstrumpfs Erzählungen«. Einfältig und +lächerlich kam es mir vor, daß ein Soldat in den Jahren des Majors +solches Zeug zur Abendlektüre wählte; aber diese Betrachtung ließ mich +nur um so mehr spüren, wie schändlich es sei, einen Mann im Schlafe zu +töten. Einer derartigen Regung fühlte ich mich nicht gewachsen, ich +legte meine linke Hand auf die Schulter des Majors, in der rechten hielt +ich den Revolver. Der Major wachte sofort auf und sah mich stier an. +»Nehmen Sie einen Revolver,« sagte ich kalt, »wir müssen uns auf der +Stelle schießen.« Seine Augen rollten furchtsam im Kreis, und es war, +als verstehe er mich nicht. Ich wiederholte meine Worte. Er fing an zu +murmeln; ich schnitt ihm die Rede ab und wiederholte meine Worte. Er +schüttelte sich ein wenig und sprach jetzt deutlich, ich hörte nichts +und wiederholte abermals meine Worte. Plötzlich sprang er auf, die +andere Seite des Bettes war ebenfalls wandlos, er taumelte aus dem Bett +und schrie mit heiserer Stimme um Hilfe. + +Da schoß ich. Ich schoß zweimal. Er streckte gleich darauf die Arme in +die Luft und stürzte zu Boden. Ich näherte mich ihm und sah, daß er tot +war. Es rann mir eisig durch alle Glieder. Ich verließ das Zimmer und +ging über den Korridor hinüber zu Auroras Schlafgemach. Sie mußte die +Schüsse gehört haben. Was jetzt? fuhr es mir durch den Kopf; das +beständige Geheul der Hunde machte mich rasend. Ich hatte mir das +Nachher ganz und gar nicht vorgestellt, aber daß ich mich nun +gemütsruhig entfernte, um zu warten, bis am Morgen die Untat, als von +einem Unbekannten verübt, entdeckt wurde, das ging nicht an. Ich fühlte, +daß ich sterben müsse, und es entstand in mir der Wunsch, daß Aurora mit +mir sterben möge. Wie ward mir aber, als ich Auroras Zimmer leer fand +und ihr Bett unberührt! Ich schritt der Reihe nach durch alle Zimmer des +Stockwerks, und die wohlbekannten Möbel und Bilder blickten mich an, wie +lebendige Dinge. Indes ich wie ein Gespenst dort herumirrte, vernahm ich +das Rollen eines Wagens auf der Straße. Ich stand gerade wieder auf dem +Korridor, welcher auf eine Tür zulief, die gegen einen kleinen +Gassenbalkon oder Vorbau führte. Diese Tür öffnend, trat ich hinaus und +kam eben recht, als der Wagen vor der Gartenpforte hielt. Durch die +kahlen Baumzweige hindurch konnte ich sehen, daß Aurora ausstieg. Ich +erblickte aber noch jemand im Wagen, ein Gesicht erschien am Fenster, +das ich wohl erkannte. Aurora blickte flüchtig am Haus empor, aber nicht +dorthin, wo ich stand, sondern gegen die Seite, wo des Majors Zimmer +war. Darauf beugte sie sich noch einmal in den Wagen, ich sah einen +roten Handschuh auf ihrem Arm und ich hörte sie flüstern und lachen. +Gott! ich hatte kaum mehr die Kraft zu stehen, ich spürte, daß mich die +Blässe überströmte wie Sand. Treunitz! Treunitz! schrie es in mir, du +hast verspielt. + +Aurora war inzwischen ins Haus gegangen, den Schlüssel hatte ich in +ihrer Hand blinken gesehen, ihre Schuhe schlürften auf den Steinfliesen +im untern Flur, dann knarrte eine Tür, dann wieder eine. Ich ging in den +Flur, blieb aber in der Ecke stehen. Aurora kam mit den beiden +Jagdhunden die Stiege herauf. Sie hielt die Tiere, die sich wie toll +gebärdeten, fest an der Leine. Wahrscheinlich hatte das unaufhörliche +Gebell Furcht in ihr erweckt, und sie hatte den Verschlag geöffnet, um +die Hunde mitzunehmen. Sie gewahrte mich nicht, sie ging in ihr Zimmer. +Ich hörte, wie sie mit beinahe wilden Lauten die Hunde zu bändigen +suchte, was ihr jedoch nicht gelang. Ich kehrte unterdes zum Zimmer des +Majors zurück, blieb aber auf der Schwelle stehen. Jetzt trat Aurora mit +der Kerze auf den Flur, sie hatte noch den Hut auf, der lange Schleier +hing zu beiden Seiten herunter wie zwei blaue Fahnen. Die Hunde, der +Leine entledigt, stürzten an mir vorüber in das Zimmer des Majors. Sie +blieben an der Leiche stehen und verbellten den toten Mann wie ein im +Feuer verendetes Stück. Aber auf einmal wurden sie alle beide still und +winselten nur noch. Aurora schaute mit kaltem Blick in den Raum, dann +mit demselben kalten Blick auf mich und fragte mit dem seltsamsten +Gleichmut: »Was hast du denn da gemacht?« Und als ich schwieg, fuhr sie +mit genau derselben matten und unbewegten Stimme fort: »Er ist wohl +tot?« Und als ich abermals schwieg, begann sie wieder: »Warum hast du +denn das getan?« + +Im ersten Augenblick glaubte ich den Verstand verloren zu haben. Ich +konnte kein Wort aus meiner Kehle pressen, meine Zähne rieben sich +hörbar aufeinander, und ich mußte das unbegreifliche Weib nur immerfort +anstarren. Sie blickte sich noch einmal um, etwa wie wenn man in einem +Museum Bilder anschaut, dann pfiff sie den Hunden und ging. Die Hunde +folgten nicht, sie hörten nicht auf zu winseln. Da entfernte sie sich +allein. Sie ging in ihr Zimmer. Ich blieb wie versteinert auf meinem +Platze, die beiden Tiere zu sehen und zu hören, war mir plötzlich das +hellste Grauen. Ich fing an zu zittern und wußte nicht, woran ich denken +sollte. Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit verflossen war, möglich eine +halbe Stunde, möglich eine ganze, als ich mich entschloß, in Auroras +Zimmer zu gehen. Die Türe war unversperrt. Aurora war im Bett, die +brennende Kerze stand noch auf dem Nachttisch. Im Zimmer selbst war die +größte Unordnung, Kleider und Wäschestücke lagen umher, eine kleine +Reisetasche stand, wie zum Gepacktwerden, offen auf einem Stuhl. Ich +blieb am untern Bettpfosten stehn und fragte Aurora, ob sie es denn +nicht gewollt habe. Aus den Kissen heraus antwortete sie: »Laß mich +jetzt schlafen.« »Um Gotteswillen!« flüsterte ich. Da erhob sie den Kopf +und fragte kalt, ob ich das Billett nicht erhalten habe. »Was für ein +Billett?« fragte ich. Sie sah mich unwillig an, lachte plötzlich und +sagte fast verächtlich und als ob ich ihr völlig fremd sei: »Gehen Sie +hinaus und lassen Sie mich schlafen. Es schickt sich nicht, daß Sie bei +meinem Bette sind.« Mit diesen Worten blies sie die Kerze aus, und ich +hörte sie wieder leise ins Kissen lachen. + +Ich begriff es nicht. Ich hätte begriffen, wenn sie zornig, wenn sie +wütend, wenn sie verzweifelt gewesen wäre, ich hätte alles begriffen, +aber dies begriff ich nicht. Mir war es, als ob aus einer schönen +Verkleidung ein Unhold hervorgetreten wäre, ein bestialisches Gebilde, +ein grinsendes Affenwesen, wie es dermaßen furchtbar die Welt noch nicht +erblickt. Ich tastete mich hinaus, das Entsetzen lag mir in allen +Gliedern. Auf dieselbe Weise, wie ich gekommen war, mußte ich auch das +Haus verlassen. Nachdem ich das Gartentor aufgesperrt und hinter mir +zugeklappt hatte, warf ich den Schlüssel über den Zaun zurück. Es war +ein Uhr, als ich nach Hause kam. Auf dem Tisch lag Auroras Brief. Ich +öffnete ihn nicht. Es war mir alles zum Ekel und alles rätselhaft. Ich +legte mich erschöpft aufs Bett und schlief bis sieben Uhr. Als mein +Bursche kam, beauftragte ich ihn, eine Droschke zu holen, und zog +unterdes die Uniform an. Ich fuhr in die Kaserne und wartete in der +Kanzlei auf den Obersten. Er erschien erst gegen neun Uhr; er war bleich +und fragte mich, ob ich schon wisse. Die Ermordung des Majors war +bereits in der Stadt bekannt. Ich bat ihn um ein Wort unter vier Augen. +Mein Geständnis machte seinem wohlwollenden und gegen mich stets +vertraulichen Wesen ein schnelles Ende. Ich mußte den Degen abliefern +und wurde sogleich inhaftiert. Dies alles war von keinem Belang mehr für +mich. Ich wurde gefragt, ob ein Zweikampf beabsichtigt gewesen sei. Ich +verneinte, weiß aber kaum, warum. Ich hätte meine Verteidigung darauf +bauen können, ich tat es nicht. Ich hätte ja dem Major eine zweite Waffe +in die Hand drücken können, bevor ich das Haus verließ. Ich tat es +nicht, weil es mir gleichgültig war. Ich erfuhr von der Verhaftung +Auroras, von dem Erstaunen und dem Schrecken, den meine Tat überall +erregte, und auch dieses war mir gleichgültig. Am andern Morgen besuchte +mich der Oberst, fragte, ob ich vor dem Transport ins Militärgefängnis +noch etwas zu ordnen hätte, legte ein Terzerol auf den Tisch und stellte +sich ans Fenster. Ich tat nicht, was er erwartete. Er entfernte sich +ohne Gruß. Die Kameraden glaubten, daß ich aus Feigheit unterlassen +habe, ein Ende zu machen, aber dem ist nicht so. Ich habe nichts vom +Feigling in mir. Ich war bloß regungslos in meinem Innern. Ich war ganz +wie aus Blei. Ich grübelte beständig ins Finstere hinein. Erst mit dem +Verlauf vieler Tage kam ich wieder zur Besinnung. Ich fing an, meine +Beichte dem Papier anzuvertrauen. Ich hinterlasse sie der geringen Zahl +meiner Freunde. Es ist mir nun klar, daß mich die Menschen für schuldig +halten und daß ich zu sterben die Pflicht habe. Ich selbst, ich kann +nicht sagen, ob ich mich schuldig fühle oder nicht. Ich kann es nicht +sagen. Aurora hat es ja gewollt. Um meiner Mutter willen bitte ich um +ein anständiges Begräbnis. + +Und nun geschehe, was geschehen muß. + + + + +Hilperich + + + Ein Schiffer fährt den dunklen Strom + Hinunter ohn Bedacht. + Die Lüfte ruhn, das Wasser schweigt, + Und mählig wird es Nacht. + + +Kanzlist Johann Querschneider zu Nürnberg, ein seltsamer Kauz, ein +Hungerleider doch nach Diogenes' Art, erzählt: + +Vierundzwanzig Jahre sind seit meines Vaters Tod verflossen. Ich bin ein +uneheliches Kind und führe den Namen meiner Mutter. Bis zu meinem +zweiundzwanzigsten Jahr wußte ich von meinem Vater nichts, nicht einmal +ob er lebte. Ich hatte mich nicht sonderlich dafür interessiert; Gott +weiß aus welchem Grund ich stets darüber hinweg dachte. Meine Mutter +verfuhr in diesem Punkt sehr kategorisch. Wenn ich fragte, so lachte sie +mir ins Gesicht. Ich zerbrach mir nicht den Kopf, sondern lebte so hin, +nicht schlechter und nicht besser als andere; Geld hatten wir wenig, +litten aber keinen Mangel. Meine Mutter bezog irgendwoher eine kleine +Pension, besorgte Nähereien für einige Bürgersfrauen im Bezirk, und ich +selbst war beim Amtsgericht als Schreiber angestellt. + +Ich lebte also und beschäftigte mich nach meiner Art. Bis zu meinem +zweiundzwanzigsten Jahr wie gesagt. Da ereignete es sich eines Morgens +im Frühling, ich ging gerade zum Amt, daß ich im düsteren Korridor +unseres uralten Gerichtsgebäudes ein junges Mädchen stehen sah, welches +forschend und unruhig den langen Gang bald hinauf, bald hinunter +blickte. Ich trat zu ihr hin und fragte unverhohlen nach ihrem Begehren. +Sie antwortete etwas in italienischer Sprache, und da ich sie nicht +verstand, schüttelte ich den Kopf und ging langsam meiner Wege. Das ist +ein teuflisches Frauenzimmer, sagte ich mir, denn ich hatte im Leben +Schöneres nicht gesehen. Voller Gedanken kam ich in die Amtsstube und +setzte mich an meinen Tisch. Drei Personen von den Parteien waren schon +anwesend. Der Diener schrie in den Flur hinaus: »Bianca Spinola!« und +das schöne Mädchen trat ein. + +Die Verhandlung betraf einen schwierigen und absonderlichen Fall. Der +alte Rat Hilperich (ein Mann, den jedes Kind auf der Straße kannte, und +dessen abenteuerliche Vergangenheit den Gegenstand vieler Erzählungen +bildete) war auf den Einfall gekommen, eines seiner unehelichen Kinder, +ein junges Mädchen aus dem Trentino, an einen Bankbeamten zu +verheiraten. Alles war schon im besten Zug gewesen, die jungen Leute +selbst im Einvernehmen, als plötzlich die Mutter des Beamten mit Zeter +und Mordio erschien: der junge Ehekandidat sei gleichfalls ein Kind +Hilperichs. Was der alte Herr vorerst gründlich bestritt. So kam die +Sache vors Gericht und bildete lange Zeit das Gelächter der amtlichen +Personen und der ganzen Stadt. Mit Neugierde sah ich den alten Mann an, +der nun vor dem Richter erschienen war. Sicherlich zählte er mehr denn +siebzig Jahre, obwohl seine blauen Augen strahlend und lebhaft waren. +Seine hagere und etwas gebogene Gestalt hatte etwas Majestätisches, und +dieser Eindruck wurde verstärkt durch das Trotzige, Verbissene, +Verächtliche seines Gesichtes. Wenn unter den zusammengezogenen Brauen +die Augen verschwanden und die verkniffenen, schmalen Lippen sich hinter +dem weißen Bart wie hinter dünnem Buschwerk versteckten, mochte man wohl +Furcht empfinden, und das rote Gesicht, das vom Alter weniger versengt +schien als von den Leidenschaften, konnte man nicht leicht vergessen. +Das ist also der alte Hilperich, dachte ich mir und mußte gleichzeitig +lächeln, weil ich sah, daß die Sonne auf die schwarze Kappe und den +schwarzen Bart des Richters ein goldenes Emblem gemalt hatte. Das alles +sehe ich noch deutlich. Auch den hübschen und verschwiegen aussehenden +jungen Mann, den Bankbeamten; er hatte eine Narbe mitten auf der Stirn. +Dann seine Mutter, eine sehr dicke Frau, welche fortwährend +Schokoladestückchen aus der Tasche zog, wodurch aber die Redekraft ihrer +Zunge keineswegs verringert wurde. Dann das junge Mädchen, aber von +diesem will ich jetzt nicht reden. Der Richter wiegte den Kopf, fragte +dies und jenes, und seine Klugheit war bald erschöpft. + +Ich weiß nicht mehr, wie ich daheim beim Mittagessen die Sprache auf den +alten Hilperich brachte. Ich erzählte die ganze Geschichte, die mir sehr +belustigend erschien. Meine Mutter aber verlor sofort ihr munteres +Wesen, wurde nachdenklich und entfernte sich vom Tisch. Der Zufall fügte +es -- ich bin alt genug geworden, um das Wort Zufall nicht ohne ein +Gefühl von Andacht hinzuschreiben -- daß ich an demselben Tage der jungen +Trentinerin wieder begegnete. Wir trafen uns nämlich beim Krämer, wo sie +für ein Gewürz, das sie kaufen wollte, den deutschen Ausdruck nicht +wußte. Ich machte nun den Dolmetsch, und zwar auf die komischste Weise +der Welt, denn ich verstand ja selber nichts von der fremden Sprache. +Ich schleppte alles herbei, was in dem Laden zu finden war, und stapelte +es vor der schönen Dame auf, wie man einem fremden Monarchen etwa die +Reichtümer eines Magazins zeigt. Es gab ein großes Gelächter, und der +Krämer selbst, der mein guter Bekannter war, fand sich bei dem Spaß am +besten amüsiert. + +Da die junge Bianca, wie ich mit Mühe erfuhr, in der Nähe wohnte, +begleitete ich sie nach Hause, und es verursachte uns weiterhin großes +Vergnügen, uns zu verständigen. Unsere Mißverständnisse waren so heiter, +daß eins das andere übertraf und wir gewiß mehr davon hatten, als von +einer regelrechten Unterhaltung. Ich sah, daß sie ein Mädchen aus dem +Volk war, und daß es nicht schwer fiel, sie heiter zu stimmen und ihr zu +gefallen. Ja, ich gefiel ihr, und meine drollige Zeichensprache, mein +Murmeln und Kauderwelsch trieben Tränen des Lachens in ihre schönen +Augen. + +Überflüssig, von all den Einzelheiten zu erzählen; nicht lange darauf +konnte ich Bianca mit meiner Mutter bekanntmachen. Meine Mutter +erinnerte sich sofort daran, was ich ihr von jener Verhandlung erzählt +hatte. Sie führte mich beiseite und fragte mich sehr ernst, ob das jene +Bianca Spinola sei. Mein unbefangenes Ja machte sie noch ernster und +feierlicher, so daß ich besorgt zu werden anfing. Aber ich wußte nicht, +was ich daraus machen sollte. Am folgenden Morgen, es war ein Sonntag, +gebot sie mir, mich sorgfältiger als sonst anzukleiden, denn ich war +immer ein wenig nachlässig darin. Sie nahm mich also wie einen +Schuljungen mit sich und führte mich zu einem alten Haus in der +Pfannenschmiedsgasse. Wir stiegen zwei knarrende Treppen empor, und +meine Mutter zog die Klingel. An der Art ihrer Gebärde sah ich, daß ihr +Gemüt heftig bewegt war, und ich fragte sie darum. Aber sie gab mir +keine Antwort. Mein Erstaunen wuchs, als ich das Porzellanschildchen an +dem gelben, staubigen Gitter sah, welches den Korridor von der Stiege +trennte. Hilperich las ich; aber ehe ich meine Mutter von neuem fragen +konnte, erschien eine Bedienerin. Meine Mutter zog einen Brief aus der +Tasche und sagte, sie wolle auf Antwort warten. Die Frau führte uns in +ein großes, leeres Zimmer, welches nichts als einen Spiegel und ein +paar Stühle enthielt. Vor dem Spiegel stand ein dünner Mann mit einer +Glatze und richtete sich eine rote Krawatte. Unser Eintreten störte ihn +nicht im mindesten; ich war erstaunt, denn nie hatte ich ein so +verhungertes, grämliches und furchtsames Gesicht gesehen. + +Die Bedienerin kam alsbald zurück und bat meine Mutter, ihr zu folgen. +Wieder verging eine Weile, während ich saß und lauerte und mir den Kopf +zerbrach über das, was vorging. Der dünne Mann stelzte komisch vor mir +auf und ab, murmelte und schielte mich von der Seite an, so daß ich +lachen mußte. Endlich öffnete sich die Türe, der alte Rat kam heraus, +faßte mich schnell ins Auge, schritt auf mich zu, nahm meinen Kopf +zwischen seine beiden Hände, verkniff seine Lippen streng, nickte und +küßte mich auf die Stirn. Im Rahmen der Tür stand meine Mutter und sagte +mit ganz verweintem Gesicht: Johann, das ist dein Vater. Immer +sonderbarer wurde mir zumut, und das Sonderbarste war mir wohl in diesem +Augenblick, daß mein Freund mit der roten Krawatte ganz ruhig weiter +auf- und abstelzte, als ob er daran gar nichts Auffälliges fände oder es +längst vorausgesehen hätte. Es ist wahr, das Wort Vater machte in diesem +Augenblick keinen Eindruck auf mich, aber wer will mir das verübeln? Ich +erinnere mich, daß ich für meine Mutter ein unbestimmtes Mitleid empfand +und daß ich mich im übrigen weit weg wünschte. Auch war ich erstaunt und +verlegen und wurde es immer mehr, so daß mir der Schweiß auf die Stirne +trat. + +Ich erinnere mich, daß meine Mutter und der alte Mann einander noch +lange Zeit gegenübersaßen und über die Vergangenheit plauderten. Der Rat +Hilperich, den ich nicht einmal in Gedanken Vater zu nennen wagte, blieb +dabei gelassen, ja sogar ein wenig spöttisch. Es fiel mir auf, daß die +fernliegendsten und vergessensten Dinge ihm so nahe schienen wie die +Gegenwart. Er sprach nicht wie ein alter Mann und nicht wie ein junger +Mann, sondern als ob er ein Gebieter über die Zeit und über die Jahre +wäre, und als ob es für ihn kein Verschwinden gäbe. Das ist mir freilich +jetzt viel deutlicher als damals; denn ich habe ja erst durch ihn +gelernt, was menschlich ist, abzuwägen. + +Die Rede kam auch auf mich, auf meinen Beruf und meine Beschäftigung. +Die Mutter rühmte meine Fähigkeiten; ihre Augen glänzten dabei, als ob +sie von etwas Großem spräche, und ich mußte lachen. Das schien meinem +Vater zu gefallen. Er nahm meine Hand, tätschelte sie ein wenig und sah +mich halb liebevoll an und halb wie einen seltsamen Zwerg. Plötzlich +aber sprang er auf und kreischte mit einer zerbrochenen, gehässigen +Stimme: Mittelmann, scheren Sie sich zum Teufel! Und der schweigsame +Spaziergänger machte sich wie ein armer Hund auf die Beine. Mein Vater +lachte uns triumphierend an und wandte sich dann unvermittelt zu mir. Er +habe viele Schreibereien, sagte er, und brauche einen, dem er sein +ganzes Vertrauen schenken könne. Er glaube, daß ich nicht auf den Kopf +gefallen sei, denn ich sei ja von seinem Blut. Wenn es mir recht sei, +möge ich täglich zwei Stunden zu ihm kommen; es wäre nicht umsonst, und +meine Stelle beim Amt könne ich ja behalten. Ich erklärte mich bereit, +und meine Mutter fing sogleich vor Freude wieder zu weinen an. So +entließ er uns. + +Am andern Morgen brachte ein Dienstmann ein herrliches Geschenk für +meine Mutter, eine Stehlampe, deren gläserne Kugel von zwei nackten +Frauen getragen wurde. Das war ein zarter Beweis für die Gesinnungen +meines Vaters, und mit Genugtuung trat ich den Weg zu seinem Hause an. +Ich war so in Nachdenken verloren, daß ich beinahe überfahren worden +wäre. Beständig sah ich mich an einem Wendepunkt meines Schicksals, das +sich glänzend vor mir aufrollte. + +Ich fand meinen Vater in seinem Wohnzimmer. Er war in Unterhosen, +betrachtete mich komödiantisch forschend, mit seinem gewohnheitsmäßigen, +halb grinsenden Lächeln, doch mit ernst blitzenden Augen. Man hatte ihm +gegenüber das Gefühl, daß man stets scharf beobachtet war, und daß +nichts seiner Beobachtung entging. Alles an ihm war voll Leben und +Lebendigkeit trotz seiner schlottrigen, mageren, baufälligen Gestalt. +Das Zimmer war vernachlässigt und unordentlich. Keine Bilder schmückten +die Wände. Neben dem Bett hing ein riesenhaftes Löschblatt, vom Gebrauch +schwarz marmoriert, und auf dem Boden stand ein Schreibedeckel neben +einem eisernen Tintenfaß, denn mein Vater pflegte im Bett zu schreiben. +Wäschestücke, Briefe und Schachteln lagen umher; auf einer gelben +Kommode pendelten zwei Uhren, von denen die eine Mitternacht oder +Mittag, die andere fünf Uhr wies. + +Mein Vater hieß mich sogleich vor dem Schreibtisch Platz nehmen und +diktierte mir eine ziemlich unverständliche Abhandlung, welche, wenn ich +mich recht entsinne, Kultur und Mode hieß. Später erfuhr ich, daß er +dergleichen viel schrieb, und manches, was mir recht überflüssig vorkam. +Er tat es für Geld. Das war mir im Anfang unerklärlich, denn ich wußte +nicht nur, daß er ein schönes Privatvermögen besaß, sondern auch, daß er +das Geld verstreute, als ob es Kleie wäre. Er besah es nicht, sondern +gab hin, nach allen Seiten. Dabei lebte er selbst in strenger +Einfachheit, war genügsam wie ein Bauer, stand mit der Sonne auf, im +Winter und im Sommer. Bald, bald erfuhr ich, wohin das viele Geld +wanderte. Aber darüber laßt mich vorerst nicht reden. Damals verwirrte +es meinen Sinn wie vieles andere Neue, und heute noch, in der +Erinnerung, bewegt es mich sehr. Einmal, während ich bei ihm schrieb -- +es war immer noch über Mode und Kultur, denn das ging von Adams Zeiten +an -- kam ein Brief mit der Post. Mein Vater las ihn, und sein Gesicht +zeigte dabei Zorn und Haß. Da! herrschte er mich an und warf das +zusammengefaltete Papier vor mich hin. Ich schlug es auseinander und +überflog ein Schreiben voller Vorstellungen und Vorwürfe; Religion +bildete die Quelle der Beredsamkeit, so daß bisweilen der Ton etwas +Prophetisches und Salbungsvolles hatte. Zum Schluß wurde der verderbte +Greis flehentlich gebeten, in den Schoß der Kirche zurückzukehren. + +Ich hatte von der geschiedenen Ehe meines Vaters munkeln hören. Dieser +Brief war von seiner Frau. Sie verdummt in den Händen der Pfaffen, sagte +der Alte bitterböse zu mir; aber zugleich nahm ich einen traurigen +Ausdruck in seinem Gesicht wahr, der mir naheging. Er schickte mich an +diesem Tag fort. Als ich am folgenden Tag wiederkam, schenkte er mir +eine wunderschöne, goldene Uhr -- für meine Dienste, wie er sich +ausdrückte, hieß mich jedoch abermals gehen. Als ich durch den Korridor +schritt, sah ich ein Mädchen von nicht mehr als fünfzehn Jahren, die +voll Unbefangenheit in Blick und Miene an mir vorüberging, in die +Wohnung meines Vaters. Sie war sehr elegant gekleidet, doch hatte man +gleich den Eindruck, daß dies etwas Selbstverständliches an ihr war. Ich +schaute ihr neugierig, fast freudig nach, und die Freude an meinem +Geschenk ließ mich ihre flüchtige Erscheinung doch nicht vergessen. + +Als ich nach Hause kam, traf ich zu meinem Erstaunen Bianca Spinola bei +uns. Sie war auf Geheiß meines Vaters gekommen, wie ich hörte; sie solle +nur mit uns Umgang suchen, hatte er gesagt. Ich lachte und erwiderte, +daß es wie in einer türkischen Familie sei, aber im Grunde fand ich +etwas Wohliges und Geheimnisvolles in der neuen Verwandtschaft von +fernher. Bianca Spinola sprach schon viel besser deutsch; ihr +Radebrechen entzückte meine Mutter. Ich selbst fühlte mich gehobener +durch ihre Gegenwart, doch ohne die frühere Bewegtheit; auch war mein +Kopf voll von Gedanken. Ich zeigte meine prächtige Uhr, die eitel +Bewunderung weckte, und wir waren herzhaft vergnügt den ganzen Abend +über. + +Ich weiß nicht mehr recht, ob es der darauffolgende Tag war, an dem ich +von Mittag bis zum Abend bei meinem Vater Briefe schrieb. Ich erinnere +mich nur, daß es draußen stürmte und regnete und gewitterte. Mein Vater +saß an der Seite des Tisches und diktierte. Er schien eine große +Vermögensordnung im Sinn zu haben, denn in allen Briefen war davon die +Rede; auch zeigte die ganze Art meines Vaters wohlerwogene Entschlüsse. +Meines Vaters ... An diesem Tag wurde mein Gehirn aufgeweckt, und ich +sah mich nur als ein Körnchen unter vielen. Ich sah einen wahren +Stammvater vor mir, dessen langes Leben, ein Leben, welches er noch +nicht fühlte, in der Erzeugung von Kindern verflossen war. Freilich +damals war es mir nur wie ein Schauer; heute verstehe ich. Jeder Brief +war entweder an einen Sohn oder an eine Tochter oder an eine frühere +Geliebte gerichtet, die jetzt alterte und arm war, und der er ein +Scherflein zukommen ließ. Hier gab er Ratschläge und ermunterte, dort +setzte es eine Strafpredigt; im Norden und im Süden, so schien es, hatte +seine Jugend die gleichen Erfolge aufzuweisen gehabt, und in der Heimat +selbst erblühte kräftig der junge Nachwuchs aus seinem Blut. Manchmal +hatten mir Leute gesagt, daß Fürstinnen und Prinzessinnen von Liebe zu +ihm geplagt worden seien, ja, daß eine gewisse Herzogin, nun schon bei +hohen Jahren, oftmals ein Plauderstündchen beim alten Hilperich einhole. +Das hatte man mir erzählt, und ich leugne nicht, daß ich dazu ein +ungläubiges Gesicht aufgesetzt hatte. Jetzt wurde mir die Zeit zur +Lehrerin, und ich verlachte meine eigene Zweifelsucht. Ich erfuhr +freilich im Lauf der Zeit, daß mein Vater einst eine große Rolle +gespielt habe. Der Hof und das Volk hätten gleichermaßen Vertrauen in +ihn gesetzt; jener hätte seinen Kopf, dieses sein Herz zu würdigen +gewußt, und beide seien auf ihre Rechnung gekommen. Im Revolutionsjahr +soll er der Regierung wichtige Dienste geleistet haben, und man sagte, +daß er auf die Neugestaltung unseres Strafgesetzes den größten Einfluß +ausgeübt hätte. Ich erwähne alles dies mit Ängstlichkeit, denn ich kann +nicht dafür bürgen. Aber zwei Umstände will ich noch anmerken, die für +meine Augen ein Licht über meines Vaters Leben verbreiteten. Einmal +zeigte er mir ein Ölgemälde, das ihn selbst in seinen jungen Jahren +darstellte. Man konnte nichts Liebenswürdigeres sehen! Um die Stirne +glitten braune Locken, die Augen blickten freundlich träumend, und das +griechisch runde Kinn war fest wie ein junger Apfel. Der Maler mochte +phantasiert haben, aber sicherlich hatte ihm das Entzücken über das +lebendige Antlitz die Arbeit verschönt. Ich dachte mir damals, so muß +man aussehen, um der Welt mehr zu sein, als sie uns ist. Oder vielleicht +denk ich dies heute, denn damals war ich jung. + +Das zweite ist dies. Vor etwa zehn Jahren lernte ich einen alten Mann +kennen, der mir von meinem Vater erzählte, und zwar in einem Ton wie von +eigenen Heldentaten. Dieser Mann hatte meinen Vater als Fünfzigjährigen +noch gekannt und behauptete, daß seine Anmut, sein weltmännisches +Betragen, sein Witz und seine Güte einen eigenen Ruhm genossen hätten. +Mein Erzähler berichtete tausend Einzelheiten mit einfältigem, aber +rührendem Eifer. Nicht das jüngste Fräulein habe ihm zu widerstehen +vermocht, dem Graubart, sagte der Schelm und lachte wie ein gackerndes +Hühnchen. Schon damals sei die Zahl seiner Kinder zum Gegenstand vieler +Witze geworden, und als er sich um diese Zeit verheiratete, hatte man in +der Stadt gesagt, nun sei der Sultan zur Galeere verurteilt. Aber +Hilperich war weiterhin auch Sultan geblieben, so meinte mein +humoristischer Mann und fügte hinzu: wer ihn kannte, vermochte durchaus +nicht an seinen Tod zu glauben. Etwas Starkes, Über den Tod-Starkes sei +in ihm gewesen. + +Die Briefe, die mir mein Vater diktierte, mochten für einen Unvertrauten +etwas Geheimnisvolles, sogar Wahnsinniges haben. Denn wer sollte denken, +daß ein und derselbe Mann Söhne, Töchter, Frauen in allen Richtungen der +Windrose besitze? Mich selbst zwang damals etwas Seltsames zu +ungeprüfter Hinnahme. Ihr müßtet gesehen haben, wie mein Vater jedem +einzelnen Brief gegenüber ein besonderer Mann wurde! Bei dem einen wurde +sein Gesicht hämisch und verdrossen; bei dem andern leuchtete es +erinnerungsvoll; jetzt war er karg und spröde, später von zärtlicher +Geschwätzigkeit; hier verurteilte ihn ein kluger Ratschlag zu langem +Nachdenken, dort war er zornig wie eine alte Katze, schlug vor Zorn auf +den Tisch, fletschte die Zähne, und ich, ich wußte keinen Grund, sah +ein Stück Vergangenheit wie in den Scherben eines Spiegels. Aber +zugleich muteten mich all die Gesichter vertraut an, denen ich mich +schreiberhaft zugewandt hatte. Ich trug etwas nach Hause, was ich vordem +nicht besessen hatte; wer kann dafür Worte finden? Kummer und Freude sah +ich fließen in der weiten Gasse der Zeit. Mein Vater, ein fleißiger +Angler, angelte sein Teil heraus. Was er nach Haus trug, war sein, wie +meins, was ich. + +Jetzt muß ich aber etwas Neues erzählen, denn viel Verwirrendes drängt +sich vor mir. Damit ich jedoch nicht vergesse, will ich erwähnen, daß +ich an jenem Abend vor meines Vaters Haus den Mittelmann traf (den +dünnen Mann mit der roten Krawatte) der mir eine Viertelstunde lang +Unsinn vorschwatzte. Er tat so, als sei er wohl Hilperichs Kind, doch +enthalte man ihm dies Recht vor. Darüber schwatzte der Arme wie ein +Besessener; später erzählte mir mein Vater, daß dies Mittelmanns fixe +Idee sei, mit der er seit Jahren durch alle Kneipen hausieren gehe. Oder +glaubst du, daß einer, den ich gemacht, so aussieht? fuhr mich mein +Vater grob an, stieß mich mit dem Zeigefinger vor die Stirn, lachte aber +sogleich in seiner keuchenden Weise. + +Es war an einem Oktoberabend, kaum eine Woche nach jenem Brieftag, und +ich hatte meine Arbeit eben beendigt, da kam jenes junge Mädchen zur Tür +herein, welches mir damals an der Treppe begegnet war. Mit allen Zeichen +der Bestürzung und Eile ging sie auf meinen Vater zu und flüsterte +etwas. Der alte Mann warf den Kopf zurück und blickte mit einem +drohenden Ausdruck ins Leere. Darauf schielte er mich boshaft und +finster von der Seite an und befahl mir durch eine Gebärde, zu gehen. +Bevor ich aber noch meinen Hut ergriffen, hatte mein Vater eine der +Türen geöffnet, die aus seinem verwahrlosten Schlafgemach in ein mir +bisher unbekanntes Zimmer führte. Dorthin sah ich nun die beiden gehen, +und mein Blick erhaschte zugleich gierig den fremden Raum, den mein +Vater nie betreten hatte, während ich zugegen war. Ich gewahrte nun ein +kleines Boudoir, das meinen unverwöhnten Augen einen fürstlichen Prunk +zeigte. Aber es schien mir zugleich wohnlich und warm drinnen, und als +ich auf der Straße war, empfand ich eine Begierde nach diesem Gemach wie +nach einem verbotenen, verzauberten Garten. + +Die kurze Szene, kaum der Rede wert für einen Unbeteiligten, hatte +trotzdem tiefen Eindruck auf mich gemacht. Zu Hause fand ich Bianca +Spinola, welche zum Essen blieb und den ganzen Abend bei uns verbrachte; +meine Mutter war bei trefflicher Laune; ich blieb schweigsam und +nachdenklich. Ich mußte fortwährend an das junge Fräulein denken, und +das nicht vielleicht mit den Gedanken von Mann zu Weib. Es war so, daß +sie vor meinem inneren Auge nicht entwich und ich mich quälte, zu +ergründen, was mir an ihr, seltsam genug, ein für alle mal unergründlich +schien. Noch jetzt, wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihren +graziösen, müden Gang. (Sie ging, als ob sie wüßte: so wie ich muß man +gehen, aber wer wird darauf achten?) Ihre Verachtung der Welt schien +groß, aber kindlich. Sie hatte etwas Bemitleidenswertes und zugleich +Damenhaftes, etwas Wiegendes und Achtloses. Ihre Augen, voll Trauer und +Ironie, zeigten zwei reine Augensterne wie schöne braune Perlen in +gefrorener Milch. + +So schwebt sie mir vor, und was ich weiterhin erfuhr, erhorchte und +herausspionierte, will ich hier gleich sagen. Nicht nur als neugieriger +Tor wollte ich wissen, sondern was meinen Vater anging, ich nahm es +immer stärker wahr, betraf mich tief. Um seiner würdig zu werden, hatte +ich mich in den letzten Monaten mit einem bunten Studieren abgegeben. +Auf eigne Faust lernte ich fremde Sprachen, trieb allerlei Wissenschaft, +ohne Plan und Kraft, aber mit mehr Erfolg, als man bei einem Menschen +wie mir vermuten sollte. Doch die größte Ausdauer zeigte ich bei der +Erforschung des Verhältnisses zwischen meinem Vater und Henriette, eben +jenem Mädchen, das ich bei ihm und vorher schon im Korridor gesehen +hatte. Den leisen Andeutungen entnahm ich Wissenswertes; Ohr und Auge +waren geschärft und einmal, gleichsam als Belohnung kam es zwischen mir +und meinem Vater zu einer wirklichen Plauderstunde. Er hatte Zutrauen zu +mir gefaßt; das wußte ich, oder ich weiß es jetzt; denn damals gab ich +mir nicht Rechenschaft über die Dinge, sondern nahm sie nur mit Glut in +mich auf. + +Eine flüchtige Leidenschaft hatte die Ehe meines Vaters geknüpft. Den +damals schon Sechsundfünfzigjährigen hatte eine kühle und elegante Dame +rasch entflammt. Doch bald bröckelte aller Schmuck von jener Frau ab wie +von einer schlecht getünchten Wand. Sie war zäh in ihrem Dünkel und +besaß eine unverwüstliche Einfalt. Ein bösartiges Schaf und doch wollte +sie herrschen, sagte mein Vater unverhohlen von ihr. Er selbst war für +die Ehe wie Feuer für Stroh; nach drei Jahren führten die +Unverträglichkeiten zum Bruch, und die Frau ergab sich den Pfaffen. Mein +Vater führte sein Leben weiter, ungestümer noch, als ob ihn der Ehekampf +erregt hätte, aber eines war, das ihn sogar der Frau verpflichtete: +Henriette. Er liebte diese Tochter mit der ganzen unbeschreiblichen +Gewalt seines Temperamentes, und wenn ich es recht bedenke, war es etwa +so, daß man sein Gefühl für Henriette und das für seine übrigen Kinder +in die zwei Schalen einer Wage legen konnte, und jenes einzige wäre +schwerer gewesen als die andern alle. Auch mich liebte der Alte, auch +den blonden Ingenieur, den ich kannte, auch die drei Töchter aus Prag, +wie er sie hieß, auch den überseeischen Kapitän oder den hübschen +lebhaften Studenten, der einer Frühlingsliebe am Meer entstammte, aber +wir alle waren gegen Henriette wie blasse Sterne gegen den Mond. Wie +wunderlich, daß aus der einzigen Verbindung, die sich in Alltäglichkeit +und Haß verlor, sein Liebstes kam. + +Da er ihre Erziehung nur bis zum dritten Lebensjahr überwachen konnte +und das Kind der Frau verbleiben mußte, hatte in der ersten +Trennungszeit seine väterliche Sorge alle andern Interessen vertilgt. Er +konnte nicht täglich das Haus einer Verabscheuten betreten, welche +ihrerseits das nicht sehr geliebte Kind dem Wüstling, wie sie seinen +Vater nannte, entfremden wollte. Der Vater bestach die Dienstboten, ja +er wußte es durchzusetzen, daß eine ihm ergebene Person das Mädchen +völlig in ihre Obhut bekam. Diese würdige Frau Jakobea führte Tag für +Tag Henriette in die Wohnung ihres Vaters. + +Tag für Tag also, seit zwölf Jahren, hatte mein Vater eine paradiesische +Stunde in dem kleinen Gemach, das nur für ihn und Henriette war, und +welches gemütlich und heimlich auszustatten er nicht müde wurde. Kein +Kunstgegenstand war ihm zu teuer, um dieses oder jenes Eck zu schmücken, +und mit Geschmack und Phantasie begabt, gestaltete er diesen Raum zu +einem Werk gleich einem Künstler, der aus Sehnsucht nach Vollkommenheit +seine letzte Arbeit bis ans Grab schleppt. In den Kinderjahren +Henriettes spielte der alte Mann mit ihr und vergaß Zeit, Arbeit und +Vergnügen darüber. Das frühkluge Mädchen fand selbst dem Spiel gegenüber +eine Überlegenheit, welche komisch und reizvoll wirkte. Wenn auch nichts +Starkes in ihr war, so doch etwas Sanftes, im Sanften Tüchtiges (da sie +doch wußte, wie angenehm es war, sanft zu sein). Indem sie das Spiel +beiseite schob, spielte sie, aber schon frühe wußte sie aus Klugheit für +Ernstes ernst zu bleiben. Ihr Vater wollte sie aus den Reihen des +Geschlechts erheben, wollte sie gleichsam mit Weisheit und Voraussicht +kränzen, eben mehr zu Schmuck als zu Nutzen. Er selbst, in allen Künsten +der Verführung Meister, wollte sie vielleicht auch gegen einen jüngeren +Hilperich schützen. Ich erfuhr späterhin, daß er schon in ihrem zehnten +Jahr den Storch aus ihrer Phantasie vertrieb, daß er ihr langsam, mit +Nachdruck und Würde das Menschlichste nahe brachte. Nichts Verschleiertes +also gab es mehr; er gedachte sie zu ehren durch Vertrauen und zu +beruhigen durch Wissen. Schon mit dreizehn Jahren kam Henriette allein, +und schwer ist es zu sagen, was _sie_ im tiefen Grund des Herzens zum +Vater trieb. Er saß stets lange vor ihrem Kommen im Henriettenzimmer und +wartete wie auf eine Geliebte. Sie kam, erregt durch die Heimlichkeit +ihres Besuches (ach, das hatte mein Vater nicht ermessen!), lächelte, +plauderte, fragte und urteilte, war plötzlich müde und verstimmt, +kopfhängerisch und von entzückendem Pessimismus. So wuchs sie heran und +teilte sich zwischen dem Haus des Vaters und der Mutter. Ihr ganzes +Wesen wurde so entzwei geschnitten. + +Das Ende des Jahres nahte heran. Zu Weihnachten schenkte mir mein Vater +einen wundervollen spanischen Mantel, den er einst in Sevilla gekauft. +Er war mit roter Seide gefüttert und aus dem kostbarsten schwarzen Tuch +gefertigt, das ich je gesehen; wenn man ihn auf die Erde breitete, war +er so groß wie ein Zeltdach. Als ich mit diesem Geschenk freudestrahlend +durch das Vorzimmer ging, stürzte Mittelmann auf mich los, der noch +immer irgendwo da herumlungerte. Mit kreideweißem Gesicht stellte er +atemlose Fragen an mich, ob er etwas geschenkt bekomme, was es sei und +wie es aussehe. Ich war sehr unfreundlich gegen ihn, aber ich hätte es +vielleicht nicht sein sollen. Der arme Mensch war immer hungrig und +machte der alten Bedienerin den Hof, um ein paar Bissen zu ergattern. +Dabei ging er mit seinen Sohnesansprüchen an Hilperich umher wie mit +einem sicheren Kapital, und was ihn in seinem Glauben so befestigte, war +nur das Gewäsch eines Anverwandten, der einst im Hilperichschen Hause +Aufwärter gewesen war. + +Mein Vater ging in diesen Tagen mit einer festlichen geheimnisvollen +Miene herum. Er diktierte mir einen Aufsatz, der den merkwürdigen Titel +führte: »Die Erziehung zur Liebe«, und von dem ich nicht das mindeste +verstand. Zwei Tage vor Neujahr wurden wir fertig. Es war schon dunkel, +mein Vater stand lange Zeit am Fenster und blickte auf die schneeblaue +Straße. Plötzlich wandte er sich heftig um und fragte scharf: Na, willst +du kommen? Ich wußte nicht, was er meinte, und blieb still. Er stampfte +zornig auf den Boden, lachte verächtlich, doch bald wurde er sanft und +streichelte mir die Wangen. Ich hatte dabei meist ein schüchternes, fast +furchtsames Gefühl; denn wenn er liebevoll tat, war er oft gefährlich. +Doch erklärte er mir kichernd, daß es am Sylvesterabend »etwas gäbe«, +und damit mußte ich zufrieden sein. + +Am folgenden Abend zog ich meine besten Kleider an und war voll +Erwartung. Jedenfalls ist Henriette da, dachte ich mir; denn ich wußte, +daß ihre Mutter sich seit Wochen in einem Kloster aufhielt und das junge +Mädchen die ohnehin gewohnte Freiheit so in noch höherem Maße genoß. Ich +sah in Henriette durchaus keine Schwester, eher eine ganz Fremde, aber +liebe Fremde. + +Als ich hinkam, war Henriette schon da, auch eine alte, vornehme Dame +mit glatten, silberweißen Haaren, die in einem Lehnstuhl saß und mich +spöttisch anlächelte. Mein Vater schalt mich, weil ich zu spät gekommen. +Ich schämte mich, denn ich hatte es für sehr vornehm gehalten. Stolz und +vornehm war ich mit meinem spanischen Mantel durch die Straßen +geschritten. + +Wir saßen im Henriettenzimmer, und ich wagte mich kaum zu bewegen, so +sehr gefiel mir alles, was ich erblickte. Herrliche Teller und Gläser +schmückten den weißen Tisch; von der Decke hing ein zwölfarmiger +Leuchter herab, ganz von Gold, wenigstens schien es mir so. Die Fenster +waren mit dunkelblauem Stoff verhängt, und an den Wänden hingen die +schönsten Bilder. Henriette trug ein einfaches, blaues Kleid, und ihr +Gesicht hatte etwas Geplagtes. Sie sprach wenig, aber immer sehr betont +und aufmerksam, und die alte Dame, deren schwarzseidenes Kleid beständig +knisterte, weil sie so belebt war, schien voller Liebe gegen sie. Ich +glaube, daß sie eine sehr vornehme Person war; weder damals noch später +erfuhr ich ihren Namen. Aber was sie auch sein mochte, ihr gewinnendes +Wesen ließ mir jedes heimliche Forschen frevelhaft erscheinen. Sie duzte +meinen Vater, wie er sie, und eine lange Vertraulichkeit, viel +Zusammenerleben mußten es sein, die einen so herzlichen Ton geschaffen +hatten, wie er unter ihnen bestand. + +Während des Essens erhob sich mein Vater zu einem Trinkspruch. Ich +erinnere mich heute nicht mehr an seine Worte. Damals schien es mir +hinreißend, ihn so zu hören, und mein Blick, der auf ihn gerichtet war, +zitterte förmlich. Er sprach zu uns von seinem Leben, von dem was +untergeht und was bleibt, Erinnerungen, die wie Schiffe am Horizont +vorbeizogen, -- und eines ist mir unvergeßlich. Er sagte: Wenn ich einmal +alt sein werde ... Er war im Oktober dreiundsiebzig geworden. Er dachte +so wenig an den Tod wie ein Knabe. + +Als er geendet hatte, stand Henriette auf, beugte sich zu ihm und küßte +ihn auf die Nasenspitze. Das war ihre Art etwas Scherzhaftes mußte dabei +sein. Die alte Dame klatschte in die Hände. Mit einem kindlichen, fast +mädchenhaften Lachen ergriff sie das Glas und sagte, indem ihre Augen +tief und warm strahlten: Mein unsterblicher Hilperich soll leben. Wer +sie und Henriette zusammen sah, den mochten wohl sonderbare Gedanken +über Jugend und Alter gefangen nehmen. + +Mein Vater wurde immer aufgeräumter. Er stieß mich in die Seite, drohte +mir mit Prügeln, wenn ich fortführe, so schweigsam zu sein. Henriette +antwortete etwas zu meiner Entschuldigung, was mir sehr verständig +vorkam. Überhaupt fand ich ihren Verstand immer bewundernswerter. Über +alles ringsumher schien sie sich spielerisch klar zu werden. Dennoch sah +ich Unruhe in ihren Augen. + +Wie lang ist es eigentlich her, daß wir uns schon kennen? fragte die +alte Dame in träumerischer Erinnerung. + +Mein Vater wiegte den Kopf. Lange, lange, erwiderte er und tat einen +tiefen Schluck aus dem Glase. + +Ich glaube, es war an dem Tage, da Goethe starb, fuhr sie fort und +lächelte. Mich durchzuckte es wunderbar, und ihr Seufzen kam mir +lieblich vor, womit sie weiterredete, (indem sie einen Blick auf +Henriette heftete): So blühen die Jungen auf und werden den Alten teuer. +Was wirst du tun, wenn Henriette heiratet? fragte sie und blinzelte +dabei schalkhaft. + +Sie heiratet nicht, entgegnete der Greis kurz. Oder nicht sobald, fügte +er hinzu, indem er das Ohr bis auf die Schulter senkte; heiraten ist ein +Unfug. + +Gut. Sie ist ja auch noch jung. Aber schließlich, Weib ist Weib. Nicht +wahr? Die alte Dame zeigte ihre weißen Zähne und ließ den Blick naiv +fragend von einem zum andern gehen. Dann lachte sie und fuhr heiter +fort: Alle schreien wir: nie, und auf einmal sagen wir ganz leise Ja. +Gut, Heirat hin oder her, aber -- ihr Blick wurde plötzlich versonnen -- +nimm an, man verführt sie dir. Wie? Nun ja, das ist schon dagewesen. Du, +der Freidenkende, was wirst du tun? + +Henriette lachte mit gesenkten Augen kurz vor sich hin. Mein Vater kniff +die Lippen zusammen und erwiderte mit einem unbestimmt jovialen Ausdruck +und mit weinglänzenden Augen: Das ist plausibel; ich sag ihr: Gehe hin, +was du verdienst ist dein Gewinn. Nachdem er dies gesagt hatte, stand er +so heftig auf, daß der Stuhl hinter ihm zur Erde fiel, schlug mit der +Faust auf den Tisch und brüllte oder kreischte: Ich würde sie zum +Fenster hinunter werfen. + +Henriette erhob sich, gänzlich blaß, ging zum Kamin und hielt wie +frierend die Hände dagegen. Mein Vater folgte ihr, klopfte mit der +flachen Hand auf ihren Rücken, lachte, setzte sich und nahm sie auf sein +Knie. Sie hielt aber die Augen geschlossen. + +Da die Glocken zu läuten anfingen, erhob sich auch die alte Dame vom +Tisch, öffnete ein Fenster, so daß man nun die Glockenschläge dröhnend +und deutlich von allen Seiten vernahm. Der kalte Winter dampfte herein, +und Leute schrien auf der Gasse. Die alte Dame blickte andächtig gegen +den Himmel, und ich blieb sitzen wie ein Vergessener. + +Noch im Traum in der Nacht sah ich die wohlwollende alte Dame, die +vielleicht gegen keinen Menschen Böses hegte; meinen Vater, von +Lebenskraft und -Größe erfüllt wie einen Gott des Altertums; Henriette, +unentschieden, graziös und fatalistisch kühl. Es war mir einen +Augenblick im Traum, sonderbar, als übe sie nur Nachsicht mit meinem +Vater, ihrem Vater, beuge sich dennoch gütig unter seiner Liebe. + +Den Neujahrstag verbrachte ich mit der Mutter, und als ich am nächsten +Tag zu meinem Vater kam, fand ich ihn unruhig und finster. Er begrüßte +mich kaum, sagte, es sei nichts los heute. Ohne Arges zu denken, ging +ich wieder. Am nächsten Tag erklärte mir die Bedienerin, der Herr Rat +sei nach Z. gegangen. Mich erstaunte das; er konnte dort nur das Kloster +besuchen, in welchem seine Frau war. Vor dem Hause lungerte Mittelmann +herum. Ohne weiteres erklärte er mir in seiner singenden, hastigen +Redeweise, daß Henriette verschwunden sei. Der einzelnen Ausdrücke +erinnere ich mich nicht mehr, die das dünne Männlein gebrauchte, aber +mir wurde der Kopf heiß. + +Den Tag darauf war ich nicht wenig überrascht, meinen Vater und +Mittelmann miteinander Schach spielen zu sehen. Ich wagte nicht zu +reden, nicht zu fragen, setzte mich und sah zu. Das Gesicht meines +Vaters war verändert wie ein laubreicher Baum nach einer Orkannacht. +Aber mit ruhiger Hand schob er die Figuren, ohne den Blick vom Brett zu +erheben. Seine weißen Wimpern schienen schwer. Er verlor die Partie; +Mittelmann grinste entzückt, als ihm mein Vater verächtlich einen Gulden +hinwarf, und ohne von meiner Anwesenheit Notiz zu nehmen, begannen sie +eine neue Partie. Plötzlich aber stieß mein Vater das Tischchen mit dem +Fuße um, und von dem Getöse erschreckt, flüchtete Mittelmann in eine +Ecke. Mit schweren Schritten ging mein Vater auf und ab, dann ergriff er +nacheinander die Stehuhr, die Lampe, eine Wasserkaraffe, den +Handspiegel und seine Waschschüssel und warf sie mit voller Wucht gegen +die Dielen. Sein Gesicht war blau, die Adern an der Stirn und an den +Händen wie Stricke geschwollen; so ging er auf mich Zitternden zu, +packte mich beim Kragen, schüttelte mich mit riesiger Kraft wie eine +Puppe und schrie hohl krächzend: Wo ist sie? Wer hat sie verführt? Wo +ist sie? Schaff sie mir her, Lumpenhund! Dann ließ er ab von mir, +öffnete das Fenster, wie um Luft zu schöpfen, und stieß einen langen, +tiefen Seufzer aus, der wie das Geheul eines Hundes klang. Die +Bedienerin war aus der Küche gekommen und betrachtete schweigend und +erschrocken das Bild der Verwüstung. + +Wie ich heim kam, wie ich die Nacht verbrachte, was in meinen Gedanken +vorging, das weiß ich nicht mehr. Ich säumte nicht, am folgenden Tag +wieder zu meinem Vater zu gehen; wie gestern fand ich ihn mit Mittelmann +Schach spielend. Wie gestern beachtete er mich nicht, und ich sah +geduldig zu. Der Abend kam, und es geschah nichts. Fast wäre ich froh +gewesen um einen Ausbruch seines Zorns. Aber er saß still und in sich +gekehrt. Alle Tage ging ich hin, wartete, trauerte. Immer fand ich ihn +mit Mittelmann beim Schach und hie und da beim Domino. Zu arbeiten gab +es nichts für mich; ich haßte und verwünschte das Schachspiel und das +andere Spiel, verwünschte Mittelmann in meinem Herzen. Was mein Vater +auch sagen mochte, Mittelmann wiederholte es wie ein lästiges Echo, auch +wenn es eine Beschimpfung war, die ihm selbst galt. Seine Körperhaltung +zeigte die tiefste Unterwürfigkeit, aber zugleich die Unruhe eines +Kobolds. Wenn eine Partie für ihn schlecht stand, hüpfte er auf seinem +Sitz, wiegte sich aufgeregt hin und her, steckte die dünnen Fingerchen +in den Mund, murmelte sinnlose Worte, fuhr förmlich wehklagend mit der +Hand über die Stirn, und wenn er keine Rettung mehr sah, zeigte sein +Gesicht einen Ausdruck geisterhafter Frechheit. Dies schien meinem Vater +zu behagen und ihn zu erwärmen. + +Die Ungeduld, zu wissen, verzehrte mich. Ich dachte mich an Mittelmann +zu halten, der doch beständig um meinen Vater war. Ich hatte erfahren, +daß er ein Zeitungsreporter war, und glaubte, einen guten Spion an ihm +zu haben. Ich nahm ihn mit in ein Wirtshaus und ließ ihm Speisen, Wein +und Bier vorsetzen. Zwei Stunden hindurch aß er, ohne daß in seinem +Munde Raum für ein überflüssiges Wort verblieb. Mich erbarmte seiner, +wie er mit vollen Backen stammelte oder glückselig auf die heißen +Kartoffeln blies. Ich ließ es also dabei bewendet sein und begriff, daß +Mittelmann meinem Vater nichts anderes war, denn ein Haustier, ein +folgsamer Hund, der sprechende Hund. Er brauchte ihn nur, um für sein +düsteres Schweigen ein Ohr zu haben. + +Henriette war fort; sie hatte sich einem an den Hals geworfen, und war +Gott weiß wohin gegangen, ohne Wort noch Zeichen. Mehr wußte ich nicht +und konnte nichts sonst erfahren. Für meinen Vater war ich wie Luft. +Warum, das weiß ich selber nicht. Oft stieg es mir bitter auf: hat er +ihr das Blut vererbt, so vielleicht auch die Tat; aber es zu sagen, +hütete ich mich wohl. + +An einem wunderschönen, sonnigen Nachmittag kam ich hin und fand Bianca +Spinola in seiner Schlafstube. Das Henriettenzimmer war zugeschlossen, +war seit dem Neujahrstag nicht mehr betreten worden. Ja, sogar die +leeren Teller und Flaschen standen noch auf dem Tisch, wie mir Bianca +später erzählte. Die Bedienerin war am Feiertag über Land gefahren, und +schon am Abend war das Unheil geahnt und mein Vater hatte die Türen +versperrt. + +Bianca war also da. Mein Vater lag auf seinem mageren Bett, und sie saß +am Fußende und hielt ein Buch in den Händen, aus welchem sie Verse ihrer +Heimatsprache vorlas. Mein Vater sah mich fremd und unwillig an, schloß +aber gleich wieder die Augen, um weiter zu lauschen. Nie habe ich ein +schöneres Bild gesehen; das schlanke heitere Mädchen mit den +tintenschwarzen Haaren und den regungslos hingestreckten Greis und die +helle Februarsonne im Zimmer und dazu wie Musik die italienischen Worte. +Ich entfernte mich auf Zehen. In dem kühlen Vorzimmer schlief auf einem +Stuhl fahl und zusammengesunken der wunderliche Mittelmann. + +Am Abend erzählte mir Bianca etwas Schreckliches. Ihrem welschen Gerede +entnahm ich nur, daß mein Vater jetzt herumging und sich vor dem Sterben +fürchtete. Er! Sie habe ihn beobachtet, sagte Bianca, auch habe er +gesprochen. Die Phantasie des jungen Mädchens war wie durch Gespenster +erschüttert. Ich glaubte ihr nicht. Meine Mutter lachte sogar darüber. + +Mit bangem Sinn trat ich das nächste Mal den mir so vertrauten Weg in +die alte Gasse an. Mein Vater war allein. Er saß am Fenster und starrte +vor sich hin. Mit schüchternen Worten suchte ich ihn zu einem +Spaziergang zu bewegen. Er verzog die Lippen verächtlich und erwiderte +nichts. Ich begriff meinen Vater, begriff seine Einsamkeit. Als es +dunkelte, wollte ich gehen; jedoch er hielt mich zurück mit einem +Gebaren, das ich noch nicht an ihm bemerkt hatte. Er wurde sanft, seine +Stimme klang weich und wie zerbrochen; er bat mich, die Lampe +anzuzünden, und als dies geschehen war, wurde er sichtlich ruhiger. Er +sagte, er wollte nicht mehr diktieren, ihm sei das zu mühsam, er wollte +sich überhaupt um all die Geschichten nicht mehr kümmern. Zum erstenmal +wagte ich es, von Henriette zu sprechen. Er sah mich groß an und +schüttelte den Kopf. Das Frauenzimmer hat jetzt mehr Pläsier von der +Welt als von mir, sagte er und kicherte zynisch vor sich hin. Ich wußte +keine Antwort, verbarg meine Überraschung. Wieder wollte ich aufbrechen, +denn ich fürchtete ihn zu stören. Er nahm meine Hand zwischen seine +beiden, hielt sie fest und sagte, ich sollte warten, bis er im Bette +sei. Dann nahm er eine Kerze, öffnete die Tür zu dem großen Zimmer, +leuchtete hinein, ging mit schlürfenden Schritten dem Licht förmlich +nach, spähte in alle Ecken, spähte auch in den Flur hinaus, wobei er +kurz auflachte, wie um irgend einen Lauerer aufzustören, und ich saß da, +schaudernd und von neuem begreifend. + +Man darf es nicht wagen, sagte er zurückkommend und schielte mich von +der Seite an. Man ist nirgends sicher. Wenn du die Treppe hinuntergehst, +kannst du dir das Genick brechen, mein Söhnchen. Überall wartet etwas +auf dich, und was du verlachst, kann dein Verderben sein. + +Er entkleidete sich mit Hast, warf sich auf das Bett und seufzte. Jetzt +kannst du gehen, brummte er mürrisch, aber sieh zu, daß das Schloß +einklappt. + +Ich ging. Es war schon späte Nacht. Ich irrte herum und kam bis in die +Vorstädte. + +In den nächsten acht Tagen suchte ich meinen Vater nicht mehr auf. Eine +neue Stellung, die ich erlangt hatte, nahm mich sehr in Anspruch. Aber +während dieser Zeit wurde mein Geist so von Unruhe gepeinigt, daß ich +für die Arbeit ganz abgestumpft wurde. Dennoch hielt mich etwas Schweres +ab, zu ihm zu gehen. Ich war feig, ja, ich fürchtete mich vor seiner +Furcht. Es war der letzte Sonntag im Februar, als ich mich meiner +Pflicht erinnerte. Still war ich herumgegangen und hatte niemandem etwas +davon gesagt; und auch das quälte mein Gewissen, als hätte die Welt +helfen können. + +Es regnete an diesem Tag. Obgleich so viele Jahre verflossen sind, +erinnere ich mich, daß vor meines Vaters Haus ein Betrunkener lag, und +daß dies einen fatalen Eindruck auf mich machte; besonders das matte, +gedunsene, gleichgültige Gesicht des Mannes und seine halboffenen Augen. +Johlende Kinder sprangen um ihn herum. + +Oben öffnete mir die Bedienerin. Wieder fand ich meinen Vater allein, +und zwar in dem großen, leeren Zimmer. Er saß neben dem Spiegel, vor dem +kleinen, runden Schachtisch. Er hatte mich nicht bemerkt, meine Schritte +nicht gehört. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt und war anscheinend +in tiefes Sinnen verloren. Kein Laut störte die Ruhe; nichts Belebtes +machte die Einsamkeit vergessen. Es sah aus, als ob er seit vielen +Stunden so sitze, mit etwas Unerklärlichem beschäftigt. Endlich wagte +ich es, laut den Tagesgruß zu rufen, und er hob langsam den Kopf. Er +besann sich, nickte; ich trat näher, und er gab mir die Hand wie er in +guten Stimmungen zu tun pflegte, fest, mit festem Druck. Aber sein +Aussehen war verstört. + +Ich denke über die Toten nach, die hinter mir liegen, sagte er. Ich +schaue zurück, und jedes Jahr ist ein Zaunpfahl, an dem eine Leiche +hängt. + +Es ist das allgemeine Los, Vater, entgegnete ich beengt. + +Sein Gesicht verzerrte sich wie vor einer Flamme. Allgemeine Los? Warum? +Warum? Antworte, du Zeisig? Warum fühl ich dabei? Warum? Warum weiß ich +davon? Warum erst alles und dann nichts? He? Warum? Er stand auf und sah +mich gebieterisch an. + +Gott will es, flüsterte ich. + +Gott? Wer ist Gott? Was kann Gott wollen, was nicht ich will? Muß ich +sterben, weil ein Gott will, den ich nicht kenne? Ich glaube nicht an +den Tod. Oder wie? Wer könnte mich von meinem eigenen Tod überzeugen? Er +blickte gegen das regennasse Fenster und gegen den Himmel; sein Hals war +dunkelrot gefärbt, und die rechte Hand war geballt. Und doch, was ist zu +tun? fuhr er nun mit feierlicher Stimme fort, ohne seine Stellung zu +verändern. Es nützt nichts, daß ich leben will, leben, leben. Es nützt +nichts, daß ich weiß, auch ihr werdet tot sein, wenn ich's bin. Es nützt +nichts. Wenn's auch nur noch zehn Jahre sind, was sind zehn Jahre für +mich? + +Ich erinnere mich, daß ich etwas sagte von unserer Liebe für ihn. Aber +er schwieg und hörte nicht. Langsam wanderte er auf und ab, die Hände +auf dem Rücken und wiederholte noch einmal vor sich hin: was sind zehn +Jahre für mich? Mir standen plötzlich die hellen Tränen in den Augen, +und voll Betrübnis schlich ich davon. Immerfort glaubte ich ihn zu +hören, den anklägerischen Ton seiner Stimme, den Trotz seiner Worte; +immer sah ich ihn einsam in seiner leeren Stube gehen und konnte nicht +die Inbrunst und das Furchtbare seiner Augen vergessen, als er ausrief: +Was kann Gott wollen, das nicht ich will? Raum und Zeit verachtend, +stand er im Mittelpunkt des Weltalls, allein, aufrührerischen Geistes, +ein aufrührerischer Fährmann, die abendliche Flut des Lebens befahrend. +Die Jahre konnten ihm nichts sein, denn seine Seele hatte stets den +Augenblick besessen -- und nun verloren. + +Den nächsten Tag verbrachte ich mit meinen Angelegenheiten. In der +Nacht, die folgte, fand ich keinen Schlaf. Die Luft schien mir schwül, +und kaum daß es Morgen geworden, trieb es mich nach der Wohnung meines +Vaters. Als ich in sein Schlafzimmer trat, sah ich ihn ruhig auf dem +Bett liegen, und daneben hockte Mittelmann, das Schachbrett vor sich, +anscheinend stumpfsinnig in ein Problem vertieft. Mich wunderte das so +früh am Tag. Mittelmann gewahrte mich und sagte scheu: Ich war die ganze +Nacht hier, es war um zwölf Uhr, solange spielten wir. In dieser +Stellung brachen wir ab. Sehr interessante Stellung, sehen Sie nur. + +Geschwätzig redete er weiter. Ich blickte unbeweglich auf die +geschlossenen Augen des Greises. Sein Gesicht zeigte denselben Ausdruck +des Trotzes, wie vor zwei Tagen. + +Die Fenster waren geöffnet, und die Sonne strahlte herein. Ich wurde so +traurig wie nie zuvor; und doch war es mir, als hätte ich meinen Vater +schon tot hingestreckt gesehen damals, als Bianca ihm vorlas. + +Am nächsten Tag begrub man ihn. Den armen Mittelmann führte ich darnach +in ein Wirtshaus und gab ihm satt zu essen. + + + + + * * * * * + +Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane + +Dritte Reihe + + 1. Bd. Th. Fontane, Irrungen Wirrungen + 2. Bd. Björnstjerne Björnson, Mary + 3. Bd. Gabriele Reuter, Frauenseelen + 4. Bd. Laurids Bruun, Van Zantens Insel der Verheißung + 5. Bd. Sophie Hoechstetter, Passion + 6. Bd. Knut Hamsun, Redakteur Lynge + 7. Bd. Hermann Bahr, Theater + 8. Bd. Gustaf af Geijerstam, Pastor Hallin + 9. Bd. Bernhard Kellermann, Yester und Li +10. Bd. Felix Hollaender, Das letzte Glück +11. Bd. Jonas Lie, Auf Irrwegen +12. Bd. J. Wassermann, Der niegeküßte Mund + +Jeden Monat erscheint ein Band + + * * * * * + +Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane + +Bisher erschienen unter anderen: + +Gabriele d'Annunzio: Lust I/II +Hermann Bahr: Theater +Herman Bang: Am Wege +Björnstjerne Björnson: Mary +Laurids Bruun: Van Zantens glückliche Zeit +Theodor Fontane: L'Adultera +Gustaf af Geijerstam: Thora +Knut Hamsun: Redakteur Lynge +Hermann Hesse: Unterm Rad +Felix Holländer: Das letzte Glück +Bernhard Kellermann: Yester und Li +E. von Keyserling: Beate und Mareile +Jonas Lie: Eine Ehe +Peter Nansen: Julies Tagebuch +Thomas Mann: Der kleine Herr Friedemann +Gabriele Reuter: Liselotte von Reckling +Jakob Schaffner: Die Erlhöferin +Emil Strauß: Der Engelwirt + + * * * * * + +Werke von Jakob Wassermann +bei S. Fischer, Verlag, Berlin + + +Die Juden von Zirndorf. +Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Vierte Auflage. Geheftet 4 Mark, +in Leinen 5 Mark, in Leder 6 Mark 50 Pfg. + +Kaum je hat ein jüdischer Poet seinen Glaubensgenossen, und über das +Judentum der Gegenwart überhaupt schärfere, und zutreffendere Dinge +gesagt als Wassermann in diesem Buche. Die besten Eigenschaften des +jüdischen Volkes erscheinen in ihm selbst verkörpert, vor allem der +kritisch-skeptische Sinn, der auch sich selbst nicht schont. Mit diesem +verbindet sich auch bei Wassermann eine starke, jedoch mehr mystisch als +sinnlich glühende Phantasie, der namentlich in dem phantastischen +»Vorspiel« des Romans eine glänzende poetische Leistung gelungen ist. +Dieses Vorspiel bildet den Grundakkord zu der in unseren Tagen +spielenden Geschichte der »Juden von Zirndorf«, in denen ein begabter +Jüngling Agathon, der das edelste Judentum verkörpert, die von einem +brutalen Christen erduldete Schmach durch einen Mord an seinem Peiniger +rächt. + (Neue Zürcher Zeitung) + + +Die Geschichte der jungen Renate Fuchs. +Elfte Auflage. Geheftet 6 Mark, in Leinen 7 Mark 50 Pfg. + +Jedes große, befreiende Buch muß ein Buch der Erlösung und der +Wiedergeburt sein. Dies ist ein Buch von der Erlösung der Frauen, »die +alten sinnlichen Vorurteilen zu mißtrauen beginnen, die ihr Schicksal, +ihr Frauenschicksal erleben und nicht länger leibeigen sein wollen«. -- +Seit dem »Grünen Heinrich« Kellers ist in deutscher Sprache kein so +interessanter und tiefsinniger Roman erschienen. + (Die Zukunft) + + +Der Moloch. +Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Vierte Auflage. Geheftet 4 Mark, +in Leinen 5 Mark, in Leder 6 Mark 50 Pfg. + +Ein bedeutendes Werk! Bedeutend durch die ernste Idee, die ihm zugrunde +liegt, bedeutend durch die psychologische und gestaltende Kunst, mit der +Wassermann jene Idee zu einem groß und breit angelegten, lebensvollen +Gemälde gestaltet hat!... Der Verfasser hat dieses psychologische +Problem in der Tat auch vollständig, seinem Wesen entsprechend, +psychologisch behandelt, und zwar in geradezu bewundernswerter Weise. +Mag das Weltbild, das Wassermann hier entwirft, ein einseitiges sein, +mögen einzelne weniger interessierende Seiten seines Bildes gar zu breit +aufgeführt, mag selbst die ihm zugrunde liegende Idee nicht unbedingt +anzuerkennen sein und das Poetische etwas zu kurz kommen --, so viel +bleibt gewiß, daß das umfangreiche Werk von Anfang bis zum Ende eine +Stimmung ausströmt, die unwiderstehlich fesselt und mit der Macht fast +eines Erlebnisses wirkt. + (Berner Bund) + + +Der niegeküßte Mund -- Hilperich. +Novellistische Studien. Geheftet 2 Mark, in Leinen 3 Mark. + +In diesen Novellen hat die Wassermannsche Erzählungskunst eine mehr als +respektable Höhe erreicht. Es sind belletristische Kunstwerke von einer +so feinen und sicheren Arbeit, wie wir ihrer in der heutigen deutschen +Literatur nicht viele besitzen. Was sie vornehmlich auszeichnet, ist +ihre gute Haltung im Sinne der epischen Kleinkunst. Wie hier alles in +den Verhältnissen abgewogen ist, wie anmutig und doch streng die Linie +fließt, wie der Zierat sich verteilt, Licht und Schatten sich verhalten, +Ausführung und Andeutung zueinander stehen -- alles das verrät einen in +Deutschland sehr seltenen Kunstverstand und ungemein viel Talent. + (Die Zeit, Wien) + + +Alexander in Babylon. +Roman. Dritte Auflage. Geheftet 3 Mark 50 Pfg., in Leinen 4 Mark 50 Pfg., +in Leder 6 Mark. + +Nichts als der reale Gang der geschichtlichen Ereignisse von Alexanders +Rückkehr aus Indien bis zu seinem vorzeitigen Tode wird uns erzählt, +dies freilich in farbigreicher kulturhistorischer Ausmalung und mit +ebenso kühner als intensiver Psychologie. So ist dieses Buch weit mehr +ein Prosaepos als ein Roman, und es bietet weit mehr eine faszinierende +Ausdeutung der Geschichte als etwa eine Spannungserzeugung durch +pragmatische Verwicklungen. Auf jeden Fall aber ist es ein Kunstwerk, +sowohl durch die Geschlossenheit seiner Komposition wie durch seine kaum +genug zu preisende sprachliche Behandlung. Es gehört zu unsern schönsten +deutschen Prosabüchern. Manche Kapitel verdienten in den Schulen gelesen +zu werden. Auf solche Weise wird Geschichte lebendig gemacht und +beseelt. + (Neue Freie Presse, Wien) + + +Die Schwestern. +Drei Novellen. Dritte Auflage. Geheftet 2 Mark, in Halbleder 3 Mark, +in Leder 4 Mark. + +Der Vortrag dieser Geschichten ist stilistisch meisterhaft, in der +Schilderung des Tatsächlichen von der Einfachheit der altitalienischen +Novellen, dabei hin und wieder blitzend von seltsam geschliffenen +Wortprägungen spezifisch Wassermannscher Art. Nur einem kabbalistischen +Grübelsinn, einer so heißen Phantasie wie der dieses deutschen +Orientalen konnte es gelingen, die Verrücktheiten der kastilischen +Isabella so tief poetisch märchenhaft zu durchleuchten und aus den zwei +phantastisch konstruierten Kriminalfällen das Rauschen geheimnisvoller +seelischer Unterströmungen so hervortönen zu lassen. + (Literarisches Echo) + + +Die Masken Erwin Reiners. +Roman. Siebente Auflage. Geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark. + +Dieser Roman wird einmal in der Entwicklungsgeschichte der modernen +Literatur eine wichtige Rolle spielen. Man wird ihn als einen alles +Wesentliche zusammenfassenden und reflektierenden Spiegel des zügellosen +Individualitätsstrebens betrachten, das doch das entscheidende Merkmal +unserer modernen Romanliteratur bleibt, von ihm zugleich aber eine +Wendung zum realen Leben datieren. Es sind einige Kapitel in dem Roman, +die wie das Morgenrot einer neuen Klassik anmuten. + (Westermanns Monatshefte) + + +Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig + + + + +[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf +Grundlage der 1911 in der Reihe »Fischers Bibliothek zeitgenössischer +Romane« erschienenen Ausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält +eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen +Korrekturen. Soweit möglich, wurden die Korrekturen der typographischen +Fehler anhand der Erstausgabe im Albert Langen Verlag, München, 1903 +überprüft (Der niegeküßte Mund und Hilperich). Die Verlagswerbung wurde +am Ende des Buchs gesammelt. + +p 011: Komma ergänzt: glänzenden, gefährlichen +p 013: Freundes empor, der ihm um zwei Kopflängen -> ihn +p 017: Drittel Kapitel -> Drittes +p 037: erwiderte der Lerhre -> Lehrer +p 053: dagegewesen -> dagewesen +p 071: Dinkeslbühler -> Dinkelsbühler +p 071: Der Lehrer entgegenete nichts darauf. -> entgegnete +p 103: Zustand des Zweifelsund -> Zweifels und +p 140: Punkt ergänzt: Scherben eines Spiegels. +p 157: Gustav af Geijerstam -> Gustaf ] + + + +[Transcriber's Note: This ebook has been prepared from the edition +published in 1911 as part of the series "Fischers Bibliothek +zeitgenössischer Romane". The table below lists all corrections applied +to the original text. Where available, the corrections have been +cross-checked with the first print of "Der niegeküßte Mund" and +"Hilperich" published at Albert Langen Verlag, München, 1903. The +publisher's advertisements have been collected at the end of the book. + +p 011: added comma: glänzenden, gefährlichen +p 013: Freundes empor, der ihm um zwei Kopflängen -> ihn +p 017: Drittel Kapitel -> Drittes +p 037: erwiderte der Lerhre -> Lehrer +p 053: dagegewesen -> dagewesen +p 071: Dinkeslbühler -> Dinkelsbühler +p 071: Der Lehrer entgegenete nichts darauf. -> entgegnete +p 103: Zustand des Zweifelsund -> Zweifels und +p 140: added period: Scherben eines Spiegels. +p 157: Gustav af Geijerstam -> Gustaf ] + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Der niegeküßte Mund, by Jakob Wassermann + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER NIEGEKÜßTE MUND *** + +***** This file should be named 17143-8.txt or 17143-8.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + https://www.gutenberg.org/1/7/1/4/17143/ + +Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders +Europe at at http://dp.rastko.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at +https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at +809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email +business@pglaf.org. 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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Der niegeküßte Mund + Drei Erzählungen + +Author: Jakob Wassermann + +Release Date: November 23, 2005 [EBook #17143] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER NIEGEKÜßTE MUND *** + + + + +Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders +Europe at at http://dp.rastko.net + + + + + + +</pre> + + + +<!-- <p><a class="page" name="Page_1" id="Page_1" title="1"></a>[Illustration: publisher's logo]</p> --> +<!-- <p><a class="page" name="Page_2" id="Page_2" title="2"></a>[advertisements, moved to back of book]</p> --> +<p><a class="page" name="Page_3" id="Page_3" title="3"></a></p> +<div class="titlepage"> +<h1>Der niegeküßte Mund</h1> + +<h3>Drei Erzählungen von</h3> + +<h2>Jakob Wassermann</h2> + + +<h5>S. Fischer, Verlag, Berlin</h5> + +<p><a class="page" name="Page_4" id="Page_4" title="4"></a></p> +<p class="copyright">Alle Rechte vorbehalten.</p> +</div> + +<hr style="width: 65%;" /> + +<p><a class="page" name="Page_5" id="Page_5" title="5"></a></p> +<table class="toc"> +<caption>Inhalt</caption> +<tr><td><a href="#Der_niegekuesste_Mund">Der niegeküßte Mund</a></td> +<td align="right">7</td></tr> +<tr><td><a href="#Treunitz_und_Aurora">Treunitz und Aurora</a></td> +<td align="right">81</td></tr> +<tr><td><a href="#Hilperich">Hilperich</a></td> +<td align="right">127</td></tr> +</table> + +<hr style="width: 65%;" /> + +<!-- <p><a class="page" name="Page_6" id="Page_6" title="6"></a>[Blank Page]</p> --> +<p><a class="page" name="Page_7" id="Page_7" title="7"></a></p> + + +<h2><a name="Der_niegekuesste_Mund" id="Der_niegekuesste_Mund"></a>Der niegeküßte Mund</h2> +<!-- <p><a class="page" name="Page_8" id="Page_8" title="8"></a>[Blank Page]</p> --> + + + + +<p><a class="page" name="Page_9" id="Page_9" title="9"></a></p> +<h3>Erstes Kapitel</h3> + + +<p class="newsubsection">Schon von ferne sieht man den gelben, alten, fünfeckigen +Turm mit seinem dunklen Ziegeldach, das einer Nachthaube +gleicht. Er schließt eine breite, stille Straße mit seltsam +regelmäßigen Häusern ab, die sich wie Zierrat ausnehmen. Mit +seinem Torbogen scheint er auf den gebrechlichen Schultern +zweier Häuser zu stehen; das eine ist die Wirtschaft zum lustigen +Pfeifer, das andere gehört dem Doktor Maspero. Die Straße +setzt sich verengert bis zum Marktplatz fort, welcher den Eindruck +eines städtischen Mittelpunkts macht. Viele ruhige Gassen +und Gäßchen zweigen von da ab: zum Schießanger, zur Altmühlbrücke, +zur Kirche, und ein ganz schmaler Gang zwischen +der Apotheke und dem Bezirksamt zur jüdischen Synagoge, +einem lustigen Bau aus rotem Backstein, gekrönt von zwei dickbäuchigen +Kuppeln. Ringsherum zieht sich ein weitläufiger +Obstgarten, der den Tempelvorhof gegen die Straße frei läßt. +Aber diese Straße hat nur noch ein einziges Stirngebäude, +eingeklemmt zwischen uraltem Häusergerümpel, doch nicht minder +alt und nicht minder baufällig: das Schulhaus. Sechsundsechzig +Kinder, Knaben und Mädchen, werden hier täglich von +Herrn Philipp Unruh in die Geheimnisse des Alphabets und +der Arithmetik eingeführt.</p> + +<p>Es gibt Namen und Namen. Manche sind ihrem Besitzer +wie aus dem Wesen geschnitten, manche passen zu ihm wie +etwa die Synagoge zum Obstgarten. Ein solcher Obstgarten, +um den Vergleich müde zu machen, war der Name jenes Lehrers. +Er selbst und der Kreis seines Daseins waren voller Ruhe. Die +kleine Stadt lag unter dem Horizont der Ereignisse. Die Leute +von Gunzenhausen verrichteten ihre Geschäfte bei Tage und +<a class="page" name="Page_10" id="Page_10" title="10"></a>schliefen in der Nacht und von eisernen Gesetzen wurden die +Stunden geregelt. Uhren und Kalender hatten nur einen äußerlichen +Wert. Die Glocke schlug, aber was sie schlug, brauchte an +keines Hörers Ohr zu tönen. Die Zeit ging, wie sie seit Ewigkeiten +gegangen war, aber wohin sie ging, gab keinem Verstand +ein Rätsel. Nur die Eisenbahnzüge, die das friedliche Altmühltal +hinab- und hinaufrollten, brachten einen Duft von Welt +mit, von Geschehnissen, vom Wandel der Dinge, von den +traurigen und heiteren Spielen, die in den Ländern vor sich +gehen, welche eingespannt liegen zwischen den Ozeanen.</p> + +<p>Philipp Unruh war also ein Ruhiger mit den Ruhigen. Er +war auch kein Philippos, kein Pferdefreund, sondern eher der +beschaulich schreitenden Katze zugeneigt. In seinem Amt war +er weder rühmenswert, noch gab er zu tadeln Grund. Seit +einem Dezenium rollte das Jahrwerk ab ohne sein Hinzutun. +Es glitt ihm vor den Händen vorbei, ähnlich wie bei geschickten +Arbeitern, die ohne Augen, ohne Licht vollbringen könnten, was +Zwang und Gewohnheit sie gelehrt. Der Tag zerfiel in Stunden; +einzelne Stunden bedeuteten Fächer, und jedes Fach war ein +Häuflein Eingelerntes, bereit, in ein Schock mehr oder minder +williger Gehirne gestopft zu werden. Diese kleine Maschinensammlung +um Philipp Unruh war seine Schule, in welcher er +gleichmütig herumschritt und hantierte und mit Wohlwollen +und kühler Befriedigung dem ordnungsmäßigen Verlauf der +Dinge anwohnte.</p> + +<p>Derselbe Mann, der weder alt noch jung, weder lustig noch +traurig, weder lebendig noch tot war, hatte eine Liebhaberei, +welche fast mehr als diesen Namen verdiente, weil sie den eigentlichen +Zirkel seines Wesens überschritt. In seiner dumpfen +Kammer, aus der der hellste Sommertag die Dämmerung +<a class="page" name="Page_11" id="Page_11" title="11"></a>nicht vertreiben konnte, weil rings Dächer und Galerien ihr +den Himmel nahmen, gab es eine lange Reihe von Folianten: +Chronika und Memoria und ernsthafte Darstellungen, die Geschichte +aller Zeiten und Völker enthaltend. Darin las und +grübelte, studierte und spekulierte Philipp Unruh seit Jahr +und Tag. War gleich gelehrter Eifer im Spiel, – etwas wie +Abenteuergelüst war sicher auch dabei. Und wohl noch eines. +Während um ihn die Zeit starr lag gleich einem gefrorenen +See, erblickte er durch seine Bücher ein aufgewühltes Meer +von Leben. Für ihn war die Gegenwart nur der Schatten, +das lautlose Widerspiel der bunten, glänzenden, gefährlichen +und anziehenden Vergangenheit. Seine Stube, das zufriedene +Städtchen, das stille fränkische Land, das war die +Gegenwart. Die Vergangenheit war Europa, Asien, Ägypten, +waren mörderische Schlachten, strahlende Revolutionen, +versinkende Reiche. Hier war der Doktor, der Apotheker, der +Bürgermeister, der Schulrat. Dort war eine Gesellschaft von +Königen, genialen Feldherrn, erhabenen Verbrechern, blutgierigen +Empörern, ruhmvollen Märtyrern und unerschrockenen +Entdeckern. Es gab glänzende Künstler, Propheten, falsche Herzöge, +aufopfernde Bürger, heroische Weiber, Vaterlandshelden +und märchenhafte Städte. Und solchem Reichtum gegenüber, +der unerschöpflich vor ihm lag, der seine Sinne entzündete, +seinen Geist bewegte, seine Träume mit unvergleichlichen Gestalten +bevölkerte, sollte ihm der matte Tag noch etwas bedeuten? +Er ahnte das Schicksal, das seine Hand von Jahrtausend zu +Jahrtausend spannt, das die Kleinen vernichtet, um die Großen +zu erhalten; das ganze Länder verbrennt, um die Asche zum +Mörtel für das Häuschen eines Heilands zu verwenden, das +jedes Ereignis menschlichem Maß entrückt, jeden Zufall zur +<a class="page" name="Page_12" id="Page_12" title="12"></a>Bestimmung wandelt. Deshalb hatte sich unter seinem rötlichen, +buschigen Schnurrbart jenes Lächeln eingenistet, das ebenso +kindlich war, wie es für weise gelten konnte. Deshalb hatte er +kein Verständnis für die kleine Spottsucht des Doktor Maspero +und keine Teilnahme für den Kummer der Frau Süßmilch, +deren Töchterchen dem ABC feindlich gegenüber stand. Der +Herr Adjutant (man nannte ihn so, obwohl niemand sich erinnern +konnte, ihn jemals in einer Uniform gesehen zu haben) +sagte, der Unruh zähle seine fünfunddreißig Jahre doppelt. Und +da er es zu Frau Federlein sagte, welche die Frau des Nachtwächters +war, erfuhren es alle Leute, die in der Abgeschlossenheit +des Lehrers etwas Verdächtiges und Geheimnisvolles sahen.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_13" id="Page_13" title="13"></a></p> +<h3>Zweites Kapitel</h3> + + +<p class="newsubsection">Wie heute hatte Doktor Maspero fast täglich einen Begleiter, +der die nächtliche Heimkehr vom Wirtshaus verkürzte. Er +plauderte in seiner finster-spöttischen Manier mit dem Baron, +der die Apotheke besaß. Es gab manchmal ausgedehnte und +tiefsinnige Gespräche in der Nacht, wenn das Kartenspiel beendet +war. Der Doktor war ein Mann, klein wie ein Zwerg, +hager wie ein Knabe, hatte auch die Bewegungen eines Knaben, +sprach überlaut und meist grimmig, auch wenn er witzig war. +Sein bärbeißiges Wesen glich einer Schutzwaffe gegen die länger +gewachsenen Menschen.</p> + +<p>Lispelnd und visionär erzählte der Baron von seinem neuen +Provisor. Das Lispelnde und Visionäre war ihm stets eigen. +Seine Art erinnerte an frische Butter, so reinlich, mild und +appetitlich war er. Er war den schönen Künsten ergeben und +verdankte dieser Neigung das Zerflossene und Selbstgefällige +seiner Natur. Immer ging er durch die Straßen wie jemand, +der sagen will: Seht, welch ein Träumer bin ich.</p> + +<p>Der Doktor drückte seine Verwunderung aus, daß er den +neuen Provisor, der doch schon vier Wochen hier sei, noch nicht +gesehen habe, und fragte nach dem Namen.</p> + +<p>»Apollonius Siebengeist,« erwiderte der Baron, und seine +Blicke waren verloren ins schwarze Firmament gerichtet.</p> + +<p>»Einstampfen lassen! Einstampfen lassen! So heißt man +nicht,« kreischte der Doktor mit unbegründeter Wut und lauschte +auf den Beifall seines Freundes empor, der ihn um zwei Kopflängen +überragte. Auch er war nicht ohne Beziehung zum +geistigen Leben der Nation. Sein ungestümer Witz war eine +Frucht der Bildung. Sein Ideal unter den Bücherschreibern +<a class="page" name="Page_14" id="Page_14" title="14"></a>war jener Saphir, der einst nach des Doktors Ansicht die Welt +aus ihren Fugen gerüttelt.</p> + +<p>Der Baron entgegnete langsam und bedeutungsvoll, daß +Siebengeist aus einer guten Familie sei, jedoch sei sein Gehirn +nicht in gehöriger Ordnung. Er habe etwas Koboldartiges an +sich, etwas Sozialdemokratisches. Darauf antwortete der Doktor, +indem er mit zwei Fingern seine Nasenspitze kniff, der Apotheker +möge ihm doch ein Pülverchen zur Beruhigung zubereiten, eine +staatserhaltende Mixtur.</p> + +<p>»Rizinusöl!« platzte der Baron heraus und brach über diesen +unerwarteten Geistesblitz in solch brüllendes Hoho-Gelächter +aus, daß der Nachtwächter Federlein an der Marktecke erschrocken +stehen blieb. Geringschätzig verzog der Doktor den +Mund, während der sanfte Apotheker noch lange nicht zur Ruhe +kommen konnte. Und während sie ihren Weg durch die außerordentlich +stille Nacht fortsetzten, sprach man noch von den +Theatervorstellungen, welche für die nächsten Tage angekündigt +waren, denn eine Wandertruppe wollte im fränkischen Hof ihr +Lager aufschlagen. Der Doktor war vom Redakteur des Tageblatts +als Kritiker gewonnen worden, und der Baron hatte die +Absicht, dem Direktor ein Vorspiel in Versen zu schreiben.</p> + +<p>Beim Schulhaus winkte der Doktor leutselig zum dunkeln +Fenster hinauf, aus dem der Lehrer auf die Straße sah. Die +Glocke schlug eben elf Uhr. Der Doktor fragte empor, ob Philipp +Unruh morgen zur Auktion kommen werde. »Es soll auch +Bücher geben,« fügte er mit überlegenem Spott hinzu. Die +beiden Männer wünschten gute Nacht und waren bald in der +Finsternis verschwunden.</p> + +<p>Der Lehrer wußte, daß es Bücher bei der Versteigerung +geben würde. Der jüdische Kantor war gestorben, ohne An<a class="page" name="Page_15" id="Page_15" title="15"></a>gehörige +zu hinterlassen, und dessen Habseligkeiten kamen +unter den Hammer. Insbesondere wußte Unruh um eine alte +Ansbacher Chronik, die der Kantor nie hatte verkaufen noch +verleihen wollen. Daran erinnert, freute er sich jetzt, vergaß die +trüben Gedanken, die ihn beherrscht, musterte lächelnd den schwarzen +Vorbau der Synagoge, schaute straßauf, straßunter, ruhegewohnt, +friedesicher und achtete der Kälte nicht. Schnee fiel, +flaumig anzusehen, aufglitzernd im Licht einer einzigen Laterne. +Indes, jene allzuschnell vertriebenen Gedanken kehrten zurück.</p> + +<p>Er hatte etwas Seltsames gelesen. Unlängst war er bei +seinem Schwager, einem Schwestermann in Teilheim, gewesen. +Das ist ein Örtchen in der Nähe Hesselbergs und mitten im sogenannten +Hahnenkamm. Der Freund besaß eine Krämerei, und +beim Herumstöbern in Kisten und Kasten, wie es Philipp Unruhs +Besuch mit sich brachte, fand sich ein vergessener Schmöker vor, benagt +von Motten und Mäusen, um alles Ansehen gebracht durch +Liegen und Staub. Der Krämer hatte schmunzelnd den Fund verschenkt, +welcher die Aufzeichnungen einer Marquise Bourguignon +enthielt, von einem Kammerherrn, Exzellenz, behäbig und schnörkelhaft +in das Deutsch des achtzehnten Jahrhunderts übertragen.</p> + +<p>Nun sitzt da weltfern und lebensfremd ein Schulmeisterlein +in seiner engen Kammer und vertieft sich dumpfen und erschrockenen +Sinnes in die frivolen Erinnerungen der Hofdame. +Ein goldgieriger Räuber steigt durchs Fenster, aber das Fräulein, +fast noch ein Kind, gibt gutlaunig Edleres hin. Der würdige +Pater im Beichtstuhl zeigt sich nachsichtig gegen Sünden, an +deren Begehung er teilnehmen darf. Auf der Treppe küßt die +reizende Marquise ihrem Geliebten das Herz aus dem Leibe, +während zehn Stufen höher der arme Gatte nach der Lampe +ruft. Mönch und Nonne, Fürst und Lakai, Bauer und Soldat, +<a class="page" name="Page_16" id="Page_16" title="16"></a>Kavalier und Bürgerin nehmen teil am übermütigen Tanz der +Liebe, ja die Dinge der unbelebten Welt sind ergriffen vom heiteren +Taumel, der Himmel wiederhallt vom frohsinnigen Gelächter, +und die graziösen Geister der Galanterie werfen jauchzend +bunte Tücher über Gräber und Schlachtfelder. Was Gesetze, Philosophen, +Zukunft, Religion! Kein Schauer der Ewigkeit für diese +lächelnde Bacchantin und ihre Liebeskünste.</p> + +<p>Es sind ja längstvergangene Zeiten, dachte schließlich Philipp +Unruh furchtsam. Das ist damals so gewesen, durfte damals +so sein, denn es war eine Zeit der Barbarei, eine wilde, sittenlose +Zeit. Heute ist die Welt still geworden; nichts ist mehr zu +erblicken von solch übertriebenem Abenteuerzeug. Ein jeder +Mann geht wacker dem Geschäfte nach, ein jedes Weib wohnt +züchtig in seinem Hause, und es regiert die Ordnung. Törichte +Leidenschaften der Vergangenheit mit eurem Überschwang und +eurer Gefährlichkeit, dachte der Lehrer mitleidig und war zufrieden +damit, einem besseren Jahrhundert anzugehören.</p> + +<p>Daneben war aber etwas Unbestimmtes und Hinterlistiges, +das ihn quälte. Bei all dem Herumdenken suchte er sich heimlich +zu beschwindeln, und das wußte er. Exzellenz Kammerherr +hatte sich da eine teuflische Sache ausgesucht für seine lahme +Feder. Mit böser Zähigkeit kamen und gingen Bilder, und +Philipp Unruh schaute sie an mit wildfremden Gefühlen. Er, +der alle Dinge über sich ergehen und herabsinken ließ wie Schnee, +fühlte plötzlich etwas wie Lebenslast und -besinnung.</p> + +<p>Endlich schien es ihm genug des Träumens. Er schloß das +Fenster, ging noch eine Weile zwischen den leeren Schulbänken +auf und ab, trotz der Dunkelheit sicher den Weg findend und +suchte dann seine Studier- und Schlafstube auf, um sich zur +Ruhe zu begeben.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_17" id="Page_17" title="17"></a></p> +<h3>Drittes Kapitel</h3> + + +<p class="newsubsection">Ziemlich viele Menschen waren in der Kantorwohnung versammelt, +Ortswürdenträger und andere Leute. Es gab +auch solche, die nur gekommen waren, um für eine Stunde der +Winterkälte zu entrinnen. Der Auktionator war ein dicker +Mann mit einer militärischen Fistelstimme. Bei den billigen +Gegenständen wurde er herablassend, fast gnädig, und sein +Würdegefühl stieg um so mehr, je geringer sich die Kauflust +erwies. Doktor Maspero erstand einen Schreibtisch, der Bürgermeister +ein Dutzend leere Flaschen, der Trödler Most die Gebetbücher, +das »Kasino« einen Teppich.</p> + +<p>»Eine Chronik!« rief der Auktionator finster.</p> + +<p>»Eine Chronik für Unruh!« witzelte der Doktor.</p> + +<p>»Eine Chronik der Markgrafschaft Ansbach,« sagte der Auktionator +streng, wartete, bis das Gelächter zu Ende war und +fügte verächtlich hinzu: »Zwei Mark zum ersten.«</p> + +<p>»Drei Mark,« murmelte Philipp Unruh schüchtern. Einige +kehrten sich lächelnd um, denn er stand an der Rückwand des +Raums. Die Geschäftigkeit hier hatte ihn aus irgend einem +Grund betrübt gemacht. Alle Gegenstände, die unter den Hammer +kamen, hatten einen Schein von Persönlichem, von Zusammengehörigkeit, +sahen aus wie Glieder einer Familie, die +in die Welt verstreut werden sollten. Etwas wie Todestrauer +lag über ihnen, besonders über dem schwarzen Ledersofa im +Winkel. Es war, als säße der alte Kantor unsichtbar darin +und betrachte mit mürrischem Gesicht die entrückte, kunterbunte +Welt.</p> + +<p>Die Fistelstimme rief mit beleidigtem Ausdruck den Taler +zum zweitenmal ab.</p> + +<p><a class="page" name="Page_18" id="Page_18" title="18"></a>»Fünf Mark,« sagte jemand, der eben eingetreten war. Alle +drehten sich um, und die Mienen wurden zurückhaltend und +unzufrieden, als man den neuen Provisor sah.</p> + +<p>Philipp Unruh erbebte. Er blickte nach Apollonius Siebengeist +und dachte erbittert: der reine Adonis. Warum er gerade +diese Bezeichnung wählte, und warum es in einer gehässigen +Bedeutung geschah, blieb ihm rätselhaft. Der Auktionator nahm +das höhere Angebot mit erwachendem Interesse zur Kenntnis.</p> + +<p>»Zwei Taler«, erwiderte der Lehrer mit dünner und unsicherer +Stimme. Die Leute wurden neugierig, drängten sich +zusammen und sahen zu, als ob ein Hahnenkampf vor sich ginge. +Der Lehrer schämte sich wie jemand, der auf irgend eine Weise +Interesse erregt, ohne es rechtfertigen zu können.</p> + +<p>»Drei Taler,« sagte Siebengeist mit kaltem Lächeln. Er +stand an den Pfosten gelehnt, beide Hände in den Taschen seines +Pelzmantels, in der nachlässigen Haltung eines Mannes von +Welt. In Philipp Unruh erwachte ein trüber Zorn. Doch wie +alle schwachen Menschen, die sich beleidigt oder übervorteilt +sehen, hatte er den Wunsch, dem Gegner sein Anrecht logisch +und herzlich zu beweisen. Er hatte die dunkle Empfindung, als +müsse er hingehen und dem Manne sagen, wie viel ihm der +Besitz der Chronik wert sei, und wie er sich darauf gefreut habe, +sie erwerben zu können. Besonders den Umstand seiner Freude +und Erwartung wollte er betonen. Indessen haßte und verachtete +er gleichzeitig den fremden Eindringling, und in einer +Aufwallung dieser Gefühle bot er zehn Mark. Der Doktor +machte ein faunisch entzücktes Gesicht und eine triumphierende +Gebärde, der Auktionator nickte beifällig und schnupfte geräuschvoll +aus einer braunen Papierdüte. Jedoch andere Gesichter +sah der Lehrer auf sich gerichtet, deren prüfender Hohn ihn er<a class="page" name="Page_19" id="Page_19" title="19"></a>schreckte, +und als der Provisor nachlässig noch weiter steigerte, +verließ er schweren Schrittes den Raum mit den Gefühlen eines +Menschen, über den ein falscher Urteilsspruch ergangen ist.</p> + +<p>Ein trüber Wintertag war es; alle Scheiben waren mit Eisblumen +bedeckt. Der Schnee lag hoch und rein und blendete +die Augen des Lehrers. Auf einem Zaun, dessen Pfähle weiße, +runde Kappen trugen, saßen drei Spatzen und zwinkerten bekümmert +den Vorübergehenden an. Aus dem Schulhaus drang +ein betäubender Lärm. Unter seiner Ladentüre stand der +Bäcker und schaute spöttisch lachend hinauf. Kunigunde, die +Wirtschafterin, begegnete ihm auf der Stiege und kicherte dumm +vor sich hin. Er lächelte plötzlich freundlich, als ob er mit jemand +eine liebenswürdige Unterhaltung führte, doch schien es ihm +unzuvorkommend und bedrückend, daß dieser Jemand bildlos im +Raum verblieb.</p> + +<p>Das Schulzimmer war zum Schlachtfeld geworden. Kriegsgeheul +ertönte, und Gegenstände flogen durch die Luft, die +einst einer andern Bestimmung geweiht waren. Die schwarze +Tafel, in eine Generalstabskarte verwandelt, war mit Hieroglyphen +bedeckt. Die Reiterei hatte sich des ganzen Globus +bemächtigt, und ein dämonisch kleiner Knabe saß auf dem Nordpol +und fuchtelte mit beiden Armen. Einige Amazonen hatten +die Gegend des Katheders besetzt und sangen Kampfgesänge. +Der Lehrer blieb auf der Schwelle stehen, schöpfte Atem und +schrie eine fürchterliche Drohung in den Raum. Sechsundsechzig +Paar Augen blickten ihn bestürzt und schuldbewußt an. Alle +Kinder setzten sich mit geschäftsmäßiger Kühle auf ihre Plätze. +Sie erwarteten eine unheilvolle Untersuchung. Der Kleine vom +Nordpol hatte sich beim Herunterspringen die Hosen an der +Erdachse zerrissen und saß leichenblaß da. Indes begann der +<a class="page" name="Page_20" id="Page_20" title="20"></a>Lehrer zu diktieren: Der Hamster und der Igel; eine Geschichte, +worin die Häßlichkeit des Geizes eine große Rolle spielte. Die +Enttäuschung der Kinder war groß. Sie hätten die gleichgültige +Hamstergeschichte gern entbehrt gegen das aufregende Prozeßverfahren, +das einer Vormittagsschlacht sonst zu folgen pflegte. +Immerhin ereignete sich noch etwas sehr Merkwürdiges, was +den Fortgang des einschläfernden Diktats angenehm unterbrach. +Die Tür wurde heftig aufgerissen, und Apollonius Siebengeist +trat herein. Er hatte ein dickes Buch unter dem Arm, schritt +gerade auf das Pult zu, legte den Folianten nieder und sagte +zu Philipp Unruh mit emporgezogenen Brauen: »Ich bringe +Ihnen Ihre Chronik. Ich wollte Ihnen damit ein Geschenk +machen. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen einzuwenden.« +Er grüßte mit übertriebener Unbefangenheit, doch mit schüchternem +Blick und ging.</p> + +<p>Einige Kinder lachten; das brünette Fräulein Süßmilch +auf der dritten Bank fand sich am meisten erlustigt. Sie war +blutrot im Gesicht und konnte kaum aufhören, in ihre Schürze +hineinzulachen. Philipp Unruh war verwirrt und beschämt. +Mit der schablonenhaften Strenge, die ein wichtiges Erziehungsmittel +war, befahl er Ruhe und stellte sich an das Fenster. Es +ist etwas Schönes um den Winter, dachte er mit jener Wärme +im Innern, welche kühne Hoffnungen erzeugt. Draußen mag +es stürmen, ich stehe da, um zuzuschauen. Schlaf und Frieden +ist alles. Wie schön, wenn es dämmert und ich durch den Schnee +wandere, den bläulichen Schnee, und kein Laut dringt aus der +Erde.</p> + +<p>Mit liebevoller Sorgfalt legte er die Chronik in die Pultschublade, +und bald darauf schlug es elf Uhr. Die Sechsundsechzig +stürmten davon, und der Lehrer rüstete sich zu einem +<a class="page" name="Page_21" id="Page_21" title="21"></a>Spaziergang. An der Ecke bei dem Kasino stand Apollonius +Siebengeist und plauderte mit einem Mann, der einen großen +roten Zettel an das Hauseck klebte. Philipp Unruh grüßte und +war sichtlich bemüht, etwas Weitläufiges und Kameradschaftliches +in seinen Gruß zu legen.</p> + +<p>»Wir werden jetzt Großstadt,« sagte Siebengeist lebhaft, »bekommen +ein Theater. Und was für ein ungewöhnliches Stück +sie da ankündigen!«</p> + +<p>Der Lehrer tat überrascht, obwohl er in der Zeitung davon +gelesen hatte. Er hauchte in seinen Schnurrbart, der ein wenig +steifgefroren war, und rieb die Hände.</p> + +<p>»Sagen Sie, lieber Onkel,« wandte sich Siebengeist an den +Zettelmann, »habt ihr denn hübsche Schauspielerinnen?«</p> + +<p>Der Zettelmann machte eine großartige Physiognomie. »Bei +mir ist die Blüte unseres Standes engagiert«, entgegnete er +kurz und majestätisch.</p> + +<p>»Aber Onkelchen, sind Sie denn der Direktor?« rief Siebengeist +erstaunt.</p> + +<p>Der Schauspieler bestätigte es. »Mein Name ist Schmalich«, +sagte er mit dem Stirnrunzeln eines berühmten Mannes.</p> + +<p>Scheinbar interessiert besah sich Philipp Unruh den angeklebten +Zettel. »Melchior oder die Leiden des Alters«, hieß +das Stück, ein Lebensbild in zehn Abteilungen. Einige Leute +waren stehengeblieben und starrten neugierig auf das rote +Papier. Der Direktor nahm seinen Kleistertopf und entfernte +sich mit feierlichem Gruß. Auch der Lehrer wandte sich zum +Gehen und war kaum einige Schritte weit, als er Siebengeist +an seiner Seite sah. Der Provisor begann zu reden, als ob es +ihm nur um Worte zu tun sei. Er schimpfte über das Nest, in +das ihn ein unwirsches Geschick verschlagen habe; er machte +<a class="page" name="Page_22" id="Page_22" title="22"></a>sich über Himmel und Erde lustig, und etwas Knisterndes, +Sprudelndes, Glattes war an ihm. Viele Zuckungen gingen +über sein Gesicht. Seine Augen hafteten an vielen Punkten +zugleich. Dem Lehrer ward es unbehaglich wie neben einer +gefährlichen Maschine. Siebengeist aber schlug einen weiten +Spaziergang vor, da ja heute Mittwoch sei. »Der ganze Nachmittag +liegt vor Ihnen«, sagte er. »Gehen wir ein wenig +hinaus in den Schnee.«</p> + +<p>Philipp Unruh wagte nicht, nein zu sagen. Er war überhaupt +weder ein Nein- noch ein Ja-Sager, und hier fand er +sich verpflichtet, Wünsche zu erfüllen. Siebengeist redete weiter, +bespöttelte die Büchersucht des Lehrers und sprach im allgemeinen +vernichtend über das Gelehrtentum. »Was wollen Sie +denn mit Ihren Namen und Zahlen, Onkelchen? Erklären Sie +sich doch. Die Geschichte? So? Die Geschichte ist ein altes +Weib. Alles, was war, ist wertlos. Jener Komödiant und sein +Theater ist jetzt wichtiger als alle Moses, Marc-Aurel, Robespierre +und Lasalle. Der Unterrock meiner Geliebten wiegt das +ganze babylonische Reich auf. Freilich, tausend Jahre sind euch +nichts, denn auch die Stunden sind euch nichts.«</p> + +<p>Der Lehrer blickte verängstigt auf seinen Weg. Nichts Erschreckenderes +für ihn als diese Reden, deren Sinn ihm vorüberglitt +wie Wasser. Das Heftige, Sprunghafte, dabei Lachende +und Kühne im Wesen seines Begleiters machte ihn schülerhaft +verzagt. Eine Weile schwieg Siebengeist und pfiff nur vor sich +hin. Weiß und still dehnten sich die ebenen Felder. Unbestimmte +Laute kamen aus Fernen, die vom Nebel verhüllt waren. +Im glatten Schnee waren zahllose Hasenfährten und Krähenfüße +sichtbar, am Waldrand trippelte eine Rebhühnerschar mit +schwachen, seufzenden Schreien. In der Luft war ein Sieden +<a class="page" name="Page_23" id="Page_23" title="23"></a>und Sausen, hervorgebracht durch das merkwürdige, schwere +Schweigen ringsumher.</p> + +<p>»Sind Sie verheiratet?« fragte Siebengeist wie ein Untersuchungsrichter. +»Nein? Sind Sie verliebt?«</p> + +<p>Der Lehrer wurde blaß und schüttelte unwillig den Kopf. +Siebengeist lachte hell wie ein Kind. »Waren Sie je verliebt? +Wissen Sie, Onkelchen, man könnte Sie geradezu für einen +Eunuchen halten, wenn man nicht wüßte, daß Sie ein deutscher +Bücherwurm sind. Sie verachten natürlich die Liebe, sofern +sie nicht auf dem Papier verewigt ist. Haben Sie mal von einer +gewissen Ninon de l’Enclos gehört? Ein wundersames Frauenzimmer. +Sie hat ganze Generationen mit Liebe beschenkt. Ich +war damals ein Gascognischer Prinz und in mancher Nacht +küßte ich die unsterblichen Lippen. Seitdem ist die Welt bitter +geworden. Onkelchen, was heutzutage sich Weib nennt, ist wert, +eingesalzen zu werden. Ich habe keines kennen gelernt, in dem +nicht die dumme Gans oder die Xantippe steckt. Sie sind schlecht, +eitel, feig, anmaßend, sitzen stets auf dem Galanteriestühlchen +und sind mit Leidenschaft der Lüge ergeben. Dagegen liest man +in den Kunstbüchern von den erlauchtesten Idealgestalten. Davor +warne ich Sie, Onkelchen. Durch diese Literatur geht ein +Riß. Sehn Sie doch nur, ein Mann wie ich, Prinz von Geblüt, +sitzt auf dem Trockenen und weiß nichts anzufangen mit seinen +Gefühlen, geht sehnsüchtig in der Welt umher und gafft sich die +Augen aus nach dem Bild der Liebe. Nun, ich gebe mir noch +eine kurze Frist, dann wähle ich ein angenehmes und schmerzloses +Gift.« Er lachte wieder fein kindliches Lachen.</p> + +<p>Der Lehrer wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es ist +ein Traum, dachte er zweifelnd und betrübt und sah auf das +Bahngeleise hinüber, auf dem ein Schnellzug einherraste. Er +<a class="page" name="Page_24" id="Page_24" title="24"></a>freute sich auf seine Abendstunden, auf seine Chronik, auf seine +stille Abgeschiedenheit. Indessen forderte ihn der Provisor auf, +mit ihm in einem Wirtshaus in Altenmuhr zu essen, und noch +viel weniger als früher wagte er es abzuschlagen. Doch Siebengeist +wurde merkwürdig schweigsam, ballte nur hier und da +Schnee zusammen und warf ihn auf die Baumkronen, daß es +knisterte. Dann lachte er und freute sich.</p> + +<p>In der niedrigen, heißen Wirtsstube saßen Fuhrleute beim +Bier. Siebengeist berührte kaum die Speisen. Er stocherte +nachdenklich in seinen weißen Zähnen, während der Lehrer +tüchtig zugriff. »Gelehrsamkeit stärkt den Magen«, bemerkte +Siebengeist sarkastisch. »Wissen Sie, was mir eingefallen ist? +Ich forme mir eine Jungfrau aus Schnee: schön, rein und klug. +Ich gebe ihr das Herz eines treuen Hundes und die Augen einer +edlen Häßlichen, die in Verborgenheit lebte. Das Ganze belebt, +wäre ein Wunder an Vollkommenheit.«</p> + +<p>Philipp Unruh dachte: wenn dieser Mann Apotheker ist, +werden die Kranken seltsame Mixturen erhalten. Sein ordnungsliebendes +Gemüt begann sich zu empören. Er betrachtete den +Provisor scharf von der Seite und mußte sich gestehen, daß er +ein schönes Gesicht habe, ein intelligentes Auge, einen weichen, +schwärmerischen Mund.</p> + +<p>Auf dem Heimweg stockte jedes Gespräch. Die Ruhe der +Natur war ein Befehl zur Ruhe für die Wanderer. Schon begann +das beschneite Gelände bläulich zu schimmern. Wie +schwärzliche Gestalten standen die Bäume da, streckten die Äste +verzweifelt gegen den Himmel. Philipp Unruh empfand seinen +Begleiter wie eine schwere Bürde. Er vermochte nicht zu überlegen +und nicht zu denken in seiner Gegenwart. Unsichere +Schuldgefühle belästigten ihn.</p> + +<p><a class="page" name="Page_25" id="Page_25" title="25"></a>Als sie den Marktplatz des Städtchens entlang schritten, begegnete +ihnen der Baron Apotheker und lud sie ein, den Nachmittagskaffee +in seinem Hause zu nehmen. »Meine Frau wird +sich freuen«, sagte er süßlich und in einem Ton, als spräche er +von einer majestätischen Person. Siebengeist nickte zerstreut +und nahm des Lehrers Arm, der verschüchtert und abwartend +der Einladung folgte.</p> + +<p>Es war ein uraltes Haus mit vielen Ecken und Winkeln, +breiten, finstern Stiegen, geheimnisvollen Türen und knarrenden +Dielen, worin die Apotheke war. Es stammte noch aus der +Markgrafenzeit und teilte jedem seiner Bewohner etwas von +seinem verschlossenen, düstern, eckigen und altmodischen Wesen +mit. Aus der Tiefe des Flurs kam die Baronin und rief den Provisor +zu sich hin. Philipp Unruh und der Apotheker gingen +daher voran, doch da es schon finster war, bat der Baron seinen +Gast, stehenzubleiben und eilte voraus, um ein Licht zu bringen. +Der Lehrer lehnte sich aufseufzend an die breite, gotische +Brüstung und hörte Stimmengeflüster auf der Stiege, das alsbald +wieder verstummte. In diesem Augenblick kam der Baron +mit der Lampe den Korridor entlang, und ein Lichtstrahl erhellte +das ganze Treppenhaus. Da sah Philipp Unruh, wie +sich zwei umschlungen hielten und küßten. Die Frau hing am +Halse Siebengeists mit geschlossenen Augen. Er aber hatte die +Augen offen, und es war, als sähe er weit über sie hinweg, in +eine weite Ferne, und sein Blick war düster und starr. Das +dauerte im Schein des Lichts keine Sekunde, aber der Lehrer +glaubte, Zeuge eines grauenvollen Verbrechens gewesen zu sein. +Als er dem Apotheker folgte, trugen ihn die Füße kaum, und +seine Zähne schlugen heftig aufeinander. Der Baron drehte sich +um und lachte in seiner Hohomanier. »Armer Teufel,« sagte +<a class="page" name="Page_26" id="Page_26" title="26"></a>er, »klapperkalt ist ihm.« Und er brüllte in die Küche, daß es +von allen Mauern widerhallte: »Johanna, heißes Wasser zum +Grog!« Gleich darauf begann er wieder zu lispeln und lispelte +von der Poesie des Winters, während das andere Paar scheinbar +harmlos plaudernd die Stube betrat.</p> + +<p>Gemütliche Wärme herrschte in dem großen Zimmer, dessen +Decke gewölbt war wie in einer Kapelle. Der Ofen für sich +war ein kleines Haus. Der Baron las seinen Prolog für das +Theater vor, wobei Siebengeist ergeben in seine Tasse blickte. +Offenbar waren die Gäste nur dieser Dichtung wegen herbeigeschleppt +worden, denn der Baron las mit der studierten und +zugleich naiven Wichtigkeit des Dilettanten, der sich ängstlich +vorbereitet hat. Es kamen da viele Reime vor, und manche +Gedanken, die eines Barons außerordentlich würdig waren, um +wieviel mehr eines Apothekers. Die Hippogryphen waren zu +diesem Ritt kostbar gesattelt worden, und vom großen Stall +der Metaphern war, was Beine hatte, mitgelaufen. Zeit und +Ewigkeit, Vaterland und Wissenschaft, Kunst und Natur waren, +mit Traratrompetlein bewaffnet, auf einen erbaulichen Kothurn +gestiegen und grinsten zum Vergnügen aller Mitbürger aufgeregt +herab. Des Dichters Stirn war in Schweiß gebadet und +sein blonder, zierlicher Schnurrbart zitterte rhythmisch mit.</p> + +<p>Zu anderer Zeit hätte Philipp Unruh hohes Gefallen an +der Produktion gefunden. Aber der gemütliche Raum schien +jetzt von schwülen Mysterien erfüllt. Er sah Siebengeist gequält +und grübelnd sitzen und wagte es endlich, auch die junge Frau +anzuschauen. Überrascht und erschreckt senkte er den Blick nieder. +Die schwarzen Augen der Baronin waren begeistert auf die +Lippen ihres Mannes gerichtet, und sie lächelte begeistert. +Zorn und Scham erwachten in dem Lehrer. Er atmete in +<a class="page" name="Page_27" id="Page_27" title="27"></a>Lügenluft, aber eine ihm bisher unbekannte Empfindung sinnlicher +Neugier ergriff ihn. Als der Apotheker geendet hatte, +lief die Frau beglückt auf ihn zu, umarmte und küßte ihn stürmisch. +Dem Lehrer graute. Gefährlich, tückisch und verschlagen zeigte +sich ihm das Weib, und er sah dem Provisor ins Gesicht, der mit +einem dummen Lächeln gegen das Fenster blickte.</p> + +<p>Auf einmal schrie jemand auf der Gasse laut und vernehmlich +Feuer, und gleichzeitig ertönte die Sturmglocke. Siebengeist +öffnete das Fenster und fragte hinunter. Es brenne beim alten +Schulhaus, hieß es. Philipp Unruh stürzte davon, nur vom +Gedanken an seine Bücher erfüllt.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_28" id="Page_28" title="28"></a></p> +<h3>Viertes Kapitel</h3> + + +<p class="newsubsection">Eine der Galerien, morsches, altersschwaches Zeug, stand +lichterloh in Brand. Es sah unheilvoll aus, denn was da +an Häusergerümpel beisammenstand, war sehr empfänglich +für das Feuer. Die Flammen erfüllten den Hof, schlugen über +das Dach des Schulhauses, und es gab ein Schock von Kindern, +welches mit verbrecherischer Spannung darauf wartete, daß +jenes verhaßte Gebäude zur Stunde vom Erdboden verschwinden +würde. Diejenigen Leute aber, denen es gleichgültig sein durfte, +ob es Schulferien gab oder nicht, zeigten sich aufgeregt, +und die Turmglocke, die solche Gelegenheiten gern ergriff, um +einen prahlerischen Lärm zu erzielen, vermehrte die Angst der +Gemüter. Ihre kurzen Schläge glichen dem Pochen eines +schreckenerfüllten Herzens. Es rückte die Feuerwehr an mit +mutigen Messinghelmen und verzagten Gesichtern und diese +guten Menschen verübten nun ihrerseits wieder solchen Skandal +mit Trompeten und Kommandieren und einem rasselnden +Spritzenwagen und himmelhohen Leitern, daß der Tumult +größer wurde als die Gefahr. Statt zu handeln und sich unterzuordnen, +machte sich jeder auf besondere Weise wichtig und +benahm sich als eine verdienstvolle Autorität in Gummischläuchen +oder im Wassertragen oder im Klettern und Fensterzertrümmern.</p> + +<p>Philipp Unruh stürmte in die Küche, nahm eine große +Kohlenkiste, die er in seine Studierstube schleifte und warf dort +mit erstaunlicher Handfertigkeit seine Bücher hinein. Unheimlich +sah es aus, wie er von den düsterroten Flammen beleuchtet +in atemloser Geschäftigkeit die schwarze Kiste mit den alten +Folianten füllte. Mit einer Kraft, die er als Zuschauer verwundert +beobachtet hätte, zerrte er den schweren Kasten zur +<a class="page" name="Page_29" id="Page_29" title="29"></a>Stiege, ließ ihn unter großem Gepolter herabgleiten, und erst +unten fanden sich zwei Männer, die ihm halfen, seinen Schatz +auf die Straße zu tragen. Zwischen zwei Schneehaufen blieb +die Kiste stehen. Erleichtert betrat der Lehrer wieder das Haus, +um wenn es nötig war, auch die übrigen Habseligkeiten zu +bergen. Die Wirtschafterin lief heulend im Flur herum. Da +niemand noch an Gefahr für das Schulhaus dachte, klomm +Unruh allein empor, sah sich um, fand es merkwürdig still, +hörte nur das Geprassel des Feuers und das Zischen der Wasserstrahlen. +Schränke und Wände waren blutigrot; die Fensterscheiben +zitterten vor Hitze, doch mit jedem Augenblick verminderte +sich die Gefahr. Die Holzgalerie brannte ab wie Papier +und die Steinmauer wurde schwarz von Ruß. Im Hofe stand +die Feuerwehr, eine Schar von Todesverächtern.</p> + +<p>Philipp Unruh trat wieder auf die Straße. Er winkte den +Gemeindediener herbei, daß er ihm helfe, die Kiste zurückzutragen. +Allein die Kiste war verschwunden. Der Raum zwischen +den beiden Schneehaufen war leer. In den weichen Schnee +war ein tiefes Rechteck eingedrückt, sonst war nichts zu sehen. +»Wo sind denn die Bücher?« fragte der Lehrer mechanisch, und +blickte sich befremdet um. »Gutmann, wo ist meine Kiste?« +schrie er einen vorübergehenden Feuerwehrmann an, und sein +Gesicht verzerrte sich. Gutmann zuckte beschäftigt die Achseln. +Der Gemeindediener versuchte zu trösten und öffnete nachdenklich +sein Schnapsfläschchen. Einen um den andern rief der +Lehrer an, aber keiner wußte etwas. Eine Gruppe sammelte +sich, die Ratschläge gab und Meinungen austauschte. Der Polizist +Grünhut stellte sich ein und schrieb Notizen in ein verschmiertes +Buch. Der Lehrer hatte zuerst gejammert, jedem +geklagt, einige um Beistand gebeten; jetzt wurde er still. Die +<a class="page" name="Page_30" id="Page_30" title="30"></a>Gewißheit, daß man ihm seinen teuersten Besitz entwendet habe, +begann als etwas Ungeheures auf ihm zu lasten. Er fühlte sich +vom Himmel selbst verwundet; beleidigt und verwundet in +seinem innersten Wesen. Die Ungerechtigkeit, unter der er so +zu leiden hatte, erstickte seine Überlegungen, raubte jedes Maß, +jede Berechnung für das, was ihm zugestoßen. Hier lag ein +Verbrechen vor, unerhört und frevelhaft. Wer durfte einen +armen Friedlichen auf solche Art zu Schaden bringen? Er war +ein Lehrer, nichts weiter, und verrichtete ehrlich sein Geschäft. +Er war vor andern um nichts bevorzugt. Oder wurde es so +bitter gerächt, daß er dem harten Brot des Berufs etwas Wohlgeschmack +und Süßigkeit hinzugefügt?</p> + +<p>Breit und mit Würde angestopft, kam der Herr Wachtmeister +des Wegs. Er versprach leutselig, sich der Sache anzunehmen. +»Wacker,« sagte er, »wacker,« ein Lieblingswort, +welches er grundlos bevorzugte. Der Polizist trank aus des +Gemeindedieners Flasche und eilte in die Nacht, den Dieb zu +verfolgen. Man schickte zum Bäcker und zum Schneider nebenan. +Dieser begann zu schimpfen, man bringe ihn um seinen Ruf, +jener tat sehr unschuldig und besorgt. Das Verschwinden der +Kiste blieb ein finsteres Rätsel. Philipp Unruh ging noch immer +auf der Straße hin und her, blickte mit zusammengepreßten +Zähnen in die Nacht. Die Leute entfernten sich langsam. Es +war neun Uhr und Schlafensstunde nah. Auf dem Brandplatz +blieben zwei von den Messingbehelmten, lagerten sich an ein +Kohlenfeuer und tranken zahllose Krüge Bier, die aus dem +»lustigen Pfeifer« geholt wurden.</p> + +<p>Doktor Maspero war der letzte, der vor den trostlosen Beraubten +hintrat. Er schaute prüfend zu dem Lehrer empor und +sagte übelgelaunt: »Es ist ja gerade so, als ob Sie eine lebendige +<a class="page" name="Page_31" id="Page_31" title="31"></a>Familie verloren hätten. Pfui, Unruh, das heißt sich zum +Narren stempeln.«</p> + +<p>»Lieber Herr Doktor,« entgegnete der Schulmeister unwillig +und ohne die Stimme zu erheben, »wer etwas verliert, +muß am besten wissen, was er verliert.«</p> + +<p>Der Doktor brummte, zog die Augenbrauen in die Höhe, +kicherte in sich hinein und wünschte gute Nacht.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_32" id="Page_32" title="32"></a></p> +<h3>Fünftes Kapitel</h3> + + +<p class="newsubsection">Doktor Maspero hatte gut lachen; er wußte, wo die Bücher +hingeraten waren. Nicht ganz ein Komplott und mehr als +ein Einfall trug die Schuld. Das kleine Männchen mit dem +Alleswissergesicht versuchte sich gern in der Seelenheilkunde. +Auch der Apotheker und der Schulrat hatten Teil daran. Diese +behördliche Person billigte das Treiben des Lehrers nicht. Obwohl +von Pflichtversäumnissen bislang keine Rede sein konnte, +– hinter stummen Bücherdeckeln erhebt sich oft ein unheilvoller +Geist. Niemand konnte das gründlicher bestätigen als der +Baron. »Verderblich ist das Wort,« lautete sein gebildetes +Orakel. Der Doktor seinerseits mischte sich mit Leidenschaft in +fremde Angelegenheiten. Er war ein Schnüffler und mißtraute +allen Leuten, bei denen er Geheimnisse vermutete. Er haßte +die Schweigenden, haßte die Leute, die anspruchslos ihres +Weges gehen und in sich verschließen, was sie im Innern beschäftigt. +Er haßte jene, die sich für irgend etwas mit wahrem +Gefühl einsetzen und hielt sie für Lügner. Jeder Einsame galt +ihm als Verräter an einem öffentlichen Wohl. Seine Zwerggestalt +war der Grund eines wunderlichen, giftigen Ehrgeizes. +War er den andern körperlich unterlegen, so wünschte er doch +brennend, sonstwie zu herrschen. Daher sein penetranter Witz, +seine angebliche Verachtung der Frauen; daher seine seltsame +Eifersucht auf alles Große, was immer in der Welt geschah; +daher seine Freude, sogenannte Wahrheiten zu sagen, seine +unermüdliche Geschwätzigkeit, seine Gier, zu verurteilen, gehört +zu werden, belacht zu werden, zu glänzen. Er war der erste gewesen, +der Unternehmungen gegen die Bücherwut des Lehrers +geplant hatte. Seine Motive waren menschenfreundlich; er +<a class="page" name="Page_33" id="Page_33" title="33"></a>sagte es. Aber es waren Worte geblieben bis zum Tag der +Feuersbrunst. Da hatte er das Herausschleppen der Kiste beobachtet +und war zum Bäcker geeilt, der für einen guten Spaß +alles Brot im Ofen schwarz werden ließ. Alsbald war die +Kiste unter dem Ladentisch verschwunden, und der Bäcker drückte +sein gründliches Mißfallen an der Studierwut des Lehrers aus, +vermutete Schwarzkunst und teuflische Zauberei dahinter. Der +Doktor empfahl ihm, die Bücher ordentlich zu bewahren, und +verhielt sich so, als ob ein reformatorischer Gedanke jeden Schritt +in dieser Angelegenheit vorbestimmt habe.</p> + +<p>Auf dem Heimweg empfand Doktor Maspero ein verwickeltes +System zu der Tat, die er gegen Philipp Unruh unternommen, +ein System, welches zugleich philosophischer und pädagogischer +Natur war. Als er sich der letzten Konklusion nahte, bemerkte +er die Gestalt des Provisors Siebengeist, die am Zaun des +Kasinogartens lehnte, als ob sie steif gefroren wäre, und die +Augen des jungen Mannes beobachteten gespannt den Mond +am klaren Himmel. Erschrocken blieb der Doktor stehen und +sagte mit unsicherer Bosheit: »Sie sind mir ein gespenstischer +Herr da.«</p> + +<p>Siebengeist senkte den Kopf und blickte den Doktor von der +Seite an. »Dieser Kerl ist mein Feind,« erwiderte er langsam, +die Faust gegen den Mond ballend. »Ich kann nicht schlafen, +so lang er am Himmel steht.«</p> + +<p>»Also ein Romantiker,« meinte der Doktor, spöttisch in den +Ton des Arztes verfallend, »ein Romantiker mit kalten Füßen +also.«</p> + +<p>Siebengeist begleitete schweigend den Doktor die Straße +hinab. Der Herr Adjutant kam ihnen entgegen, grüßte schreiend +und lachend, als ob er eben von einer Amerikareise zurückgekehrt +<a class="page" name="Page_34" id="Page_34" title="34"></a>wäre und verschwand lautlos in der Nacht. Selten sind die +Schlauen auch im Schweigen schlau. Der Doktor erzählte +Siebengeist mit geheimnisvollem Wesen die Geschichte von den +geraubten Büchern, und das philosophische System enthüllte +sich in Beweiskraft. Siebengeist hatte nichts darauf zu antworten. +Er nahm Schnee in die Hand und drückte ihn gegen +seine Stirne. »Der Mond ist mein Feind,« murmelte er. »Mich +verdrießt sein Grinsen, seine Klarheit, sein erborgtes Licht, seine +anspruchsvolle Nutzlosigkeit. Er steht da droben und hat sein +Amüsement von der Welt. Und ich, ich muß mir den Kopf im +Schnee kühlen, fiebernd vor Überdruß.«</p> + +<p>Sie standen vor dem Turmbogen, und der Doktor blickte +verdutzt sein Haustor an, wußte nichts zu entgegnen als: »Sie +sind verliebt, junger Freund.« Er hatte bei den Redereien des +Provisors ein Gefühl wie jemand, den man aus dem ersten +Schlaf weckt, um ihm die Anfangsgründe der Eskimosprache +beizubringen. Doch tat er verständnisvoll aus Furcht vor einer +möglichen Überlegenheit des andern.</p> + +<p>»Richtig: eine meisterhafte Vermutung!« rief Siebengeist, +mit dem Stock an das morsche Tor schlagend, daß es drinnen +dumpf widerhallte.</p> + +<p>»O, ich bin ein geriebener Hund, was die Weiber betrifft,« +sagte der Doktor. »Ich kenne alle Schliche darin. Wie sieht sie +aus, was ist sie, wie ist sie?«</p> + +<p>»Wie sie aussieht? Je nun, das ist schwer. Eine gut funktionierende +Nase, zwei erfahrene Augen, ein redseliger, lügnerischer +Mund. Wie sie ist? Ebenso feig wie dumm, ebenso +habgierig wie eitel, ebenso frech wie leer, ebenso gestorben wie +die andern Leute hier herum. Aber Sie denken, ich spiele deshalb +den Verschmäher? Ei, Doktor, da irren Sie sich. Der +<a class="page" name="Page_35" id="Page_35" title="35"></a>Rock ist alles, es lebe der Rock. Genug davon. Zuviel Wucht +für die taube Nuß.«</p> + +<p>Unter dem Torbogen des Turms schallte ein leichter Schritt. +Es ging da ein junges schwarzgekleidetes Mädchen, dessen Kopf +mit einem Schal verhüllt war. Es sah nicht aus, als ob sie Eile +hätte, denn sie ging mehr für sich hin, verloren und abgekehrt, +den Kopf leicht vorgeneigt, und in ihrem Schritt war sowohl +Müdigkeit als auch Verträumtheit enthalten. Siebengeist folgte +ihr mit den Blicken, als ob sich sein Schatten in Bewegung +gesetzt hätte, denn es war schon etwas Ungewöhnliches, daß zur +Schlafenszeit in offener Gasse jemand ging, der nicht Eile zeigte, +schlafen zu gehen.</p> + +<p>Des Doktors Schlüssel kreischte im verrosteten Schloß. Herr +Maspero, Siebengeist beobachtend, gab seine liebenswürdige +Nachsicht durch ein Lächeln kund, einem Veteranen gleich, der +beim Anblick der Spielflinte eines Knaben an die großen Schlachtenkanonen +denkt. Dann verabschiedete er sich in der akademischen +Steifheit, die ihm eigen war. Er betrat den öden Flur +seines Hauses, in dessen Hintergrund bei der Treppe eine nimmermüde +Stehuhr ihr schläfriges Ticken seit Jahrzehnten ertönen +ließ. Sechstausend Nächte und mehr noch lief das Werk im +stummen Pflichtgefühl, und wenn es abends zehn Uhr war, +kreischte der Schlüssel im verrosteten Schloß, und der Zwergdoktor +sagte irgend einem gute Nacht, der vor dem Tore stand, +riegelte sich ab von der Welt, machte die alten Dielen durch +seine kleinen Füße knarren, hob an der Treppe das Kerzchen +gegen das Zifferblatt, wobei in seinen grauen, unruhigen Augen +etwas Fragendes aufblitzte, das unbehaglich und ängstlich den +Fortschritt der Zeit wahrnahm. Die akademische Steifheit verlor +sich, das leutselige oder sarkastische Lächeln verschwand. Un<a class="page" name="Page_36" id="Page_36" title="36"></a>sichtbare +Schatten der Zukunft schienen in dem stillen Haus +emporzuwachsen, vom Flur bis in die Bodenkammer, und wehe, +wenn sie einmal so weit gelangten, die beiden geschäftigen +Zeiger der Doktorsuhr stehen bleiben zu heißen. So wird den +Masperos allmählich die ganze Welt zu einer Uhr: die Hausmauern, +von denen der Kalk abbröckelt; der Nachtwächter, +dessen Stimme zitternder und leiser die Stunden ruft; der +Wald, von dessen Bäumen die Blätter fallen; die Erde, die sich +mit Schnee bedeckt; die Sonne, die hinter Frühjahrsnebeln +blutet; ja, sogar die Kinder, denen der Schuster von Jahr zu +Jahr größere Stiefeln machen muß.</p> + +<p>Am nächsten Tag wußten die Sechsundsechzig von komischen +Sachen zu wispern, die sie in der Schule gehört. Von zehn bis +elf war Geschichtsstunde gewesen, ein Fach, das bisher aus einigen +Namen und Zahlen bestanden hatte, mühsam und überflüssig +zu lernen. Heute war der Lehrer, die Hände auf dem +Rücken, hin- und hergegangen und hatte unaufhörlich geredet. +Ungerechtigkeit sitze auf dem Thron der Erde. Die Geschichte +sei nichts anderes als die Wissenschaft von der Ungerechtigkeit. +Was ein Edler unternehme, werde hundert Unwürdigen preisgegeben, +und ist es Gott, welcher das Glück eines Einsamen bewacht, +so seien seine Augen matt, seine Sinne erschöpft vom +Anblick der Zerrüttung und des Übels. So sprach der Unbesonnene +zu Kindern: Dinge, die weitab vom Kreis seines Amtes +lagen, und sein Mund zitterte unter dem buschigen, herabhängenden +Schnurrbart. Als das Schulzimmer leer war, setzte er +sich vor den Globus, und so traf ihn Doktor Maspero, der beim +Bäcker gewesen war und nun aus freundschaftlicher Besorgtheit +auch den Lehrer besuchte. Philipp Unruhs Blicke waren fest +auf einen Punkt in der Wüste Saharah gerichtet, dann liefen +<a class="page" name="Page_37" id="Page_37" title="37"></a>seine Augen meridianaufwärts über Hellas und den Hellespont, +durchsegelten das Schwarze Meer und blieben stumpfsinnig +nach rascher Landwanderung in der Nähe Sibiriens liegen. »Sie +werden sich erkälten bei solchem Klimawechsel,« scherzte der +Doktor.</p> + +<p>»Überall da leben Menschen,« erwiderte der Lehrer, mit +einem vertieften Ausdruck emporblickend. »Lauter fremde +Menschen.«</p> + +<p>Der Doktor geriet vor dem grabenden Blick Unruhs in Verlegenheit. +Er fragte sich umsonst, was er sagen solle.</p> + +<p>Die Pausestunden verflossen, und die kurze Schulzeit des +Nachmittags verging. Der Lehrer wandelte betrübt zwischen +den Bänken umher, und beruhigte so den ängstlichen Geist der +Kinder wieder. Gegen Abend klopfte es an die Türe von Unruhs +eigenem Zimmer und Apollonius Siebengeist trat ein, +warf den Hut irgendwohin und den Mantel nach, rieb sich am +Ofen die Hände wie jemand, der einträgliche Geschäfte gemacht +hat, und achtete kaum auf die erstaunten Mienen des Lehrers. +»Eine gemütliche Stube haben Sie da,« sagte er, sich fröhlich +umschauend. »Ich komme zu Ihnen, weil ich niemand hier +weiß, mit dem sichs plaudern läßt. Die meisten Leute, mit denen +man redet, hören gar nicht, sondern besinnen sich nur auf die +Antwort. Heute brauch ich aber partout einen Zuhörer und +ein warmes Öfchen. Aber Schulmeister! Onkelchen! Sie sehen +aus wie der selige Griesgram.«</p> + +<p>»Alle meine Bücher sind mir gestohlen worden,« murmelte +der Lehrer klagend.</p> + +<p>Siebengeist kratzte seinen Kopf und pfiff leise in die Ofennische. +Dann machte er ein pfiffiges Gesicht, das ihm außerordentlich +gut stand, trat dicht vor den Lehrer hin und legte +<a class="page" name="Page_38" id="Page_38" title="38"></a>beide Hände auf dessen Schultern. »Und wenn ich Ihnen nun +verspreche, daß Sie Ihren Schatz wiederhaben sollen?« fragte +er lächelnd.</p> + +<p>Philipp Unruh sprang auf. »Sie wissen? Was verlangen +Sie dafür?« rief er mit überraschender Leidenschaftlichkeit.</p> + +<p>Siebengeist lachte und errötete. In seinen Augen war ein +so merkwürdiges, verlorenes Glänzen, daß es wohl jeder bemerkt +hätte, der sich besser auf Menschen verstand als dieser +Philipp Bücherwurm. »Allerdings verlange ich etwas dafür,« +sagte Siebengeist, und sein Lächeln kehrte wieder, das jetzt +etwas Durstiges und Gedankenfernes hatte. »Sie kennen doch +den Theaterdirektor, den Herrn, der mit dem Kleister so königlich +hantiert? Sie erinnern sich doch? Gut. Gehen Sie heute +ins Theater. Man gibt die erste Vorstellung. Und wenn das +Stück aus ist, suchen Sie auf irgend eine Weise zu dem majestätischen +Herrn zu kommen, knüpfen ein Gespräch an, indem +Sie sich entzückt stellen über seine Leistung als Graf oder General +oder Bettler, was er eben in dem Stück vorstellt. Der Mann +wird butterweich werden, oder ich kenne die Komödianten nicht. +Dann fangen Sie an, von seiner Truppe zu sprechen, laden ihn +vielleicht zu einer Flasche Wein ein und kommen so auf Myra +zu sprechen. Das ist eine von den Schauspielerinnen. Schreiben +Sie sich den Namen auf: Myra. Einen andern hat sie momentan +nicht.«</p> + +<p>»Myra,« redete Philipp Unruh nach, nicht begreifend, was +er solle.</p> + +<p>Siebengeist schritt erregt auf und ab, legte die Hand auf die +Stirn und fuhr etwas leiser und eintöniger fort. »Wenn der +würdevolle Schuft nicht reden will, so schieben Sie ihm Geld +in die Hand. Ich gebe Ihnen, was Sie brauchen. Fragen Sie +<a class="page" name="Page_39" id="Page_39" title="39"></a>also nach Myra. Wie sie lebt, woher sie kommt, weshalb sie +sich beim Theater aufhält, ob sie ... ob sie Liebschaften hat +oder gehabt hat, – nun, jetzt wissen Sie ja genug. Heiliger +Himmel!« Er lachte überstürzt, setzte sich am Ofen nieder und +schaute in die Glut. Dann, als verstünde er das Schweigen des +Lehrers, begann er wieder und redete in das Ofenloch hinein: +»Fürchten Sie nicht, daß Sie etwas Unehrenhaftes tun. Sie +retten dabei nur mein irdisches Heil. Ich selbst kann es nicht +übernehmen. Ich kann den Namen dieser Person nicht aussprechen, +ohne etwas zu spüren, – eine innere Feuersbrunst! +Und müßte ich hören, wovor mir schon in Gedanken graut, ich +erschlüge den Kleisterbaron, so wahr ich bin. Die Leute beim +Theater reden wasserklar einer über den andern. Nun, Schulmeister, +wollen Sie das unternehmen für mich? Hier ist das +Billett; alles ist vorbereitet.«</p> + +<p>Der Lehrer zauderte, fremdartig berührt durch das Wesen +des jungen Mannes. Die Versprechung mit den Büchern +erschien ihm plötzlich märchenhaft, wie alles, was der Provisor +tat und sagte. Aber auch das erriet Siebengeist mit der sicheren +Gabe des von seinen Zwecken ganz erfüllten Menschen. »Ihre +Bücher, meine Hand darauf, sollen Sie wieder haben!« rief er +und fügte mit übertriebenem Pathos hinzu: »Es sind da infame +Ränke im Spiel, die ich zerstören werde.«</p> + +<p>Philipp Unruh reichte dem jungen Mann seine Hand, +schüchtern und voller Zweifel. Siebengeist lächelte freudig und +unbefangen und zeigte seine weißen Zähne. »Ich vertraue +Ihnen darum das alles,« sagte er nun wieder in seiner natürlich +gewinnenden Weise. »Sie sind ein Stiller, ein stiller Freund. +Wenn Sie mehr Zutrauen zu sich hätten, könnten Sie weiter +oben stehen in der Welt. Berichten Sie mir nur alles, was Sie +<a class="page" name="Page_40" id="Page_40" title="40"></a>da erfahren, und merken Sie sichs mit dem Herzen. Sie wissen +nicht, was für mich davon abhängt. Beobachten Sie jedes +Augenzwinkern, jeden Gedankenstrich in der Rede. Die Leute +sagen vieles ohne Worte. Helfen Sie mir heute, und ich will +Sie als meinen liebsten Freund betrachten.«</p> + +<p>Siebengeist sagte das mit einer Herzlichkeit, die auch kühle +Seelen erwärmt hätte. Der Lehrer hörte verwundert zu und +beinahe mechanisch fragte er: »Warum nur? Warum?«</p> + +<p>Siebengeist setzte sich an den Tisch, drehte ein wenig an dem +Docht der Lampe, lächelte zart und erinnerungsvoll, wobei +seine Augen strahlend und weit wurden. Dann sagte er, als +ob er zur Lampe rede: »Da trifft man irgend einen Wanderer +auf der Straße, in der Nacht, im Schnee und gleich schmieden +sich Schicksale zusammen. Und man geht mit dem sonderbaren +Wesen, spricht kaum, erfährt kaum einen Namen, nichts als +einen lumpigen Theaternamen. Myra! Was für eine unverständliche +Zusammenstellung von Buchstaben? Bis gestern noch +etwas so unbekanntes wie der eigene Todestag, heute ein Ereignis, +von dem alle Stunden schwer sind. Ich begreif’ es nicht, +was die Leute Erleben nennen. In einem Geheimnis schlendern +wir herum.«</p> + +<p>Voll Teilnahme, Sympathie und aufrichtiger Gesinnung +blickte der Lehrer sein Gegenüber an. Er ahnte, daß ihm etwas +wie ein wirklicher Mensch begegnet sei.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_41" id="Page_41" title="41"></a></p> +<h3>Sechstes Kapitel</h3> + + +<p class="newsubsection">Ein Brummbaß, zwei Geigen und eine Klarinette machten +eine vortreffliche Musik vor Beginn des Stückes. Der +»große Saal« des fränkischen Hofes, der eigentlich nur eine +geräumige Wirtsstube war, füllte sich mit Zuschauern. Die +Sitze der vorderen Reihen bestanden aus wirklichen Stühlen, +während für die minder vermögenden Leute lange Bretter über +Bierfässer gelegt waren. Alles strömte herbei, was für Kunst +und Bildung eingenommen war. Man sah die Spitzen des +»Kasino«, einer preiswürdigen Vereinigung der eleganten +Kreise: die Frau Notar mit ihren Töchtern, die Frau Oberamtmann, +die Frau Steuerrat, die Frau Expeditor, die Frau +Apotheker, die Frau Major, die Frau Schulrat. Sodann +zeigten sich die weniger ausgezeichneten Damen, die jüdischen +Kaufmannsfrauen, die Handwerkerfrauen, welche aus Ehrfurcht +vor jenen Titularherrlichkeiten nur zu flüstern wagten. +Nicht so gebieterisch nahm sich die vornehme Männerwelt aus, +aber man weiß, daß die stumme Würde keineswegs die geringere +bedeutet. Es war eine Luft von Frohsinn und heiterer Erwartung, +denn so versammelt das Theater stets die gutgestimmten +Elemente, aller Nebeninteressen entledigt, um im entzückenden +Spiel, nicht nur vor den Augen der eleganten Kreise, die Macht +der Kunst zu erproben. Alles ist da einer edleren Erhebung geweiht. +Niemand stellt sich ein, etwa nur um einen Schauspieler +zu bewundern, oder um eine kostbare Robe sehen zu lassen, oder +einen mißliebigen Verfasser um den verdienten Erfolg zu +bringen.</p> + +<p>Der Vorhang erhob sich, und mit feierlichem Schritt erschien +der Direktor, um den dichterischen Prolog des Barons +<a class="page" name="Page_42" id="Page_42" title="42"></a>von sich zu geben. Der Vortrag des Poems war nicht ohne +Geschmack. Der Redner schrie oder brüllte nur, wenn es kaum +zu umgehen war. Bei der Stelle: Wahrheit und Natur sind +eins! streckte er beide Arme von sich, wie um ein Gespenst abzuwehren, +und machte eine Generalpause, – eine verblüffende +und gut gewählte Einzelheit. Als der Prolog zu Ende war, +bekam die erste Geige ein ergreifendes Solo zu spielen. Der +Baron saß mit tiefsinnigem und beglücktem Gesicht in der +ersten Reihe, und einige Honoratioren kamen, ihm gerührt und +mit Achtung die Hand zu schütteln. Seine Frau aber war in +weicher Hingebung an seine Schulter gelehnt und blickte schmachtend +ins Leere. Im Grund konnte sie nur schlecht ihre Verstimmung +und ihren Ärger verhüllen, denn nicht der Provisor +saß zu ihrer Linken, wie es verabredet war, sondern Philipp +Unruh. Der wagte weder um sich noch neben sich zu blicken, +ihn schüchterte der vornehme Platz ein, und er war froh, als +der Vorhang für »Melchior oder die Leiden des Alters« aufging +und eine atemlose Stille im Publikum eintrat. Nur die Baronin +hörte er bisweilen vor sich hinseufzen.</p> + +<p>Es kam da ein alter und ein junger Mann vor. Der alte +Mann hieß Melchior und war der Vater, der junge hieß Balthasar +und war der Sohn. Der Sohn war ein verwerfliches +Subjekt, denn er wollte Soldat werden, während der Alte +wünschte, daß er sich zur Theologie wende. Die Verwerflichkeit +dieses Sohnes ging so weit, daß er sich in ein armes Mädchen +verliebte, und als die betrübende Tatsache nicht länger zu verheimlichen +war, erschien das Mädchen selbst vor dem bitterbösen +aber rechtschaffenen Melchior, welcher vom Direktor mit +dem Gefühl eines gekränkten Patriarchen gespielt wurde. Die +Person, welche die Rolle der armen Liebenden spielte, hatte +<a class="page" name="Page_43" id="Page_43" title="43"></a>zuerst nur wenige Worte zu sprechen; und sie sprach nicht, +sondern flüsterte nur hastig und erschreckt, mit Seitenblicken auf +die Zuhörer. Man hatte sie jämmerlich kostümiert: eine Mischung +von Empiredame und Fabriksmädchen; aber in ihren +Bewegungen verleugnete sich jedes Kostüm, war etwas, das +anstatt aller Worte redete, und nicht aus der Rolle, sondern +aus dem Wesen. Dies ist sicherlich Myra, dachte sich der Lehrer, +und was ihn in Erstaunen und Verwirrung setzte, war Myras +schöner Mund. Ihn dünkte, daß er einen ähnlichen Mund nie +gesehen habe. Er sah Trauer und Anmut darin, Güte und Verschwiegenheit, +Sehnsucht und frühen Tod. Es waren so jähe +und starke Empfindungen, daß er dabei nicht auf sich selbst und +seine Gedanken achtete, sondern sich nur einer Folge von seltsamen +Einflüsterungen übergab. Myra verließ den Schauplatz +und es wurde still auf der Bühne, obwohl noch immer Leute +hin- und hergingen und sich erhitzten. Myra kam wieder, und +die Luft schien von Wohlgeruch, ja von einem weithertönenden +Gesang erfüllt. Die Lippen des schönen Mundes hoben sich +und senkten sich in einer sanften, geheimnisvollen Bewegung, +wie wenn der Nachtwind über zwei Rosenblätter huscht, die +auf einen Marmorstein verweht sind. Und abgesehen von aller +Schwermut war damit eine Art unsichtbarer, tiefer Heiterkeit +verbunden, welche vielen Frauen das Seherische und zugleich +das Vertrauenswürdige verleiht. Philipp Unruh saß vorgebückt +da, hatte seine Hände flach zusammengedrückt und zwischen die +Knie geschoben und fürchtete, daß jeder ihn beobachten müsse, +und daß es um den Ruf seiner Vernunft geschehen sei. Auch +diese Empfindung war ihm unklar. Sein ganzes Wesen geriet +in eine Verworrenheit, welche Traumgefühle in ihm erzeugte. +Myras Stimme wurde lauter und klarer, aber wenn sie sprach, +<a class="page" name="Page_44" id="Page_44" title="44"></a>blieben ihre Züge unbeweglich. Als Schauspielerin mußte sie +das Mitleid eines Kenners wie Doktor Maspero erregen, und +als die Sache unter großen Bemühungen bis zum Vaterfluch +jenes ungewöhnlichen Melchior gediehen war, schrieb der erwähnte +kritische Herr bedenkliche Notizen auf ein Rezeptpapier. +Einige Leute, die es sahen, nickten respektvoll einander zu, denn +der Geist der Verneinung ist an jedem Platze hochgeachtet. +Melchior begann eben nebst verschiedenen anderen Dingen auch +sich selbst zu verfluchen, als sich unter den Damen im Zuschauerraum +eine wachsende Panik bemerkbar machte. Eine Ratte +lief im Saal umher, verbreitete einen Schrecken, gegen den +alle Wirkungen des zehnaktigen Lebensbildes verblaßten. Stets +ist es die gemeinsame Gefahr, welches die Standesunterschiede +verschwinden läßt. Bleich und zitternd erhoben sich die Frauen, +und das Podium für das Schauspiel hatte plötzlich die Bedeutung +einer Insel im Ozean. Melchior hörte auf, Melchior zu +sein und machte für die Flüchtlinge, die nicht bis zur Saaltür +hatten gelangen können, die Honneurs. Unten im Ozean waren +nur noch Männer ernst und pflichtbewußt damit beschäftigt, +das Untier aufzuspüren und zu töten. Auch Philipp Unruh +hatte sich erhoben, verließ mechanisch den Raum und stand bald +in dem verödeten Wirtsgarten draußen. Es wehten milde +Lüfte, und der Schnee war weich geworden. Überall waren +sickernde Geräusche vernehmbar; von den Bäumen und von den +Rinnen tropfte das Tauwasser. Vor dem Tor eines Schuppens +hockten zwei Katzen eng aneinander geschmiegt, und sie rührten +sich nicht, sondern blickten stumpfsinnig in die flimmernden +Lichter vom nahen Bahnhof. Nun war weiterhin ein ganz +finsterer Winkel, denn der Schuppen grenzte an die Kegelbahn, +und die beiden Mauern bildeten eine tiefe Ecke.</p> + +<p><a class="page" name="Page_45" id="Page_45" title="45"></a>Vor der Holztüre des Schuppens stand ein kleiner Handwagen +und daneben eine Bank, auf welche sich der Lehrer setzte, +Stille vor sich, Stille hinter sich, aber im Innern mancherlei +Stimmen und Laute. Und als er so in einem Zustand fremdartigen +Lauschens dasaß, knirschte der Schnee unter langsamen, +näherkommenden Tritten. Eine Mädchengestalt tauchte auf, die +den Kopf gesenkt trug und am Eck des Schuppens wie ermüdet +stehen blieb. Als fürchte sie, gehört zu werden, setzte sie ihren +Weg mit kaum vernehmlichem Auftreten fort bis zu dem Handwagen, +auf dessen Deichsel sie sich setzte, die Ellbogen auf das +Wagenbrett stützend. Das alles verfolgte Philipp Unruh genau, +da seine Augen sich längst an das Dunkel gewöhnt hatten. Aber +in einem unbewußten Drang von Scham und Furcht wandte +er seine Augen ab, und in demselben Moment hörte er ein +Schluchzen, dessen Unaufhaltsamkeit offenbar nur durch fest zusammengepreßte +Lippen gemildert wurde. Den Lehrer begann +es am ganzen Körper zu frieren, und sein Blick umschleierte +sich. Er dachte nichts als den märchenhaften Namen Myra und +sah nichts als einen Mund, der sich krampfhaft im Schmerz +verschloß. Hatte sie nicht einmal vier Wände, um sich ausweinen +zu können? daß ein dumpfer, kalter Schuppenwinkel +im Hof dazu dienen mußte? Doch wagte er sich nicht zu rühren. +Gequält und bedrückt ging er mit sich zu Rate, als wisse er den +Grund und wäre fähig, Hilfsmittel zu finden.</p> + +<p>Eine dröhnende Stimme rief: »Myra!« Die Weinende +verstummte, erhob sich und ging gegen das Haus. Philipp Unruh +wartete lange, denn er wollte nicht, daß ihn jetzt jemand +aus diesem Winkel gehen sehe. Ihn wunderte die Ruhe der +Natur. Himmel und Erde schienen ihm noch erfüllt vom Widerhall +jenes Weinens. Er stand auf und setzte sich auf die Deichsel +<a class="page" name="Page_46" id="Page_46" title="46"></a>des Handwägelchens, das unter seiner Last ächzte. Ihn erstaunte +es, daß er nun in demselben engbegrenzten Raume war, +in dem Minuten vorher Myras Herz geschlagen. Als ob er sich +eines Amtes unwürdig fühle, erhob er sich wieder, und seine +Gedanken richteten sich unvermittelt auf seine äußere Erscheinung, +auf seine wenig einnehmenden Züge, auf seinen zerzausten, +rötlichen, herabhängenden Schnurrbart. Ungeduldig +verließ er die Finsternis und eilte dem Haus zu. Wie groß war +aber sein Schrecken, sein feiger Schrecken, als er Myra noch +auf der Schwelle stehen sah und hinausstarren in die +Nacht. Er erkannte im Schein des unbestimmten Lichts, +das aus dem Flur fiel, wie ihr Gesicht sich jäh belebte, +als sie ihn aus dem Grunde des Hofes kommen sah. Doch +blieb er nicht stehen und befand sich bald vor ihr, die sich +an den Pfosten lehnte, um ihn vorbei zu lassen. Er spürte +ihren fragenden, unwilligen Blick und sah sie verstört von der +Seite an. Eine Gewalt von innen hinderte ihn, weiter zu gehen, +und er murmelte, indem er sich bemühte, einen teilnehmenden +Ton zu wählen: »Ich habe gehört. Aber zürnen Sie nicht deshalb.« +Gott weiß, weshalb ihm das alles abenteuerlich und +entlegen vorkam und er an seine Bücher dachte, wie an rettende +Freunde.</p> + +<p>Myra erwiderte nichts. Sie nickte nur leicht mit dem Kopf.</p> + +<p>»Kann da niemand helfen?« fragte Philipp Unruh in kindischer +Unbeholfenheit, und als er das geringschätzige Zucken +ihres Mundes bemerkte, sagte er stotternd: »Ich denke, man hat +die Ratte da drinnen schon erwischt.«</p> + +<p>Das junge Mädchen sah den sonderbaren Kauz mit Überraschung +an, lächelte und erwiderte: »Ja, das ganze Nest ist +leer.« Damit entfernte sie sich.</p> + +<p><a class="page" name="Page_47" id="Page_47" title="47"></a>Unentschieden, welcher Umstand nun den Lehrer mit solchem +Glücksgefühl beschenkte. Vielleicht war es nur das Lächeln, das +mit eines Gedankens Schnelligkeit über Myras nachdenkliches +und erschöpftes Gesicht geflogen war. Vielleicht, daß er das +Lächeln einkassierte wie den Gewinst aus einer Lotterie, und +daß dabei etwas in ihm lebendig wurde, wie in jenen Vernachlässigten, +die sich plötzlich auffallend vom Glück begünstigt sehen. +Es kam ihm vor, als ob er in einer gesegneten Zeit lebe und in +einer angenehmen Stadt. Er trank am Gassenschank durstig +ein Glas Bier; darauf ward ihm mutig zu Sinn, und unternehmenden +Schritts betrat er die schon verödeten Straßen. +Wer schrie da schon wieder beim Haus des Hufschmieds und +schwenkte grüßend den Hut, um dann schweigend wie vorher +seinen Weg fortzusetzen? Es war der Herr Adjutant, dessen +fabelhafte militärische Würde nur durch seine tiefeinsame Lebensweise +Glaubhaftigkeit behielt. Philipp Unruh blieb stehen und +schaute ihm nach. Ein Mann, hatte er sich sagen lassen, der sein +Vermögen im Spiel verloren und Weib und Kind in Armut, +dem Tod geweiht, verlassen hatte, der Goldgräber gewesen war +und die neugewonnenen Schätze bei einem Schiffbruch eingebüßt +hatte. Und derselbe Mann lief hier umher, begrüßte +lärmend in der Nacht die Leute, sprach laut und eindringlich mit +sich selber, ein Rätsel für alle und für Philipp Unruh mit einem +Mal eine Kundgebung reichsten Lebens, wertvoller als eine +ganze Bibliothek. Man konnte hingehen und ihn fragen, und +er konnte erzählen mit Lachen und mit Weinen; in Büchern +aber erzählte nur der Tod in einer bunten Maske. Der Nachtwächter +trottete vorbei, ließ sein Pfeifchen schrillen und leierte +seinen Singsang ab: daß man Feuer und Licht bewahren solle. +Das schläfrige Gesicht glänzte über der Laterne, und er grinste +<a class="page" name="Page_48" id="Page_48" title="48"></a>trunken in den Schnee. Dann kamen hoch vom alten Turm die +langsamen, dröhnenden Stundenschläge, um weit hinauszuschallen +in das Tal der Altmühl, in den Wald und in die nahen +Dörfer, ein Signal der Ruhe für Weib und Mann, für die Flucher +und die Betenden, die Lacher und die Schluchzenden, für +den Adjutanten und für Myra. Es war nicht zu leugnen, daß +im Schlaf die Zeit dahingeflossen war, während ungesehen und +dem Schläfer greifbar nah das Lebendige sich abspielte in Feierlichkeit +und in Humor.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_49" id="Page_49" title="49"></a></p> +<h3>Siebentes Kapitel</h3> + + +<p class="newsubsection">Vor dem Schulhaus lauerte Apollonius Siebengeist dem +Lehrer auf, und unbeschreiblich war sein Zorn, als Philipp +Unruh sein Versäumnis eingestand. Er schrie, daß man ihn betrogen +und verraten habe. Er sagte Schulmeisterlein, und das +in einem Ton, der beleidigend wirkte. Schließlich aber umarmte +er den Geschmähten und sagte, daß er ihm danke, denn er liebe +seine Zweifel mehr als jene Gewißheit, vor der ihm bangte. +Doch wurde sein Wissensdurst noch in der selben Nacht gelöscht. +Er suchte die Wirtschaft zum lustigen Pfeifer auf, wo als letzter +Gast ein abenteuerlich aussehender Jüngling am Ofen saß. Es +war der Komiker des Theaters, wie sich aus einem rasch begonnenen +Gespräch ergab. Wie alle Komiker von Beruf war +auch dieser nichts weniger als komisch, sondern litt an einer +bösartigen Dürre des Witzes, die ihm ein gramvolles und verruchtes +Aussehen gab. Siebengeist ließ eine ansehnliche Schar +von Flaschen aufmarschieren, denn bis zur Polizeistunde war +es noch weit. Der Jüngling erzählte bald von Myra, und es +zeigte sich, daß seine Sprache einen Klang ins Böhmische hatte, +welcher nicht so sehr die Verständlichkeit als musikalische Wirkungen +förderte.</p> + +<p>Wiederum stand der Mond in klarer Höhe, als Siebengeist +heimwärts kehrte, aber nicht mehr als »sein Feind«. Es herrschte +in den Gassen eine Stille, für deren Süßigkeit und Lockung es +nicht Worte noch Gedanken gab. Was da zwischen den Häusern +zog und ruhte, war wie blaugrünes, zartes Gespinst, Mondrauch; +der Schnee glänzte kalt wie weißer Atlas. Eine Nacht +für Myra; wenn sie auch litt, er wußte doch wofür und Wahrheit +mußte es sei. Trübe Dinge, die ein Komiker erzählt, sind +<a class="page" name="Page_50" id="Page_50" title="50"></a>wahr. Sie hatte kein Wanderleben geführt. Die Mutter hatte +als Witwe in einer kleinen thüringischen Stadt gelebt, wohin +Schmalichs Wandertruppe kam. Lebenslustig und unzufrieden, +durch Romanlektüre verdorben und unerfahren, hatte sich die +noch junge Frau dem jungen Liebhaber der Schmiere an den +Hals geworfen, wollte mit ihm ziehen, der »Kunst« ein Opfer +bringen. Und Myra folgte von Ort zu Ort und wurde erst +stutzig, als die Mutter im Theater mitzuspielen begann; von da +an mußte sie in Wirrheit und Fährlichkeit gerissen worden sein. +Der Mutter schwärmerisch zugetan, merkte sie nicht deren wachsende +Kälte, spürte zuletzt nicht ihren Haß. Myras Mutter, so +sagte der Komiker, war eifersüchtig auf die Tochter, und diese +Eifersucht durchtränkte ihre Handlungen bis in den feindseligen +Ton eines bloßen Grußes. Myra wußte nicht, wie ihr geschah. +Ahnungslos wie bisher folgte sie an der Seite ihrer Mutter +dem Wanderleben der Komödianten. Und in Bamberg war +sie eines Tages allein, lag sie verlassen in einem armseligen +Gasthof und las die dürftigen Abschiedsworte der Mutter. Man +erinnerte sich bei der Truppe, sie ohnmächtig im Zimmer des +Direktors gesehen zu haben. Sie hatte nicht Geld noch Kleider +noch Freunde, nichts, als was sie sich selbst sein konnte. Man +erinnerte sich des Tags, an dem sie zum erstenmal im Schauspiel +aufgetreten war, ein Gegenstand des Hohns für die genialen +Kollegen trotz der stummen Rolle. Aber Herrn Schmalichs +Ansicht war, daß ein reisendes Theater hübsche Frauenzimmer +brauche, und daß man auch das leidendste Gesicht in ein lustiges +umschminken könne. Man hatte Myra niemals anders gesehen, +als sie heute war, und heute schon war es, als trüge sie das +Bild kommenden Unheils im Herzen. Solchen Augen kann kein +Gewordensein die Furcht vor dem Werdenden nehmen. Zwi<a class="page" name="Page_51" id="Page_51" title="51"></a>schen +Lügen, Schmutz, falscher Heiterkeit und wirklicher Armut +lebte sie vielleicht gleichmütig, vielleicht abwartend hin, und +Siebengeist sah sich schon als den, welcher erwartet wurde. Zu +früh erschien ihm ein Geheimnis gelüftet, das ihm beim Wein +offenbart worden. Zu früh nahm er das Geschehene als vergangen, +ließ er seiner Hoffnung freien Lauf. Und zwischen ihm +und dem andern Einsamen im Schulhaus spann die Nacht die +gleichen Fäden der gleichen Gefühle und trieb irgendwo das +Verhängnis aus einem abgelegenen Grunde hervor, daß es +weiter weben möge, was sie spielerisch begonnen.</p> + +<p>Zu Philipp Unruh kam am Morgen der Schulrat. +Es handelte sich um eine gewichtige Beschuldigung. Die seltsamen +Reden aus der Geschichtsstunde waren beunruhigend zu +den Ohren der Schulbehörde gedrungen. Der Herr Schulrat +hatte ein Bläschen auf der Nase und außerdem ein Horn auf +der Stirn, da er sich im Traum am Bettpfosten verwundet +hatte. Beide Verunzierungen jedoch gaben seinem Gesicht +einen erhöhten Ausdruck der Amtsgewalt, als könne einzig ein +Schulrat darüber entscheiden, ob Ungerechtigkeit auf dem Thron +der Welt residiere. Der Lehrer war erstaunt. Er wußte sich +seiner Worte kaum zu erinnern, und als er vernahm, was er +selber gesagt, fand er es so widersinnig und abgeschmackt, daß +er beredter und liebenswürdiger als je den Mann mit Bläschen +und Horn vollständig beruhigte. Seiner Leidenschaft für Bücher +entsann er sich wie der sonderbaren Torheit eines andern; der +Verlust der Kiste kam einem gewöhnlichen Unfall gleich. Die +Leute, die ihm begegneten, hatten andere Gesichter, andere Bewegungen, +andere Worte als sonst. Die Kinder im Schulzimmer +waren nicht mehr so sehr Gegenstände, an denen der +Stundenplan erledigt werden mußte. Ihre Augen waren be<a class="page" name="Page_52" id="Page_52" title="52"></a>lebt, +ihr Ungehorsam schien liebenswürdiger, ihre Unwissenheit +begreiflich, ihre Ungeduld gegen das Stillesitzen des Nachdenkens +wert.</p> + +<p>Als er mittags an der Apotheke vorbeiging, sah er drinnen +Siebengeist allein, und er trat ein. Der Provisor war mit +leidenschaftlichen Gebärden beschäftigt, in einer kolbenartigen +Schüssel eine dicke, weißliche Masse zu zerreiben. Philipp Unruh +setzte sich auf die geschnitzte Bank und entschuldigte sein Betragen +vom gestrigen Abend. Der Provisor lachte, schalt ihn +einen kreuzverkehrten Bruder, machte die lustigsten Grimassen, +während er aus Leibeskräften zu reiben fortfuhr. Plötzlich verdüsterte +sich sein Wesen, und er erzählte andeutend und abgerissen +einiges von dem, was er über Myra erfahren hatte. Es +schien, als verlangte ihn selbst nach Rat und Klarheit, doch der +Lehrer konnte nicht Einblick gewinnen in das Wirrsal der Erzählung. +Er schwieg beharrlich, wünschte, nichts gehört zu haben, +und Siebengeist fing wieder an, gesichterschneidend seine Salbe +zu reiben. Plötzlich beugte er sich zu Unruh herab, flüsterte, +den Mund nahe dessen Ohr und den Arm gegen eine Tür im +dunkelsten Hintergrund ausstreckend. »Es steht eine dort auf +der Schwelle und lauscht. Bin ich jemand verschuldet, der mir +die Taschen mit Geschenken vollstopft? Ich nahm von jeder +Dirne im Haus, wie es die Nacht gewollt. Darf man sich darum +an meine Schuhe klammern und meine Kraft verringern, das +zu erobern, woran mein Leben hängt? Wohlgemerkt, nicht +jedes Spänchen Holz macht eine warme Stube!« Er hatte den +Lehrer unter den Arm gefaßt und den Verschüchterten scheinbar +absichtslos in die Ecke geführt. Nun riß er die Türe auf und +sagte die letzten Worte laut, fast schreiend. Vor den beiden +stand die Baronin, zitternd, linnenweiß im Gesicht und blickte +<a class="page" name="Page_53" id="Page_53" title="53"></a>gemartert den Flurgang hinab gegen die Straße. Siebengeist +lachte und schlug die Türe wieder zu.</p> + +<p>Es kam nun so viel Schwüles, Überraschendes und Neues, +daß die Zeit gewissermaßen ihre Abgemessenheit verlor. Ein +Umhertaumeln zwischen Wissen und Erraten, zwischen Angst +und Mut, zwischen Fülle und Entbehrung, ein Atmen in zitternder +Luft, Reden ohne Besinnung, Träumen ohne Schlaf, +Bilder, die vom Sturm vorbeigejagt und manche doch dauernder +als Stein.</p> + +<p>Philipp Unruh saß in der kleinen Schankstube des fränkischen +Hofs. Es war wieder kalt geworden, und die Scheiben +zeigten Eisfiguren, trotzdem die Sonne vom blauen Himmel +schien. Der Wirt und ein Viehhändler aus Nördlingen saßen +kartenspielend beim eisernen Öfchen. Aber das Geknister des +lustigen Feuers wurde bald übertönt von zornigen und heiseren +Männerstimmen aus dem Theatersaal. Es ist eine Schauspielprobe, +dachte der Lehrer, jedoch trat alsbald der Bonvivant +aus dem Theater in die Schankstube, verlangte grimmig einen +Krug Bier und erzählte grimmig in demselben Atem, daß die +sentimentale Liebhaberin sich weigere, dem Kritiker ihren Verehrungsbesuch +abzustatten. Dergleichen sei noch nicht dagewesen, +so lange man Komödie spiele zwischen Himmel und +Erde, und sei um so abscheulicher, als der Doktor Maspero ein +charmanter Herr sei, welcher vortrefflichen Schnaps vorzusetzen +wisse. Der Wirt hieb mit Geräusch die Trumpf-Aß auf den +Tisch; der Viehhändler schielte den Schauspieler bösartig an. +Im Saale war es still geworden, und auf einmal kam Myra +heraus. Philipp Unruh schaute sie eine Sekunde lang mit blinzelnden +Augen an, sah dann feig in eine Ecke, und es schien ihm, +als sänken seine Schultern schwer gegen den Tisch. Das Mädchen +<a class="page" name="Page_54" id="Page_54" title="54"></a>hatte purpurrote Wangen, doch ihre Stirne war bleich, ihr Blick +leer, unsicher, stechend, ihr Rücken ein wenig gekrümmt. Sie +ging, als suche sie einen Ausgang, und blieb dann stehen wie in +eine Falle geraten. Herr Schmalich kam hinter ihr her, und +auf seinen Mienen drückte sich Verlegenheit aus. Sie wandte +sich gegen den Direktor und sagte leisen Tones und mit erschreckender +Schnelligkeit eine Reihe von Worten, welche niemand +verstehen konnte. Ihre Stimme wurde immer lauter, +doch die Worte verloren alle Artikulation. Aus dem Theaterraum +kamen zwei dicke Schauspielerinnen und der Heldenvater +und spendeten lachend Beifall, während der Wirt und +sein Kartenkumpan aufgeregt näher traten. Jetzt begann Myra +selbst zu lachen, und zwar so, daß der Lehrer wie Einhalt gebietend +seine bebenden Arme gegen sie ausstreckte. Da stürzte +sie auf den Boden, und Schaum quoll von ihren Lippen. Alle +waren stumm und blaß geworden und rührten sich nicht. Philipp +Unruh, der sich selbst und jede Scheu vergaß, stürzte herzu, +kniete auf den Boden, legte den Arm unter ihren Hals, murmelte +verstört vor sich hin und beugte suchend sein Gesicht gegen das ihre.</p> + +<p>Er konnte es niemals vergessen. Niemals die halbgeschlossenen +und halberloschenen Augen, ob haßerfüllt, ob dankbar, er +wußte es nicht. Er konnte die nahe Wärme ihres Körpers nicht +vergessen, das verwirrte schwarze Haar, das seine Schläfen +streifte. Er empfand immerfort den Druck ihres Nackens auf +seinem Arm, den Hauch ihres Mundes neben seiner Hand. +Als er zitternd in der Schankstube kniete, voll Furcht, daß man +sie ihm raube, wollte er an kein Weiterleben denken, welches +sich nur die Erinnerung zum Besitz machen konnte.</p> + +<p>Andere Dinge kamen. Ihr Name erfüllte die Luft bei +allem, was geschah. Der Apotheker schickte in mysteriöser Weise +<a class="page" name="Page_55" id="Page_55" title="55"></a>herüber, um Unruh holen zu lassen. Als der Lehrer kam, schritt +der blasse Baron in bedeutsamer Gangart im Zimmer auf und +ab, erklärte ganz ohne weiteres, daß der künstlerische Geist im +Ort gehoben werden müsse, daß er als Gemeinderat bereits in +solchem Sinn vorgegangen sei und eine gewisse Summe zur +Verfügung gestellt habe, um das treffliche Institut des Herrn +Schmalich für die Dauer des Winters zu subventionieren. Ja, +dann käme ein neuer Wind, ja, dann käme ein edles Feuer +unter die lauen Gemüter. Er selbst habe ein Theaterstück verfertigt; +er wolle weiter nichts verraten, aber es suche seinesgleichen. +Darauf schob er an beiden Türen die Riegel vor, lud +seinen Gast ein, vor dem prachtvoll mit Wein und kalten Speisen +gedeckten Tisch Platz zu nehmen, rückte die Lampe zurecht und +schlug eine sehr dicke Handschrift auf. Dieses Drama aller +Dramen beschäftigte sich ausschließlich mit einer neuen und respektablen +Idee, wie man die Wälder vor gänzlicher Ausrottung +schützen könne. Aber von alledem hörte der Lehrer nur das +eine, daß er nicht zu fürchten brauche, Myra heute oder morgen +entschwinden zu sehen, und er liebte dieses stundenlange Trauerspiel, +von welchem seine Hoffnungen sich lösten gleich farbigen +Abendwolken aus trübem Moor.</p> + +<p>Tag und Nacht, Dunkelheit und Sonnenlicht wechselten +nach anderen Gesetzen als bisher, wie wenn der Wille, dem der +Weltkreis untertan, neue Erscheinungsformen erdacht hätte. Es +waren sonderbare Empfindungen, die Philipp Unruhs Herz +bestürmten, als er, beim Biere sitzend, in demselben Raum wie +wenige Stunden vorher, Myra sich gegenüber sah. Drei Schauspieler +befanden sich bei ihr am Tisch, und sie lächelte wie jemand, +der alles mit Entschlossenheit abgeworfen hat, was ihn belästigte. +Doch war das Lächeln fremd und unerklärbar durch +<a class="page" name="Page_56" id="Page_56" title="56"></a>seine Dauer und verursachte, daß man das eigentliche Gesicht +nur wie durch eine unendlich dünne Maske erkennen konnte. +Die Wangen waren noch ebenso rot, die Stirn noch ebenso +bleich, der Hals noch ebenso vorgestreckt, so daß der Rücken gekrümmt +erschien. Die verkniffenen Augen blickten mißtrauisch, +listig, ziellos, bis plötzlich eine Art Schrecken in sie geriet, der +sie aufriß. Sie sah den Lehrer nicht, sah überhaupt nichts. +Später lachte sie über alles, was der Komiker sagte, und darnach +erhielten ihre Züge einen halb unwilligen, halb trostlosen Ausdruck.</p> + +<p>Die Mutter Myras und der Galan kamen zurück. Sie hatten +offenbar in der Welt mehr Hunger als Vergnügen gefunden. +Die ehedem wohlhabende Witwe hatte schon alles verschleudert, +was sie besessen. Mit der einen Hand hatte sie Liebe gegeben, +mit der andern Geld; dementsprechend war die eine beschmutzt, +die andere leer. Zwischen Trübsinn und überreizter Laune verzehrte +sich ihr Gemüt, und viele Stunden lang konnte sie damit +zubringen, sich zu schminken, zu putzen, zu verjüngen. Am +ersten Tag schon war es so, saß sie bis in den Nachmittag vor dem +Spiegel, rechts und links je zwei Kerzen, denn draußen war +dicker Nebel. Dann kam der Schauspieler, und Myra mußte +gehen. Sie erhob sich vom Kaffeetisch und ließ die volle Tasse +unberührt. Der schlanke junge Mann, dessen Gesicht etwas +von einem Cäsaren und etwas von einem Schäferhund hatte, +sah ihr nach; er wußte genau, was sie bei ihm zurückließ, und sie, +förmlich verwundet von seinem Blick, ging die Gasse hinauf und +traf Siebengeist unter dem Turmbogen. Sie atmete schwer, +hörte kaum die Worte ihres Begleiters und bat, er möchte sie +in den Wald führen. Sie wanderten also gegen den Burgstall +hinauf (so heißt der Wald), und es war, als schritten sie +<a class="page" name="Page_57" id="Page_57" title="57"></a>durch feuchten, bleiernen, grauen Rauch, so dick und lastend +lag der Nebel. Siebengeist verstummte bald. Zufällig kam +Philipp Unruh von den Holzschuppen herüber und stand mit +einem Mal vor dem schweigenden Paar. Ihm war, als habe +ihn ein Schuß getroffen, und es rieselte ihm kalt durch Mark +und Bein. Jählings deckten sich ihm geheimnisvolle Beziehungen +auf, die bisher gleichsam hinter Häusermauern verborgen +waren, und ein allgemeiner, aber stürmischer Menschenhaß erwachte +in seiner Seele. Doch wie es ihm aus Visionen vertraut +war, ging ihm Myra einen Schritt entgegen. Sie stand +so nahe bei ihm, daß er ein Schneeflöckchen auf ihren Wimpern +gewahren konnte, welches langsam zerschmolz. Schüchtern und +freundlich sagte sie: »Sie sind gut gegen mich gewesen, ich weiß +es, ich danke Ihnen. Gehen Sie doch ein wenig mit uns.« +Er schaute zu Boden und lachte lautlos, stotterte zwei, drei +Worte. Dann schaute er vor allem den kindlich schönen Mund +an, der dies gesprochen, und ein unbezähmbarer Wunsch erwachte +in ihm, der um sich griff wie Feuer im dürren Buschwerk. +Er wünschte, jenen Mund küssen zu dürfen, nichts weiter; +aber das versetzte sein Wesen in einen Taumel, der ebenso +nahe der Verzweiflung wie der Erfüllung war. Mehr als ein +Traum und eine äußerliche Begierde; mehr als das bloße Aufwachen +zu einem Wertbewußtsein; mehr als die Hoffnung auf +ein mittelmäßiges Glück. Es war der elementare Schmerz und +Rausch des dumpfen Menschen, der mit Raubtierkraft an +Gittern rüttelt, deren Vorhandensein er nicht begreifen will.</p> + +<p>Myra hatte plötzlich das Verlangen, Schneeball zu werfen. +Alle drei nahmen auf einem freien Stück Feld vor dem Wald +Aufstellung. Das junge Mädchen war fröhlich bei der Sache, +und der Lehrer sog ihr Wesen in sich auf wie Lebensnahrung. +<a class="page" name="Page_58" id="Page_58" title="58"></a>Er sprach nicht, weder bei dem Spiel, noch bei dem Waldgang +später. Eine innige, überzeugende Gestalt wandelte an seiner +Seite. Er hörte ihre gepreßten Worte, die sie aus allen Winkeln +des Raums zusammenzusuchen schien, und die sie unsicher sprach +mit milder Stimme und bittender Gebärde. Er sah, wie sie +schüchtern Fragen stellte und schüchtern lächelte, wie sie über +nichts in der Welt genügende Klarheit erhielt und jeden anstaunte, +der mit Sicherheit eine Behauptung aufzustellen wußte; +wie vieles ihr gefiel und wie viel sie besitzen mochte und wie sie +zugleich darüber unruhig war und die Fülle ihres Wünschens +als Vergehungen empfand; wie sie mit Sympathie umgeben +war wie der Erdball mit Luft und wie sie gleichwohl fürchtete, +von jedermann gehaßt zu sein: ein Wesen aus Fleisch und Blut, +eine von denen, die für das Glück geschaffen scheinen.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_59" id="Page_59" title="59"></a></p> +<h3>Achtes Kapitel</h3> + + +<p class="newsubsection">Siebengeist war ein großmütiger Lustigmacher, der sich selbst +vergessen konnte, um Myra zu erheitern. Wenn er anfing, +zu plaudern und Gesichter zu schneiden, blieb sie nicht ernst. Was +trieb er doch nicht alles! In derselben Stunde war er Fabulist +und Taschenspieler, Schlangenmensch und komischer Musikant, +sprang über die Tische und parodierte die Schauspieler, formte +Damen aus Schnee und dichtete närrische Sonette über seine +Laufbahn als Apotheker. Myra hatte viel Freude an ihm. +Sie schenkte ihm einen schmalen Reif mit einem winzigen Rubin, +und dafür gab ihr Siebengeist ein goldenes Herz, welches die +Inschrift trug: <em class="antiqua">vers Dieu va.</em> Philipp Unruh fühlte sich als +Zaungast und suchte Einsamkeit. Unsichtbar ging Myra an +seiner Seite bei den weiten Spaziergängen, unsichtbar ging +sie in seinem Haus umher. Unhörbare Reden wechselte sie mit +ihm, schenkte ihm Vertrauen, billigte seine Entschlüsse. So +erhielten sein Sehen und Denken, seine Gebärden und Worte +eine verzweifelte und verschwiegene Glut. Auf allen Wegen, +an allen Mauern stand ihr Name, und wurde er wirklich genannt, +so erschrak der Lehrer wie ein Verbrecher, der unerkannt +die Früchte seiner Tat genießt. So vor Doktor Maspero, der +beim nächtlichen Heimgang von Myra sprach.</p> + +<p>Der Provisor sei ein Narr, meinte dieser gescheite +Mann, und alle Welt habe recht, ihn zu verdammen +wegen seiner Narrheit. Was für eine Bedeutung habe dies +törichte Scharmuzieren? Ein bettelarmes Persönchen, das +weder hübsch noch klug sei und zweifellos einen wahnsinnigen +Zug in den Augen trage. Niemand wisse, was sie +dabei wolle.</p> + +<p><a class="page" name="Page_60" id="Page_60" title="60"></a>»Ein altes Wort lautet: was ein Weib will, das will Gott,« +murmelte der Lehrer.</p> + +<p>»So? Eine jammervolle Sentenz, Schulmeister! Ich glaube, +Ihnen sitzen Gespenster im Magen. Sei’s drum! Ich gönne +jedem sein Plätzchen an der Sonne. Gute Nacht.«</p> + +<p>Der Lehrer fühlte sich verlassen. Er blickte spähend durch +die fallenden Schneeflocken, als erwarte er einen Freund, mit +dem er die Nacht verbringen könnte. In der Tat tauchte eine +schwarze, hagere Gestalt aus der Finsternis auf. Es war der +Herr Adjutant. Beim Anblick des Lehrers packte er sofort begeistert +seinen Hut, schwenkte ihn gegen das Firmament und +schrie den Abendgruß, als ob er seinem Landesfürsten zujauchzte. +Gleich darauf ging er wieder stelzengerade und lautlos seines +Weges weiter, und sein gravitätischer Schritt machte den Schnee +klirren. Philipp Unruh empfand auf einmal eine wunderliche +Sympathie für diesen Mann, der seine einsame Wohnung nur +mit einem zärtlich geliebten Affen teilte, dem er den aparten +Namen Kümmerlich gegeben hatte.</p> + +<p>Neben der Post befand sich ein uraltes Gebäude, in welchem +Myra mit ihrer Mutter wohnte. Die zwei Fenster waren erleuchtet +und durch gelbe Rollvorhänge verdeckt. Der Lehrer +stand im Schnee auf der andern Seite der Gasse und lehnte +sich an die Türe des Kürschnerladens. Eine Silhouette ward +auf dem Vorhang sichtbar: das Profil eines Mannes, das auftauchte +und verschwand. Dann erschien derselbe Kopf noch +einmal, nahe beim Fenster und deshalb sehr klein und scharf und +wurde unter beständigem lebhaften Nicken immer größer. Ein +zweites Bild, ein Frauenhaupt erschien daneben, und beide +verharrten nun in Ruhe, als ob sie sich unverwandt ansähen, +neigten einander zu, wichen von neuem zurück, und gleichzeitig +<a class="page" name="Page_61" id="Page_61" title="61"></a>erschien am zweiten Fenster ein anderer Schatten, bei dessen +Anblick sich Philipp Unruhs Stirne unwillkürlich verdüsterte. +Dieser Schatten, klar begrenzt von Licht, war den beiden übrigen +bewegungslos zugewandt, als flösse sein Dasein von ihnen aus. +Haare fielen abenteuerlich in die Stirn, deutlich war die feine +Nase gezeichnet, deutlich der verschlossene Mund. Das ganze +Spiel der drei körperlosen Gestalten hatte etwas so Unwirkliches +und Phantastisches, daß der Lauscher bisweilen staunend +in die Dunkelheit starrte, auf die friedlichen Häuser im Umkreis, +und mit eigentümlicher Gewalt die Ruhe spürte, die in allen +schneebedeckten Gassen ausgebreitet war. Aber dies erschien +ihm nur als ein täuschendes Kleid, unter dessen unbewegten +Falten verheerende Leidenschaften brüteten, um die Erde zu +bedrohen und zu erschüttern. Er selber war ergriffen, ja gefoltert +und wagte nicht, darüber ins klare zu kommen. Ungeduldigen +neuen Lebens voll, sah er millionenfaches Leben um +sich in eisiges Schweigen gehüllt durch die stummen Kräfte +der Natur.</p> + +<p>Nun geschah etwas Sonderbares. Die beiden Schatten erhoben +sich gleichzeitig, ohne von einander zu weichen. Der +dritte Schatten streckte die Arme aus, flehentlich oder beschwörend. +Dann glitt der eine Frauenschatten zum zweiten Fenster. +Die ausgestreckten Arme fielen herab, und die ganze Gestalt +versank. Die zweite wuchs geisterhaft empor, beugte sich auf +und nieder mit beängstigender Hast. Die Silhouette des Mannes +stand regungslos, eine Hand gegen das Gesicht gepreßt, – und +plötzlich ward alles schwarz und finster.</p> + +<p>Der Lehrer seufzte bang. Unschlüssig und erratend stand +er da, als ein Tor zugeschlagen wurde und jemand auf die +Straße gestürzt kam. Unruh sah, daß es Myra war, in bloßen +<a class="page" name="Page_62" id="Page_62" title="62"></a>Kleidern, ohne winterliche Hülle, und mit einem halben Ausruf +schritt er ihr entgegen. Mit tastendem Schritt näherte sie +sich ihm, und er spürte ihre Hand in seinen Arm sich förmlich +einkrallen. Mit einem Blick, der von Angst, Erschöpfung und +Verzweiflung stier geworden war, schaute sie gleichsam durch +sein Gesicht hindurch. Das alles geschah lautlos. Auch im Hause +regte sich nichts, und die Fenster oben blieben schwarz.</p> + +<p>Philipp Unruh sah ein Geschöpf vor sich, auf dessen Wort +und Aufschluß er nicht rechnen durfte, das nur noch mit einem +Schein äußeren Lebens begabt, sich ihm überließ wie ein Gegenstand. +Die augenscheinliche Gefahr, die außerordentlichen Umstände +verliehen ihm Besinnung und Kraft des Entschlusses. +Seine scheuen, dumpf brennenden Gefühle verkrochen sich in +der Stunde der Tat. Er nahm Myra auf den Arm und eilte +mit ihr durch die Nacht dem Schulhaus zu. Leicht schien ihm +seine Last, aber das ungewisse Vibrieren des Körpers in seinen +Armen ließ beinahe sein Blut stocken. Die leere, stumme Nacht +eilte vor ihm her und verwirrte seinen Blick. Er fragte sich +gar nicht, wohin er anders mit der willenlosen Myra gehen +könne, als in seine eigene Behausung. Er hörte hinter sich, doch +ziemlich ferne schon, Stimmen in der Finsternis, und eine davon +schrie in hellem Ton immer wieder dasselbe Wort. Er achtete +nicht darauf, sah nur mit Neugierde und Mißtrauen die Straße +entlang, denn ihm schien, als sei er in ein bisher unbekanntes +Land geraten.</p> + +<p>Das Schulhaus, ihm längst vertraut in jedem Winkel, barg +heute Gefahren. Unter dem Stiegeneck waren glänzende Augen. +Hoch im Gitterfenster leuchtete ein verräterisches Licht. Es war +kein Mensch im ganzen Gebäude, denn die Wirtschafterin schlief +im Haus des alten Löwy. Bis zur Kraftlosigkeit ermattet, nach +<a class="page" name="Page_63" id="Page_63" title="63"></a>Atem keuchend, schleppte er Myra die Treppen empor, stieß +die Zimmertüre auf, legte das junge Mädchen auf das Bett +und machte Licht.</p> + +<p>Sie hatte die Augen geschlossen. Zum erstenmal sah er ihr +Gesicht bleich. Er benetzte ihre Schläfe mit Wasser und murmelte +ihren Namen vor sich hin. Sie rührte sich nicht. Er legte das +Ohr auf ihre Brust, und als er keinen Herzschlag vernahm, +wurden vor Schrecken seine Augen feucht. Die verbrecherische +Kraft eines kaum geahnten Wunsches habe ihn gezwungen, +sie hierherzubringen, so glaubte er jetzt. Er riß das Fenster auf, +um jemand zu erspähen, der zum Doktor laufen könne. Aber +der Hof lag finster und öde. Er schrie: Johanna! dann: Kunigunde! +und noch einige, denen er vielleicht den Schlaf aus den +Lidern rufen konnte. Er rannte ins Schulzimmer, schaute dort +hinaus, straßauf, straßab, aber er wurde nichts gewahr als +eine drückende Verlassenheit, die sich zu regen schien unter dem +gleichmäßigen Fall der Schneeflocken.</p> + +<p>Jedoch als er zurückkam, von Frost und Angst geschüttelt, +saß Myra aufrecht im Bett.</p> + +<p>Sie lächelte; ein wunderliches, stumpfes, unveränderliches +Lächeln. Die schöne Rundung der Unterlippe, die feine, etwas +träumerische Linie der oberen traten in bezaubernder Klarheit +hervor. Von einer eigentümlichen, furchtsamen Freude ergriffen, +sagte der Lehrer: »Sie sind wach?« und seine Stimme +bebte. Sein Beginnen kam ihm frevelhaft vor. Er hatte sich +ihrer bemächtigt, das war es. Eine Verantwortung nahte, vor +der er zusammenbrechen würde. Er bewunderte und fürchtete +zugleich jene Person, die er selbst noch vor einer halben +Stunde gewesen war, jene wild und unbekümmert handelnde +Person. Sorgenvoll und überlegend stand er auf der Schwelle, +<a class="page" name="Page_64" id="Page_64" title="64"></a>der Rechenschaft gewärtig, die man von ihm fordern würde. +Aber in seiner innersten Seele ergriff er Besitz von Myra +und ging mit sich zu Rate, ob er nicht das Tor vor Eindringlingen +schützen solle. Endlose Stunden der Nacht würden folgen, +und am Morgen? Das Ende von allem.</p> + +<p>Das junge Mädchen schauderte vor der hereinfließenden +Kälte, und so schloß er die Türe. Er setzte sich an das Bett und +fragte Myra, ob sie krank sei, er wolle gehen und den Arzt holen.</p> + +<p>Sie antwortete nicht, sondern blickte aufmerksam ins Licht +der Lampe. Mit traurigen Augen sah sie der Lehrer an. In +wahrhaft ungestümer Gewalt erwachte der Wunsch in ihm, den +so nahen Mund zu küssen. Überlegungen wie Kriegspläne formten +sich, und er blickte dabei zurück auf sein Leben wie in eine +graue, regnerische Heide. Er lehnte die Stirn an den Bettpfosten +und fing unvermittelt zu weinen an wie ein Knabe. +Die Erkenntnis seiner Leidenschaft und seines leidenschaftlichen +Gemütes machte ihn in hohem Grade bestürzt, wie es oft bei +religiösen und einsamen Naturen der Fall ist.</p> + +<p>»Ach, du bist es, Wilhelm?« sagte Myra tonlos. »Warum +liest du mir nicht vor? Lies mir doch vor aus dem lustigen +Stück.« Sie lächelte wie früher und legte ihre Hand auf die +seine. Philipp Unruh richtete sich auf und hielt zitternd ihre +Hand fest. Er vermeinte seine eigenen Gedanken zu sehen, +wie sie auf einmal wirr und schwarz wurden.</p> + +<p>»Nimm dasselbe Buch,« fuhr Myra leise fort. »Du weißt, +was du auf eine leere Seite geschrieben hast. Es war das +Schönste, Seligste. Die Mutter hat es gelesen und kam mit +dem Messer gegen mich. <em class="antiqua">Oh, cela ne fait rien,</em> sagt Madam +Biraud. Du siehst es ja, ich lache und jetzt lies, lies vor!«</p> + +<p>Als Philipp Unruh zögerte, wurde sie ungeduldig, und ihr +<a class="page" name="Page_65" id="Page_65" title="65"></a>Mund verzog sich gramvoll. Da griff er mechanisch nach jener +Ansbacher Chronik, die ihm allein von seinen Büchern geblieben +war, blätterte mit bebenden Fingern und las von alten Ereignissen, +vom markgräflichen Leben am Hof, von den Emigranten, +von Denkmälern und Baubefugnissen, von Pest und Kriegsplage, +kurz, was eben in solch einer Chronik Wichtiges zu stehen +pflegt. Inhaltsloser und sinnloser waren ihm niemals Worte +vorgekommen. Ihm schien, als grübe er Staub aus finstern +Verstecken. Myra lauschte entzückt jeder Silbe und freute sich, +als ob es eine amüsante Szene sei, deren Entwicklung sie zu +hören bekomme. Allmählich wurden ihre Züge schlaff; sie lehnte +sich zurück, ihre Augen schlossen sich, und sie schien zu schlafen, +während der Lehrer aufgewühlten Herzens weiter las, den +stillen Raum mit seinen monotonen Lauten füllend.</p> + +<p>Plötzlich fuhr Myra empor. »Glaubst du es denn nicht,« +rief sie aus, mit einer inbrünstigen Hingebung in ihrer Stimme, +in ihren Geberden, in ihrem Gesicht, »glaubst du es denn nicht? +Für dich könnte ich ja sterben!« Sie lachte glücklich und fiel +wieder auf das Kissen zurück.</p> + +<p>Philipp Unruh schlug die Chronik zu und stützte den Kopf +in die Hand. Ihm war bang und weich zu Mut. Diese Worte, +gleichviel ob sie ihm galten oder nicht, waren nun zu ihm gesprochen +worden. Er durfte die Vergangenheit vergessen, ohne +sie betrauern zu müssen. Diese Worte brachten sein Gemüt in +Schwingung, wie der Glockenschall die Luft in einer Kirche bewegt. +Er wußte, eine solche Stunde des Zutrauens, eine solche +Nacht der Wunder würde nicht wiederkehren in seinem Leben, +und unersättlich sog er alle Hoffnungsmöglichkeiten in sich ein, +als könne dadurch seine Zukunft beschützt werden. Ringsum +war alles Leben lebendig, geschmückt durch Hingabe und Zärt<a class="page" name="Page_66" id="Page_66" title="66"></a>lichkeit, +ja selbst durch Gefahr und Tod. Denn der Tod ist es +wert, gestorben zu werden, wenn er etwas raubt, das zu besitzen +sich lohnt. So wurde sein Geist weitschauend durch die +Macht eines Augenblicks, welcher die Ewigkeit enthielt.</p> + +<p>Er überzeugte sich, daß Myra nun wirklich schlief, und erhob +sich geräuschlos. Er legte das Buch auf die Lade und dachte +angestrengt nach. Wenn Myra krank lag und im Fieber redete, +was sollte er dann mit ihr beginnen? Die Leute waren zu +fürchten, denen der Tag Kunde bringen würde, wer nächtlicherweile +in des Lehrers Haus eingezogen sei. Darüber mußte +er wachen, mehr als über sein Glück. Höher als dies stand ihm +die Sitte. Sie regelte nach seiner Überzeugung den Mechanismus +der Welt im kleinen wie im großen.</p> + +<p>Es war keine Zeit mehr zu versäumen. Betrübt warf er +seinen Mantel wieder um die Schulter, trat neben die Schlafende +und blickte lange auf das regungslose Gesicht, dem der +Schlummer einen vergrämten und angestrengten Ausdruck verliehen +hatte. Dann stellte er die Lampe auf den Schrank und +ging leise hinaus. Er wollte zu Siebengeist, um mit ihm zu +beraten, was hier zu tun sei.</p> + +<p>Ohne das Tor zu versperren, betrat er die Straße. Es +schlug zwölf Uhr vom Turm. Der Himmel war klar geworden +und zitterte vor Kälte. In graublauer Dämmerung lagen +Dächer und Giebel.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_67" id="Page_67" title="67"></a></p> +<h3>Neuntes Kapitel</h3> + + +<p class="newsubsection">Nachdem er den Glockenstrang bei der Apotheke gezogen hatte, +öffnete sich unter dem spitzen Dachwinkel ein Fenster, +und eine dünne Mädchenstimme schrie herab, daß kein Mensch zu +Hause sei. Die Herrschaften und der Provisor seien auf dem Ball +beim »Ratgeber«. Der Provisor käme erst in einer Stunde zurück, +und solang müßte man warten oder zum Ratgeber schicken.</p> + +<p>Der Ratgeber war ein Hotel, welches sich eine Viertelstunde +außerhalb des Städtchens, auf der sogenannten »Höhe« +befand. Dort schloß sich unmittelbar der Wald an, der sich dann +weit hinein erstreckt ins mittlere Franken. Philipp Unruh entschloß +sich rasch zu der Wanderung, und noch auf der Landstraße +sah er oben am Waldrand die strahlenden Fenster und hörte, von +Schritt zu Schritt deutlicher, den Brummbaß der Tanzmusik. +Es war eine Art Faschingsball, den die Gemeinde selbst alljährlich +mit großem Prunk veranstaltete. Dort waren nicht +nur die größten Notabilitäten des Ortes, sondern auch der Präsident +des Kreises anzutreffen, der von Ansbach herüberkam.</p> + +<p>Fern auf dem Bahnhof klirrte das Eisen der Waggons, +welche rangiert wurden. Der Schnee der Straße schimmerte +hell. Die Sterne standen am Himmel und schaukelten unruhig +wie Lichter im Wasser.</p> + +<p>Wo sich der Weg gegen die Anhöhe hinaufbog, stand, auf +der Landstraße noch, ein kleines Wirtshaus. Im größeren +Raum waren Knechte und Dirnen, die nach der Musik einer +Mundharmonika tanzten. Wie sich die Paare beim düstern +Schein einer Öllampe drehten, das gab ein wüstes und grelles +Bild. In der kleinen Stube lehnte ein Mann gegen das Fenster, +die Stirn gegen die Scheibe gepreßt, und der Lehrer erkannte +<a class="page" name="Page_68" id="Page_68" title="68"></a>sofort Apollonius Siebengeist. Der Provisor seinerseits hatte +ihn nicht wahrgenommen, denn kein Zug veränderte sich in +seinem Gesicht, welches trüb und verzerrt aussah. Philipp +Unruh bemerkte, daß das Zimmer leer war, und schritt dem +Eingang zu. Der Wirt begrüßte ihn mit einem lärmenden +Freudenausbruch und führte ihn durch einen stockfinstern Gang. +Ohne daß es beide merkten, folgte ihnen eine Frauengestalt, +welche vom Ratgeber herabgekommen war. Und als der Lehrer +die Schwelle überschritt, drängte sich jene vor und lief mehr +als sie ging, auf Siebengeist zu. Sie hatte eine schwarze Larve +vor dem Gesicht, einen glatten langen Mantel über dem Ballkleid, +und ihre Augen leuchteten unnatürlich. »Ich wußte es +ja, daß du hier bist,« sagte sie mit heiserer Stimme. »Du machst +den Wegelagerer, lauerst einer Komödiantin auf.« – »Was +soll das?« entgegnete Siebengeist mit merkwürdiger Geduld. +»Ja, ich erwarte sie, aber sie kommt nicht, kommt nicht, trotzdem +sie es versprochen hat.« Seine Stimme klang müde, und er +veränderte seine Haltung nicht, sondern blickte fortwährend +durch das Fenster auf die nächtliche Straße. Der Wirt hatte +das Gesicht in die Türspalte gepreßt und grinste freundlich und +lauernd. Philipp Unruh ergriff die Klinke und schloß mit +sanftem Druck die Tür. Dann räusperte er sich achtungsvoll, +um seine Anwesenheit kundzugeben. Der Raum hier war wie +eine Fortsetzung des engen Flurs, und nur gegen das Fenster +hin verbreitete die Kerze spärliches Licht, die im Hals einer +Weinflasche auf dem Tisch stand.</p> + +<p>»Was sorgst du dich, Liebster?« begann die Frau wieder +und machte eine flehentliche Gebärde. »Sieh mich doch an, +bitte. Befiehl mir, daß ich sie herbeiholen soll, die du liebst, +und ich werde es tun. Befiehl mir, aber sieh mich an, errette +<a class="page" name="Page_69" id="Page_69" title="69"></a>mein Leben.« – »Wie kann ich dein Leben erretten, da du +meines zerstört hast,« erwiderte Siebengeist, starrer noch als +bisher. »Ich habe nicht besitzen dürfen, weil deine Künste mich +schwach werden ließen. Deine Verlockungen haben meinem +Wunsch die Kraft genommen, deshalb bin ich nicht würdig, das +beste zu besitzen. An dir hab ich mich verschwendet. Also geh +in dein Haus und sei zufrieden.«</p> + +<p>Das Weib nahm ein Glas mit Wein vom Tisch, schleuderte +es zu Boden, daß die Scherben klirrten, und rief verzweifelt: +»Dann soll <em class="gesperrt">mein</em> Wunsch kraft haben, denn ich wünsche ihr den +Tod!« Damit fiel sie in die Kniee, rang die Hände und lehnte +das Gesicht an die Hüften des regungslosen jungen Mannes.</p> + +<p>Der Lehrer verharrte eine Zeit lang völlig gelähmt in dem +Winkel zwischen Tür und Ofen. Er dachte, gänzlich sich selbst +entfremdet: die Liebe ist eine Gewalt, welche den Menschen +erniedrigt. Er dachte, daß es besser sei, nicht zu wissen, als im +Wissen zu sündigen. Wo früher rings um ihn her ein friedliches +Einerlei sich gedehnt, sah er jetzt Gesichter, aus denen die Aufregungen +des Leidens und des Verlangens redeten. Es war, +als ob ein träges, aber starkes Wesen in ihm schwere, staunende +Augen aufschlüge.</p> + +<p>Unter dem Zwang seines Anstandsgefühls trat er endlich +mit vernehmlichem Schritt gegen den Tisch zu und wünschte +guten Abend. Die Baronin stutzte und erhob sich rasch. Siebengeist +drehte sich lässig um und blickte dem Lehrer forschend, +jedoch nicht ohne Freundlichkeit ins Gesicht. »Ich komme,« +sagte Philipp Unruh, indem sein eigenes Zimmer wie eine +Insel der Sehnsucht vor ihm aufstieg, »ich komme, um Ihnen, +Herr Siebengeist, etwas mitzuteilen.« Der Provisor, voller +Ahnung, zog den Lehrer in den entgegengesetzten, dunklen Teil +<a class="page" name="Page_70" id="Page_70" title="70"></a>des Zimmers. Seine Augen waren umschattet und hatten +einen zersplitterten Blick; die Stirn war unruhig; das ganze +sympathische Gesicht glich dem eines Spielers, der im Begriff +ist, einen hohen Einsatz zu verlieren.</p> + +<p>In schwerfälligen Worten brachte der Lehrer heraus, was +sich ereignet hatte. Ohne zu zaudern, ohne einen Laut von +sich zu geben, warf Siebengeist den Pelz um die Schultern, +stülpte die Kappe über, winkte dem Lehrer durch eine Handbewegung, +ihm zu folgen, und beide eilten nun hinaus und die Landstraße +hinab. Als sie das Schulhaus erreicht hatten und die enge +Treppe emporklommen, war kaum eine Viertelstunde vergangen.</p> + +<p>Der Lehrer öffnete die Tür. Sein Blick fiel auf das Bett, +welches leer war. Myra war nicht im Zimmer. Jetzt erinnerte +er sich, daß das Haustor nur angelehnt gewesen war. »Sie ist +fort,« murmelte er tonlos, und Kälte rieselte über seinen schweißbedeckten +Körper. »Hier lag sie auf dem Bett, sehen Sie.« +Und da er sich der Worte entsann, die sie zu ihm gesprochen, +verstummte er und schaute nachlauschend gegen die Wand, als +ob von dort ein Wiederhall ausflösse.</p> + +<p>»Was haben Sie gemacht, Schulmeister? Haben Sie geträumt?« +stieß Siebengeist hervor. Er rückte die Kappe gegen +den Hinterkopf und legte die Hand über die Stirn, die von +wirren, nassen Haaren bedeckt war. Dann griff er nach einem +Gegenstand, der auf dem Tisch lag, mitten auf einem weißen +Blatt Papier. Es war das Herz mit dem <em class="antiqua">vers Dieu va.</em> Ein +Zucken ging über sein Gesicht, und er biß die Lippen zusammen. +Das goldne Ding fiel auf die Erde. – »Vielleicht ist sie nach +Hause zurück,« flüsterte Siebengeist fragend, und Philipp Unruh +gab durch Haltung und Blick seine Willfährigkeit zu allem kund. +Auf der Straße trafen sie den Nachtwächter, welcher sehr be<a class="page" name="Page_71" id="Page_71" title="71"></a>trunken +war. Er wußte von nichts, nicht einmal ob es Tag oder +Nacht war, hatte niemand gesehen. Sie läuteten vor dem Haus, +wo Myras Mutter wohnte, und nach einiger Zeit kam eine +Person von ungewöhnlicher Beleibtheit zum Vorschein. Diese +Person glich einem Laubfrosch; sie trug einen moosgrünen +Schlafrock und hatte einen Schnurrbart, obwohl sie ein Weib +war. Mit schnarrender Stimme berichtete sie, daß der Schauspieler +und die Frau vor einer Stunde mit dem Münchener +Eilzuge abgereist seien. Das junge Fräulein aber sei seit dem +Abend nicht heimgekehrt. Siebengeist reichte der Dame ein +Talerstück und bat in atemlosen Sätzen, sie möge ihm für ein +paar Stunden eine gute Laterne leihen.</p> + +<p>Sie wanderten über den Markt und über die Altmühlbrücke +gegen die Dinkelsbühler Landstraße hinaus mit ihrer Laterne. +Schweigend legten sie ihren sinnlosen Weg zurück, während der +Schnee im Lichtschein glitzerte. Beide waren von derselben +Ahnung, derselben Unruhe aufs äußerste erregt, aber jeder +scheute des andern Wort oder Frage. Bisweilen blieb Siebengeist +stehen, hielt die Laterne hoch oder stieg auf einen Meilenstein +und spähte in das lautlose, finstere Winterland. »Jetzt +wollen wir auf Theilheim zu,« sagte Siebengeist, und mit +einem Auflachen fügte er hinzu: »Glauben Sie denn, daß eine +einzige Nacht genügen wird, sie zu finden?« – »Es sind Wälder +hier herum,« entgegnete der Lehrer. »Aber es ist möglich, daß +sie noch im Ort ist.« – »Es ist möglich, ja. Was ist nicht alles +möglich! Es ist möglich, daß sie verschwunden bleibt, und ich +habe nicht ein einziges Mal – –« »Was? –« »Diesen wunderbaren +Mund küssen dürfen.« Siebengeist blieb am Flußufer +stehen, warf den Kopf ein wenig zurück und drückte die Augen +zu. Der Lehrer entgegnete nichts darauf.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_72" id="Page_72" title="72"></a></p> +<h3>Zehntes Kapitel</h3> + + +<p class="newsubsection">In derselben Nacht noch, gegen die Morgenstunden, kamen +Tauwinde aus dem Süden. Siebengeist und der Lehrer +waren heimgekehrt und verbrachten miteinander den schlaflosen +Rest der Nacht in des Lehrers Zimmer. Abgerissene Erzählungen +überdeckten die suchenden Gedanken. Siebengeist +lachte über den Gang mit der Laterne, so wie nur er zu lachen +verstand, und der Lehrer dachte wieder: ein Adonis. Jedoch +glaubte er sich bevorzugt wie durch unvertilgbare Versprechungen.</p> + +<p>Zwischen sechs und sieben Uhr schlief er noch einen kurzen +Schlummer der Müdigkeit. Er träumte, daß er sich in den +Affen Kümmerlich verwandelt habe, daß er auf dem Dach des +alten Turmes stehe und Grimassen schneide, über die die +ganze Welt und insbesondere eine Frau mit einer schwarzen +Larve unbändig lachen mußte. Doch wunderlicherweise hatte +dieser Traum für ihn etwas Quälendes, vielleicht deshalb, weil +die Höhe des Turms ihn trotz aller Grimassen mit Angst erfüllte.</p> + +<p>Als er um neun Uhr am Schulfenster stand und gleichgültig +die Ziegelmauern der Synagoge anstierte, liefen auf der Straße +Menschen zusammen. Ein Milchbauer hatte auf seinem Handwägelchen +einen großen, dunklen Gegenstand liegen, der sich +wie ein menschlicher Körper ausnahm. Der Milchbauer redete +eifrig mit den Leuten und zwinkerte dabei erregt mit den Augen. +Der Lehrer öffnete das Fenster und rief hinunter, was es denn +sei. Man habe ein Mädchen erfroren auf dem Feld gefunden, +hieß es, und diejenigen, die das sagten, es war der Schmied, +ein Marktweib und der alte Löwy, gebärdeten sich außerordentlich +sachkundig. Auch der Bäcker kam aus seinem Laden, indem +<a class="page" name="Page_73" id="Page_73" title="73"></a>er den Mehlstaub von den dicken Schenkeln klopfte. Die Kinder +im Schulzimmer verließen alle ihre Plätze, drängten sich mit +Wildheit an die Fenster, und Philipp Unruh sah sich alsbald +seines Aussichtspunktes beraubt, da eine Horde von schwatzenden +Mädchen ihn umringt und zurückgeschoben hatte. Er fand kein +strafendes Wort, sondern blickte geistesabwesend auf einen der +blondhaarigen Kinderköpfe.</p> + +<p>Schnell wie Strohfeuer lief das Gerücht umher, daß eine +Schauspielerin von Herrn Schmalichs Truppe erfroren in den +Feldern gefunden worden sei. »Se woar im Schneei douglegn +wier in ihrn Bettla,« sagte der Milchbauer zu Doktor Maspero, +der den Leichnam besichtigte. Auch der Bürgermeister und +ein gerichtlicher Funktionär stellten sich ein, und die Leute, die +den Totenwagen fuhren, zeigten sich verdrießlich über die Arbeit, +die nichts trug.</p> + +<p>»In diesem begabten Mädchen steckte das Zeug zu einer +Ophelia,« sagte Herr Schmalich zu den Mitgliedern seiner +Truppe, als er die Gedächtnisrede während der Probe hielt. +Dann kam noch etwas vom Pantheon der Kunst, vom Kampf +ums Dasein und weiblicher Tugend.</p> + +<p>Die wahrhaft vornehmen Kreise nahmen das Ereignis mit +Güte und Ruhe hin. Nur die Frau Assessor, welche eine unglückliche +Schwärmerei fürs Theater hegte, schickte einen Immortellenkranz +mit einer blaßroten Schleife, auf welcher ein +nicht weniger blasses Verslein zu lesen war. Die Frau Oberamtmann +geriet darüber in eine boshafte Aufregung und erzählte +die ganze Geschichte im Kasinohof dem Herrn Adjutanten. +»Kann solche Dummheit überboten werden!« rief die bewegte +Dame aus. Der Herr Adjutant lächelte verzwickt, und als er +zu Hause war, stellte er sich breitbeinig vor seinen Affen hin +<a class="page" name="Page_74" id="Page_74" title="74"></a>und redete ihn an: »Was sagst du, mein lieber Kümmerlich: +ist es nicht rätselhaft, wie selbst die Dummen merken, daß die +Dummen dumm sind?« Das Äffchen grinste höflich.</p> + +<p>»Der Tod ist ein Ereignis, mit welchem man rechnen muß,« +sagte der Baron Apotheker ernst und poetisch gestimmt zu seiner +Frau, welche wie versteinert am Bücherregal lehnte, mit herabhängenden +Armen und verschränkten Fingern. Ihr sonderbares +Wesen veranlaßte den Dichter kaum zu einem flüchtigen Nachdenken. +Solche Naturen sind wie Messer ohne Klingen. Sie +gleichen einem Schützen, der in der drohenden Pose des Anschlags +steht, aber statt der Flinte ein Spazierstöckchen zwischen +den Schultern hält. Sie kriechen herum wie aufgeblasene +Regenwürmer und vermeinen einen Adlerflug zu nehmen. Bis +zu ihrem Sterbebett werden sie den Tod für ein Ereignis halten, +das Beachtung verdient.</p> + +<p>Die junge Frau schleppte sich mühsam eine Treppe empor +und pochte an Siebengeists Zimmer. Da alles still blieb, drückte +sie auf die Klinke, jedoch die Tür war verschlossen. Da pochte +sie abermals und rief ein bittendes Wort, allein sie erhielt keine +Antwort. Ihr schwindelte. Sie ging herab in die Apotheke +und fragte den zweiten Gehilfen, wo das Strychnin sei. Im +Grunde wußte sie, daß sie sich des Giftes nicht bedienen würde. +Auch sie war angesteckt vom Lügengeist des Herrn. Auch sie +hielt sich, wenn nicht für einen Adler, so doch für eine Schwalbe, +eine sehnsüchtige, nestsuchende und war nur ein armes Würmchen.</p> + +<p>Es war ein träumerischer Tag. Der Himmel, mattblau, +grünlichblau, war von schleierdünnen Wolken durchzogen. Allenthalben +lief geschäftig murmelndes Tauwasser zu Bächen zusammen. +Durch den schwarzgesprenkelten Ackerschnee ragten die +Stoppeln vom letzten Herbst. Bis zu den fernsten Waldgrenzen +<a class="page" name="Page_75" id="Page_75" title="75"></a>dehnte sich der Horizont, und die Februarsonne füllte das Land +mit frühlinghafter Wärme.</p> + +<p>Gegen die Zeit der Dämmerung kam Siebengeist zum +Lehrer Unruh. »Machen wir einen letzten Gang,« sagte der +Provisor, dessen Augäpfel auffallend ruhelos unter den Lidern +hin und her irrten. Der Lehrer wußte sich nicht zu erklären, +was damit gemeint war, aber er folgte. Für ihn hatte die Gegenwart +noch keine Zunge. Wie ein Trunkener vergißt, was +ihn trunken gemacht, so hatte er die Ursache dessen, was in ihm +wühlte, aus der Empfindung verloren. Er begann nach rückwärts +zu leben. Er erkannte sich selbst und das, was aus ihm +geworden war, mit der Klarheit einer Halluzination. Ganz +anders als früher schien es ihm jetzt seine eigene, angeborene +Sprache, wenn er redete, schien ihm sein Gefühl, was er empfunden, +und sein Urteil, was er beschlossen. Das Bild der Welt +und ihrer Menschen verlor völlig den Anschein der Selbstverständlichkeit +und des Unumstößlichen, und aus allen Dingen, aus +allen Ereignissen, aus jedem Gesicht, aus jedem Hinschwinden +des Tages und der Nacht tauchte etwas ungeheuer Geheimnisvolles +auf, das ihn schaudern machte und ihn mit einer noch +ganz anderen Trauer erfüllte, als derjenigen, die er in Siebengeist +beobachtete. Aber wie sonderbar! Darüber schwebte wie +das Licht über einem finstern Wald etwas wie Freiheits- und +Einsamkeitsfreude.</p> + +<p>Sie waren zum Leichenhaus gewandert, einem Backsteinhäuschen, +das verlassen in der Abenddämmerung lag. Siebengeist +ging zur Totengräberwohnung und ließ aufsperren. +Der Mann, unter dem Druck von Siebengeists Hand willfährig +geworden, brachte eine Art Stallämpchen mit einem +Blendblech und ließ die beiden allein. Zwei Särge standen +<a class="page" name="Page_76" id="Page_76" title="76"></a>inmitten des Raums, halb aufrecht gegen eine Bank gelehnt. +In dem einen lag eine Greisin, deren Lider nicht ganz geschlossen +waren, so daß sie, was vor sich ging, argwöhnisch zu beblinzeln +schien. Ihr Gesicht war gelb wie frisches Baumholz und hatte +einen außerordentlich höhnischen und feindseligen Ausdruck. +Auf ihrer faltigen Stirne lief gemächlich eine Fliege umher. +Der ganze Kopf bekam überdies durch eine hohe weiße Haube +mit blauen Bändern ein theatralisches und bizarres Aussehen.</p> + +<p>Daneben lag Myra. Auf der einen Wange war ein seltsamer +roter Fleck, wie ein Überbleibsel des Lebens. Die Unterlippe +war ein wenig herabgesunken, wodurch das Gesicht müde, +fast schlaftrunken aussah. Die Stirne sah aus wie geschliffen, +und um die Augen lag ein abweisender, kindlich überlegener +Zug. Die Hände waren leicht gefaltet. Der Ärmel des Gewands +wurde leise von der Abendluft bewegt und erzeugte einen tierähnlichen +Schatten über den Fingern.</p> + +<p>Siebengeist kniete nieder und legte still den Kopf auf den +Sargrand. Sein Rücken begann zu zucken, und die rechte Hand +suchte den Boden. Der Lehrer dachte etwas Unbestimmtes, +Frommes über den Tod, verwarf aber leidenschaftlich diese +Gedanken wieder und zwang seine Blicke, auf dem mißtrauischen +Gesicht der alten Frau haften zu bleiben. Er ärgerte sich +über die freche Fliege, die wie schlafend auf einem Augenlid +saß. Und plötzlich sah er, wie Siebengeist sich ein wenig erhob, +seine Lippen langsam dem Antlitz Myras näherte, und wie er +lautlos seinen Mund auf ihren toten Mund drückte.</p> + +<p>Philipp Unruh stieß einen schwachen Schrei aus und fühlte +den Boden unter sich wanken. Ihm brannte die Kehle und +das Herz und das Gehirn, als ob er im Feuer stände, aber mit +unbegreiflicher und erschreckender Raschheit kehrte eine eisige +<a class="page" name="Page_77" id="Page_77" title="77"></a>Ruhe in ihn zurück. Er legte die Hände vor die Augen und kehrte +das Gesicht dem Kirchhof zu und dem Stückchen Wald hinter +der Mauer. In diesem Augenblick hatte er Tod und Leben +gleichzeitig in einem elementaren Bild empfunden.</p> + +<p>Beim Heimwärtsgang stand die Mondsichel über den Dächern +des Städtchens. Von der Eisenbahn tönte ein langgezogenes +Hornsignal herüber. Die Dunkelheit ist lästig und drückend, +dachte Philipp Unruh. Er begann den Tag der Nacht vorzuziehen, +wo eine bittere und verschwommene Traurigkeit so +leicht Nahrung finden konnte. Sie gingen hinter den Gärten +am Rand der Äcker und Siebengeist fing an zu reden. Er gefiel +sich in Kapriolen des Geistes, in blasphemischen Anklagen, +seufzte schwer und war dann wieder still. Alles nahm sich wie +beabsichtigter Wahnsinn aus. Von seinem hübschen Gesicht war +wie im Rausch jede Besonnenheit verschwunden, und was er +tat, trug das Zeichen von überhebendem Schmerz. »Gute +Nacht, Schulmeister,« sagte er. »Meine Seele ist leer wie ein +ausgebranntes Haus.«</p> + +<p>Was er doch für Worte gebraucht, dachte der Lehrer. Er +verspürte plötzlich einen nagenden Hunger, denn seit vielen +Stunden hatte er nichts gegessen. Er trat neben dem Schulhaus +in den Laden des Bäckers und verlangte frisches Schwarzbrot +und ein wenig Butter.</p> + +<p>»Ach du <em class="gesperrt">mein</em> Gott, sieht man den Herrn Lehrer auch +einmal,« sagte der Bäcker, und mit halb pfiffigem, halb verlegenem +Gesicht schraubte er das blakende Licht tiefer. Er war +eigentlich recht bestürzt, denn auf dem Ladentisch vor sich hatte +er einen großen Folianten aus des Lehrers Bücherkiste liegen. +Er hatte sich eben nach Herzenslust an einer Kriegsbeschreibung +ergötzt. Der Lehrer sah sogleich das Buch und schlug erstaunt +<a class="page" name="Page_78" id="Page_78" title="78"></a>die Hände zusammen: »Herr Bäckermeister, Sie wissen wohl gar +nicht, wessen Eigentum das ist?« sagte er unsicher, wie alle +gutmütigen Menschen, wenn sie einem andern auf Schelmenstreiche +kommen.</p> + +<p>Was nun den Bäcker betrifft, so begann er eine Geschichte +zu erzählen, die durchaus kein Ende nehmen wollte. Diese Geschichte +wurde allgemach recht verwickelt und bot schließlich selbst +dem Erzähler Schwierigkeiten. Sprüche zur Weltweisheit +mischten sich darein wie Aniskörnchen in den Brotteig, nur zuletzt +kam, einer Apotheose zu vergleichen, der Preis des Handwerks, +welches ebenso sein Gutes habe, wie die Gelehrsamkeit.</p> + +<p>Philipp Unruh lächelte. Der humoristische Mann, der ihm +gegenüber auf dem Backtrog saß, hatte in der Glorie seiner +Lügenhaftigkeit etwas seltsam Versöhnendes, und es lag wie +eine unwiderstehliche Heiterkeit in jedem dieser Lügenworte, +die weder gewogen, noch gezählt waren. Daß er wieder in den +Besitz seiner Bücher kam, erfreute ihn, doch in anderm Grade, +als er je geglaubt. Es war wie ein Geschenk, und er betrachtete +sein Eigentum wie etwas, das er nie besessen. Er wußte, daß +es da nur tote Dinge, tote Blätter gab. Die Vergangenheit +ist etwas Gestorbenes, dachte er; wer ihren Leichnam küßt, +macht das Gesicht des Todes doppelt furchtbar; was er berühren +mag, wird dem Leben entfremdet sein.</p> + +<p>Es war ein so milder Abend, daß es den Lehrer wieder fort +von seiner Behausung trieb, und er beschloß, gegen das Altmühlufer +hinunter zu wandern. Als er in die enge Kirchengasse +bog, sah er sich gegenüber auf der Schwelle eines beleuchteten, +schmalen Hausflurs ein kleines Mädchen sitzen, welches +das Gesicht in die Schürze gelegt hatte und weinte. Ein Knabe +von vielleicht zwölf Jahren stelzte ernsthaft über die Gasse und +<a class="page" name="Page_79" id="Page_79" title="79"></a>fragte mit Würde, beide Hände tief in die Hosentaschen gesenkt: +»Warum weinst du denn?« Die Kleine hob das Gesicht, und +Philipp Unruh, der im dunklen Schatten stehen blieb, erkannte +das Mädchen der Frau Süßmilch. »Ich kann meine Aufgabe +nicht lernen, sie ist zu schwer,« schluchzte das Kind. Der Knabe +räusperte sich, spreizte die Beine, legte die Hände auf den Rücken +und begann: »Du bist meine schlechteste Schülerin, Süßmilch. +Aus dir wird im Leben nichts werden. Du hast ja lauter Heu +im Kopfe. Pfui!« Philipp Unruh sah, daß ihn der Bursche +nachäffte, und errötete in seinem Versteck. Das kleine Mädchen +aber trocknete die Augen, stützte den Kopf in das Händchen, +schaute wehmütig zum klaren Sternenhimmel auf und sagte +aus tiefstem Herzensgrund: »Ach ja! Unser Herr Lehrer ist ein +sehr böser Mann.«</p> + +<p>Der Lehrer ging langsam über die Gasse, nahm das Mädchen +auf die Arme und küßte es lächelnd auf die Stirn.</p> + +<!-- <p><a class="page" name="Page_80" id="Page_80" title="80"></a>[Blank Page]</p> --> + + +<hr style="width: 65%;" /> +<p><a class="page" name="Page_81" id="Page_81" title="81"></a></p> +<h2><a name="Treunitz_und_Aurora" id="Treunitz_und_Aurora"></a>Treunitz und Aurora</h2> + +<h4>Bekenntnisse eines Offiziers</h4> + + +<!-- <p><a class="page" name="Page_82" id="Page_82" title="82"></a>[Blank Page]</p> --> +<p><a class="page" name="Page_83" id="Page_83" title="83"></a></p> +<p class="newsubsection">Die Stille des Gefängnisses ist der Selbsteinkehr günstig. +Ich werde also das Papier zu meinem Beichtiger machen +und der Wahrheit gemäß berichten, wie sich die Dinge abgespielt +haben, und wie ich zu der Tat gelangt bin, durch die ich +mein Leben verwirkt habe. Ich bin des Todes schuldig und +ich werde aus dieser Erkenntnis alle Folgerungen ziehen, zu +denen ich als Mann und Soldat so berechtigt als verpflichtet +bin. Immerhin könnte ich beschönigend von einem verhängnisvollen +Irrtum sprechen, durch den mein Glück, meine Freiheit, +meine Zukunft, meine ganze Existenz der Vernichtung preisgegeben +wurde, aber die Schmach würde dadurch um nichts +geringer werden, und wenn ich gleich die furchtbare Leidenschaft, +die mich ergriffen und ruiniert hat, zu verurteilen imstande bin, +so ist es selbst in diesem Augenblick noch unmöglich, sie gänzlich +aus meinem Herzen zu reißen.</p> + +<p>Ich bin mit der Vorliebe für den Soldatenstand geboren. +Doch trieb mich dabei keineswegs Ehrgeiz oder Ruhmsucht; +auch nach Abenteuern stand mir nicht der Sinn, wie das bei +Knaben oder Jünglingen sonst der Fall zu sein pflegt, sondern +ich wollte meine Person in den Dienst des Vaterlandes stellen, +und wonach ich strebte, war eine würdige Verwendung meiner +Kräfte und Fähigkeiten. Ich besaß Mut und war körperlich +gewandt und tüchtig; auch hatte ich, was für den Militär jedes +Ranges von Wichtigkeit ist, Disziplin im Leibe, das Talent und +den Willen zur unbedingten sachlichen Unterordnung. Da ich +von Haus aus vermögend bin, meine Mutter besitzt eine große +Gutsherrschaft bei Arnstein, wurde der Wahl meines Berufs +kein Hindernis in den Weg gelegt, und nach Absolvierung der +Schule trat ich als Freiwilliger bei der Marine ein. Aber ich +fand dort kein Genügen, das Leben war eintöniger, als ich ge<a class="page" name="Page_84" id="Page_84" title="84"></a>dacht, +und nach Verlauf von zwei Jahren trat ich zur Feldartillerie +über, wo ich mich als brauchbarer Offizier eines gewissen +Ansehens erfreute und wegen meiner Begabung für +militärwissenschaftliche Fächer die besondere Gunst der Vorgesetzten +genoß.</p> + +<p>Da entbrannte in Südafrika der Burenkrieg; ich sah die +Gelegenheit, etwas zu leisten, ich hatte keine Lust mehr am +Garnisons- und Manöverdienst; die Verhältnisse, unter denen +ich mich bewähren konnte, erschienen mir zu klein; kurz und gut, +ich erbat den Abschied, zur Verwunderung und zum Bedauern +meiner Kameraden, die mich gerne hatten, mich aber nach +diesem für sie unbegreiflichen Schritt eines Mannes, der die +begründetste Aussicht auf Karriere hat, für einen unbesonnenen +Haudegen hielten.</p> + +<p>Ich habe da unten die Bluttaufe erhalten, die Fremde tat +mir wohl, das wilde äußere Leben band mich fester in mich +selbst. Als ich nach geschlossenem Frieden in die Heimat zurückkehrte, +war ich ein anderer Mensch, und wenn ich noch einen +Rest von unreifer Romantik in mir gehabt, so hätte ihn die +ernsthafte Zeit, die ich verlebt, mit Stumpf und Stiel ausgetrieben. +Ich erfuhr die Genugtuung, sogleich wieder als Offizier +in die Armee eingereiht zu werden, und es war der froheste +Tag meines Lebens, als ich wieder den dunklen Rock der Artilleristen +anziehen durfte. Ich hatte nebenbei die Gewißheit, +zum Generalstab berufen zu werden; dies geschah auch, und um +meine kühnsten Erwartungen zu übertreffen, wurde ich mit +einer Aufgabe betraut, die sonst nur selten einem Offizier +meines Dienstalters gestellt wurde; man entsandte mich als +Berichterstatter der mazedonischen Vorgänge nach Saloniki.</p> + +<p>Ich war noch nicht zwei Monate auf meinem Posten, da +<a class="page" name="Page_85" id="Page_85" title="85"></a>brach in unsern afrikanischen Kolonien der Aufstand der +Schwarzen aus. Jetzt lag der Fall anders denn damals, wo +ich das Heer hatte verlassen müssen, um ins Feld zu kommen; +jetzt konnte ich mich meinem kaiserlichen Herrn und Kriegsherrn +selber zur Verfügung stellen. Da man tüchtige Offiziere suchte, +wurde mein Anerbieten ohne Verzug berücksichtigt, ich wurde +zum Hauptmann bei der Schutztruppe ernannt, und vier Wochen +später war ich schon auf See.</p> + +<p>Ist ja richtig; es war eine elende Katzbalgerei mit den schwarzen +Rackern, und viel gutes deutsches Blut ist geflossen, aber +wars gleich sauer, so wars doch nahrhaft, wie unsere Exzellenz +zu sagen liebte. Es war ein schönes freies Leben, wie ich alles +noch sehe und spüre! Die sengende Mittagshitze und die Morgenkühle, +die zerstörten Pontonks und die infamen Wege, der Feind +in Busch und Dickicht und die unaufhörlichen Schüsse aus den +Baumkronen! Wie das surrte und schwirrte und sang und +heulte, so dicht, daß es einen erstaunte, wenn man seine Gelenke +noch zusammenhängen fühlte. Hungrig legte man sich +schlafen, den Revolver im Arm, an Feueranzünden nicht zu +denken, und weh dem, der vom Durst getrieben zu den Wasserlöchern +schlich, er ward in der Frühe mit Kirris erschlagen gefunden. +Da war man doch ein Kerl, da konnte man sich bewähren, +da spürte man seine Pulse.</p> + +<p>Leider bin ich bei den Gefechten am Waterberg verwundet +worden. Ich konnte nicht mehr Dienst tun und mußte alsbald +die Heimreise antreten. Dritthalb Monate blieb ich in Berlin; +man machte viel Aufhebens mit mir, und viele Leute feierten +mich wie einen Blücher, was mir oft die Schamröte ins Gesicht +trieb, denn ich war mir nicht bewußt, etwas Sonderliches verrichtet +zu haben. Aber dergleichen gibt sich, und wenn man +<a class="page" name="Page_86" id="Page_86" title="86"></a>Verdienste hat, empfiehlt es sich, sie den Leuten nicht durch +die eigene Gegenwart lästig zu machen. Eine Zeitlang war +von meiner Aufnahme als Lehrer in die Kriegsakademie die +Rede, doch, vor die Wahl gestellt, zog ich schließlich den subordinierten +Posten eines Batteriechefs in der Provinz vor, allerdings +mit der baldigen Anwartschaft auf den Majorsrang. +Meine Mutter kränkelte, ich wünschte in ihrer Nähe zu leben, +und des unruhvollen, weltstädtischen Treibens, an dem ich +nie Freude gehabt, war ich ohnedies müde.</p> + +<p>Dazu kam noch, daß mir die Fremde ganz wie mit einem +Male den Blick verwandelt hatte. Entweder war ich nicht +mehr derselbe, oder die Heimat war nicht mehr dieselbe. Aufrichtig +gesagt: die Luft im Reich gefiel mir nicht. Sie war mir +zu wetterwendisch; winterlich scharf von oben und giftig süß +von unten, fast wie eine afrikanische Nacht. Nichts wurde mit +Wohlwollen reguliert, alles mit Manometer, und wer hinten +nicht gestoßen wurde, der ging nach vorne nicht weiter. Unsre +jungen Herren fand ich so ohne jede Herzlichkeit, daß sich einem +der Gaumen zusammenzog, wenn man mit ihnen redete. +Immer bloß aufs Elegante versessen, geschniegelt wie die Reitpferde +und trocken wie Stiefelsohlen. Die Aristokraten hochnäsig +und zimperlich, die Bürgerlichen streberhaft und vom +frischen Reichtum verdorben und verweichlicht, das Volk rebellisch +und respektlos. Keiner, der aus Eigenem was vorstellte, +erst durch sein Geld oder sein Amt oder seine Orden oder seine +Hemdbrust. Großes Maul, ja, aber kein freies Wort, keine +offene Meinung. Hölzernes Getue galt für Form, kaltschnäuziges +Nörgeln für Geist und öde Prahlhanserei für Selbstbewußtsein.</p> + +<p>Wenn man mir die Berechtigung abstreitet, eine solche +<a class="page" name="Page_87" id="Page_87" title="87"></a>Sprache zu führen, so habe ich allerdings keine andere Antwort, +als den Hinweis auf eine bis dahin ehrenhafte Existenz. Es +war mir eben die Laune verdorben, und eher trübgestimmt +als hoffnungsvoll kam ich nach der kleinen Garnison. Auch +hier fühlte ich mich nicht wohl; ich begann mich zu langweilen; +ich merkte alsbald, was das heißt, in einer Provinzstadt zu +leben, die trotz ihrer vierzigtausend Einwohner etwas ist wie +ein Sparta des Altertums, mit ebenso streng geschiedenen +Kasten, nur daß die kriegerische Härte der Vorschriften durch +minder folgenschwere, aber keineswegs leicht zu übertretende +Bestimmungen gesellschaftlichen Charakters ersetzt werden. Da +sind die Spitzen der Behörden, die militärischen Würdenträger, +die Industriellen, die Gutsbesitzer, die jungen Leute, die eine +Rolle spielen, die andern, die bloß eine spielen möchten; da ist +die Generalin oder Oberstin, die das Wetter macht, und die +kleine Apothekersgattin, die gerade noch geduldet ist; da ist die +reiche Fabrikantenfrau, die ihre Toiletten aus Berlin bezieht, +und die Frau Amtsrichter, die aus ihrem Wirtschaftsgeld +mittelst rührender Entbehrungen den Preis für ein einziges +schwarzes Seidenkleid erübrigt, das sie unter Beihilfe der +Köchin und eines Mädchens vom Lande selber näht und das +ihr die abendlichen Feste verbietet, wenn der Stoff an den +Ärmeln den fatalen Mattglanz zu zeigen beginnt. Zu Kaisers +Geburtstag gibt der Regierungspräsident einen Ball; zur Errichtung +eines Kriegerdenkmals wird eine künstlerische Soiree +veranstaltet, bei welcher allerlei junge Mädchen wegen ihrer +Fortschritte in Gesang und Klavierspiel beklatscht werden; man +geht ins Theater, man wird zur Enten- und Hasenjagd geladen, +und die verheirateten Frauen holen sich aufregende Romane +aus der Leihbibliothek. Einmal im Monat ist Parademarsch, +<a class="page" name="Page_88" id="Page_88" title="88"></a>am Sonntag nach der Kirche spielt die Regimentskapelle auf +dem Residenzplatz, abends sitzt man dann im Kasino oder im +Speisesaal des Hotels de l’Europe, und nach elf Uhr nachts +lungern nur noch irgendwo hinter abgesperrten Türen ein paar +ausgestoßene Existenzen an einem Kartentisch, und zwei Studenten +brüllen vor dem Fenster einer begehrten Kellnerin das +Krambambuli.</p> + +<p>Alle diese kennen einander und wissen vieles von einander +und verbergen sich voreinander und schätzen einander und sind +einander im Wege und passen einander auf. Das enge Zusammenleben +begünstigt Klatsch und Übelrednerei; jeder kehrt +den Schmutz vor des Andern Tür; Dummheit, Bosheit, Neid +und Mißgunst lassen selbst den Redlichen nicht ungeschoren, +alles, was Aufsehen macht, findet Teilnahme, alles, was in +der Mode ist, Nachahmung; für ernsthafte Interessen ist wenig +Sinn. Dies erfuhr ich bald. So sehr es anfangs meinem Selbstgefühl +schmeichelte, daß ich nun auch zu Hause ein jemand war, +der Beachtung verdiente und Ansehen genoß, denn es war ja +meine engste Heimat dahier, so wenig wurde ich meines Wirkens +froh. Ich kam mir vor wie ein verfaulender Baum.</p> + +<p>Ich erinnere mich nicht mehr genau, an welchem Tag es +war, als ich die Majorin Westermark kennen lernte. Ich schließe +daraus, daß sie mir damals wenig Eindruck gemacht hat. Ich +sah sie zum erstenmal bei der Frau von Rütten, die eine +Freundin meiner Mutter ist, und die, wie mir meine Mutter +vorsichtig verriet, die löbliche Absicht hatte, mich mit ihrer +siebzehnjährigen Tochter zu verheiraten. Ich machte mir aber +nichts aus dem Mädchen, und das ist lediglich mein Fehler, da +sie ein hübsches und vernünftiges, obschon etwas nüchternes +Geschöpf ist. Nach allem, was ich bereits über die Majorin ge<a class="page" name="Page_89" id="Page_89" title="89"></a>hört, +hatte ich mir eine junonische Gestalt gedacht und war +deshalb überrascht, sie so klein, zart und kindhaft zu finden. +Ihr Wesen gab in Gesellschaft nichts her, nichts von Welt und +nichts von Innerem, ihr Lächeln war kühl, in der Bewegung +der Lippen zeigte sich eine gewisse Naschhaftigkeit; am meisten +gefielen mir die Augen, die blau, durchsichtig, ausgedehnt und +voll Perlmutter waren, mit Brauen, schwarz und fein wie zwei +Sepiastriche.</p> + +<p>Eine solche Stadt wie die, in der ich mich befand, hat alle +Späherblicke immer auf den Punkt geheftet, wo eine ungewöhnliche +Erscheinung hervortritt und sich auf ihre besondere +Art gebärdet. Ich habe schon angedeutet, daß das vielfache +Gerede über die Majorin auch zu mir geflossen war. »Was +sagen Sie zu der Frau? Ach, Sie wissen nicht? Sie wissen +nicht, was die Spatzen von den Dächern pfeifen?« Nein, ich +wußte es nicht, ich bezeigte auch kein Interesse dafür. »Sie +verstellen sich doch wohl. Oder glauben Sie, daß das eine +glückliche Ehe ist? Der Mann ist zwanzig Jahre älter, Sie begreifen. +Die Frau hatte früher einen reichen, schlesischen Branntweinbrenner, +von dem sie geschieden ist. Sie ist schön wie das +Laster, und so elegant, daß unsre Damen vor Neid nicht schlafen +können; echte Pariser Hüte, echte Brüsseler Spitzen, echte Pelze, +Diamanten wie ein persischer Prinz, und Parfüms, Parfüms +sage ich Ihnen, überwältigend wie eine Ananasbowle nach +einem Jagdritt.« – »Nun ja, der Major ist sicherlich reich.« +– »Nein, die Frau hat Geld, die Frau. Der Major ist ein +Sonderling. Ich möchte ihm gern meine Augen leihen.«</p> + +<p>O Bosheit aus dem Winkel, die du Augen verleihen willst, +dachte ich mir. Aber die üblen Gerüchte waren hartnäckiger +als meine Gleichgültigkeit. Ich traf eines Tages einen Freund +<a class="page" name="Page_90" id="Page_90" title="90"></a>in der Stadt, einen jungen Ingenieur, der irgendwo in der +Nähe den Bau einer Eisenbahnbrücke leitete. Wir waren als +Gymnasiasten ein paar Jahre lang unzertrennlich gewesen, und +es bereitete mir lebhaftes Vergnügen, ihn wiederzusehen. Wir +kamen oft zusammen, bald in einer Weinstube, bald in seiner +oder meiner Wohnung; und wie es schon so geht, einmal gerieten +wir beim Gespräch auch auf Aurora Westermark und +die über sie umlaufenden Gerüchte. Mein Freund kannte sie +nur flüchtig, aber er war einer jener Menschen von instinktivem +Scharfblick, die in andern Seelen lesen zu können scheinen, +und deren Urteil sich daher von selber Vertrauen erzwingt.</p> + +<p>Deutlich steht mir noch jene Stunde vor Augen und genau +ist mir noch jedes seiner Worte gegenwärtig, die ich nur mit +innerem Unwillen anzuhören vermochte. »Diese Frau hat die +Gabe, unschuldig zu scheinen und Leidenschaften einzuflößen«, +sagte er ungefähr. »Wie sie den schwer zugänglichen Major +umgarnt hat, das ist gewiß ein Kunststück gewesen. Ich weiß +nicht, ob dir die Umstände bekannt sind; es war während der +großen Manöver vor zwei Jahren; umschwärmt von den Offizieren +eines ganzen Stabes, hatte sie sich’s offenbar in den Kopf +gesetzt, den sprödesten und verstocktesten zu gewinnen, denjenigen, +für den eine Weltdame etwas war wie ein seltenes +Schmuckstück, das er sich verschafft ohne Freude und Verständnis, +nur weil er gerade bei Geld und guter Laune ist und weil +es von andern gerühmt und begehrt wird. Sie hatte den schlechtesten +Ruf. Man sagt, daß sie Liebe verkauft hatte, unumwunden +und unter Vorwänden, um einer Perlenkette willen, um eines +Ränkespiels willen, um nichts ungenossen vorübergehen zu +lassen von den Lockungen der Jugend, aus Gefallsucht, aus +Sinnlichkeit, aus Langerweile, aus Schwäche, aus Lust an der +<a class="page" name="Page_91" id="Page_91" title="91"></a>Selbsterniedrigung, aus Vergnügen an einer doppelten Existenz +in zwei Sphären der bürgerlichen Welt, von denen die eine +nicht weiß, was in der andern geschieht, so daß die Geschicklichkeit, +der einen die Kunde aus der andern vorzuenthalten, +etwas von der Spannung eines Revolverdramas mit sich +bringt und die sonst leeren Tage mit dem Tumult verschwiegener +Betätigung erfüllt. Ich bin gewiß,« fuhr mein Freund fort, +gegen den ich in diesem Augenblick eine nicht zu überwindende +Empfindung des Hasses, ja des Abscheus hegte, »ich bin gewiß, +daß sie’s gegenwärtig nicht viel besser treibt. Ich glaube nicht, +daß sie je von Liebe erfahren hat, sondern nur von Aufregungen, +Sorgen, abwägenden Interessen, Kränkungen des Stolzes, Gefahren +der Enthüllung und die Überzeugung von der Nichtswürdigkeit +der Männer, so wie eben solchen Frauen die Männer +sich zeigen müssen.«</p> + +<p>»Aber was wäre denn das für ein Leben!« rief ich kopfschüttelnd. +»Welche Einsamkeit setzt das voraus, welche Kraft, +alle diese Dinge in der Stille mit sich selber abzumachen!«</p> + +<p>Mein Freund zuckte die Achsel. »Es ist das Leben eines +Menschen, der auf glühenden Kohlen tanzt und sich stellen muß, +als ging’s über einen harmlosen Teppich«, antwortete er. »Wir +haben eine Menge solcher Equilibristen in der Gesellschaft, und +das vertrackte und verlogene Dasein, das wir führen, fordert +die unruhigen Köpfe geradewegs dazu heraus.«</p> + +<p>»Gibt es denn irgendwelche faktischen Delikte?« fragte ich.</p> + +<p>»Es heißt, daß sie mit jedem hübschen Offizier abenteuert; +daß sie sich jedem Laffen hingibt, der sich der Mühe der Werbung +unterzieht und den Preis nicht zu hoch findet, den Preis +des Verrats nämlich. Auch sagt man, daß sie seit Jahren eine +dauernde Beziehung zu einem Berliner Fabrikanten unter<a class="page" name="Page_92" id="Page_92" title="92"></a>hält, +der außerdem günstige Börsengeschäfte für sie vermitteln +soll, den sie irgendwie draußen oder in der Stadt trifft und der +eine unerklärliche Gewalt über sie ausübt, vielleicht die Gewalt +bedenkenloser Brutalität. Daß der Major darüber in vollständiger +Ahnungslosigkeit verbleibt, gehört zu unsern sonderbaren, +aber nicht ungewöhnlichen sozialen Geheimnissen. Alle wissen, +er nicht; alle raunen, er ist taub. Man schont ihn wahrscheinlich, +man schont seine Stellung, seine Häuslichkeit, und sie hinwiederum +profitiert von der Achtung, deren ihr Gatte genießt. Auch +macht ihr Auftreten, ihre Schönheit, ihre vollendete Haltung +die Argwöhnischen vorsichtig, und den Mut der Übelredner +zunichte. Sie hat ja eine Art zu gehen, zu stehen, zu reiten, +zu lachen, zu tanzen, die blendend ist, das muß man zugeben. +Was tut’s, wenn bisweilen an den Grenzen des Bezirks ein +Flämmchen aufzischt und einen Schritt der heimlichen Pfade +beleuchtet? Oft sehen Augen, denen keine Zunge dient, die +zu reden weiß, und ein anderes Mal schwatzen Mäuler, wo +Augen nichts gesehen haben.«</p> + +<p>Ich bekenne, daß mich dieses Gespräch bis in die Nieren +erkältete. Dies »es heißt« und »man sagt« erfüllte mich mit +Mißtrauen gegen den Freund, mit einer Art Furcht vor ihm; +ich ging ihm von da an für lange Zeit aus dem Wege. Seine +Ehrlichkeit erschien mir durchaus böswilliger Natur; ich bildete +mir ein, daß ich einer ritterlichen Pflicht gehorchte, indem +ich mich in meinem Innern auf die Seite einer wehrlosen +Geschmähten schlug. Kleinstädtischer Klatsch, sagte ich mir, läßt +den reinlich Denkenden eher zum Anwalt des Besudelten werden, +als daß er die Partei von Feinden nimmt, die sich verbergen. +Es war ein Selbstbetrug, dem ich mich hingab. Die Frau hatte +ganz einfach mein Gefallen erweckt, und das wollte ich mir +<a class="page" name="Page_93" id="Page_93" title="93"></a>verhehlen. Ich traute ihr Schlimmes nicht zu, ich sah ein Kind +in ihr, verführerisch, am Ende mißleitet, aber nicht verworfen. +Ich sträubte mich nicht gegen die Freundlichkeit, die der Major +alsbald in auffälliger Weise gegen mich an den Tag legte. +Ich besuchte oft sein Haus, und es schien sich ganz von selbst +zu geben, daß ich manche Stunden mit Aurora allein verbrachte.</p> + +<p>Sie gestand mir, daß sie von Anfang an aufs innigste gewünscht +habe, meine Bekanntschaft zu machen, denn sie habe +beim ersten Blick gefühlt, daß ich ihr mit Wohlwollen gegenüber +getreten sei. Dies mußte ich bestätigen, ihre schmeichelhaften +Worte über meine Vergangenheit, meine Taten, meinen +Ruhm usw. lehnte ich höflich ab. Die nichtigen Dinge, von +denen sie mit mir plauderte, gewannen einen Reiz von Scherzhaftigkeit, +dann wieder von anmutiger Melancholie. Vertrauen +schien sie als selbstverständlich zu betrachten und war nicht +einmal bedachtsam in ihrem Tadel über die Lebensführung +anderer. Sie sprach mit einer unvergleichlich musikalischen +Stimme, weich im Ton, klagend in der Färbung, hie und da +mit einer Bemerkung voll Witz und Geist. Ihr Zuhören war +sympathisch durch den Blick eines wißbegierigen Schülers. +Sonst war sie nicht selten gequält, beunruhigt, verschüchtert, +also gar nicht mehr Dame. Sie eroberte unbedingt, ich hätte +ihr alles geglaubt, und ich glaubte auch alles, selbst das Unwahrscheinlichste, +wennschon mir ihr Wesen manchmal wie Dünensand +vorkam; erst denkt man etwas Festes zu halten, und wenn +man zupackt, verrinnt und verrieselt alles zwischen den Fingern.</p> + +<p>Im Verkehr mit ihrem Mann sah ich sie von gemessener +Liebenswürdigkeit, Nachsicht mehr gewährend als beanspruchend, +gegen launenhafte Bärbeißigkeit sich mit ironischer Duldermine +wappnend, wobei ein forschender und spöttisch-kühner Blick den +<a class="page" name="Page_94" id="Page_94" title="94"></a>Beobachter zum Mitverschworenen machte. Der Major erweckte +den Eindruck eines gutmütigen Mannes; er war untersetzt und +korpulent und trotz seiner Jahre nur mäßig ergraut; doch pflegte +er den Schnurrbart mit einer Pomade zu behandeln, die diesem +das Ansehen eines frisch lackierten Gegenstandes gab. Sein Blick +war flackernd wie der eines viel und fruchtlos arbeitenden Menschen; +in der Tat verhinderte er nur durch einen fast überstürzten +Eifer im Dienst seine langgefürchtete Kaltstellung. Er gehörte zu +jenen Offizieren vom alten Schlag, die durch Rauheit und martialisches +Auftreten an verjährte Verdienste erinnern und den +Mangel an gegenwärtigen verdecken wollen. Er liebte die +Jagd, schöne Pferde und Hunde; doch mit diesen Leidenschaften +verbarg er nur den Groll gegen ein Regime, das ihn zur schimpflichen +Rolle eines Mitläufers und stummen Bittstellers verurteilte, +und er erfüllte seine Obliegenheiten wie mit zusammengebissenen +Zähnen, war immer in Hast und Angst, und, wie +alle unsicheren Beamten, von übertriebener Strenge gegen +Untergebene und übertriebener Devotion gegen Vorgesetzte.</p> + +<p>Ich glaube, mit solchem Urteil kein Unrecht an dem Major +zu begehen; alle diese Umstände waren ja mehr oder weniger +öffentliches Geheimnis. Ich habe beschlossen wahr zu sein, und +so muß auch dieses gesagt werden. Es trifft nicht zu, daß ich +dem Major ohne Achtung begegnet bin; ich hatte anfangs sogar +Gefallen an ihm, wie er an mir, erst im Verlauf der Begebenheiten +wandelte sich meine Gesinnung auf so verderbliche Art.</p> + +<p>Ich begleitete Aurora ins Theater, auf die Promenade, ich +kam zu ihren Teestunden, und so vergingen Wochen, ohne daß +ich ein Arg gegen mich selber faßte. Wenn ich Gäste bei ihr traf, +zeigte sie mir unmißverstehlich, daß ihr Gäste zur Last waren +und daß ich allein es nicht war. Ein solcher Beweis von Freund<a class="page" name="Page_95" id="Page_95" title="95"></a>schaft +heischte Dank, und ich blieb, nachdem alle sich verabschiedet +hatten, auch der Major, der die späten Nachmittagsstunden im +Kasino verbrachte und mit einem Oberleutnant vom Train +Schach spielte. Oftmals mußte ich ihr von meinen Kriegserlebnissen +erzählen, wobei sie atemlos lauschte. Wie sagt doch +Othello? »Ich sprach von harten Unglücksfällen, manch rührendem +Geschick zu See und Land, wie ich nur auf ein Haar +dem Tod entronnen, von grausen Schlünden, öden Wüsteneien, +von Klüften, Felsen, himmelhohen Bergen, von Kannibalen, +die einander fressen. Und dies zu hören, war Desdemona innerlich +gespannt.« Und als er geendet, lohnte ihn das Fräulein +mit einer »Welt von Seufzern« und wünschte, sie hätte es nicht +vernommen, und wünschte doch, Gott hätte aus ihr einen solchen +Mann gemacht.</p> + +<p>War auch Aurora nicht dermaßen bezaubert, so stellte sie +sich doch ähnlich und ihre Teilnahme war jedenfalls echt. Auch +schrieb sie mir Verdienste zu, die ihr trotz aller Selbstverständlichkeit +groß und neu dünkten, und vor allem erschien ich ihr +verläßlich. Verläßlichkeit war ihr Ideal, wie wenn ihr das Geschick +einen Trumpf im Spiel hätte vorgeben können durch die +bewunderte Tugend eines andern.</p> + +<p>Heute seh’ ich dies klar, damals bestrickte mich ihr bedenkenloses +Anschmiegen. Da ich merkte, daß sie wenig oder nichts +las, brachte ich Bücher, unter andern schenkte ich ihr die Frithjofssage, +ein Gedicht, für welches ich begeistert war. Sie +gestand mir aber offen, daß Verse sie langweilten und daß sie +zum Lesen überhaupt keine Geduld hätte; so ließ ich es denn +sein. Sie wurde jetzt bisweilen karg in der Unterhaltung und +von unverständlicher Vorsicht. Darin lag etwas Verwirrendes, +denn ich fühlte mich einer Person gegenüber, die ihrer Rede +<a class="page" name="Page_96" id="Page_96" title="96"></a>wenig Gewicht beimißt, weil sie Bedeutsames verschweigen +muß. Sie hatte immer den auffangenden Blick im Auge, der +meine Ungeduld erregte. Ich fragte, hörte, antwortete und +war mit der gleichen Aufmerksamkeit beschäftigt, dem Zwitschern +eines Vogels oder dem Surren des Windes zu lauschen. Was +kann der Major mit einem solchen Weib beginnen? dachte ich +oft verwundert; er ist ein Soldat, aber kein Orchideenzüchter. +Himmel, wenn ich dies Gesicht beständig um mich wüßte, ich +wäre versucht, damit zu verfahren, wie die Kinder, die ihre +geliebtesten Puppen aufschneiden, um herauszubringen, was +drinnen ist.</p> + +<p>So fing es an, mit Abwehr und Wißbegier fing es an. +Und wenn es ihr Entschluß war, mein ruhiges Herz in Flammen +zu setzen, was bedurfte es da noch viel? Eines Abends fragte +sie mich unumwunden nach meinen bisherigen Herzenserlebnissen +und darauf mit Offenheit zu entgegnen, war leicht und +schwer in einem. Ich hatte nicht viel zu berichten. Schon als +Primaner hatte ich Verachtung für die Liebeleien gewisser +Kommilitonen empfunden, und fernerhin war mir jede leidenschaftliche +Entäußerung ein Greuel gewesen. Ich war freilich +kein Kostverächter, kein Joseph; ich nahm stets, was man mir +bot, aber zu langgesponnenen Verhältnissen fehlte mir die Zeit, +und an die sogenannten großen Passionen glaubte ich nicht. +Amüsement, ja; doch durfte es nicht zum Katzenjammer führen; +alles übrige schien mir Bummelei und Jugendeselei. Ich weiß, +es war erbärmlich, daß ein Kerl wie ich eigentlich nur von käuflicher +Liebe wußte, nur von Vergnügen und nichts von Hingabe, +nur von Dirnen und nichts von Frauen. Aber das passiert +heute tausendmal, es ist viel häufiger, als man denkt, und gerade +diejenigen, die ihre Stirn am aufdringlichsten mit dem Helden<a class="page" name="Page_97" id="Page_97" title="97"></a>lorbeer +schmücken, sind, wenn man die Sachen bei Licht betrachtet, +ebensolche Jämmerlinge. Dagegen lebt wahrscheinlich +in dem Kopf jedes Frauenzimmers eine Vorstellung von Durchschnittspoesie +und Schmökerromantik, die ihr unentbehrlich ist +wie ein Luxuskleid, auch wenn sie selbst dergleichen nie erlebt +hat und so wenig davon hält wie ein Moslem von der Hostie.</p> + +<p>Ich wußte nicht, wie mir geschah, als ich nun plötzlich fand, +daß ich eine Armut verraten hatte, über die mir bis jetzt kein +Skrupel aufgestiegen war. Schon atmeten wir in einer verderblichen +Luft. Wir verständigten uns durch Blicke und Mienen, +und die Selbstbeherrschung, die wir zu üben wähnten, war +nur eine Gaukelei. Ich sagte mir im Anfang bisweilen: die +Frau ist kalt, oder noch schlimmer, kühl; die Frau rechnet, die +Frau lauert. Aber da war ihre Sanftmut, ihre zarte Stimme, +ihr ergebenes, verstörtes, beschwichtigendes Lächeln; da hatte +sie eine sonderbare, oft wiederkehrende Bewegung der Hände, +die darin bestand, daß sie die Finger ineinanderflocht, um sie +dann wie verzweifelt in den Schoß einzusenken. Das riß mich +aus allem Gleichmut.</p> + +<p>Ihr Wesen blieb mir rätselhaft, bis sie mir eines Tages +erzählte, wie ihre erste Ehe das Werk habsüchtiger Eltern und +Verwandter gewesen sei; der Mann ein Trinker, ein Wucherer, +ein Lüstling. Sie versicherte mir, daß sie im Zusammenleben +mit ihm unberührt geblieben sei, und daß hauptsächlich deswegen +nach drei qualvollen Jahren die Scheidung ausgesprochen werden +konnte. Sie sprach dann von ihren Reisen, von zermarternder +Unruhe, vom Wunsch nach Frieden, von ihrem Ekel +an Welt und Männern, und da lernte sie Westermark kennen; +sie dachte an ihm einen Beschützer zu finden, sie fühlte eine herzliche +Kameradschaft für ihn, sie habe sich betören lassen und ihn +<a class="page" name="Page_98" id="Page_98" title="98"></a>geheiratet. Als sie nun lange schwieg, blickte ich sie fragend an.</p> + +<p>Ja, darüber sei Schweigen geboten, sagte sie, darüber, was +jetzt kam, müsse geschwiegen werden.</p> + +<p>Geheimnis also? nicht anrührbares Geheimnis? Auroras +Gesicht glich einer Uhr, die plötzlich stehen bleibt. Geheimnisse +binden, auch wenn sie nicht enthüllt werden. Aber mein Inneres +war schon zu sehr ergriffen, als daß ich aus Delikatesse hätte +auf Teilnahme verzichten mögen. Ich bat in der dringlichsten +Weise um Aufklärung. »Wozu? was soll es nützen?« antwortete +mir Aurora. »Warum sollte ich Sie in eine Ungeheuerlichkeit +einweihen, die mich allein schon übermäßig bedrückt und +lebensuntüchtig macht? Sie würden mir nicht glauben, Sie +dürfen mir nicht glauben, denn wer bin ich? Ein verlorenes, +verachtetes Geschöpf, der Gegenstand unsauberer Gespräche +am Biertisch, die wehrlose Beute aller Nachrichtenjäger der +ganzen Stadt, mit meinem Namen in jede Spelunke geschleppt, +beneidet, bewacht, einsam, unerhört einsam und unerhört verraten. +Wollt’ ich bekennen, was ich in diesem Haus für ein +Leben zubringe, so würde ich ja vielleicht auch Sie verlieren, +der mir gutgesinnt ist. Nein, nein, erlassen Sie mir das, gönnen +Sie mir die harmlosen Stunden mit Ihnen.«</p> + +<p>Man sagt gemeinhin, und die Erfahrung macht mich geneigt, +dem beizupflichten, daß Männer über dreißig, wenn sie +zum erstenmal in ihrem Leben der Gewalt einer Leidenschaft +erliegen, sich in nichts von der Unbesonnenheit und Kopflosigkeit +der Jünglinge unterscheiden, daß sie im Gegenteil noch +großmütiger ihr Gefühl, noch bereitwilliger ihren Stolz, noch +unbedingter ihr Vertrauen verschwenden. Ich habe versucht, +das Unheil zu bekämpfen, als es da war, ich habe mich noch +mit aller Kraft gewehrt, als es mich umschlang. Vielleicht +<a class="page" name="Page_99" id="Page_99" title="99"></a>hätte ich es bezwingen können; vielleicht gab es einen Tag, +eine Stunde, wo ich noch Meister des Verhängnisses werden +konnte, wo ich mit dem Gedanken an ein Abschiedswort, dem +Vorsatz einer Reise zu der Frau ging. Aber da mochte es scheinen, +als rede die Frau mit einem andern Ton denn gestern; +als sei die Hand, die sie mir bot, verwandelt worden. Wenn +Früchte reif sind, fühlen sie sich gleichsam wärmer an, und so +hatte sich etwa ihre Hand angefühlt, wie eine reife Frucht.</p> + +<p>Einverständnis genug; Erwiderung genug; es braucht nicht +mehr als den Abglanz der eigenen Sehnsucht in dem geliebten +Antlitz und Auge, nicht mehr als ein gestammeltes Wort, als +einen flehentlichen Blick, und Pflicht, Gewissen, Zukunftsfurcht +entschwinden für immer in der Süßigkeit und Betäubung +eines jähen Sicherkennens. Jetzt sind die Tore zugeschlossen, +und es gibt keine Reise mehr. Ich entsinne mich eines Tages, +wo ich mit Begierde die Gesellschaft eines Mannes suchte, eines +Freundes, den außerhalb meines beruflichen Kreises zu finden +mir höchst erwünscht war. Da traf ich den Ingenieur, von dem +ich schon gesprochen, durch Zufall auf der Gasse. Er blieb unschlüssig +stehen, ich reichte ihm die Hand. Ich verzieh ihm alles, +was er über Aurora Westermark geäußert hatte, noch mehr, +ich empfand das Bedürfnis, ihn mit der wunderbaren Frau +näher bekannt zu machen, und ich war überzeugt, daß er sie +mit andern Augen ansehen würde. Das Vorhaben war leicht, +als Freund Auroras durfte ich es wagen, ihn einfach zu einem +ihrer Empfangsnachmittage mitzunehmen. Ich fing alsbald +davon an, er war ziemlich betroffen, erwiderte jedoch, wenn +ich Wert darauf lege, wolle er mir gern willfahren, obwohl +seine Zeit ihm die Pflege gesellschaftlicher Beziehungen sonst +nicht gestatte. Wenn ich mir heute dies Gespräch überlege, +<a class="page" name="Page_100" id="Page_100" title="100"></a>so muß ich glauben, daß in meinem Benehmen etwas Krankhaftes, +ja sogar Krankes enthalten sein mußte, denn der junge +Mann blickte mich bisweilen fast mitleidig von der Seite an +und meinte schließlich, es tue ihm aufrichtig leid, wenn er mich +damals durch seine unüberlegte Offenheit verletzt habe. Am +nächsten Tag gingen wir zusammen zur Majorin; Aurora +nahm ihn mit Herzlichkeit auf, und sie schmeichelte ihm durch +eine gewissermaßen sachliche Hochachtung, die bei Frauen selten +ist, und die hier am Platze war. Er kam nun bisweilen an +Montagen und Donnerstagen, blieb aber zumeist auffallend +schweigsam, trotzdem ihm Auroras Sympathie durchaus nicht +verborgen blieb. Einmal gingen wir zusammen weg, und ich +sagte ganz unvermittelt zu ihm: »Hast du nun dein Urteil +revidiert? Gibst du nicht zu, daß das ein Geschöpf ist, wie es +so vollendet nur aus der Meisterhand Gottes hervorgehen +kann?« Und als er nur mechanisch nickte, fügte ich hinzu: »Ich +hoffe, daß du mich nicht mißdeutest, und daß du meine Worte +so auslegst, daß wir uns auch weiterhin gerade in die Augen +sehen können.«</p> + +<p>»Mehr brauche ich nicht zu wissen«, entgegnete er ernst und +anscheinend überrascht. Er besuchte von da an das Westermarksche +Haus nicht mehr.</p> + +<p>Warum ich die Art meines Verhältnisses zu Aurora vor dem +Verdacht eines Freundes schützen zu müssen glaubte, weiß ich +kaum. Ich hatte keinen Zweifel an ihrer Ehre und Reinheit. +Aber das namen- und gesichtslose Hörensagen, unter dem ihr +Ruf litt, war eine Qual sondergleichen für mich. Ich hätte +mich gerne gestellt, aber wie durfte ich dies, wer hätte mir das +Recht dazu eingeräumt? Ein Blick, ein zweideutiges Lächeln, +ein Achselzucken, ein irrlichterndes Wort dann und wann, es +<a class="page" name="Page_101" id="Page_101" title="101"></a>überlief mich kalt, wenn ich dessen nur nachträglich gedachte; +ich fand mich beleidigt und geschmäht, bald genug bekam +ich zu spüren, daß das verleumderische Geschwätz auch schon +meinen eigenen Namen bespritzte; aus dem Bewußtsein meiner +Schuldlosigkeit, und, da Aurora sich mir gegenüber noch mit +keinem Hauch etwas vergeben hatte, zog ich den Schluß, daß +all die andern Anwürfe und Gerüchte ebenso trugvoll, lügnerisch +und boshaft seien wie dieses. Traurigkeit und Ingrimm nahmen +von mir Besitz, ich sonderte mich ab von den Kameraden wo +es nur irgend anging, und hatte ich vorher schon für unliebenswürdig +gegolten, so erklärte man mich jetzt für abstoßend hoffärtig, +oder mildesten Falls für einen finstern Einsiedler. Ja, +ich haßte sie, diese still beieinander hockenden Aufpasser, Schlimmredner +und Giftkocher, diese gutangezogenen Megären und unbezahlten +Spione, die ihrem Dünkel und ihrem Müßiggang +kein unterhaltsameres Spiel wußten, als die nie wieder gutzumachende +Besudelung eines schönen Herzens und edlen +Charakters, denn so erschien mir Aurora.</p> + +<p>Indessen wucherte das Grübeln über die furchtbaren Andeutungen, +die sie mir in bezug auf ihr eheliches Leben getan, +heimlich in mir fort. Ich wagte sie nicht mehr daran zu erinnern, +ich wollte nicht mehr fragen, ich glaubte zartfühlend zu +sein, doch meine Seelenruhe kam dabei schlecht weg. Tausend +Vermutungen erwog ich, bis in die Träume hinein verfolgte +mich das haltlose Denken, und so geschah es denn doch, daß +ich einstmals, wir saßen im oberen Gesellschaftszimmer vor der +Terrasse einander gegenüber, daß ich die Frage stellte, mitten +in eine ruhende Minute hinein, in der mir zu Sinn war, als +hörte ich das Ziehen der Wolken am herbstlichen Himmel. +Aurora erschauerte; sie sah mich eine Weile zornig an, plötzlich +<a class="page" name="Page_102" id="Page_102" title="102"></a>stand sie auf, kehrte sich mit dem Gesicht gegen das Fenster, +und ich gewahrte am Zucken ihrer Schultern, daß sie weinte. +Während ich ratlos dasaß und meine Taktlosigkeit verwünschte, +hörte ich die säbelrasselnden, plumpen Schritte des Majors auf +der Flurtreppe. Aurora wandte sich um, mit erschrockenen +Augen starrte sie gegen die Türe und flüsterte: »Ich kann ihn +jetzt nicht sehen.« Damit verließ sie das Zimmer. Der Major +trat ein und zeigte ein verwundertes Gesicht, als er mich allein +sah. Er begrüßte mich mit zusammengekniffenen Augen und +begann mit mir ruhig über dienstliche Angelegenheiten zu +sprechen. Meine Nerven waren bis zur Unerträglichkeit gespannt, +ich hörte kaum, was er sagte, und ich verfolgte seine +Schritte und Bewegungen mit einem beunruhigten und +haßähnlichen Gefühl. Plötzlich fragte er mich, wo seine Frau +sei. Ich antwortete, sie sei vor wenigen Minuten hinausgegangen. +Sein Gesicht verdüsterte sich: »Sie macht mir viel +Kopfzerbrechen mit ihren Launen«, sagte er seufzend, indem +er sich schwer in einen Sessel fallen ließ. »Ich sollte mich +wirklich mehr um sie bekümmern,« fuhr er fort, »aber, lieber +Treunitz, Sie haben keine Ahnung, was für Plackereien ich +ausgesetzt bin; es kostet mich Überwindung genug, sie +nichts merken zu lassen, aber wer kann immer heiter sein, +wenn’s einem an den Kragen geht? So eine Frau will +nichts als eitel Wonne um sich sehen; ich kann’s ihr nicht verdenken, +sie ist jung. Mag sie sich nur amüsieren, ich lege ihr +keine Balken über den Weg. Doch wie gesagt, die Launen, +die Launen!«</p> + +<p>Was er mit den Launen meinte, konnte ich mir nicht enträtseln. +Es war mir eine Pein, ihn zu hören, andrerseits rührte +mich sein Wesen, und er erschien mir durchaus nicht als böse. +<a class="page" name="Page_103" id="Page_103" title="103"></a>Ich wußte nur unbestimmte Redensarten zu erwidern. Meine +Situation kam mir ebenso bedrückend wie die seine kläglich +vor. Ich verabschiedete mich von ihm. Als ich über den Korridor +schritt, stand Aurora neben der Treppe. Sie winkte mir, ihr +zu folgen. Ich trat in ein kleines, boudoirähnliches Gemach. +Aurora blickte mich forschend an. Etwas Trauriges, aber nicht +bloß Trauriges, sondern auch Wildes, eine Art von Außersichsein +in ihren Zügen brachte mich vollkommen um den Verstand. +Plötzlich umschlangen mich ihre Arme, und ich fühlte ihre Lippen +auf den meinen. »Geh, geh«, stieß sie dann durch die verpreßten +Zähne hervor. Ich ging.</p> + +<p>Mir brannte Hirn und Herz. Nie mehr über diese Schwelle, +rief es in mir. Ich scheute mich, den Menschen in die Augen +zu blicken. Und doch war ich glücklich; ich hatte ihre Schultern +gespürt, ihre Arme, ihren Mund. Ich begab mich nach Hause, +lief wie toll in meinem Zimmer auf und ab, ging wieder fort +und stand in der Nacht, ich weiß nicht wie lange, vor der Villa +des Majors, zu den schwarzen Fenstern emporstarrend. Die +Stunden bis zum andern Nachmittag schlichen qualvoll hin. +Als ich zu Aurora kam, waren Gäste da. Sie scherzte und +plauderte wie gewöhnlich. Dies war mir unbegreiflich. Erst +um sechs Uhr waren wir allein. Mit rauher Stimme bat ich +sie um Aufklärung. Ich sagte, daß ich den Zustand des +Zweifels und der schlimmen Befürchtungen nicht mehr ertragen +könne.</p> + +<p>»Was wollen Sie von mir?« entgegnete sie hart. Ich blickte +sie erstaunt an, aber sie senkte nicht die Augen und flammte +mich drohend an. Da packte ich ihre Hand und bedeckte sie +mit Küssen. Sie ließ mich ruhig gewähren, indes sie den Kopf +in die andere Hand stützte. »Wenn ich alles sagen wollte, wer +<a class="page" name="Page_104" id="Page_104" title="104"></a>könnte mir glauben«, murmelte sie vor sich hin, und ihr Körper +schrumpfte zusammen wie unter der Gewalt eines physischen +Schmerzes. »Gehen wir ein wenig ins Freie«, schlug sie vor. +Wir gingen in den Garten. Dort erzählte sie mir alles; während +wir über die dunklen Wege schritten, schilderte sie mir ihre +Ehe. Sie schilderte mir diese Ehe als ein Martyrium, das +ohne Beispiel war. Sie schilderte den Major als einen argwöhnischen, +neidischen, boshaften, ohnmächtigen, lügenhaften, +und gewalttätigen Greis. Sie sagte mir, daß er sie schlüge. +(O Gott, der Speichel im Munde wurde mir bitter wie Galle.) +An ihr räche er die Unbill und Zurücksetzung, die er überall zu +erleiden wähne. Wo er ihre Wünsche erfülle, sei es zum Schein; +wenn er sich freundlich stelle, sei es zum Schein. Er behandle +sie schlimmer als einen Hund. Seit sechzehn Monaten lebe sie +wie in einem Starrkrampf, und was sie lache und rede, wisse +sie nicht. Zuerst habe sie geschwiegen aus Furcht vor ihm, +dann aus Furcht vor der Welt, denn noch einmal als geschiedene +Frau bodenlos und heimatlos dastehn, das zu ertragen, +sei sie nicht fähig, lieber wähle sie den langsamen Tod aus +Kummer, Zorn und Angst.</p> + +<p>Ich glaubte. Man denke nach, ob es für mich eine andere +Möglichkeit gab, als zu glauben. Es gibt im Ungeheuerlichen +einen Punkt, wo der Zweifel erstickt, anstatt genährt wird. Man +kann der Raserei mißtrauen, man kann der Wut oder dem Haß +mißtrauen, aber der sanften, schwermütigen und verzweifelten +Ruhe, mit der mich Aurora zum Mitwisser ihres Geheimnisses +machte, ist schwer zu mißtrauen. Ich wußte zu wenig von +Leidenschaft, zu wenig von dieser schrecklichen Narkose des Gemüts. +Die Gewohnheit kalter Sinnenlust und bezahlter Vergnügungen +hatte mich einem Sträfling ähnlich gemacht, der die +<a class="page" name="Page_105" id="Page_105" title="105"></a>Kette nicht mehr spürt, aber vor Freude verrückt wird, wenn +man ihm die Freiheit schenkt.</p> + +<p>Wie hätte ich ahnen sollen, was in diesem Weibergehirn +vor sich ging? ahnen sollen, daß Neugier sie zur Verderberin +und Verbrecherin machen konnte? Neugier, wie weit sie mich +zu treiben imstande war! Sie glaubte nicht an Männer, sie +glaubte nicht an mich. Daß ich in der Schlacht gewesen, daß +ich Feindesblut und eigenes Blut vergossen hatte, das verlockte +sie, und sie wollte mich erproben. Sie wollte ihre Macht +an mir erproben. Sie hatte die unbestimmte Sehnsucht, +Urheberin einer Tat zu werden, aber sie glaubte nicht an +diese Tat, so wenig wie sie an Worte, Schwüre, Vorsätze +und Empfindungen glaubte. Die unergründliche, unermeßliche +Leere ihrer Brust verzerrte ihr alles ernste Bestreben, +Wissen, Wollen, Denken und Vollbringen zu spottwürdigen +Schemen. Und so wurde meine Ergebenheit zu einem Piedestal +für ihren lasterhaften Willen, und es war eine unheimliche Begierde +in ihr, mich zu entfalten, mich gleichsam auseinanderzureißen, +um zu sehen, – was in mir drinnen sei. Dieses und +sonst nichts.</p> + +<p>Das weiß ich jetzt; ich habe es erfahren müssen in einer +Stunde, die mich aus dem Himmel in die Hölle stürzte, einer +Stunde, wie sie vielleicht nur wenige Menschen je erlebt haben, +und die ich auch um keinen Preis noch einmal erleben möchte. +Aber wie hätte ich es damals spüren oder nur denken sollen? +frage ich. Vor mir stand eine Frau, jung und unvergleichlich +schön, den Sammet rührender Duldung in den Augen, und +so hingeschmolzen vor meinem Wort und schlechten Trost, +daß ein Tier weich geworden wäre. Kann man das noch +Verstellung oder Heuchelei nennen? Ist dies nicht vielmehr +<a class="page" name="Page_106" id="Page_106" title="106"></a>eine böse zauberische Kraft, für die es noch keinen Namen +gibt?</p> + +<p>Ich will es nicht versuchen, meinen jammervollen Zustand +zu schildern. Ich wandelte herum wie ein Vergifteter, auch +schmeckte mir kein Bissen mehr. Daß ich liebte, war kein Glück +mehr für mich, daß ich geliebt wurde, spürte ich nur wie im +Traum. Wie ich es fertigbrachte, mich täglich anzukleiden, +zu waschen, zu frühstücken und den Obliegenheiten meines +Berufs zu genügen, ist mir heute noch ein Rätsel. Offenbar +gibt es irgendeine Maschine in unserm Innern, welche die alltäglichen +Pflichten gewohnheitsmäßig erfüllt. Eines Tages war +ich bei meiner Mutter zu Tisch, und da ich alle Speisen unberührt +ließ, stellte sie mich plötzlich in ernstem Ton zur Rede. +Sie sagte, sie wisse alles; sie beschwor mich, von Aurora zu lassen +und nannte sie eine gefährliche Kokette. Ich packte ihre Hände, +wie man die Fäuste eines Gegners packt, der zum Schlag ausholt. +»Auch du,« rief ich, außer mir vor Wut und Enttäuschung, +»auch du gehst zu den Verleumdern. Du weißt ja nichts von +ihr. Ach, wenn du wüßtest, wenn du wüßtest, es soll sich mir +nur einer stellen! nur einmal Aug’ in Auge! Mich dürstet ja +danach, sie vor die Pistole zu bekommen, die feigen Hunde!« +Meine Mutter war erschrocken, sie umarmte mich schluchzend +und sagte: »Daß du den Appetit verloren hast, mein Junge, +ist für mich das beste Zeichen, daß deine Leidenschaft verderblich +und unnatürlich ist.«</p> + +<p>So zeigt sich einem jeden die Welt anders; dem einen von +der Herzensseite, dem andern von der Magenseite. Aber meine +Mutter hatte Recht. Dennoch vermied ich es in der Folge, +sie zu besuchen, und vom November bis zum Februar sah ich +sie nur zweimal. Auch mit andern Menschen sprach ich nicht +<a class="page" name="Page_107" id="Page_107" title="107"></a>mehr als das Notdürftigste; ich gab jeden Verkehr auf und +stellte Aurora meine freie Zeit völlig zur Verfügung. Nachdem +ich mich lange in einem Zustand der Zerschmetterung befunden +hatte, begann ich die Unhaltbarkeit der Lage zu spüren, um so +mehr, als meine finstere Apathie in Aurora sichtlich eine gewisse +Ungeduld erweckte. Ich sagte zu ihr, ich müsse mich mit +dem Major schlagen. Sie erwiderte mit der ihr eigenen brennenden +und faszinierenden Ruhe: »Wie? Du willst dein Leben +gegen das seine in die Wagschale werfen? Ein Zufall, und er +bleibt Sieger, und ich, verlassener als je, bin nicht nur auf seine +Gnade angewiesen, sondern habe auch noch dich verloren. Bevor +du mir das antust, schieß’ ich mir selber eine Kugel in den +Kopf, das sollst du wissen.«</p> + +<p>Ihre Beredsamkeit war groß. Es ist von jeher meine +Schwäche gewesen, daß ich gegen beredsame Naturen schnell +unterlag. Ich faßte den Plan einer Flucht. »Fliehen wir!« +schlug ich ihr vor, »ich bin reich, laß uns übers Meer fahren +und ein neues Leben anfangen.«</p> + +<p>Sie schüttelte den Kopf. »Fliehen heißt, mich in den Augen +der Welt für schuldig und ungetreu bekennen,« sagte sie. »Heutzutage +ist die Welt zu klein für solche Wagnisse. Wer kann mich +zwingen oder mir es als nützlich einreden, daß ich wie ein Dieb +in der Nacht ein Haus verlassen soll, in dem man mit Füßen +auf mich getreten ist, in dem man mich bespien und besudelt +hat? Nein, Treunitz, das kann ein stolzer Mann nicht von mir +wollen.«</p> + +<p>Da stand ich wie ein Schüler. »Was wollen wir also tun?« +fragte ich.</p> + +<p>»So geben wir uns doch auf!« rief sie trotzig und wie ermüdet. +Ich schwieg, muß jedoch sehr blaß geworden sein, denn +<a class="page" name="Page_108" id="Page_108" title="108"></a>sie sah mich an, erst besorgt, dann nachdenklich, düster und +kalt. An jenem Tag verstand ich den Blick noch nicht. Der +nächste Tag war Allerseelen. Ich war gegen Abend gekommen, +und Aurora bat mich dringend, zu Tisch zu bleiben. Ich konnte +es ihr nicht verweigern, obwohl mir vor dem Beisammensein +mit dem Major graute. Ich hatte dienstlich mit ihm nichts zu +schaffen; in der Stadt sah ich ihn fast nie, von den Veranstaltungen +der Offiziere hielt ich mich fern; daß ich dennoch sein +Haus betrat, dennoch an seiner Tafel speiste, fähig war, ihn zu +begrüßen, ihm zuzuhören und zu antworten, dies alles müßte +mich als einen hinterhältigen und niedrigen Charakter denunzieren, +wenn es nicht durch die Macht, die Aurora über mich +ausübte, einigermaßen erklärt würde. Ihre Worte hatten eine +solche Gewalt über mich, daß in meinem Kopf gar keine Überlegung +mehr war, wenn sie einmal gesprochen hatte. Da ich sie +selber dulden sah, glaubte ich es unserer Liebe schuldig zu sein, +mich ebenfalls zu beherrschen und alles zu versuchen, um ihr +Los zu erleichtern. Was für Kämpfe und Leiden mich dies +kostete, davon will ich nicht reden.</p> + +<p>Mit dem Augenblick, wo der Major das Zimmer betrat, +pochte mir das Herz vor Haß, Ingrimm und Verachtung bis +in den Schlund hinauf. Ich gewahrte ihn nur wie durch Schleier, +jede seiner Bewegungen erregte mir Ekel, bei jedem seiner +Worte zuckte ich zusammen; meine Stimme klang heiser, und +wer weiß, wozu es gekommen wäre, wenn ich nicht Auroras +Blick wie einen geisterhaften Bann beständig auf mir ruhen +gefühlt hätte. Mitten in einem belanglosen Gespräch unterbrach +sich der Major, stocherte mit der Gabel im Salat, führte +ein Blättchen an die Lippen, indem er daran leckte, und warf +dann Besteck und Serviette mit einem Fluch auf den Tisch. +<a class="page" name="Page_109" id="Page_109" title="109"></a>»Kreuzmillionenschwerenot,« schrie er, »wie oft soll ich denn +noch sagen, daß ich den Salat mit Zitrone und nicht mit Essig +angemacht will! Was haben denn die gottverdammten Frauenzimmer +sonst zu denken? Bin ich denn der Niemand im Hause, +daß man Schindluder mit mir treibt? Wahrhaftig, eine Lammsgeduld +gehört dazu.«</p> + +<p>In diesem rüden Feldwebelton ging’s noch eine Weile +weiter, bis er aufsprang, die Tür hinter sich zudonnerte und +hinausstürzte.</p> + +<p>Ich war vollkommen perplex. Das Blut stieg mir langsam +zu Kopf, und ich blickte Aurora schweigend an. Sie saß da und +lächelte wie eine Frau, die es endlich zur Augenscheinlichkeit +gebracht hat, was sie sonst nur insgeheim erleidet. »Dies ist +ein Affront,« murmelte ich, »ich werde ihn zur Rechenschaft +ziehen.« Aurora lachte. »Zur Rechenschaft ziehen? Einen Unzurechnungsfähigen? +Was fällt dir ein!« erwiderte sie herrisch. +»Abrechnen mit einem Vieh!«</p> + +<p>Ich zitterte vor innerem Frost an allen Gliedern. Und wie +mich nun Aurora so anschaute, mit blitzendem Blick, mit geschlossenen +Lidern und mit einer unbeweglichen Stirn, da war +es mir, als ob mein Herz in siedendes Wasser getaucht würde, +und, Gott möge mir verzeihen, ich fing an, jenen Blick zu verstehen, +er ging auf in meiner Brust wie das Saatkorn in gedüngtem +Boden. Es war mir klar, es war ein unabwendbarer +Beschluß, daß der Major von meiner Hand sterben müsse. +Aurora zu retten, war mein einziger wütender Drang, ich fühlte +meine Liebe zu ihr so ungeheuer, daß ich die wenigen Worte, +die alles entschieden, trotz des Flüsterns mit einer Festigkeit +hervorbrachte, als ob dieses Fürchterliche eine alltägliche Angelegenheit +sei. Aurora, der aus weitoffenen Augen die Tränen +<a class="page" name="Page_110" id="Page_110" title="110"></a>über das Gesicht liefen, hörte plötzlich zu weinen auf, ihre linke +Hand bebte mir entgegen, ich ergriff die Hand und bedeckte +mein Gesicht damit.</p> + +<p>Der Major kam nach einer Viertelstunde zurück und bat, +anscheinend sehr betreten, um Entschuldigung, die ich meinerseits +kalt quittierte. »Aurora,« rief er gezwungen scherzend, +»komm einmal zu mir.« Sie erhob sich sogleich und trat eilig +vor ihn hin. Diese Bewegung sklavischer Unterwürfigkeit und +Angst rührte mich tief. Daß sie wahrscheinlich nur für mich +berechnet war, ahnte ich ja nicht. Wie Napoleon, wenn er einen +seiner Günstlinge wieder versöhnen wollte, zupfte der Major +seine Gattin am Ohrläppchen und lachte. Unter irgendeinem +Vorwand verabschiedete ich mich alsbald.</p> + +<p>Ich war jetzt bei ziemlich kaltem Blut, und während der +ganzen Nacht überlegte ich meinen Plan. Am nächsten Vormittag +um elf Uhr traf ich Aurora, wie oft bei schönem Wetter, +im Stadtpark. Ich vermochte, mit ihr davon zu sprechen. Es +fiel mir auf, daß sie dabei fortwährend mit niedergeschlagenen +Augen lächelte. Dies dünkte mich sehr kurios. Ich wußte nicht, +war es Unglaube, Befriedigung, Gedankenlosigkeit oder irgendeine +Träumerei. Der Ausdruck ihrer Züge rief eine dunkle Erinnerung +in mir hervor. Erst viel später entsann ich mich, daß +vor Jahren, als ich in Basel war, das Bild der Herzogin vom +sogenannten Basler Totentanz eine lange nicht verwischbare, +fast unheimliche Wirkung auf mich ausgeübt hatte. Es war +genau dieses süß-friedsame Gesicht, in dem etwas Wildes und +Kindisches war, eine zerstreute und lustige Grausamkeit und +ein Lächeln, als ob der Tod nur ein Schreckmittel für Schwachköpfe +sei.</p> + +<p>Nun, was half’s; ich war darum nicht weniger verstrickt, +<a class="page" name="Page_111" id="Page_111" title="111"></a>der Gedanke wurde uns vertraut. Er erweckte kein Schaudern +mehr in mir. Er nahm Gestalt an, und ich war von ihm besessen. +Gleichwohl quälte mich Auroras Verhalten. Wenn wir +eine Zeitlang ernst über das Vorhaben gesprochen hatten, +klatschte sie plötzlich in die Hände und lachte, als ob es sich um +ein Märchen handle, an dem zu sinnen angenehm war, das +aber niemals in Erfüllung gehen könne. Dergleichen regte +mich ungemein auf. Wenn sie mir die Perfidien und zahllosen +tyrannischen Handlungen ihres Gatten klagte, beobachtete sie +mit Angst, bisweilen mit einem Gemisch von Freude und hungriger +Erwartung die geringste meiner Gebärden. Mein Geständnis, +daß mich ihre Berichte unsinnig folterten, schien sie +oft beinahe fröhlich zu stimmen, und es bestürzte mich, wenn +sie unmittelbar nach einem der unheilvollen Gespräche mit dem +Vergnügen eines kleinen Mädchens einen Hut probieren konnte +und sich selber in den Spiegel hinein entzückt anlächelte. Ich +habe während der ganzen Monate Dezember und Januar in +keiner Nacht mehr als zwei Stunden Schlaf genossen, und am +Ende sah ich aus wie ein Schwindsüchtiger.</p> + +<p>Dazu die gestohlenen Liebesstunden, in denen meine Leidenschaft +nur durch versprechungsvolle Küsse Genüge fand. Was +Genüge! Ein verzweifeltes Aufflackern war es immer wieder, +das den Körper ruinierte und mir alle Klarheit des Gemüts +und Geistes raubte. Aurora gab sich mir nicht hin; sie erklärte, +das schände sie, sie wolle sich nicht noch mit Lug und Trug +beladen, sie wolle ihr Gewissen fleckenlos bewahren. Ich ehrte +diese Gründe, ich konnte nicht wissen, daß es ihr bloß darum +zu tun war, mein Gefühl ins Maßlose zu steigern. Denn sie, +sie hatte ja genossen! Sie wollte sich einnisten in der Anbetung +eines vertrauensseligen Mannes, das verlieh ihr einen Halt, +<a class="page" name="Page_112" id="Page_112" title="112"></a>eine letzte Würde und weckte vielleicht ihr abgestumpftes Herz +zu einer Regung von Zärtlichkeit. Das war es, das war das +Ganze, und ich Tropf lief in die überdeckte Falle und stürzte +so tief, daß keine Faser an meinem Leibe heil blieb.</p> + +<p>Eines Abends um sieben Uhr kam Aurora in meine Wohnung, +dicht verschleiert. Sie war still und finster, wie ich sie +nie gesehen. Sie entblößte ihre Brust und zeigte mir einen +blutigen Striemen. Ich stotterte eine Frage. »Dies ist von +ihm«, sagte sie dumpf. Da schlug ich besinnungslos mit der +Faust um mich und zertrümmerte das Fenster. Mit meiner +von Glassplittern verwundeten Hand wollte ich sie an mich ziehen, +aber sie, auf das Blut starrend, wich sehr erschrocken zurück. +»Du weißt, ich kann kein Blut sehen«, hauchte sie. »Und doch +sollst du bald Blut sehen«, antwortete ich. »Nein sehen nicht«, +versetzte sie abermals hauchend. »Ach, wenn das wäre«, fügte +sie hinzu und schaute mich glühend an, »wenn du das vollbringen +könntest, dann könnte ich sterben aus Liebe zu dir.«</p> + +<p>Daß sie gewagt hatte, zu mir zu kommen, erschütterte mich, +da ich in dieser Verwegenheit nur eine Handlung des Vertrauens +und der Zuneigung erblickte. Besorgt um ihren Ruf, holte ich +selber einen Wagen; ich begleitete sie, und während der Fahrt +setzten wir Tag und Stunde der Tat fest. Ich sagte »morgen«. +Aurora antwortete, morgen sei der große Ball im Kasino, da +wolle sie noch einmal tanzen. Dieses »noch einmal« zerstreute +eine unangenehme Verwunderung, die mir der Einwand +zunächst erregt hatte. Ich sagte also: übermorgen. Sie wünschte +auch dieses nicht. Sie sagte, am Sonntag sei in Weidenberg +Jahrmarkt, ihre Mädchen und der Bursche des Majors hätten +für den Nachmittag und die Nacht Urlaub erbeten, und so +könne ich ins Haus kommen ohne Gefahr, einen Unberufenen +<a class="page" name="Page_113" id="Page_113" title="113"></a>zu wecken. Ich fügte mich, obwohl mir jeder Tag und besonders +jede Nacht bis dahin zur Ewigkeit werden mußte. An das, +was nachher kam, dachte ich nicht im geringsten. Vermutlich +spürte ich schon, daß ich auf eine Zukunft nicht mehr zu rechnen +hatte.</p> + +<p>Als ich am nächsten Mittag in Gesellschaft des Regimentsadjutanten +über den Domplatz ging, gewahrten wir einen sehr +fetten und auffallend elegant gekleideten jungen Menschen, +der offenbar fremd in der Stadt war. In der Provinz wird der +Fremdling, und gar der Großstädter durch ein Etwas in Miene +und Schritt sofort erkennbar. Ich hatte nur einen Blick auf ihn +geworfen und fühlte gleich den äußersten Widerwillen gegen +dies abgelebte, hochmütige und bornierte Gesicht. Der Regimentsadjutant +zwinkerte mit den Augen und bemerkte spöttisch: +»Aha, da ist ja der Fabrikant Dotterwachs aus Berlin.«</p> + +<p>Mich durchfuhr eine unklare Erinnerung von nicht sympathischer +Art, aber erst hernach fiel mir ein, daß das vielleicht +jene Person sein könne, von der mein Freund, der Ingenieur, +gesprochen. Als ich am Nachmittag in die Westermarksche +Villa kam, wurde mir gesagt, die gnädige Frau sei nicht zu +Hause. In meiner Wohnung angelangt, übergab mir mein +Bursche einen Brief. Es war ein anonymes Schreiben folgenden +Inhalts: »Wenn Sie das geheime Absteigequartier der Majorin +Westermark kennen lernen wollen, so verfügen Sie sich in den +dritten Stock des Hauses Nummer 15, Schönlandstraße. Eine +frühere Kammerjungfer und jetzige Vertraute der Majorin ist +Kupplerin und Mieterin dortselbst.«</p> + +<p>Ich zerriß den Fetzen und heftete nicht zwei Gedanken daran, +schon, weil mir die Sache zu albern erschien. Leider hatte ich +Aurora versprochen, auf den Kasinoball zu kommen, wenn auch +<a class="page" name="Page_114" id="Page_114" title="114"></a>nur, um sie zu sehen. Ich überwand meine Abneigung, die +mir in der jetzigen Stimmung derlei Festlichkeiten hassenswert +machte, schob aber die Stunde möglichst hinaus, und so war es +bereits recht spät, als ich den Saal betrat. Aurora war von +einem Kreis junger Leutnants umgeben. Sie war hinreißend +schön; die Haut von Busen, Hals und Antlitz glänzte wie Silber, +darunter floß fischhaft das dunkelgrüne Spitzenkleid; sie war +heiter, allzu heiter; und ich, ich war finster. Ich war einer +Ohnmacht nahe, so schrecklich empfand ich in diesem Augenblick +meine leidenschaftliche Liebe. Frau von Rütten, an der +ich nicht grußlos vorübergehen konnte, saß mit einigen andern +Leuten in einer Säulennische. Alle diese Leute sahen mich mit +seltsamen Blicken an, wenigstens schien es mir so. Ich bemerkte +darunter auch das siebzehnjährige Kind, mit dem man mich +hatte verheiraten wollen. Ich glaubte die Augen dieses Mädchens +mit einem rührenden Gefühl auf mich gerichtet. Ich +wandte mich hastig ab und hatte gerade noch Zeit, dem Major +Westermark aus dem Weg zu gehen, der auf mich zukam, +lachend und winkend, als ob ich sein bester Freund wäre. Es +überrieselte mich eiskalt.</p> + +<p>Ich stellte mich nun an das untere Ende des Saales und +starrte in das lichtübergossene Geflimmer der Uniformen und +Roben. Die Walzermusik stimmte mich traurig, und ich weiß +nicht, wie es zuging, aber ich mußte beständig an den Mann +denken, den ich mittags gesehen, und dessen fleischige und gemeine +Züge nicht aus meiner Vorstellung schwinden wollten. +Ich sah ihn essen, ich sah ihn Bier trinken, ich sah ihn widerlich +lachen und prahlen, und voll Bitterkeit dachte ich mir: das ist +also der jetzige Deutsche, ein solcher Mann darf den Namen +eines Deutschen führen; Emporkömmling; dickfelliger, ohren<a class="page" name="Page_115" id="Page_115" title="115"></a>loser, +aufgeblasener, herzloser Geselle, dem alles gehört und +der nichts respektiert; und so sind sie alle, sie haben das Zittern +verlernt und brauchen wieder einmal die Peitsche des Schicksals. +Dabei kannte ich den Mann doch gar nicht und verband nur +einen Eindruck mit dem Groll über eine allgemeine Kalamität, +denn ich war in diesen Dingen schon zum Schwarzseher geworden +und war deshalb auch nicht mehr mit innerer Freude +Soldat.</p> + +<p>Nach dem Kotillon gelang es mir, Aurora für ein kurzes +Alleinsein zu erobern. In ihrem Wesen war etwas Schmachtendes, +das ich nicht lediglich der Wirkung des Tanzes zuschreiben +mochte. Die Luft zitterte zwischen unsern Mündern und unsre +Blicke bohrten sich fest ineinander. Trotzdem Leute um uns +herumstanden, hatte sie die Verwegenheit, mich zu fragen, +ob es beim Sonntag abend verbleibe, und als ich schweigend +und bestürzt nickte, lächelte sie mit entblößten Zähnen. Noch +lange nachher, als sie sich schon von mir entfernt hatte, beobachtete +ich, daß ihre Augen bisweilen forschend, ja ängstlich +auf mir ruhten. Plötzlich ging sie zu ihrem Mann, sagte ihm +ein paar Worte und verließ den Saal. Der Major, der bei +Frau von Rütten saß, erhob sich, um ihr zu folgen. Sie kehrte +noch einmal um, und sie redeten wieder eine Weile miteinander, +dann ging Aurora. Der Major schien unschlüssig und +zeigte ein nachdenkliches Gesicht. Da Aurora nicht zurückkam, +entschloß ich mich, Frau von Rütten zu fragen, ob sie wisse, +was geschehen sei. Sie antwortete mir kalt, die Majorin habe +sich nicht wohl gefühlt und sei nach Hause gefahren; sie habe +nicht gewünscht, daß der Major sie begleite, weil sie bestimmt +wiederkommen wollte. Ich wunderte mich und wurde besorgt. +Ehe eine Viertelstunde verflossen war, hatte ich mich in aller +<a class="page" name="Page_116" id="Page_116" title="116"></a>Stille aus dem Saal entfernt, nahm außen meinen Mantel +und eilte nach der Westermarkschen Villa. Daß meine Abwesenheit +unter der Ballgesellschaft bemerkt und auffällig gefunden +werden könne, darüber machte ich mir keine Gedanken. Da +ich im Souterrain der Villa noch Licht sah, läutete ich am Gartentor. +Eine Mädchenstimme fragte vom Fenster aus, wer da +sei. Ich erkundigte mich, ob sich die gnädige Frau noch oben +befinde; weil der Wagen nicht da war, mußte ich annehmen, +daß sie schon zurückgekehrt wäre. Das Mädchen erwiderte +mir, die gnädige Frau sei auf dem Ball. Sie sei aber doch +vor kurzem nach Hause gefahren, versetzte ich. Dies wurde +verneint.</p> + +<p>Ich spazierte auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf +und ab und wartete, bis die Glocke zwölf schlug. Darauf machte +ich mich wieder auf den Weg und dachte, sie habe am Ende +das Kasino gar nicht verlassen. Als ich in die Wilhelmstraße +einbog, rasselte eine Droschke an mir vorüber und blieb etwa +zweihundert Schritte weiter stehn, ungefähr in der Mitte des +Wegs zwischen mir und dem Kasino. Es stieg ein Herr aus, +und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Der Herr kam +mir auf demselben Trottoir entgegen, und ich erkannte den +Fabrikanten aus Berlin. Er trug einen Zylinder und rote +Handschuhe. Sein fettes Gesicht hatte einen angestrengt überlegenden +Ausdruck, und seine Lippen waren wie zum Pfeifen +gespitzt. Niedergeschlagen, ohne recht zu wissen, weshalb, wandelte +ich noch ziemlich lange Zeit auf den Straßen herum. +Als ich dann wieder den Ballsaal betrat, erfuhr ich, daß Westermarks +schon nach Hause gefahren seien. Dies beschwichtigte +mich einigermaßen.</p> + +<p>Als ich am folgenden Nachmittag zu Aurora kam, fand ich +<a class="page" name="Page_117" id="Page_117" title="117"></a>sie lesend. Sie hatte unter alten Sachen gekramt und ein Stammbuch +aus ihrer Mädchenzeit entdeckt. Ich beugte mich über sie +und sah, daß ihre Blicke auf einen Vers gerichtet waren, der in +großväterischen Schriftzügen ein vergilbtes Blatt bedeckte. Er +lautete:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">Mit einer Blume zu spielen, ist dir erlaubt,<br /></span> +<span class="i0">und sie zu pflücken.<br /></span> +<span class="i0">Mit einem Herzen, das du geraubt,<br /></span> +<span class="i0">sollst du nicht tücken.<br /></span> +<span class="i0">Vergiß nicht, o Mann, o Weib,<br /></span> +<span class="i0">Herz, das sich schenkt, ist Gottes Leib.<br /></span> +</div></div> + +<p>»Ein hübscher Spruch«, sagte ich. Aurora schaute mich +geistesabwesend an. Sie ergriff meine Hand und hielt sie fest. +Ihre Finger waren heiß. Ihr Wesen war so gemsenhaft scheu und +so bedrängt, daß ich den Augenblick sehnlich herbeiwünschte, +wo ich ihr zurufen konnte: du bist erlöst. Sie hatte viel Gesichter +und jeden Tag zeigte sich mir ein neues. Hätte sie nur +ein einziges Gesicht besessen, so hätte ich vielleicht ergründen +können, was in ihr vorging; aber von der hinschmelzenden +Schwermut bis zur Trunkenheit des Vergnügens alle Verwandlungen +mitzuerleben, hatte ich kein Talent. Ich hätte +lernen müssen zu sehen, bevor ich sie liebte.</p> + +<p>Endlich brachte ich es über mich, sie zu fragen, wo sie gestern +während des Balles gewesen sei. Ihr Gesicht verfinsterte sich +erschreckend. »Bedeutet dies Mißtrauen?« flüsterte sie langsam. +Ich schüttelte den Kopf. »Hast du denn gar keine Geheimnisse?« +fragte sie in derselben düstern Weise. »Gar keine«, antwortete +ich. »Aber ich,« fuhr sie fort, »ich habe Geheimnisse, und auch +die sollst du lieben. Bin ich nicht mit meinem ganzen Dasein +so und soviel tausend Zuschauern offenbar? Wenn ich kein +<a class="page" name="Page_118" id="Page_118" title="118"></a>Geheimnis hätte, müßte ich sterben. Übrigens magst du wissen,« +fügte sie hinzu, »daß gegenwärtig ein ehemaliger Freund von +mir in der Stadt weilt, ein Mensch, dem ich einst viel zu verdanken +hatte, der aber meine Dankbarkeit jetzt ausbeutet. An +Bedrückern hat es mir nie gefehlt. Aber von alledem sprechen +wir ein andermal.« »Ein andermal?« versetzte ich mit stockender +Stimme. »Ja, ein andermal«, bekräftigte sie mutig oder auch +gedankenlos. Sie näherte sich mir, legte ihre Hände auf meine +Wangen und flüsterte: »Ach, wir werden viel beieinander sein +müssen, damit ich dir alles, alles sagen kann.« So verstand sie +es, mich zu beunruhigen und mich sicher zu machen mit ein +und derselben Rede.</p> + +<p>Als es zu dunkeln begann, gingen wir gegen den Fluß hinaus +spazieren. Es war dies ein einsamer Weg, wo selten jemand +zu sehen war. Da wir uns am folgenden Tag nicht sehen wollten, +verabredeten wir alle Einzelheiten des mörderischen Vorhabens. +Aurora gab mir den Schlüssel zur Gartenpforte. Der Hund, +der während der Nacht im Garten frei war, brauchte keine Sorge +für mich zu sein, denn das Tier kannte mich, die beiden Jagdhunde +wurden nachts in den Verschlag neben den Keller gesperrt. +Den Hausschlüssel könne sie mir nicht geben, sagte +Aurora, es sei nur ein einziger vorhanden, und den habe ihr +Mann. Sie wollte an der Rückseite der Villa das Flurfenster +offen lassen, dort sollte ich einsteigen und mich der Stiefel entledigen, +bevor ich ins Schlafzimmer des Majors ging, das er +unversperrt zu lassen pflegte. Daß sie keinen Hausschlüssel +besaß, war eine Lüge, davon konnte ich mich selbst überzeugen, +ehe zweimal vierundzwanzig Stunden vergingen. Den Grund +dieser Lüge vermag ich allerdings auch jetzt noch nicht einzusehen. +Vielleicht wollte sie die Vorbereitungen abenteuerlicher +<a class="page" name="Page_119" id="Page_119" title="119"></a>machen, oder, was wahrscheinlicher ist, sich vor Überraschungen +sicherstellen. Dies schlug fehl durch meine aufrichtige Entschlossenheit.</p> + +<p>Ich gestehe, daß mich schauderte. Aber ich war ja schon verdammt +durch den Willen. Die Ausübung war nur noch eine +mechanische Folge für mich. Aurora verwunderte mich dann +und wann durch eine Miene des Staunens und eine mir unerklärliche, +neugierige Spannung. Während des Rückwegs jedoch +blieb sie bei einer Weide stehn, strich mit ihren Händen +den Schnee von einem Ast und warf sich plötzlich, erst lachend, +dann weinend an meine Schulter.</p> + +<p>In welcher Verfassung ich den nächsten und den übernächsten +Tag verbrachte, ist zu beschreiben unmöglich. Wozu sollte ich +auch dabei verweilen. Erst im Gefängnis habe ich erfahren, +daß der Major gerade an jenem Sonntag sein Geburtsfest +feierte und daß ihn Aurora mit einer neuen Jagdflinte, einem +neuen Portefeuille und einem Paar von ihr selbst gestickter +Pantoffeln beschenkte. Gleichfalls habe ich erfahren, daß sie +ihm, wie das Stubenmädchen aussagte, schon am Morgen die +Erlaubnis abschmeichelte, den Abend außer Haus verbringen +zu dürfen, bei einer Freundin, die aus Stettin gekommen sei. +Um zwei Uhr nachmittags schickte sie den Burschen des Majors +mit einem Brief in meine Wohnung. In diesem Brief standen +nur die Worte: »Aufschieben. Gründe mündlich.« Ich bekam +aber den Brief nicht mehr in die Hand, und das war ein Unglück. +Ich war um zwölf Uhr zum letztenmal in meinem Zimmer +gewesen, hatte Zivilkleider angelegt, den Revolver zu mir +gesteckt und war über Land gegangen. Ich hatte mir vorgenommen, +nicht mehr nach Hause zurückzukehren, denn mir graute +vor den vier Wänden. Dies war, wie gesagt, ein Unglück.</p> + +<p><a class="page" name="Page_120" id="Page_120" title="120"></a>Die schrecklichste Unruhe trieb mich draußen über Landstraßen, +durch Wiesen, Äcker und Wälder. Ich war todmüde, +als ich spät abends in die Stadt zurückkam, aber mein Kopf +war klar. Um dreiviertel zwölf stand ich vor dem Gartentor +der Villa. Im Zimmer des Majors brannte kein Licht mehr. +Ich wußte, daß er sich täglich um elf Uhr zur Ruhe begab, denn +des Morgens war er der erste Offizier in der Kaserne. Ich +sperrte die Gartentür auf, und als ich nach der Rückseite des +Hauses ging, folgte mir der große Bernhardinerhund mit +freundlichem Wedeln seines Schweifes. Als ich das bezeichnete +Fenster, entgegen der mit Aurora getroffenen Verabredung, +fest zugeschlossen fand, stutzte ich. Eine Weile war ich ratlos. +Ich zog aus dem Umstand nicht den vernünftigen Schluß, den +ich hätte ziehen sollen. Ich beschloß zu tun, was die Diebe und +Einbrecher tun. Mit der pelzbehandschuhten Hand preßte ich +so lange an das Glas, bis es sprang. Die Jagdhunde im Verschlag +fingen an zu bellen, da sich aber sonst nichts regte, entfernte +ich mit Bedachtsamkeit die Scherben, öffnete den Innenriegel +und stieg ein. Ich hatte Gummisohlen an den Stiefeln +und stieg unter dem fortwährenden Gekläff der Hunde die +Treppe hinan bis zum Schlafzimmer des Majors, in das ich +ohne zu zögern eintrat. Es war eine ziemlich stürmische Mondscheinnacht, +und obgleich der Mond häufig durch Wolken verdeckt +wurde, fiel doch durch das unverhängte Fenster Licht +genug, daß ich den Major sehen konnte. Er hatte eine Mütze +auf dem Kopf und schnarchte laut. Er erschien mir sehr dick. +Dicke Menschen waren mir von jeher zuwider, und in diesem +Augenblick empfand ich nur die rein tierische Abneigung gegen +den Mann. Als ich neben das Bett trat, gewahrte ich auf dem +Nachtkästchen ein Buch, und ich konnte im Mondlicht ohne +<a class="page" name="Page_121" id="Page_121" title="121"></a>Mühe den Titel auf dem bunten Umschlag lesen. Es waren +»Lederstrumpfs Erzählungen«. Einfältig und lächerlich kam es +mir vor, daß ein Soldat in den Jahren des Majors solches +Zeug zur Abendlektüre wählte; aber diese Betrachtung ließ mich +nur um so mehr spüren, wie schändlich es sei, einen Mann im +Schlafe zu töten. Einer derartigen Regung fühlte ich mich nicht +gewachsen, ich legte meine linke Hand auf die Schulter des +Majors, in der rechten hielt ich den Revolver. Der Major +wachte sofort auf und sah mich stier an. »Nehmen Sie einen +Revolver,« sagte ich kalt, »wir müssen uns auf der Stelle schießen.« +Seine Augen rollten furchtsam im Kreis, und es war, +als verstehe er mich nicht. Ich wiederholte meine Worte. Er +fing an zu murmeln; ich schnitt ihm die Rede ab und wiederholte +meine Worte. Er schüttelte sich ein wenig und sprach +jetzt deutlich, ich hörte nichts und wiederholte abermals meine +Worte. Plötzlich sprang er auf, die andere Seite des Bettes +war ebenfalls wandlos, er taumelte aus dem Bett und schrie +mit heiserer Stimme um Hilfe.</p> + +<p>Da schoß ich. Ich schoß zweimal. Er streckte gleich darauf +die Arme in die Luft und stürzte zu Boden. Ich näherte mich +ihm und sah, daß er tot war. Es rann mir eisig durch alle +Glieder. Ich verließ das Zimmer und ging über den Korridor +hinüber zu Auroras Schlafgemach. Sie mußte die Schüsse gehört +haben. Was jetzt? fuhr es mir durch den Kopf; das beständige +Geheul der Hunde machte mich rasend. Ich hatte mir +das Nachher ganz und gar nicht vorgestellt, aber daß ich mich +nun gemütsruhig entfernte, um zu warten, bis am Morgen die +Untat, als von einem Unbekannten verübt, entdeckt wurde, das +ging nicht an. Ich fühlte, daß ich sterben müsse, und es entstand +in mir der Wunsch, daß Aurora mit mir sterben möge. +<a class="page" name="Page_122" id="Page_122" title="122"></a>Wie ward mir aber, als ich Auroras Zimmer leer fand und +ihr Bett unberührt! Ich schritt der Reihe nach durch alle Zimmer +des Stockwerks, und die wohlbekannten Möbel und Bilder +blickten mich an, wie lebendige Dinge. Indes ich wie ein Gespenst +dort herumirrte, vernahm ich das Rollen eines Wagens +auf der Straße. Ich stand gerade wieder auf dem Korridor, +welcher auf eine Tür zulief, die gegen einen kleinen Gassenbalkon +oder Vorbau führte. Diese Tür öffnend, trat ich hinaus +und kam eben recht, als der Wagen vor der Gartenpforte hielt. +Durch die kahlen Baumzweige hindurch konnte ich sehen, daß +Aurora ausstieg. Ich erblickte aber noch jemand im Wagen, +ein Gesicht erschien am Fenster, das ich wohl erkannte. Aurora +blickte flüchtig am Haus empor, aber nicht dorthin, wo ich stand, +sondern gegen die Seite, wo des Majors Zimmer war. Darauf +beugte sie sich noch einmal in den Wagen, ich sah einen roten +Handschuh auf ihrem Arm und ich hörte sie flüstern und lachen. +Gott! ich hatte kaum mehr die Kraft zu stehen, ich spürte, daß +mich die Blässe überströmte wie Sand. Treunitz! Treunitz! +schrie es in mir, du hast verspielt.</p> + +<p>Aurora war inzwischen ins Haus gegangen, den Schlüssel +hatte ich in ihrer Hand blinken gesehen, ihre Schuhe schlürften +auf den Steinfliesen im untern Flur, dann knarrte eine Tür, dann +wieder eine. Ich ging in den Flur, blieb aber in der Ecke stehen. +Aurora kam mit den beiden Jagdhunden die Stiege herauf. +Sie hielt die Tiere, die sich wie toll gebärdeten, fest an der Leine. +Wahrscheinlich hatte das unaufhörliche Gebell Furcht in ihr +erweckt, und sie hatte den Verschlag geöffnet, um die Hunde +mitzunehmen. Sie gewahrte mich nicht, sie ging in ihr Zimmer. +Ich hörte, wie sie mit beinahe wilden Lauten die Hunde zu +bändigen suchte, was ihr jedoch nicht gelang. Ich kehrte unter<a class="page" name="Page_123" id="Page_123" title="123"></a>des +zum Zimmer des Majors zurück, blieb aber auf der Schwelle +stehen. Jetzt trat Aurora mit der Kerze auf den Flur, sie hatte +noch den Hut auf, der lange Schleier hing zu beiden Seiten +herunter wie zwei blaue Fahnen. Die Hunde, der Leine entledigt, +stürzten an mir vorüber in das Zimmer des Majors. +Sie blieben an der Leiche stehen und verbellten den toten Mann +wie ein im Feuer verendetes Stück. Aber auf einmal wurden +sie alle beide still und winselten nur noch. Aurora schaute mit +kaltem Blick in den Raum, dann mit demselben kalten Blick +auf mich und fragte mit dem seltsamsten Gleichmut: »Was +hast du denn da gemacht?« Und als ich schwieg, fuhr sie mit +genau derselben matten und unbewegten Stimme fort: »Er ist +wohl tot?« Und als ich abermals schwieg, begann sie wieder: +»Warum hast du denn das getan?«</p> + +<p>Im ersten Augenblick glaubte ich den Verstand verloren zu +haben. Ich konnte kein Wort aus meiner Kehle pressen, meine +Zähne rieben sich hörbar aufeinander, und ich mußte das unbegreifliche +Weib nur immerfort anstarren. Sie blickte sich noch +einmal um, etwa wie wenn man in einem Museum Bilder +anschaut, dann pfiff sie den Hunden und ging. Die Hunde +folgten nicht, sie hörten nicht auf zu winseln. Da entfernte sie +sich allein. Sie ging in ihr Zimmer. Ich blieb wie versteinert +auf meinem Platze, die beiden Tiere zu sehen und zu hören, +war mir plötzlich das hellste Grauen. Ich fing an zu zittern +und wußte nicht, woran ich denken sollte. Ich weiß nicht mehr, +wieviel Zeit verflossen war, möglich eine halbe Stunde, möglich +eine ganze, als ich mich entschloß, in Auroras Zimmer zu gehen. +Die Türe war unversperrt. Aurora war im Bett, die brennende +Kerze stand noch auf dem Nachttisch. Im Zimmer selbst war die +größte Unordnung, Kleider und Wäschestücke lagen umher, eine +<a class="page" name="Page_124" id="Page_124" title="124"></a>kleine Reisetasche stand, wie zum Gepacktwerden, offen auf einem +Stuhl. Ich blieb am untern Bettpfosten stehn und fragte +Aurora, ob sie es denn nicht gewollt habe. Aus den Kissen +heraus antwortete sie: »Laß mich jetzt schlafen.« »Um Gotteswillen!« +flüsterte ich. Da erhob sie den Kopf und fragte kalt, +ob ich das Billett nicht erhalten habe. »Was für ein Billett?« +fragte ich. Sie sah mich unwillig an, lachte plötzlich und sagte +fast verächtlich und als ob ich ihr völlig fremd sei: »Gehen Sie +hinaus und lassen Sie mich schlafen. Es schickt sich nicht, daß +Sie bei meinem Bette sind.« Mit diesen Worten blies sie die +Kerze aus, und ich hörte sie wieder leise ins Kissen lachen.</p> + +<p>Ich begriff es nicht. Ich hätte begriffen, wenn sie zornig, +wenn sie wütend, wenn sie verzweifelt gewesen wäre, ich hätte +alles begriffen, aber dies begriff ich nicht. Mir war es, als ob +aus einer schönen Verkleidung ein Unhold hervorgetreten wäre, +ein bestialisches Gebilde, ein grinsendes Affenwesen, wie es +dermaßen furchtbar die Welt noch nicht erblickt. Ich tastete +mich hinaus, das Entsetzen lag mir in allen Gliedern. Auf dieselbe +Weise, wie ich gekommen war, mußte ich auch das Haus +verlassen. Nachdem ich das Gartentor aufgesperrt und hinter +mir zugeklappt hatte, warf ich den Schlüssel über den Zaun +zurück. Es war ein Uhr, als ich nach Hause kam. Auf dem Tisch +lag Auroras Brief. Ich öffnete ihn nicht. Es war mir alles +zum Ekel und alles rätselhaft. Ich legte mich erschöpft aufs +Bett und schlief bis sieben Uhr. Als mein Bursche kam, beauftragte +ich ihn, eine Droschke zu holen, und zog unterdes die +Uniform an. Ich fuhr in die Kaserne und wartete in der Kanzlei +auf den Obersten. Er erschien erst gegen neun Uhr; er war +bleich und fragte mich, ob ich schon wisse. Die Ermordung +des Majors war bereits in der Stadt bekannt. Ich bat ihn um +<a class="page" name="Page_125" id="Page_125" title="125"></a>ein Wort unter vier Augen. Mein Geständnis machte seinem +wohlwollenden und gegen mich stets vertraulichen Wesen ein +schnelles Ende. Ich mußte den Degen abliefern und wurde +sogleich inhaftiert. Dies alles war von keinem Belang mehr +für mich. Ich wurde gefragt, ob ein Zweikampf beabsichtigt +gewesen sei. Ich verneinte, weiß aber kaum, warum. Ich +hätte meine Verteidigung darauf bauen können, ich tat es +nicht. Ich hätte ja dem Major eine zweite Waffe in die Hand +drücken können, bevor ich das Haus verließ. Ich tat es nicht, +weil es mir gleichgültig war. Ich erfuhr von der Verhaftung +Auroras, von dem Erstaunen und dem Schrecken, den meine +Tat überall erregte, und auch dieses war mir gleichgültig. Am +andern Morgen besuchte mich der Oberst, fragte, ob ich vor dem +Transport ins Militärgefängnis noch etwas zu ordnen hätte, +legte ein Terzerol auf den Tisch und stellte sich ans Fenster. +Ich tat nicht, was er erwartete. Er entfernte sich ohne Gruß. +Die Kameraden glaubten, daß ich aus Feigheit unterlassen +habe, ein Ende zu machen, aber dem ist nicht so. Ich habe nichts +vom Feigling in mir. Ich war bloß regungslos in meinem +Innern. Ich war ganz wie aus Blei. Ich grübelte beständig +ins Finstere hinein. Erst mit dem Verlauf vieler Tage kam ich +wieder zur Besinnung. Ich fing an, meine Beichte dem Papier +anzuvertrauen. Ich hinterlasse sie der geringen Zahl meiner +Freunde. Es ist mir nun klar, daß mich die Menschen für schuldig +halten und daß ich zu sterben die Pflicht habe. Ich selbst, ich +kann nicht sagen, ob ich mich schuldig fühle oder nicht. Ich +kann es nicht sagen. Aurora hat es ja gewollt. Um meiner +Mutter willen bitte ich um ein anständiges Begräbnis.</p> + +<p>Und nun geschehe, was geschehen muß.</p> + +<p><a class="page" name="Page_126" id="Page_126" title="126"></a></p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a class="page" name="Page_127" id="Page_127" title="127"></a></p> +<h2><a name="Hilperich" id="Hilperich"></a>Hilperich</h2> + +<!-- <p><a class="page" name="Page_128" id="Page_128" title="128"></a>[Blank Page]</p> --> + +<div class="poemright"><div class="stanza"><p><a class="page" name="Page_129" id="Page_129" title="129"></a></p> +<span>Ein Schiffer fährt den dunklen Strom<br /></span> +<span>Hinunter ohn Bedacht.<br /></span> +<span>Die Lüfte ruhn, das Wasser schweigt,<br /></span> +<span>Und mählig wird es Nacht.<br /></span> +</div></div> + +<p class="newsubsection">Kanzlist Johann Querschneider zu Nürnberg, ein seltsamer +Kauz, ein Hungerleider doch nach Diogenes’ Art, erzählt:</p> + +<p>Vierundzwanzig Jahre sind seit meines Vaters Tod verflossen. +Ich bin ein uneheliches Kind und führe den Namen meiner +Mutter. Bis zu meinem zweiundzwanzigsten Jahr wußte ich +von meinem Vater nichts, nicht einmal ob er lebte. Ich hatte +mich nicht sonderlich dafür interessiert; Gott weiß aus welchem +Grund ich stets darüber hinweg dachte. Meine Mutter verfuhr +in diesem Punkt sehr kategorisch. Wenn ich fragte, so +lachte sie mir ins Gesicht. Ich zerbrach mir nicht den Kopf, +sondern lebte so hin, nicht schlechter und nicht besser als andere; +Geld hatten wir wenig, litten aber keinen Mangel. Meine +Mutter bezog irgendwoher eine kleine Pension, besorgte +Nähereien für einige Bürgersfrauen im Bezirk, und ich selbst +war beim Amtsgericht als Schreiber angestellt.</p> + +<p>Ich lebte also und beschäftigte mich nach meiner Art. Bis +zu meinem zweiundzwanzigsten Jahr wie gesagt. Da ereignete +es sich eines Morgens im Frühling, ich ging gerade zum Amt, +daß ich im düsteren Korridor unseres uralten Gerichtsgebäudes +ein junges Mädchen stehen sah, welches forschend und unruhig +den langen Gang bald hinauf, bald hinunter blickte. Ich trat +zu ihr hin und fragte unverhohlen nach ihrem Begehren. Sie +antwortete etwas in italienischer Sprache, und da ich sie nicht +verstand, schüttelte ich den Kopf und ging langsam meiner +Wege. Das ist ein teuflisches Frauenzimmer, sagte ich mir, +denn ich hatte im Leben Schöneres nicht gesehen. Voller Ge<a class="page" name="Page_130" id="Page_130" title="130"></a>danken +kam ich in die Amtsstube und setzte mich an meinen +Tisch. Drei Personen von den Parteien waren schon anwesend. +Der Diener schrie in den Flur hinaus: »Bianca Spinola!« +und das schöne Mädchen trat ein.</p> + +<p>Die Verhandlung betraf einen schwierigen und absonderlichen +Fall. Der alte Rat Hilperich (ein Mann, den jedes Kind +auf der Straße kannte, und dessen abenteuerliche Vergangenheit +den Gegenstand vieler Erzählungen bildete) war auf den +Einfall gekommen, eines seiner unehelichen Kinder, ein junges +Mädchen aus dem Trentino, an einen Bankbeamten zu verheiraten. +Alles war schon im besten Zug gewesen, die jungen +Leute selbst im Einvernehmen, als plötzlich die Mutter des Beamten +mit Zeter und Mordio erschien: der junge Ehekandidat +sei gleichfalls ein Kind Hilperichs. Was der alte Herr vorerst +gründlich bestritt. So kam die Sache vors Gericht und bildete +lange Zeit das Gelächter der amtlichen Personen und der +ganzen Stadt. Mit Neugierde sah ich den alten Mann an, +der nun vor dem Richter erschienen war. Sicherlich zählte +er mehr denn siebzig Jahre, obwohl seine blauen Augen strahlend +und lebhaft waren. Seine hagere und etwas gebogene +Gestalt hatte etwas Majestätisches, und dieser Eindruck wurde +verstärkt durch das Trotzige, Verbissene, Verächtliche seines +Gesichtes. Wenn unter den zusammengezogenen Brauen die +Augen verschwanden und die verkniffenen, schmalen Lippen +sich hinter dem weißen Bart wie hinter dünnem Buschwerk +versteckten, mochte man wohl Furcht empfinden, und das rote +Gesicht, das vom Alter weniger versengt schien als von den +Leidenschaften, konnte man nicht leicht vergessen. Das ist +also der alte Hilperich, dachte ich mir und mußte gleichzeitig +lächeln, weil ich sah, daß die Sonne auf die schwarze Kappe +<a class="page" name="Page_131" id="Page_131" title="131"></a>und den schwarzen Bart des Richters ein goldenes Emblem +gemalt hatte. Das alles sehe ich noch deutlich. Auch den +hübschen und verschwiegen aussehenden jungen Mann, den +Bankbeamten; er hatte eine Narbe mitten auf der Stirn. +Dann seine Mutter, eine sehr dicke Frau, welche fortwährend +Schokoladestückchen aus der Tasche zog, wodurch aber die +Redekraft ihrer Zunge keineswegs verringert wurde. Dann +das junge Mädchen, aber von diesem will ich jetzt nicht reden. +Der Richter wiegte den Kopf, fragte dies und jenes, und seine +Klugheit war bald erschöpft.</p> + +<p>Ich weiß nicht mehr, wie ich daheim beim Mittagessen die +Sprache auf den alten Hilperich brachte. Ich erzählte die +ganze Geschichte, die mir sehr belustigend erschien. Meine +Mutter aber verlor sofort ihr munteres Wesen, wurde nachdenklich +und entfernte sich vom Tisch. Der Zufall fügte es – +ich bin alt genug geworden, um das Wort Zufall nicht ohne +ein Gefühl von Andacht hinzuschreiben – daß ich an demselben +Tage der jungen Trentinerin wieder begegnete. Wir +trafen uns nämlich beim Krämer, wo sie für ein Gewürz, das +sie kaufen wollte, den deutschen Ausdruck nicht wußte. Ich +machte nun den Dolmetsch, und zwar auf die komischste Weise +der Welt, denn ich verstand ja selber nichts von der fremden +Sprache. Ich schleppte alles herbei, was in dem Laden zu +finden war, und stapelte es vor der schönen Dame auf, wie +man einem fremden Monarchen etwa die Reichtümer eines +Magazins zeigt. Es gab ein großes Gelächter, und der Krämer +selbst, der mein guter Bekannter war, fand sich bei dem Spaß +am besten amüsiert.</p> + +<p>Da die junge Bianca, wie ich mit Mühe erfuhr, in der +Nähe wohnte, begleitete ich sie nach Hause, und es verursachte +<a class="page" name="Page_132" id="Page_132" title="132"></a>uns weiterhin großes Vergnügen, uns zu verständigen. Unsere +Mißverständnisse waren so heiter, daß eins das andere +übertraf und wir gewiß mehr davon hatten, als von einer +regelrechten Unterhaltung. Ich sah, daß sie ein Mädchen +aus dem Volk war, und daß es nicht schwer fiel, sie heiter +zu stimmen und ihr zu gefallen. Ja, ich gefiel ihr, und +meine drollige Zeichensprache, mein Murmeln und Kauderwelsch +trieben Tränen des Lachens in ihre schönen Augen.</p> + +<p>Überflüssig, von all den Einzelheiten zu erzählen; nicht +lange darauf konnte ich Bianca mit meiner Mutter bekanntmachen. +Meine Mutter erinnerte sich sofort daran, was ich +ihr von jener Verhandlung erzählt hatte. Sie führte mich +beiseite und fragte mich sehr ernst, ob das jene Bianca Spinola +sei. Mein unbefangenes Ja machte sie noch ernster und +feierlicher, so daß ich besorgt zu werden anfing. Aber ich wußte +nicht, was ich daraus machen sollte. Am folgenden Morgen, +es war ein Sonntag, gebot sie mir, mich sorgfältiger als sonst +anzukleiden, denn ich war immer ein wenig nachlässig darin. +Sie nahm mich also wie einen Schuljungen mit sich und führte +mich zu einem alten Haus in der Pfannenschmiedsgasse. Wir +stiegen zwei knarrende Treppen empor, und meine Mutter +zog die Klingel. An der Art ihrer Gebärde sah ich, daß ihr +Gemüt heftig bewegt war, und ich fragte sie darum. Aber +sie gab mir keine Antwort. Mein Erstaunen wuchs, als ich +das Porzellanschildchen an dem gelben, staubigen Gitter sah, +welches den Korridor von der Stiege trennte. Hilperich las +ich; aber ehe ich meine Mutter von neuem fragen konnte, +erschien eine Bedienerin. Meine Mutter zog einen Brief aus +der Tasche und sagte, sie wolle auf Antwort warten. Die +Frau führte uns in ein großes, leeres Zimmer, welches nichts +<a class="page" name="Page_133" id="Page_133" title="133"></a>als einen Spiegel und ein paar Stühle enthielt. Vor dem +Spiegel stand ein dünner Mann mit einer Glatze und richtete +sich eine rote Krawatte. Unser Eintreten störte ihn nicht im +mindesten; ich war erstaunt, denn nie hatte ich ein so verhungertes, +grämliches und furchtsames Gesicht gesehen.</p> + +<p>Die Bedienerin kam alsbald zurück und bat meine Mutter, +ihr zu folgen. Wieder verging eine Weile, während ich saß +und lauerte und mir den Kopf zerbrach über das, was vorging. +Der dünne Mann stelzte komisch vor mir auf und ab, +murmelte und schielte mich von der Seite an, so daß ich lachen +mußte. Endlich öffnete sich die Türe, der alte Rat kam heraus, +faßte mich schnell ins Auge, schritt auf mich zu, nahm meinen +Kopf zwischen seine beiden Hände, verkniff seine Lippen streng, +nickte und küßte mich auf die Stirn. Im Rahmen der Tür +stand meine Mutter und sagte mit ganz verweintem Gesicht: +Johann, das ist dein Vater. Immer sonderbarer wurde mir +zumut, und das Sonderbarste war mir wohl in diesem Augenblick, +daß mein Freund mit der roten Krawatte ganz ruhig +weiter auf- und abstelzte, als ob er daran gar nichts Auffälliges +fände oder es längst vorausgesehen hätte. Es ist wahr, das +Wort Vater machte in diesem Augenblick keinen Eindruck auf +mich, aber wer will mir das verübeln? Ich erinnere mich, daß +ich für meine Mutter ein unbestimmtes Mitleid empfand und +daß ich mich im übrigen weit weg wünschte. Auch war ich +erstaunt und verlegen und wurde es immer mehr, so daß mir +der Schweiß auf die Stirne trat.</p> + +<p>Ich erinnere mich, daß meine Mutter und der alte Mann +einander noch lange Zeit gegenübersaßen und über die Vergangenheit +plauderten. Der Rat Hilperich, den ich nicht einmal +in Gedanken Vater zu nennen wagte, blieb dabei gelassen, +<a class="page" name="Page_134" id="Page_134" title="134"></a>ja sogar ein wenig spöttisch. Es fiel mir auf, daß die fernliegendsten +und vergessensten Dinge ihm so nahe schienen wie +die Gegenwart. Er sprach nicht wie ein alter Mann und nicht +wie ein junger Mann, sondern als ob er ein Gebieter über die +Zeit und über die Jahre wäre, und als ob es für ihn kein Verschwinden +gäbe. Das ist mir freilich jetzt viel deutlicher als +damals; denn ich habe ja erst durch ihn gelernt, was menschlich +ist, abzuwägen.</p> + +<p>Die Rede kam auch auf mich, auf meinen Beruf und meine +Beschäftigung. Die Mutter rühmte meine Fähigkeiten; ihre +Augen glänzten dabei, als ob sie von etwas Großem spräche, +und ich mußte lachen. Das schien meinem Vater zu gefallen. +Er nahm meine Hand, tätschelte sie ein wenig und sah mich +halb liebevoll an und halb wie einen seltsamen Zwerg. Plötzlich +aber sprang er auf und kreischte mit einer zerbrochenen, +gehässigen Stimme: Mittelmann, scheren Sie sich zum Teufel! +Und der schweigsame Spaziergänger machte sich wie ein armer +Hund auf die Beine. Mein Vater lachte uns triumphierend +an und wandte sich dann unvermittelt zu mir. Er habe viele +Schreibereien, sagte er, und brauche einen, dem er sein ganzes +Vertrauen schenken könne. Er glaube, daß ich nicht auf den +Kopf gefallen sei, denn ich sei ja von seinem Blut. Wenn es +mir recht sei, möge ich täglich zwei Stunden zu ihm kommen; +es wäre nicht umsonst, und meine Stelle beim Amt könne ich +ja behalten. Ich erklärte mich bereit, und meine Mutter fing +sogleich vor Freude wieder zu weinen an. So entließ er uns.</p> + +<p>Am andern Morgen brachte ein Dienstmann ein herrliches +Geschenk für meine Mutter, eine Stehlampe, deren gläserne +Kugel von zwei nackten Frauen getragen wurde. Das war ein +zarter Beweis für die Gesinnungen meines Vaters, und mit +<a class="page" name="Page_135" id="Page_135" title="135"></a>Genugtuung trat ich den Weg zu seinem Hause an. Ich war +so in Nachdenken verloren, daß ich beinahe überfahren worden +wäre. Beständig sah ich mich an einem Wendepunkt meines +Schicksals, das sich glänzend vor mir aufrollte.</p> + +<p>Ich fand meinen Vater in seinem Wohnzimmer. Er war +in Unterhosen, betrachtete mich komödiantisch forschend, mit +seinem gewohnheitsmäßigen, halb grinsenden Lächeln, doch +mit ernst blitzenden Augen. Man hatte ihm gegenüber das +Gefühl, daß man stets scharf beobachtet war, und daß nichts +seiner Beobachtung entging. Alles an ihm war voll Leben +und Lebendigkeit trotz seiner schlottrigen, mageren, baufälligen +Gestalt. Das Zimmer war vernachlässigt und unordentlich. +Keine Bilder schmückten die Wände. Neben dem Bett hing +ein riesenhaftes Löschblatt, vom Gebrauch schwarz marmoriert, +und auf dem Boden stand ein Schreibedeckel neben einem +eisernen Tintenfaß, denn mein Vater pflegte im Bett zu +schreiben. Wäschestücke, Briefe und Schachteln lagen umher; +auf einer gelben Kommode pendelten zwei Uhren, von denen +die eine Mitternacht oder Mittag, die andere fünf Uhr wies.</p> + +<p>Mein Vater hieß mich sogleich vor dem Schreibtisch Platz +nehmen und diktierte mir eine ziemlich unverständliche Abhandlung, +welche, wenn ich mich recht entsinne, Kultur und +Mode hieß. Später erfuhr ich, daß er dergleichen viel schrieb, +und manches, was mir recht überflüssig vorkam. Er tat es +für Geld. Das war mir im Anfang unerklärlich, denn ich +wußte nicht nur, daß er ein schönes Privatvermögen besaß, +sondern auch, daß er das Geld verstreute, als ob es Kleie +wäre. Er besah es nicht, sondern gab hin, nach allen Seiten. +Dabei lebte er selbst in strenger Einfachheit, war genügsam +wie ein Bauer, stand mit der Sonne auf, im Winter und im +<a class="page" name="Page_136" id="Page_136" title="136"></a>Sommer. Bald, bald erfuhr ich, wohin das viele Geld wanderte. +Aber darüber laßt mich vorerst nicht reden. Damals verwirrte es +meinen Sinn wie vieles andere Neue, und heute noch, in der +Erinnerung, bewegt es mich sehr. Einmal, während ich bei +ihm schrieb – es war immer noch über Mode und Kultur, +denn das ging von Adams Zeiten an – kam ein Brief mit +der Post. Mein Vater las ihn, und sein Gesicht zeigte dabei +Zorn und Haß. Da! herrschte er mich an und warf das zusammengefaltete +Papier vor mich hin. Ich schlug es auseinander +und überflog ein Schreiben voller Vorstellungen und +Vorwürfe; Religion bildete die Quelle der Beredsamkeit, so +daß bisweilen der Ton etwas Prophetisches und Salbungsvolles +hatte. Zum Schluß wurde der verderbte Greis flehentlich +gebeten, in den Schoß der Kirche zurückzukehren.</p> + +<p>Ich hatte von der geschiedenen Ehe meines Vaters munkeln +hören. Dieser Brief war von seiner Frau. Sie verdummt in +den Händen der Pfaffen, sagte der Alte bitterböse zu mir; +aber zugleich nahm ich einen traurigen Ausdruck in seinem +Gesicht wahr, der mir naheging. Er schickte mich an diesem +Tag fort. Als ich am folgenden Tag wiederkam, schenkte er +mir eine wunderschöne, goldene Uhr – für meine Dienste, +wie er sich ausdrückte, hieß mich jedoch abermals gehen. Als +ich durch den Korridor schritt, sah ich ein Mädchen von nicht +mehr als fünfzehn Jahren, die voll Unbefangenheit in Blick +und Miene an mir vorüberging, in die Wohnung meines +Vaters. Sie war sehr elegant gekleidet, doch hatte man gleich +den Eindruck, daß dies etwas Selbstverständliches an ihr war. +Ich schaute ihr neugierig, fast freudig nach, und die Freude +an meinem Geschenk ließ mich ihre flüchtige Erscheinung doch +nicht vergessen.</p> + +<p><a class="page" name="Page_137" id="Page_137" title="137"></a>Als ich nach Hause kam, traf ich zu meinem Erstaunen +Bianca Spinola bei uns. Sie war auf Geheiß meines Vaters +gekommen, wie ich hörte; sie solle nur mit uns Umgang suchen, +hatte er gesagt. Ich lachte und erwiderte, daß es wie in einer +türkischen Familie sei, aber im Grunde fand ich etwas Wohliges +und Geheimnisvolles in der neuen Verwandtschaft von fernher. +Bianca Spinola sprach schon viel besser deutsch; ihr Radebrechen +entzückte meine Mutter. Ich selbst fühlte mich gehobener +durch ihre Gegenwart, doch ohne die frühere Bewegtheit; +auch war mein Kopf voll von Gedanken. Ich zeigte meine +prächtige Uhr, die eitel Bewunderung weckte, und wir waren +herzhaft vergnügt den ganzen Abend über.</p> + +<p>Ich weiß nicht mehr recht, ob es der darauffolgende Tag +war, an dem ich von Mittag bis zum Abend bei meinem Vater +Briefe schrieb. Ich erinnere mich nur, daß es draußen stürmte +und regnete und gewitterte. Mein Vater saß an der Seite des +Tisches und diktierte. Er schien eine große Vermögensordnung +im Sinn zu haben, denn in allen Briefen war davon die Rede; +auch zeigte die ganze Art meines Vaters wohlerwogene Entschlüsse. +Meines Vaters ... An diesem Tag wurde mein Gehirn +aufgeweckt, und ich sah mich nur als ein Körnchen unter vielen. +Ich sah einen wahren Stammvater vor mir, dessen langes Leben, +ein Leben, welches er noch nicht fühlte, in der Erzeugung von +Kindern verflossen war. Freilich damals war es mir nur wie ein +Schauer; heute verstehe ich. Jeder Brief war entweder an einen +Sohn oder an eine Tochter oder an eine frühere Geliebte gerichtet, +die jetzt alterte und arm war, und der er ein Scherflein zukommen +ließ. Hier gab er Ratschläge und ermunterte, dort +setzte es eine Strafpredigt; im Norden und im Süden, so schien +es, hatte seine Jugend die gleichen Erfolge aufzuweisen ge<a class="page" name="Page_138" id="Page_138" title="138"></a>habt, +und in der Heimat selbst erblühte kräftig der junge Nachwuchs +aus seinem Blut. Manchmal hatten mir Leute gesagt, +daß Fürstinnen und Prinzessinnen von Liebe zu ihm geplagt +worden seien, ja, daß eine gewisse Herzogin, nun schon bei +hohen Jahren, oftmals ein Plauderstündchen beim alten +Hilperich einhole. Das hatte man mir erzählt, und ich leugne +nicht, daß ich dazu ein ungläubiges Gesicht aufgesetzt hatte. +Jetzt wurde mir die Zeit zur Lehrerin, und ich verlachte meine +eigene Zweifelsucht. Ich erfuhr freilich im Lauf der Zeit, daß +mein Vater einst eine große Rolle gespielt habe. Der Hof +und das Volk hätten gleichermaßen Vertrauen in ihn gesetzt; +jener hätte seinen Kopf, dieses sein Herz zu würdigen gewußt, +und beide seien auf ihre Rechnung gekommen. Im Revolutionsjahr +soll er der Regierung wichtige Dienste geleistet +haben, und man sagte, daß er auf die Neugestaltung unseres +Strafgesetzes den größten Einfluß ausgeübt hätte. Ich erwähne +alles dies mit Ängstlichkeit, denn ich kann nicht dafür +bürgen. Aber zwei Umstände will ich noch anmerken, die für +meine Augen ein Licht über meines Vaters Leben verbreiteten. +Einmal zeigte er mir ein Ölgemälde, das ihn selbst +in seinen jungen Jahren darstellte. Man konnte nichts Liebenswürdigeres +sehen! Um die Stirne glitten braune Locken, +die Augen blickten freundlich träumend, und das griechisch +runde Kinn war fest wie ein junger Apfel. Der Maler +mochte phantasiert haben, aber sicherlich hatte ihm das Entzücken +über das lebendige Antlitz die Arbeit verschönt. Ich +dachte mir damals, so muß man aussehen, um der Welt mehr +zu sein, als sie uns ist. Oder vielleicht denk ich dies heute, +denn damals war ich jung.</p> + +<p>Das zweite ist dies. Vor etwa zehn Jahren lernte ich einen +<a class="page" name="Page_139" id="Page_139" title="139"></a>alten Mann kennen, der mir von meinem Vater erzählte, und +zwar in einem Ton wie von eigenen Heldentaten. Dieser +Mann hatte meinen Vater als Fünfzigjährigen noch gekannt +und behauptete, daß seine Anmut, sein weltmännisches Betragen, +sein Witz und seine Güte einen eigenen Ruhm genossen +hätten. Mein Erzähler berichtete tausend Einzelheiten +mit einfältigem, aber rührendem Eifer. Nicht das jüngste +Fräulein habe ihm zu widerstehen vermocht, dem Graubart, +sagte der Schelm und lachte wie ein gackerndes Hühnchen. +Schon damals sei die Zahl seiner Kinder zum Gegenstand vieler +Witze geworden, und als er sich um diese Zeit verheiratete, +hatte man in der Stadt gesagt, nun sei der Sultan zur Galeere +verurteilt. Aber Hilperich war weiterhin auch Sultan geblieben, +so meinte mein humoristischer Mann und fügte hinzu: +wer ihn kannte, vermochte durchaus nicht an seinen Tod zu +glauben. Etwas Starkes, Über den Tod-Starkes sei in ihm +gewesen.</p> + +<p>Die Briefe, die mir mein Vater diktierte, mochten für einen +Unvertrauten etwas Geheimnisvolles, sogar Wahnsinniges +haben. Denn wer sollte denken, daß ein und derselbe Mann +Söhne, Töchter, Frauen in allen Richtungen der Windrose +besitze? Mich selbst zwang damals etwas Seltsames zu ungeprüfter +Hinnahme. Ihr müßtet gesehen haben, wie mein +Vater jedem einzelnen Brief gegenüber ein besonderer Mann +wurde! Bei dem einen wurde sein Gesicht hämisch und verdrossen; +bei dem andern leuchtete es erinnerungsvoll; jetzt war +er karg und spröde, später von zärtlicher Geschwätzigkeit; hier +verurteilte ihn ein kluger Ratschlag zu langem Nachdenken, +dort war er zornig wie eine alte Katze, schlug vor Zorn auf den +Tisch, fletschte die Zähne, und ich, ich wußte keinen Grund, sah +<a class="page" name="Page_140" id="Page_140" title="140"></a>ein Stück Vergangenheit wie in den Scherben eines Spiegels. +Aber zugleich muteten mich all die Gesichter vertraut an, denen +ich mich schreiberhaft zugewandt hatte. Ich trug etwas nach +Hause, was ich vordem nicht besessen hatte; wer kann dafür Worte +finden? Kummer und Freude sah ich fließen in der weiten +Gasse der Zeit. Mein Vater, ein fleißiger Angler, angelte sein +Teil heraus. Was er nach Haus trug, war sein, wie meins, +was ich.</p> + +<p>Jetzt muß ich aber etwas Neues erzählen, denn viel Verwirrendes +drängt sich vor mir. Damit ich jedoch nicht vergesse, +will ich erwähnen, daß ich an jenem Abend vor meines Vaters +Haus den Mittelmann traf (den dünnen Mann mit der roten +Krawatte) der mir eine Viertelstunde lang Unsinn vorschwatzte. +Er tat so, als sei er wohl Hilperichs Kind, doch enthalte man ihm +dies Recht vor. Darüber schwatzte der Arme wie ein Besessener; +später erzählte mir mein Vater, daß dies Mittelmanns +fixe Idee sei, mit der er seit Jahren durch alle Kneipen +hausieren gehe. Oder glaubst du, daß einer, den ich gemacht, +so aussieht? fuhr mich mein Vater grob an, stieß mich mit dem +Zeigefinger vor die Stirn, lachte aber sogleich in seiner keuchenden +Weise.</p> + +<p>Es war an einem Oktoberabend, kaum eine Woche nach +jenem Brieftag, und ich hatte meine Arbeit eben beendigt, da +kam jenes junge Mädchen zur Tür herein, welches mir damals +an der Treppe begegnet war. Mit allen Zeichen der Bestürzung +und Eile ging sie auf meinen Vater zu und flüsterte +etwas. Der alte Mann warf den Kopf zurück und blickte mit +einem drohenden Ausdruck ins Leere. Darauf schielte er mich +boshaft und finster von der Seite an und befahl mir durch eine +Gebärde, zu gehen. Bevor ich aber noch meinen Hut ergriffen, +<a class="page" name="Page_141" id="Page_141" title="141"></a>hatte mein Vater eine der Türen geöffnet, die aus seinem verwahrlosten +Schlafgemach in ein mir bisher unbekanntes Zimmer +führte. Dorthin sah ich nun die beiden gehen, und mein Blick +erhaschte zugleich gierig den fremden Raum, den mein Vater +nie betreten hatte, während ich zugegen war. Ich gewahrte +nun ein kleines Boudoir, das meinen unverwöhnten Augen +einen fürstlichen Prunk zeigte. Aber es schien mir zugleich +wohnlich und warm drinnen, und als ich auf der Straße war, +empfand ich eine Begierde nach diesem Gemach wie nach einem +verbotenen, verzauberten Garten.</p> + +<p>Die kurze Szene, kaum der Rede wert für einen Unbeteiligten, +hatte trotzdem tiefen Eindruck auf mich gemacht. Zu Hause +fand ich Bianca Spinola, welche zum Essen blieb und den ganzen +Abend bei uns verbrachte; meine Mutter war bei trefflicher +Laune; ich blieb schweigsam und nachdenklich. Ich mußte fortwährend +an das junge Fräulein denken, und das nicht vielleicht +mit den Gedanken von Mann zu Weib. Es war so, daß sie +vor meinem inneren Auge nicht entwich und ich mich quälte, +zu ergründen, was mir an ihr, seltsam genug, ein für alle mal +unergründlich schien. Noch jetzt, wenn ich die Augen schließe, sehe +ich ihren graziösen, müden Gang. (Sie ging, als ob sie wüßte: so +wie ich muß man gehen, aber wer wird darauf achten?) Ihre Verachtung +der Welt schien groß, aber kindlich. Sie hatte etwas Bemitleidenswertes +und zugleich Damenhaftes, etwas Wiegendes +und Achtloses. Ihre Augen, voll Trauer und Ironie, zeigten zwei +reine Augensterne wie schöne braune Perlen in gefrorener Milch.</p> + +<p>So schwebt sie mir vor, und was ich weiterhin erfuhr, erhorchte +und herausspionierte, will ich hier gleich sagen. Nicht +nur als neugieriger Tor wollte ich wissen, sondern was meinen +Vater anging, ich nahm es immer stärker wahr, betraf mich tief. +<a class="page" name="Page_142" id="Page_142" title="142"></a>Um seiner würdig zu werden, hatte ich mich in den letzten +Monaten mit einem bunten Studieren abgegeben. Auf eigne +Faust lernte ich fremde Sprachen, trieb allerlei Wissenschaft, +ohne Plan und Kraft, aber mit mehr Erfolg, als man bei einem +Menschen wie mir vermuten sollte. Doch die größte Ausdauer +zeigte ich bei der Erforschung des Verhältnisses zwischen meinem +Vater und Henriette, eben jenem Mädchen, das ich bei ihm und +vorher schon im Korridor gesehen hatte. Den leisen Andeutungen +entnahm ich Wissenswertes; Ohr und Auge waren geschärft +und einmal, gleichsam als Belohnung kam es zwischen +mir und meinem Vater zu einer wirklichen Plauderstunde. +Er hatte Zutrauen zu mir gefaßt; das wußte ich, oder ich weiß +es jetzt; denn damals gab ich mir nicht Rechenschaft über die +Dinge, sondern nahm sie nur mit Glut in mich auf.</p> + +<p>Eine flüchtige Leidenschaft hatte die Ehe meines Vaters +geknüpft. Den damals schon Sechsundfünfzigjährigen hatte +eine kühle und elegante Dame rasch entflammt. Doch bald +bröckelte aller Schmuck von jener Frau ab wie von einer schlecht +getünchten Wand. Sie war zäh in ihrem Dünkel und besaß +eine unverwüstliche Einfalt. Ein bösartiges Schaf und doch +wollte sie herrschen, sagte mein Vater unverhohlen von ihr. Er +selbst war für die Ehe wie Feuer für Stroh; nach drei Jahren +führten die Unverträglichkeiten zum Bruch, und die Frau ergab +sich den Pfaffen. Mein Vater führte sein Leben weiter, ungestümer +noch, als ob ihn der Ehekampf erregt hätte, aber eines +war, das ihn sogar der Frau verpflichtete: Henriette. Er liebte +diese Tochter mit der ganzen unbeschreiblichen Gewalt seines +Temperamentes, und wenn ich es recht bedenke, war es etwa +so, daß man sein Gefühl für Henriette und das für seine übrigen +Kinder in die zwei Schalen einer Wage legen konnte, und jenes +<a class="page" name="Page_143" id="Page_143" title="143"></a>einzige wäre schwerer gewesen als die andern alle. Auch mich +liebte der Alte, auch den blonden Ingenieur, den ich kannte, +auch die drei Töchter aus Prag, wie er sie hieß, auch den überseeischen +Kapitän oder den hübschen lebhaften Studenten, der +einer Frühlingsliebe am Meer entstammte, aber wir alle waren +gegen Henriette wie blasse Sterne gegen den Mond. Wie +wunderlich, daß aus der einzigen Verbindung, die sich in Alltäglichkeit +und Haß verlor, sein Liebstes kam.</p> + +<p>Da er ihre Erziehung nur bis zum dritten Lebensjahr überwachen +konnte und das Kind der Frau verbleiben mußte, hatte +in der ersten Trennungszeit seine väterliche Sorge alle andern +Interessen vertilgt. Er konnte nicht täglich das Haus einer +Verabscheuten betreten, welche ihrerseits das nicht sehr geliebte +Kind dem Wüstling, wie sie seinen Vater nannte, entfremden +wollte. Der Vater bestach die Dienstboten, ja er wußte es +durchzusetzen, daß eine ihm ergebene Person das Mädchen völlig +in ihre Obhut bekam. Diese würdige Frau Jakobea führte +Tag für Tag Henriette in die Wohnung ihres Vaters.</p> + +<p>Tag für Tag also, seit zwölf Jahren, hatte mein Vater eine +paradiesische Stunde in dem kleinen Gemach, das nur für ihn +und Henriette war, und welches gemütlich und heimlich auszustatten +er nicht müde wurde. Kein Kunstgegenstand war ihm +zu teuer, um dieses oder jenes Eck zu schmücken, und mit Geschmack +und Phantasie begabt, gestaltete er diesen Raum zu +einem Werk gleich einem Künstler, der aus Sehnsucht nach Vollkommenheit +seine letzte Arbeit bis ans Grab schleppt. In den +Kinderjahren Henriettes spielte der alte Mann mit ihr und vergaß +Zeit, Arbeit und Vergnügen darüber. Das frühkluge Mädchen +fand selbst dem Spiel gegenüber eine Überlegenheit, welche +komisch und reizvoll wirkte. Wenn auch nichts Starkes in ihr +<a class="page" name="Page_144" id="Page_144" title="144"></a>war, so doch etwas Sanftes, im Sanften Tüchtiges (da sie doch +wußte, wie angenehm es war, sanft zu sein). Indem sie das +Spiel beiseite schob, spielte sie, aber schon frühe wußte sie aus +Klugheit für Ernstes ernst zu bleiben. Ihr Vater wollte sie aus +den Reihen des Geschlechts erheben, wollte sie gleichsam +mit Weisheit und Voraussicht kränzen, eben mehr zu Schmuck +als zu Nutzen. Er selbst, in allen Künsten der Verführung +Meister, wollte sie vielleicht auch gegen einen jüngeren Hilperich +schützen. Ich erfuhr späterhin, daß er schon in ihrem zehnten +Jahr den Storch aus ihrer Phantasie vertrieb, daß er ihr langsam, +mit Nachdruck und Würde das Menschlichste nahe brachte. +Nichts Verschleiertes also gab es mehr; er gedachte sie zu ehren +durch Vertrauen und zu beruhigen durch Wissen. Schon mit +dreizehn Jahren kam Henriette allein, und schwer ist es zu sagen, +was <em class="gesperrt">sie</em> im tiefen Grund des Herzens zum Vater trieb. Er +saß stets lange vor ihrem Kommen im Henriettenzimmer und +wartete wie auf eine Geliebte. Sie kam, erregt durch die Heimlichkeit +ihres Besuches (ach, das hatte mein Vater nicht ermessen!), +lächelte, plauderte, fragte und urteilte, war plötzlich müde und +verstimmt, kopfhängerisch und von entzückendem Pessimismus. +So wuchs sie heran und teilte sich zwischen dem Haus des Vaters +und der Mutter. Ihr ganzes Wesen wurde so entzwei geschnitten.</p> + +<p>Das Ende des Jahres nahte heran. Zu Weihnachten schenkte +mir mein Vater einen wundervollen spanischen Mantel, den +er einst in Sevilla gekauft. Er war mit roter Seide gefüttert und +aus dem kostbarsten schwarzen Tuch gefertigt, das ich je gesehen; +wenn man ihn auf die Erde breitete, war er so groß wie ein +Zeltdach. Als ich mit diesem Geschenk freudestrahlend durch das +Vorzimmer ging, stürzte Mittelmann auf mich los, der noch immer +<a class="page" name="Page_145" id="Page_145" title="145"></a>irgendwo da herumlungerte. Mit kreideweißem Gesicht stellte er +atemlose Fragen an mich, ob er etwas geschenkt bekomme, was +es sei und wie es aussehe. Ich war sehr unfreundlich gegen ihn, +aber ich hätte es vielleicht nicht sein sollen. Der arme Mensch war +immer hungrig und machte der alten Bedienerin den Hof, um +ein paar Bissen zu ergattern. Dabei ging er mit seinen Sohnesansprüchen +an Hilperich umher wie mit einem sicheren Kapital, und +was ihn in seinem Glauben so befestigte, war nur das Gewäsch eines +Anverwandten, der einst im Hilperichschen Hause Aufwärter gewesen +war.</p> + +<p>Mein Vater ging in diesen Tagen mit einer festlichen geheimnisvollen +Miene herum. Er diktierte mir einen Aufsatz, +der den merkwürdigen Titel führte: »Die Erziehung zur Liebe«, +und von dem ich nicht das mindeste verstand. Zwei Tage vor +Neujahr wurden wir fertig. Es war schon dunkel, mein Vater +stand lange Zeit am Fenster und blickte auf die schneeblaue +Straße. Plötzlich wandte er sich heftig um und fragte scharf: +Na, willst du kommen? Ich wußte nicht, was er meinte, und +blieb still. Er stampfte zornig auf den Boden, lachte verächtlich, +doch bald wurde er sanft und streichelte mir die Wangen. Ich +hatte dabei meist ein schüchternes, fast furchtsames Gefühl; denn +wenn er liebevoll tat, war er oft gefährlich. Doch erklärte er +mir kichernd, daß es am Sylvesterabend »etwas gäbe«, und +damit mußte ich zufrieden sein.</p> + +<p>Am folgenden Abend zog ich meine besten Kleider an und war +voll Erwartung. Jedenfalls ist Henriette da, dachte ich mir; +denn ich wußte, daß ihre Mutter sich seit Wochen in einem Kloster +aufhielt und das junge Mädchen die ohnehin gewohnte Freiheit +so in noch höherem Maße genoß. Ich sah in Henriette durchaus +keine Schwester, eher eine ganz Fremde, aber liebe Fremde.</p> + +<p><a class="page" name="Page_146" id="Page_146" title="146"></a>Als ich hinkam, war Henriette schon da, auch eine alte, vornehme +Dame mit glatten, silberweißen Haaren, die in einem +Lehnstuhl saß und mich spöttisch anlächelte. Mein Vater schalt +mich, weil ich zu spät gekommen. Ich schämte mich, denn ich +hatte es für sehr vornehm gehalten. Stolz und vornehm war +ich mit meinem spanischen Mantel durch die Straßen geschritten.</p> + +<p>Wir saßen im Henriettenzimmer, und ich wagte mich kaum +zu bewegen, so sehr gefiel mir alles, was ich erblickte. Herrliche +Teller und Gläser schmückten den weißen Tisch; von der +Decke hing ein zwölfarmiger Leuchter herab, ganz von Gold, +wenigstens schien es mir so. Die Fenster waren mit dunkelblauem +Stoff verhängt, und an den Wänden hingen die schönsten +Bilder. Henriette trug ein einfaches, blaues Kleid, und ihr +Gesicht hatte etwas Geplagtes. Sie sprach wenig, aber immer +sehr betont und aufmerksam, und die alte Dame, deren schwarzseidenes +Kleid beständig knisterte, weil sie so belebt war, schien +voller Liebe gegen sie. Ich glaube, daß sie eine sehr vornehme +Person war; weder damals noch später erfuhr ich ihren Namen. +Aber was sie auch sein mochte, ihr gewinnendes Wesen ließ +mir jedes heimliche Forschen frevelhaft erscheinen. Sie duzte +meinen Vater, wie er sie, und eine lange Vertraulichkeit, +viel Zusammenerleben mußten es sein, die einen so herzlichen +Ton geschaffen hatten, wie er unter ihnen bestand.</p> + +<p>Während des Essens erhob sich mein Vater zu einem Trinkspruch. +Ich erinnere mich heute nicht mehr an seine Worte. +Damals schien es mir hinreißend, ihn so zu hören, und mein +Blick, der auf ihn gerichtet war, zitterte förmlich. Er sprach zu +uns von seinem Leben, von dem was untergeht und was bleibt, +Erinnerungen, die wie Schiffe am Horizont vorbeizogen, – +und eines ist mir unvergeßlich. Er sagte: Wenn ich einmal +<a class="page" name="Page_147" id="Page_147" title="147"></a>alt sein werde ... Er war im Oktober dreiundsiebzig geworden. +Er dachte so wenig an den Tod wie ein Knabe.</p> + +<p>Als er geendet hatte, stand Henriette auf, beugte sich zu ihm +und küßte ihn auf die Nasenspitze. Das war ihre Art etwas +Scherzhaftes mußte dabei sein. Die alte Dame klatschte in die +Hände. Mit einem kindlichen, fast mädchenhaften Lachen ergriff +sie das Glas und sagte, indem ihre Augen tief und warm +strahlten: Mein unsterblicher Hilperich soll leben. Wer sie und +Henriette zusammen sah, den mochten wohl sonderbare Gedanken +über Jugend und Alter gefangen nehmen.</p> + +<p>Mein Vater wurde immer aufgeräumter. Er stieß mich in +die Seite, drohte mir mit Prügeln, wenn ich fortführe, so +schweigsam zu sein. Henriette antwortete etwas zu meiner +Entschuldigung, was mir sehr verständig vorkam. Überhaupt +fand ich ihren Verstand immer bewundernswerter. Über alles +ringsumher schien sie sich spielerisch klar zu werden. Dennoch +sah ich Unruhe in ihren Augen.</p> + +<p>Wie lang ist es eigentlich her, daß wir uns schon kennen? +fragte die alte Dame in träumerischer Erinnerung.</p> + +<p>Mein Vater wiegte den Kopf. Lange, lange, erwiderte er +und tat einen tiefen Schluck aus dem Glase.</p> + +<p>Ich glaube, es war an dem Tage, da Goethe starb, fuhr sie +fort und lächelte. Mich durchzuckte es wunderbar, und ihr +Seufzen kam mir lieblich vor, womit sie weiterredete, (indem +sie einen Blick auf Henriette heftete): So blühen die Jungen auf +und werden den Alten teuer. Was wirst du tun, wenn Henriette +heiratet? fragte sie und blinzelte dabei schalkhaft.</p> + +<p>Sie heiratet nicht, entgegnete der Greis kurz. Oder nicht +sobald, fügte er hinzu, indem er das Ohr bis auf die Schulter +senkte; heiraten ist ein Unfug.</p> + +<p><a class="page" name="Page_148" id="Page_148" title="148"></a>Gut. Sie ist ja auch noch jung. Aber schließlich, Weib ist +Weib. Nicht wahr? Die alte Dame zeigte ihre weißen Zähne +und ließ den Blick naiv fragend von einem zum andern gehen. +Dann lachte sie und fuhr heiter fort: Alle schreien wir: nie, +und auf einmal sagen wir ganz leise Ja. Gut, Heirat hin +oder her, aber – ihr Blick wurde plötzlich versonnen – nimm +an, man verführt sie dir. Wie? Nun ja, das ist schon dagewesen. +Du, der Freidenkende, was wirst du tun?</p> + +<p>Henriette lachte mit gesenkten Augen kurz vor sich hin. +Mein Vater kniff die Lippen zusammen und erwiderte mit +einem unbestimmt jovialen Ausdruck und mit weinglänzenden +Augen: Das ist plausibel; ich sag ihr: Gehe hin, was du verdienst +ist dein Gewinn. Nachdem er dies gesagt hatte, stand er so +heftig auf, daß der Stuhl hinter ihm zur Erde fiel, schlug mit +der Faust auf den Tisch und brüllte oder kreischte: Ich würde +sie zum Fenster hinunter werfen.</p> + +<p>Henriette erhob sich, gänzlich blaß, ging zum Kamin und +hielt wie frierend die Hände dagegen. Mein Vater folgte ihr, +klopfte mit der flachen Hand auf ihren Rücken, lachte, setzte sich +und nahm sie auf sein Knie. Sie hielt aber die Augen geschlossen.</p> + +<p>Da die Glocken zu läuten anfingen, erhob sich auch die alte +Dame vom Tisch, öffnete ein Fenster, so daß man nun die +Glockenschläge dröhnend und deutlich von allen Seiten vernahm. +Der kalte Winter dampfte herein, und Leute schrien auf der +Gasse. Die alte Dame blickte andächtig gegen den Himmel, und +ich blieb sitzen wie ein Vergessener.</p> + +<p>Noch im Traum in der Nacht sah ich die wohlwollende alte +Dame, die vielleicht gegen keinen Menschen Böses hegte; +meinen Vater, von Lebenskraft und -Größe erfüllt wie einen +<a class="page" name="Page_149" id="Page_149" title="149"></a>Gott des Altertums; Henriette, unentschieden, graziös und +fatalistisch kühl. Es war mir einen Augenblick im Traum, sonderbar, +als übe sie nur Nachsicht mit meinem Vater, ihrem Vater, +beuge sich dennoch gütig unter seiner Liebe.</p> + +<p>Den Neujahrstag verbrachte ich mit der Mutter, und als +ich am nächsten Tag zu meinem Vater kam, fand ich ihn unruhig +und finster. Er begrüßte mich kaum, sagte, es sei nichts +los heute. Ohne Arges zu denken, ging ich wieder. Am +nächsten Tag erklärte mir die Bedienerin, der Herr Rat sei nach +Z. gegangen. Mich erstaunte das; er konnte dort nur das +Kloster besuchen, in welchem seine Frau war. Vor dem Hause +lungerte Mittelmann herum. Ohne weiteres erklärte er mir +in seiner singenden, hastigen Redeweise, daß Henriette verschwunden +sei. Der einzelnen Ausdrücke erinnere ich mich nicht +mehr, die das dünne Männlein gebrauchte, aber mir wurde der +Kopf heiß.</p> + +<p>Den Tag darauf war ich nicht wenig überrascht, meinen +Vater und Mittelmann miteinander Schach spielen zu sehen. +Ich wagte nicht zu reden, nicht zu fragen, setzte mich und sah zu. +Das Gesicht meines Vaters war verändert wie ein laubreicher +Baum nach einer Orkannacht. Aber mit ruhiger +Hand schob er die Figuren, ohne den Blick vom Brett zu erheben. +Seine weißen Wimpern schienen schwer. Er verlor die +Partie; Mittelmann grinste entzückt, als ihm mein Vater verächtlich +einen Gulden hinwarf, und ohne von meiner Anwesenheit +Notiz zu nehmen, begannen sie eine neue Partie. Plötzlich +aber stieß mein Vater das Tischchen mit dem Fuße um, und von +dem Getöse erschreckt, flüchtete Mittelmann in eine Ecke. Mit +schweren Schritten ging mein Vater auf und ab, dann ergriff +er nacheinander die Stehuhr, die Lampe, eine Wasserkaraffe, +<a class="page" name="Page_150" id="Page_150" title="150"></a>den Handspiegel und seine Waschschüssel und warf sie mit voller +Wucht gegen die Dielen. Sein Gesicht war blau, die Adern an +der Stirn und an den Händen wie Stricke geschwollen; so ging +er auf mich Zitternden zu, packte mich beim Kragen, schüttelte +mich mit riesiger Kraft wie eine Puppe und schrie hohl krächzend: +Wo ist sie? Wer hat sie verführt? Wo ist sie? Schaff sie mir her, +Lumpenhund! Dann ließ er ab von mir, öffnete das Fenster, +wie um Luft zu schöpfen, und stieß einen langen, tiefen Seufzer +aus, der wie das Geheul eines Hundes klang. Die Bedienerin +war aus der Küche gekommen und betrachtete schweigend und +erschrocken das Bild der Verwüstung.</p> + +<p>Wie ich heim kam, wie ich die Nacht verbrachte, was in +meinen Gedanken vorging, das weiß ich nicht mehr. Ich säumte +nicht, am folgenden Tag wieder zu meinem Vater zu gehen; +wie gestern fand ich ihn mit Mittelmann Schach spielend. Wie +gestern beachtete er mich nicht, und ich sah geduldig zu. Der +Abend kam, und es geschah nichts. Fast wäre ich froh gewesen +um einen Ausbruch seines Zorns. Aber er saß still und in sich +gekehrt. Alle Tage ging ich hin, wartete, trauerte. Immer +fand ich ihn mit Mittelmann beim Schach und hie und da +beim Domino. Zu arbeiten gab es nichts für mich; ich haßte +und verwünschte das Schachspiel und das andere Spiel, verwünschte +Mittelmann in meinem Herzen. Was mein Vater +auch sagen mochte, Mittelmann wiederholte es wie ein +lästiges Echo, auch wenn es eine Beschimpfung war, die +ihm selbst galt. Seine Körperhaltung zeigte die tiefste Unterwürfigkeit, +aber zugleich die Unruhe eines Kobolds. Wenn +eine Partie für ihn schlecht stand, hüpfte er auf seinem Sitz, +wiegte sich aufgeregt hin und her, steckte die dünnen Fingerchen in +den Mund, murmelte sinnlose Worte, fuhr förmlich wehklagend +<a class="page" name="Page_151" id="Page_151" title="151"></a>mit der Hand über die Stirn, und wenn er keine Rettung +mehr sah, zeigte sein Gesicht einen Ausdruck geisterhafter +Frechheit. Dies schien meinem Vater zu behagen und ihn zu +erwärmen.</p> + +<p>Die Ungeduld, zu wissen, verzehrte mich. Ich dachte mich +an Mittelmann zu halten, der doch beständig um meinen Vater +war. Ich hatte erfahren, daß er ein Zeitungsreporter war, und +glaubte, einen guten Spion an ihm zu haben. Ich nahm ihn +mit in ein Wirtshaus und ließ ihm Speisen, Wein und Bier +vorsetzen. Zwei Stunden hindurch aß er, ohne daß in seinem +Munde Raum für ein überflüssiges Wort verblieb. Mich erbarmte +seiner, wie er mit vollen Backen stammelte oder glückselig +auf die heißen Kartoffeln blies. Ich ließ es also dabei bewendet +sein und begriff, daß Mittelmann meinem Vater nichts +anderes war, denn ein Haustier, ein folgsamer Hund, der +sprechende Hund. Er brauchte ihn nur, um für sein düsteres +Schweigen ein Ohr zu haben.</p> + +<p>Henriette war fort; sie hatte sich einem an den Hals geworfen, +und war Gott weiß wohin gegangen, ohne Wort noch +Zeichen. Mehr wußte ich nicht und konnte nichts sonst erfahren. +Für meinen Vater war ich wie Luft. Warum, das weiß ich +selber nicht. Oft stieg es mir bitter auf: hat er ihr das Blut +vererbt, so vielleicht auch die Tat; aber es zu sagen, hütete ich +mich wohl.</p> + +<p>An einem wunderschönen, sonnigen Nachmittag kam ich hin +und fand Bianca Spinola in seiner Schlafstube. Das Henriettenzimmer +war zugeschlossen, war seit dem Neujahrstag nicht +mehr betreten worden. Ja, sogar die leeren Teller und Flaschen +standen noch auf dem Tisch, wie mir Bianca später erzählte. +Die Bedienerin war am Feiertag über Land gefahren, und schon +<a class="page" name="Page_152" id="Page_152" title="152"></a>am Abend war das Unheil geahnt und mein Vater hatte die +Türen versperrt.</p> + +<p>Bianca war also da. Mein Vater lag auf seinem mageren +Bett, und sie saß am Fußende und hielt ein Buch in den Händen, +aus welchem sie Verse ihrer Heimatsprache vorlas. Mein Vater +sah mich fremd und unwillig an, schloß aber gleich wieder die +Augen, um weiter zu lauschen. Nie habe ich ein schöneres Bild +gesehen; das schlanke heitere Mädchen mit den tintenschwarzen +Haaren und den regungslos hingestreckten Greis und die helle +Februarsonne im Zimmer und dazu wie Musik die italienischen +Worte. Ich entfernte mich auf Zehen. In dem kühlen Vorzimmer +schlief auf einem Stuhl fahl und zusammengesunken +der wunderliche Mittelmann.</p> + +<p>Am Abend erzählte mir Bianca etwas Schreckliches. Ihrem +welschen Gerede entnahm ich nur, daß mein Vater jetzt herumging +und sich vor dem Sterben fürchtete. Er! Sie habe ihn +beobachtet, sagte Bianca, auch habe er gesprochen. Die Phantasie +des jungen Mädchens war wie durch Gespenster erschüttert. +Ich glaubte ihr nicht. Meine Mutter lachte sogar +darüber.</p> + +<p>Mit bangem Sinn trat ich das nächste Mal den mir so vertrauten +Weg in die alte Gasse an. Mein Vater war allein. Er +saß am Fenster und starrte vor sich hin. Mit schüchternen +Worten suchte ich ihn zu einem Spaziergang zu bewegen. Er +verzog die Lippen verächtlich und erwiderte nichts. Ich begriff +meinen Vater, begriff seine Einsamkeit. Als es dunkelte, wollte +ich gehen; jedoch er hielt mich zurück mit einem Gebaren, das +ich noch nicht an ihm bemerkt hatte. Er wurde sanft, seine +Stimme klang weich und wie zerbrochen; er bat mich, die Lampe +anzuzünden, und als dies geschehen war, wurde er sichtlich +<a class="page" name="Page_153" id="Page_153" title="153"></a>ruhiger. Er sagte, er wollte nicht mehr diktieren, ihm sei das +zu mühsam, er wollte sich überhaupt um all die Geschichten +nicht mehr kümmern. Zum erstenmal wagte ich es, von Henriette +zu sprechen. Er sah mich groß an und schüttelte den Kopf. +Das Frauenzimmer hat jetzt mehr Pläsier von der Welt als von +mir, sagte er und kicherte zynisch vor sich hin. Ich wußte keine +Antwort, verbarg meine Überraschung. Wieder wollte ich aufbrechen, +denn ich fürchtete ihn zu stören. Er nahm meine Hand +zwischen seine beiden, hielt sie fest und sagte, ich sollte warten, +bis er im Bette sei. Dann nahm er eine Kerze, öffnete die Tür +zu dem großen Zimmer, leuchtete hinein, ging mit schlürfenden +Schritten dem Licht förmlich nach, spähte in alle Ecken, spähte +auch in den Flur hinaus, wobei er kurz auflachte, wie um irgend +einen Lauerer aufzustören, und ich saß da, schaudernd und von +neuem begreifend.</p> + +<p>Man darf es nicht wagen, sagte er zurückkommend und schielte +mich von der Seite an. Man ist nirgends sicher. Wenn du die +Treppe hinuntergehst, kannst du dir das Genick brechen, mein +Söhnchen. Überall wartet etwas auf dich, und was du verlachst, +kann dein Verderben sein.</p> + +<p>Er entkleidete sich mit Hast, warf sich auf das Bett und +seufzte. Jetzt kannst du gehen, brummte er mürrisch, aber sieh +zu, daß das Schloß einklappt.</p> + +<p>Ich ging. Es war schon späte Nacht. Ich irrte herum und +kam bis in die Vorstädte.</p> + +<p>In den nächsten acht Tagen suchte ich meinen Vater nicht +mehr auf. Eine neue Stellung, die ich erlangt hatte, nahm +mich sehr in Anspruch. Aber während dieser Zeit wurde mein +Geist so von Unruhe gepeinigt, daß ich für die Arbeit ganz abgestumpft +wurde. Dennoch hielt mich etwas Schweres ab, zu +<a class="page" name="Page_154" id="Page_154" title="154"></a>ihm zu gehen. Ich war feig, ja, ich fürchtete mich vor seiner +Furcht. Es war der letzte Sonntag im Februar, als ich mich +meiner Pflicht erinnerte. Still war ich herumgegangen und +hatte niemandem etwas davon gesagt; und auch das quälte +mein Gewissen, als hätte die Welt helfen können.</p> + +<p>Es regnete an diesem Tag. Obgleich so viele Jahre verflossen +sind, erinnere ich mich, daß vor meines Vaters Haus ein +Betrunkener lag, und daß dies einen fatalen Eindruck auf mich +machte; besonders das matte, gedunsene, gleichgültige Gesicht +des Mannes und seine halboffenen Augen. Johlende Kinder +sprangen um ihn herum.</p> + +<p>Oben öffnete mir die Bedienerin. Wieder fand ich meinen +Vater allein, und zwar in dem großen, leeren Zimmer. Er +saß neben dem Spiegel, vor dem kleinen, runden Schachtisch. +Er hatte mich nicht bemerkt, meine Schritte nicht gehört. Er +hatte den Kopf in die Hand gestützt und war anscheinend in +tiefes Sinnen verloren. Kein Laut störte die Ruhe; nichts Belebtes +machte die Einsamkeit vergessen. Es sah aus, als ob er +seit vielen Stunden so sitze, mit etwas Unerklärlichem beschäftigt. +Endlich wagte ich es, laut den Tagesgruß zu rufen, und er +hob langsam den Kopf. Er besann sich, nickte; ich trat näher, +und er gab mir die Hand wie er in guten Stimmungen zu +tun pflegte, fest, mit festem Druck. Aber sein Aussehen war +verstört.</p> + +<p>Ich denke über die Toten nach, die hinter mir liegen, sagte +er. Ich schaue zurück, und jedes Jahr ist ein Zaunpfahl, an dem +eine Leiche hängt.</p> + +<p>Es ist das allgemeine Los, Vater, entgegnete ich beengt.</p> + +<p>Sein Gesicht verzerrte sich wie vor einer Flamme. Allgemeine +Los? Warum? Warum? Antworte, du Zeisig? +<a class="page" name="Page_155" id="Page_155" title="155"></a>Warum fühl ich dabei? Warum? Warum weiß ich davon? +Warum erst alles und dann nichts? He? Warum? Er stand +auf und sah mich gebieterisch an.</p> + +<p>Gott will es, flüsterte ich.</p> + +<p>Gott? Wer ist Gott? Was kann Gott wollen, was nicht ich +will? Muß ich sterben, weil ein Gott will, den ich nicht kenne? +Ich glaube nicht an den Tod. Oder wie? Wer könnte mich von +meinem eigenen Tod überzeugen? Er blickte gegen das regennasse +Fenster und gegen den Himmel; sein Hals war dunkelrot +gefärbt, und die rechte Hand war geballt. Und doch, was ist +zu tun? fuhr er nun mit feierlicher Stimme fort, ohne seine +Stellung zu verändern. Es nützt nichts, daß ich leben will, +leben, leben. Es nützt nichts, daß ich weiß, auch ihr werdet +tot sein, wenn ich’s bin. Es nützt nichts. Wenn’s auch nur +noch zehn Jahre sind, was sind zehn Jahre für mich?</p> + +<p>Ich erinnere mich, daß ich etwas sagte von unserer Liebe +für ihn. Aber er schwieg und hörte nicht. Langsam wanderte +er auf und ab, die Hände auf dem Rücken und wiederholte noch +einmal vor sich hin: was sind zehn Jahre für mich? Mir standen +plötzlich die hellen Tränen in den Augen, und voll Betrübnis +schlich ich davon. Immerfort glaubte ich ihn zu hören, den anklägerischen +Ton seiner Stimme, den Trotz seiner Worte; immer +sah ich ihn einsam in seiner leeren Stube gehen und konnte nicht +die Inbrunst und das Furchtbare seiner Augen vergessen, als +er ausrief: Was kann Gott wollen, das nicht ich will? Raum +und Zeit verachtend, stand er im Mittelpunkt des Weltalls, +allein, aufrührerischen Geistes, ein aufrührerischer Fährmann, +die abendliche Flut des Lebens befahrend. Die Jahre konnten +ihm nichts sein, denn seine Seele hatte stets den Augenblick +besessen – und nun verloren.</p> + +<p><a class="page" name="Page_156" id="Page_156" title="156"></a>Den nächsten Tag verbrachte ich mit meinen Angelegenheiten. +In der Nacht, die folgte, fand ich keinen Schlaf. Die +Luft schien mir schwül, und kaum daß es Morgen geworden, +trieb es mich nach der Wohnung meines Vaters. Als ich in +sein Schlafzimmer trat, sah ich ihn ruhig auf dem Bett liegen, +und daneben hockte Mittelmann, das Schachbrett vor sich, anscheinend +stumpfsinnig in ein Problem vertieft. Mich wunderte +das so früh am Tag. Mittelmann gewahrte mich und sagte +scheu: Ich war die ganze Nacht hier, es war um zwölf Uhr, solange +spielten wir. In dieser Stellung brachen wir ab. Sehr +interessante Stellung, sehen Sie nur.</p> + +<p>Geschwätzig redete er weiter. Ich blickte unbeweglich auf +die geschlossenen Augen des Greises. Sein Gesicht zeigte denselben +Ausdruck des Trotzes, wie vor zwei Tagen.</p> + +<p>Die Fenster waren geöffnet, und die Sonne strahlte herein. +Ich wurde so traurig wie nie zuvor; und doch war es mir, als +hätte ich meinen Vater schon tot hingestreckt gesehen damals, +als Bianca ihm vorlas.</p> + +<p>Am nächsten Tag begrub man ihn. Den armen Mittelmann +führte ich darnach in ein Wirtshaus und gab ihm satt +zu essen.</p> + + +<div class="advertisements"> +<hr style='width: 75%;' /> +<h2>Fischers Bibliothek<br/> +zeitgenössischer Romane</h2> + +<h3>Dritte Reihe</h3> + +<table> +<tr><td align="right">1. Bd.</td><td>Th. Fontane, Irrungen Wirrungen</td></tr> +<tr><td align="right">2. Bd.</td><td>Björnstjerne Björnson, Mary</td></tr> +<tr><td align="right">3. Bd.</td><td>Gabriele Reuter, Frauenseelen</td></tr> +<tr><td align="right">4. Bd.</td><td>Laurids Bruun, Van Zantens Insel der Verheißung</td></tr> +<tr><td align="right">5. Bd.</td><td>Sophie Hoechstetter, Passion</td></tr> +<tr><td align="right">6. Bd.</td><td>Knut Hamsun, Redakteur Lynge</td></tr> +<tr><td align="right">7. Bd.</td><td>Hermann Bahr, Theater</td></tr> +<tr><td align="right">8. Bd.</td><td>Gustaf af Geijerstam, Pastor Hallin</td></tr> +<tr><td align="right">9. Bd.</td><td>Bernhard Kellermann, Yester und Li</td></tr> +<tr><td align="right">10. Bd.</td><td>Felix Hollaender, Das letzte Glück</td></tr> +<tr><td align="right">11. Bd.</td><td>Jonas Lie, Auf Irrwegen</td></tr> +<tr><td align="right">12. Bd.</td><td>Bd. J. Wassermann, Der niegeküßte Mund</td></tr> +</table> + + +<h5>Jeden Monat erscheint ein Band</h5> + +<hr style='width: 75%;' /> + +<p><a class="page" name="Page_157" id="Page_157" title="157"></a></p> +<h3>Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane</h3> + +<h5>Bisher erschienen unter anderen:</h5> + +<p class="center"> +Gabriele d’Annunzio: Lust I/II<br /> +Hermann Bahr: Theater<br /> +Herman Bang: Am Wege<br /> +Björnstjerne Björnson: Mary<br /> +Laurids Bruun: Van Zantens glückliche Zeit<br /> +Theodor Fontane: L’Adultera<br /> +Gustaf af Geijerstam: Thora<br /> +Knut Hamsun: Redakteur Lynge<br /> +Hermann Hesse: Unterm Rad<br /> +Felix Holländer: Das letzte Glück<br /> +Bernhard Kellermann: Yester und Li<br /> +E. von Keyserling: Beate und Mareile<br /> +Jonas Lie: Eine Ehe<br /> +Peter Nansen: Julies Tagebuch<br /> +Thomas Mann: Der kleine Herr Friedemann<br /> +Gabriele Reuter: Liselotte von Reckling<br /> +Jakob Schaffner: Die Erlhöferin<br /> +Emil Strauß: Der Engelwirt<br /> +</p> +<hr style='width: 75%;' /> + +<p><a class="page" name="Page_158" id="Page_158" title="158"></a></p> +<h2>Werke von Jakob Wassermann<br/> +bei S. Fischer, Verlag, Berlin</h2> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<h3>Die Juden von Zirndorf.</h3> <h4>Roman. Neubearbeitete +Ausgabe. Vierte Auflage. Geheftet 4 Mark, in +Leinen 5 Mark, in Leder 6 Mark 50 Pfg.</h4> + +<p>Kaum je hat ein jüdischer Poet seinen Glaubensgenossen, und über +das Judentum der Gegenwart überhaupt schärfere, und zutreffendere +Dinge gesagt als Wassermann in diesem Buche. Die besten Eigenschaften +des jüdischen Volkes erscheinen in ihm selbst verkörpert, +vor allem der kritisch-skeptische Sinn, der auch sich selbst nicht schont. +Mit diesem verbindet sich auch bei Wassermann eine starke, jedoch +mehr mystisch als sinnlich glühende Phantasie, der namentlich in dem +phantastischen »Vorspiel« des Romans eine glänzende poetische +Leistung gelungen ist. Dieses Vorspiel bildet den Grundakkord zu +der in unseren Tagen spielenden Geschichte der »Juden von Zirndorf«, +in denen ein begabter Jüngling Agathon, der das edelste +Judentum verkörpert, die von einem brutalen Christen erduldete +Schmach durch einen Mord an seinem Peiniger rächt.</p> + +<p class="right">(Neue Zürcher Zeitung)</p> + + +<h3>Die Geschichte der jungen Renate Fuchs.</h3> <h4>Elfte Auflage. +Geheftet 6 Mark, in Leinen 7 Mark 50 Pfg.</h4> + +<p>Jedes große, befreiende Buch muß ein Buch der Erlösung und +der Wiedergeburt sein. Dies ist ein Buch von der Erlösung der +Frauen, »die alten sinnlichen Vorurteilen zu mißtrauen beginnen, +die ihr Schicksal, ihr Frauenschicksal erleben und nicht länger leibeigen +sein wollen«. – Seit dem »Grünen Heinrich« Kellers ist in +deutscher Sprache kein so interessanter und tiefsinniger Roman erschienen.</p> + +<p class="right">(Die Zukunft)</p> + +<p><a class="page" name="Page_159" id="Page_159" title="159"></a></p> +<h3>Der Moloch.</h3> <h4>Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Vierte +Auflage. Geheftet 4 Mark, in Leinen 5 Mark, in +Leder 6 Mark 50 Pfg.</h4> + +<p>Ein bedeutendes Werk! Bedeutend durch die ernste Idee, die +ihm zugrunde liegt, bedeutend durch die psychologische und gestaltende +Kunst, mit der Wassermann jene Idee zu einem groß und +breit angelegten, lebensvollen Gemälde gestaltet hat!... Der Verfasser +hat dieses psychologische Problem in der Tat auch vollständig, +seinem Wesen entsprechend, psychologisch behandelt, und zwar in +geradezu bewundernswerter Weise. Mag das Weltbild, das Wassermann +hier entwirft, ein einseitiges sein, mögen einzelne weniger +interessierende Seiten seines Bildes gar zu breit aufgeführt, mag +selbst die ihm zugrunde liegende Idee nicht unbedingt anzuerkennen +sein und das Poetische etwas zu kurz kommen –, so viel bleibt gewiß, +daß das umfangreiche Werk von Anfang bis zum Ende eine +Stimmung ausströmt, die unwiderstehlich fesselt und mit der Macht +fast eines Erlebnisses wirkt.</p> + +<p class="right">(Berner Bund)</p> + +<h3>Der niegeküßte Mund – Hilperich.</h3> <h4>Novellistische +Studien. Geheftet 2 Mark, in Leinen 3 Mark.</h4> + +<p>In diesen Novellen hat die Wassermannsche Erzählungskunst eine +mehr als respektable Höhe erreicht. Es sind belletristische Kunstwerke +von einer so feinen und sicheren Arbeit, wie wir ihrer in der heutigen +deutschen Literatur nicht viele besitzen. Was sie vornehmlich auszeichnet, +ist ihre gute Haltung im Sinne der epischen Kleinkunst. +Wie hier alles in den Verhältnissen abgewogen ist, wie anmutig +und doch streng die Linie fließt, wie der Zierat sich verteilt, Licht +und Schatten sich verhalten, Ausführung und Andeutung zueinander +stehen – alles das verrät einen in Deutschland sehr seltenen Kunstverstand +und ungemein viel Talent.</p> + +<p class="right">(Die Zeit, Wien)</p> + +<h3>Alexander in Babylon.</h3> <h4>Roman. Dritte Auflage. Geheftet +3 Mark 50 Pfg., in Leinen 4 Mark 50 Pfg., in Leder 6 Mark.</h4> + +<p>Nichts als der reale Gang der geschichtlichen Ereignisse von Alexanders +Rückkehr aus Indien bis zu seinem vorzeitigen Tode wird uns +<a class="page" name="Page_160" id="Page_160" title="160"></a>erzählt, dies freilich in farbigreicher kulturhistorischer Ausmalung und +mit ebenso kühner als intensiver Psychologie. So ist dieses Buch +weit mehr ein Prosaepos als ein Roman, und es bietet weit mehr +eine faszinierende Ausdeutung der Geschichte als etwa eine Spannungserzeugung +durch pragmatische Verwicklungen. Auf jeden Fall +aber ist es ein Kunstwerk, sowohl durch die Geschlossenheit seiner +Komposition wie durch seine kaum genug zu preisende sprachliche +Behandlung. Es gehört zu unsern schönsten deutschen Prosabüchern. +Manche Kapitel verdienten in den Schulen gelesen zu werden. Auf +solche Weise wird Geschichte lebendig gemacht und beseelt.</p> + +<p class="right">(Neue Freie Presse, Wien)</p> + +<h3>Die Schwestern.</h3> <h4>Drei Novellen. Dritte Auflage. Geheftet +2 Mark, in Halbleder 3 Mark, in Leder 4 Mark.</h4> + +<p>Der Vortrag dieser Geschichten ist stilistisch meisterhaft, in der +Schilderung des Tatsächlichen von der Einfachheit der altitalienischen +Novellen, dabei hin und wieder blitzend von seltsam geschliffenen +Wortprägungen spezifisch Wassermannscher Art. Nur einem kabbalistischen +Grübelsinn, einer so heißen Phantasie wie der dieses deutschen +Orientalen konnte es gelingen, die Verrücktheiten der kastilischen +Isabella so tief poetisch märchenhaft zu durchleuchten und aus den +zwei phantastisch konstruierten Kriminalfällen das Rauschen geheimnisvoller +seelischer Unterströmungen so hervortönen zu lassen.</p> + +<p class="right">(Literarisches Echo)</p> + +<h3>Die Masken Erwin Reiners.</h3> <h4>Roman. Siebente Auflage. +Geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark.</h4> + +<p>Dieser Roman wird einmal in der Entwicklungsgeschichte der +modernen Literatur eine wichtige Rolle spielen. Man wird ihn als +einen alles Wesentliche zusammenfassenden und reflektierenden +Spiegel des zügellosen Individualitätsstrebens betrachten, das doch +das entscheidende Merkmal unserer modernen Romanliteratur +bleibt, von ihm zugleich aber eine Wendung zum realen Leben +datieren. Es sind einige Kapitel in dem Roman, die wie das Morgenrot +einer neuen Klassik anmuten.</p> + +<p class="right">(Westermanns Monatshefte)</p> +</div> + +<p class="printer">Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig</p> + + + +<div class="note"> +<p>[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf +Grundlage der 1911 in der Reihe »Fischers Bibliothek zeitgenössischer +Romane« erschienenen Ausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält +eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen +Korrekturen. Soweit möglich, wurden die Korrekturen der typographischen +Fehler anhand der Erstausgabe im Albert Langen Verlag, München, 1903 +überprüft (Der niegeküßte Mund und Hilperich). Die Verlagswerbung wurde +am Ende des Buchs gesammelt.</p> + +<p> +p 011: Komma ergänzt: glänzenden, gefährlichen<br /> +p 013: Freundes empor, der ihm um zwei Kopflängen -> ihn<br /> +p 017: Drittel Kapitel -> Drittes<br /> +p 037: erwiderte der Lerhre -> Lehrer<br /> +p 053: dagegewesen -> dagewesen<br /> +p 071: Dinkeslbühler -> Dinkelsbühler<br /> +p 071: Der Lehrer entgegenete nichts darauf. -> entgegnete<br /> +p 103: Zustand des Zweifelsund -> Zweifels und<br /> +p 140: Punkt ergänzt: Scherben eines Spiegels.<br /> +p 157: Gustav af Geijerstam -> Gustaf ]<br /> +</p> +</div> + + + +<div class="note"> +<p>[Transcriber’s Note: This ebook has been prepared from the edition +published in 1911 as part of the series "Fischers Bibliothek +zeitgenössischer Romane". The table below lists all corrections applied +to the original text. Where available, the corrections have been +cross-checked with the first print of "Der niegeküßte Mund" and +"Hilperich" published at Albert Langen Verlag, München, 1903. The +publisher’s advertisements have been collected at the end of the book. +</p> + +<p> +p 011: added comma: glänzenden, gefährlichen<br /> +p 013: Freundes empor, der ihm um zwei Kopflängen -> ihn<br /> +p 017: Drittel Kapitel -> Drittes<br /> +p 037: erwiderte der Lerhre -> Lehrer<br /> +p 053: dagegewesen -> dagewesen<br /> +p 071: Dinkeslbühler -> Dinkelsbühler<br /> +p 071: Der Lehrer entgegenete nichts darauf. -> entgegnete<br /> +p 103: Zustand des Zweifelsund -> Zweifels und<br /> +p 140: added period: Scherben eines Spiegels.<br /> +p 157: Gustav af Geijerstam -> Gustaf ]<br /> +</p> +</div> + + + + + + + + +<pre> + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Der niegeküßte Mund, by Jakob Wassermann + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER NIEGEKÜßTE MUND *** + +***** This file should be named 17143-h.htm or 17143-h.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + https://www.gutenberg.org/1/7/1/4/17143/ + +Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders +Europe at at http://dp.rastko.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at https://www.pglaf.org. + + +Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at +https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at +809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email +business@pglaf.org. 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Donations are accepted in a number of other +ways including including checks, online payments and credit card +donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate + + +Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic +works. + +Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm +concept of a library of electronic works that could be freely shared +with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project +Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. + + +Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. +unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + + +Most people start at our Web site which has the main PG search facility: + + https://www.gutenberg.org + +This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. + + +</pre> + +</body> +</html> diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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