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+The Project Gutenberg EBook of Der niegeküßte Mund, by Jakob Wassermann
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Der niegeküßte Mund
+ Drei Erzählungen
+
+Author: Jakob Wassermann
+
+Release Date: November 23, 2005 [EBook #17143]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: UTF-8
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK Der niegeküßte Mund ***
+
+
+
+
+Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders
+Europe at at http://dp.rastko.net
+
+
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+
+
+
+ Der niegeküßte Mund
+
+ Drei Erzählungen von
+ Jakob Wassermann
+
+
+
+ S. Fischer, Verlag, Berlin
+
+ Alle Rechte vorbehalten.
+
+
+
+
+Inhalt
+
+Der niegeküßte Mund ...... 7
+Treunitz und Aurora ...... 81
+Hilperich ................ 127
+
+
+
+
+Der niegeküßte Mund
+
+
+Erstes Kapitel
+
+Schon von ferne sieht man den gelben, alten, fünfeckigen Turm mit seinem
+dunklen Ziegeldach, das einer Nachthaube gleicht. Er schließt eine
+breite, stille Straße mit seltsam regelmäßigen Häusern ab, die sich wie
+Zierrat ausnehmen. Mit seinem Torbogen scheint er auf den gebrechlichen
+Schultern zweier Häuser zu stehen; das eine ist die Wirtschaft zum
+lustigen Pfeifer, das andere gehört dem Doktor Maspero. Die Straße setzt
+sich verengert bis zum Marktplatz fort, welcher den Eindruck eines
+städtischen Mittelpunkts macht. Viele ruhige Gassen und Gäßchen zweigen
+von da ab: zum Schießanger, zur Altmühlbrücke, zur Kirche, und ein ganz
+schmaler Gang zwischen der Apotheke und dem Bezirksamt zur jüdischen
+Synagoge, einem lustigen Bau aus rotem Backstein, gekrönt von zwei
+dickbäuchigen Kuppeln. Ringsherum zieht sich ein weitläufiger
+Obstgarten, der den Tempelvorhof gegen die Straße frei läßt. Aber diese
+Straße hat nur noch ein einziges Stirngebäude, eingeklemmt zwischen
+uraltem Häusergerümpel, doch nicht minder alt und nicht minder
+baufällig: das Schulhaus. Sechsundsechzig Kinder, Knaben und Mädchen,
+werden hier täglich von Herrn Philipp Unruh in die Geheimnisse des
+Alphabets und der Arithmetik eingeführt.
+
+Es gibt Namen und Namen. Manche sind ihrem Besitzer wie aus dem Wesen
+geschnitten, manche passen zu ihm wie etwa die Synagoge zum Obstgarten.
+Ein solcher Obstgarten, um den Vergleich müde zu machen, war der Name
+jenes Lehrers. Er selbst und der Kreis seines Daseins waren voller Ruhe.
+Die kleine Stadt lag unter dem Horizont der Ereignisse. Die Leute von
+Gunzenhausen verrichteten ihre Geschäfte bei Tage und schliefen in der
+Nacht und von eisernen Gesetzen wurden die Stunden geregelt. Uhren und
+Kalender hatten nur einen äußerlichen Wert. Die Glocke schlug, aber was
+sie schlug, brauchte an keines Hörers Ohr zu tönen. Die Zeit ging, wie
+sie seit Ewigkeiten gegangen war, aber wohin sie ging, gab keinem
+Verstand ein Rätsel. Nur die Eisenbahnzüge, die das friedliche
+Altmühltal hinab- und hinaufrollten, brachten einen Duft von Welt mit,
+von Geschehnissen, vom Wandel der Dinge, von den traurigen und heiteren
+Spielen, die in den Ländern vor sich gehen, welche eingespannt liegen
+zwischen den Ozeanen.
+
+Philipp Unruh war also ein Ruhiger mit den Ruhigen. Er war auch kein
+Philippos, kein Pferdefreund, sondern eher der beschaulich schreitenden
+Katze zugeneigt. In seinem Amt war er weder rühmenswert, noch gab er zu
+tadeln Grund. Seit einem Dezenium rollte das Jahrwerk ab ohne sein
+Hinzutun. Es glitt ihm vor den Händen vorbei, ähnlich wie bei
+geschickten Arbeitern, die ohne Augen, ohne Licht vollbringen könnten,
+was Zwang und Gewohnheit sie gelehrt. Der Tag zerfiel in Stunden;
+einzelne Stunden bedeuteten Fächer, und jedes Fach war ein Häuflein
+Eingelerntes, bereit, in ein Schock mehr oder minder williger Gehirne
+gestopft zu werden. Diese kleine Maschinensammlung um Philipp Unruh war
+seine Schule, in welcher er gleichmütig herumschritt und hantierte und
+mit Wohlwollen und kühler Befriedigung dem ordnungsmäßigen Verlauf der
+Dinge anwohnte.
+
+Derselbe Mann, der weder alt noch jung, weder lustig noch traurig, weder
+lebendig noch tot war, hatte eine Liebhaberei, welche fast mehr als
+diesen Namen verdiente, weil sie den eigentlichen Zirkel seines Wesens
+überschritt. In seiner dumpfen Kammer, aus der der hellste Sommertag die
+Dämmerung nicht vertreiben konnte, weil rings Dächer und Galerien ihr
+den Himmel nahmen, gab es eine lange Reihe von Folianten: Chronika und
+Memoria und ernsthafte Darstellungen, die Geschichte aller Zeiten und
+Völker enthaltend. Darin las und grübelte, studierte und spekulierte
+Philipp Unruh seit Jahr und Tag. War gleich gelehrter Eifer im Spiel, –
+etwas wie Abenteuergelüst war sicher auch dabei. Und wohl noch eines.
+Während um ihn die Zeit starr lag gleich einem gefrorenen See, erblickte
+er durch seine Bücher ein aufgewühltes Meer von Leben. Für ihn war die
+Gegenwart nur der Schatten, das lautlose Widerspiel der bunten,
+glänzenden, gefährlichen und anziehenden Vergangenheit. Seine Stube, das
+zufriedene Städtchen, das stille fränkische Land, das war die Gegenwart.
+Die Vergangenheit war Europa, Asien, Ägypten, waren mörderische
+Schlachten, strahlende Revolutionen, versinkende Reiche. Hier war der
+Doktor, der Apotheker, der Bürgermeister, der Schulrat. Dort war eine
+Gesellschaft von Königen, genialen Feldherrn, erhabenen Verbrechern,
+blutgierigen Empörern, ruhmvollen Märtyrern und unerschrockenen
+Entdeckern. Es gab glänzende Künstler, Propheten, falsche Herzöge,
+aufopfernde Bürger, heroische Weiber, Vaterlandshelden und märchenhafte
+Städte. Und solchem Reichtum gegenüber, der unerschöpflich vor ihm lag,
+der seine Sinne entzündete, seinen Geist bewegte, seine Träume mit
+unvergleichlichen Gestalten bevölkerte, sollte ihm der matte Tag noch
+etwas bedeuten? Er ahnte das Schicksal, das seine Hand von Jahrtausend
+zu Jahrtausend spannt, das die Kleinen vernichtet, um die Großen zu
+erhalten; das ganze Länder verbrennt, um die Asche zum Mörtel für das
+Häuschen eines Heilands zu verwenden, das jedes Ereignis menschlichem
+Maß entrückt, jeden Zufall zur Bestimmung wandelt. Deshalb hatte sich
+unter seinem rötlichen, buschigen Schnurrbart jenes Lächeln eingenistet,
+das ebenso kindlich war, wie es für weise gelten konnte. Deshalb hatte
+er kein Verständnis für die kleine Spottsucht des Doktor Maspero und
+keine Teilnahme für den Kummer der Frau Süßmilch, deren Töchterchen dem
+ABC feindlich gegenüber stand. Der Herr Adjutant (man nannte ihn so,
+obwohl niemand sich erinnern konnte, ihn jemals in einer Uniform gesehen
+zu haben) sagte, der Unruh zähle seine fünfunddreißig Jahre doppelt. Und
+da er es zu Frau Federlein sagte, welche die Frau des Nachtwächters war,
+erfuhren es alle Leute, die in der Abgeschlossenheit des Lehrers etwas
+Verdächtiges und Geheimnisvolles sahen.
+
+
+Zweites Kapitel
+
+Wie heute hatte Doktor Maspero fast täglich einen Begleiter, der die
+nächtliche Heimkehr vom Wirtshaus verkürzte. Er plauderte in seiner
+finster-spöttischen Manier mit dem Baron, der die Apotheke besaß. Es gab
+manchmal ausgedehnte und tiefsinnige Gespräche in der Nacht, wenn das
+Kartenspiel beendet war. Der Doktor war ein Mann, klein wie ein Zwerg,
+hager wie ein Knabe, hatte auch die Bewegungen eines Knaben, sprach
+überlaut und meist grimmig, auch wenn er witzig war. Sein bärbeißiges
+Wesen glich einer Schutzwaffe gegen die länger gewachsenen Menschen.
+
+Lispelnd und visionär erzählte der Baron von seinem neuen Provisor. Das
+Lispelnde und Visionäre war ihm stets eigen. Seine Art erinnerte an
+frische Butter, so reinlich, mild und appetitlich war er. Er war den
+schönen Künsten ergeben und verdankte dieser Neigung das Zerflossene und
+Selbstgefällige seiner Natur. Immer ging er durch die Straßen wie
+jemand, der sagen will: Seht, welch ein Träumer bin ich.
+
+Der Doktor drückte seine Verwunderung aus, daß er den neuen Provisor,
+der doch schon vier Wochen hier sei, noch nicht gesehen habe, und fragte
+nach dem Namen.
+
+»Apollonius Siebengeist,« erwiderte der Baron, und seine Blicke waren
+verloren ins schwarze Firmament gerichtet.
+
+»Einstampfen lassen! Einstampfen lassen! So heißt man nicht,« kreischte
+der Doktor mit unbegründeter Wut und lauschte auf den Beifall seines
+Freundes empor, der ihn um zwei Kopflängen überragte. Auch er war nicht
+ohne Beziehung zum geistigen Leben der Nation. Sein ungestümer Witz war
+eine Frucht der Bildung. Sein Ideal unter den Bücherschreibern war
+jener Saphir, der einst nach des Doktors Ansicht die Welt aus ihren
+Fugen gerüttelt.
+
+Der Baron entgegnete langsam und bedeutungsvoll, daß Siebengeist aus
+einer guten Familie sei, jedoch sei sein Gehirn nicht in gehöriger
+Ordnung. Er habe etwas Koboldartiges an sich, etwas Sozialdemokratisches.
+Darauf antwortete der Doktor, indem er mit zwei Fingern seine Nasenspitze
+kniff, der Apotheker möge ihm doch ein Pülverchen zur Beruhigung
+zubereiten, eine staatserhaltende Mixtur.
+
+»Rizinusöl!« platzte der Baron heraus und brach über diesen unerwarteten
+Geistesblitz in solch brüllendes Hoho-Gelächter aus, daß der
+Nachtwächter Federlein an der Marktecke erschrocken stehen blieb.
+Geringschätzig verzog der Doktor den Mund, während der sanfte Apotheker
+noch lange nicht zur Ruhe kommen konnte. Und während sie ihren Weg durch
+die außerordentlich stille Nacht fortsetzten, sprach man noch von den
+Theatervorstellungen, welche für die nächsten Tage angekündigt waren,
+denn eine Wandertruppe wollte im fränkischen Hof ihr Lager aufschlagen.
+Der Doktor war vom Redakteur des Tageblatts als Kritiker gewonnen
+worden, und der Baron hatte die Absicht, dem Direktor ein Vorspiel in
+Versen zu schreiben.
+
+Beim Schulhaus winkte der Doktor leutselig zum dunkeln Fenster hinauf,
+aus dem der Lehrer auf die Straße sah. Die Glocke schlug eben elf Uhr.
+Der Doktor fragte empor, ob Philipp Unruh morgen zur Auktion kommen
+werde. »Es soll auch Bücher geben,« fügte er mit überlegenem Spott
+hinzu. Die beiden Männer wünschten gute Nacht und waren bald in der
+Finsternis verschwunden.
+
+Der Lehrer wußte, daß es Bücher bei der Versteigerung geben würde. Der
+jüdische Kantor war gestorben, ohne Angehörige zu hinterlassen, und
+dessen Habseligkeiten kamen unter den Hammer. Insbesondere wußte Unruh
+um eine alte Ansbacher Chronik, die der Kantor nie hatte verkaufen noch
+verleihen wollen. Daran erinnert, freute er sich jetzt, vergaß die
+trüben Gedanken, die ihn beherrscht, musterte lächelnd den schwarzen
+Vorbau der Synagoge, schaute straßauf, straßunter, ruhegewohnt,
+friedesicher und achtete der Kälte nicht. Schnee fiel, flaumig
+anzusehen, aufglitzernd im Licht einer einzigen Laterne. Indes, jene
+allzuschnell vertriebenen Gedanken kehrten zurück.
+
+Er hatte etwas Seltsames gelesen. Unlängst war er bei seinem Schwager,
+einem Schwestermann in Teilheim, gewesen. Das ist ein Örtchen in der
+Nähe Hesselbergs und mitten im sogenannten Hahnenkamm. Der Freund besaß
+eine Krämerei, und beim Herumstöbern in Kisten und Kasten, wie es
+Philipp Unruhs Besuch mit sich brachte, fand sich ein vergessener
+Schmöker vor, benagt von Motten und Mäusen, um alles Ansehen gebracht
+durch Liegen und Staub. Der Krämer hatte schmunzelnd den Fund
+verschenkt, welcher die Aufzeichnungen einer Marquise Bourguignon
+enthielt, von einem Kammerherrn, Exzellenz, behäbig und schnörkelhaft in
+das Deutsch des achtzehnten Jahrhunderts übertragen.
+
+Nun sitzt da weltfern und lebensfremd ein Schulmeisterlein in seiner
+engen Kammer und vertieft sich dumpfen und erschrockenen Sinnes in die
+frivolen Erinnerungen der Hofdame. Ein goldgieriger Räuber steigt durchs
+Fenster, aber das Fräulein, fast noch ein Kind, gibt gutlaunig Edleres
+hin. Der würdige Pater im Beichtstuhl zeigt sich nachsichtig gegen
+Sünden, an deren Begehung er teilnehmen darf. Auf der Treppe küßt die
+reizende Marquise ihrem Geliebten das Herz aus dem Leibe, während zehn
+Stufen höher der arme Gatte nach der Lampe ruft. Mönch und Nonne, Fürst
+und Lakai, Bauer und Soldat, Kavalier und Bürgerin nehmen teil am
+übermütigen Tanz der Liebe, ja die Dinge der unbelebten Welt sind
+ergriffen vom heiteren Taumel, der Himmel wiederhallt vom frohsinnigen
+Gelächter, und die graziösen Geister der Galanterie werfen jauchzend
+bunte Tücher über Gräber und Schlachtfelder. Was Gesetze, Philosophen,
+Zukunft, Religion! Kein Schauer der Ewigkeit für diese lächelnde
+Bacchantin und ihre Liebeskünste.
+
+Es sind ja längstvergangene Zeiten, dachte schließlich Philipp Unruh
+furchtsam. Das ist damals so gewesen, durfte damals so sein, denn es war
+eine Zeit der Barbarei, eine wilde, sittenlose Zeit. Heute ist die Welt
+still geworden; nichts ist mehr zu erblicken von solch übertriebenem
+Abenteuerzeug. Ein jeder Mann geht wacker dem Geschäfte nach, ein jedes
+Weib wohnt züchtig in seinem Hause, und es regiert die Ordnung. Törichte
+Leidenschaften der Vergangenheit mit eurem Überschwang und eurer
+Gefährlichkeit, dachte der Lehrer mitleidig und war zufrieden damit,
+einem besseren Jahrhundert anzugehören.
+
+Daneben war aber etwas Unbestimmtes und Hinterlistiges, das ihn quälte.
+Bei all dem Herumdenken suchte er sich heimlich zu beschwindeln, und das
+wußte er. Exzellenz Kammerherr hatte sich da eine teuflische Sache
+ausgesucht für seine lahme Feder. Mit böser Zähigkeit kamen und gingen
+Bilder, und Philipp Unruh schaute sie an mit wildfremden Gefühlen. Er,
+der alle Dinge über sich ergehen und herabsinken ließ wie Schnee, fühlte
+plötzlich etwas wie Lebenslast und -besinnung.
+
+Endlich schien es ihm genug des Träumens. Er schloß das Fenster, ging
+noch eine Weile zwischen den leeren Schulbänken auf und ab, trotz der
+Dunkelheit sicher den Weg findend und suchte dann seine Studier- und
+Schlafstube auf, um sich zur Ruhe zu begeben.
+
+
+Drittes Kapitel
+
+Ziemlich viele Menschen waren in der Kantorwohnung versammelt,
+Ortswürdenträger und andere Leute. Es gab auch solche, die nur gekommen
+waren, um für eine Stunde der Winterkälte zu entrinnen. Der Auktionator
+war ein dicker Mann mit einer militärischen Fistelstimme. Bei den
+billigen Gegenständen wurde er herablassend, fast gnädig, und sein
+Würdegefühl stieg um so mehr, je geringer sich die Kauflust erwies.
+Doktor Maspero erstand einen Schreibtisch, der Bürgermeister ein Dutzend
+leere Flaschen, der Trödler Most die Gebetbücher, das »Kasino« einen
+Teppich.
+
+»Eine Chronik!« rief der Auktionator finster.
+
+»Eine Chronik für Unruh!« witzelte der Doktor.
+
+»Eine Chronik der Markgrafschaft Ansbach,« sagte der Auktionator streng,
+wartete, bis das Gelächter zu Ende war und fügte verächtlich hinzu:
+»Zwei Mark zum ersten.«
+
+»Drei Mark,« murmelte Philipp Unruh schüchtern. Einige kehrten sich
+lächelnd um, denn er stand an der Rückwand des Raums. Die Geschäftigkeit
+hier hatte ihn aus irgend einem Grund betrübt gemacht. Alle Gegenstände,
+die unter den Hammer kamen, hatten einen Schein von Persönlichem, von
+Zusammengehörigkeit, sahen aus wie Glieder einer Familie, die in die
+Welt verstreut werden sollten. Etwas wie Todestrauer lag über ihnen,
+besonders über dem schwarzen Ledersofa im Winkel. Es war, als säße der
+alte Kantor unsichtbar darin und betrachte mit mürrischem Gesicht die
+entrückte, kunterbunte Welt.
+
+Die Fistelstimme rief mit beleidigtem Ausdruck den Taler zum zweitenmal
+ab.
+
+»Fünf Mark,« sagte jemand, der eben eingetreten war. Alle drehten sich
+um, und die Mienen wurden zurückhaltend und unzufrieden, als man den
+neuen Provisor sah.
+
+Philipp Unruh erbebte. Er blickte nach Apollonius Siebengeist und dachte
+erbittert: der reine Adonis. Warum er gerade diese Bezeichnung wählte,
+und warum es in einer gehässigen Bedeutung geschah, blieb ihm
+rätselhaft. Der Auktionator nahm das höhere Angebot mit erwachendem
+Interesse zur Kenntnis.
+
+»Zwei Taler«, erwiderte der Lehrer mit dünner und unsicherer Stimme. Die
+Leute wurden neugierig, drängten sich zusammen und sahen zu, als ob ein
+Hahnenkampf vor sich ginge. Der Lehrer schämte sich wie jemand, der auf
+irgend eine Weise Interesse erregt, ohne es rechtfertigen zu können.
+
+»Drei Taler,« sagte Siebengeist mit kaltem Lächeln. Er stand an den
+Pfosten gelehnt, beide Hände in den Taschen seines Pelzmantels, in der
+nachlässigen Haltung eines Mannes von Welt. In Philipp Unruh erwachte
+ein trüber Zorn. Doch wie alle schwachen Menschen, die sich beleidigt
+oder übervorteilt sehen, hatte er den Wunsch, dem Gegner sein Anrecht
+logisch und herzlich zu beweisen. Er hatte die dunkle Empfindung, als
+müsse er hingehen und dem Manne sagen, wie viel ihm der Besitz der
+Chronik wert sei, und wie er sich darauf gefreut habe, sie erwerben zu
+können. Besonders den Umstand seiner Freude und Erwartung wollte er
+betonen. Indessen haßte und verachtete er gleichzeitig den fremden
+Eindringling, und in einer Aufwallung dieser Gefühle bot er zehn Mark.
+Der Doktor machte ein faunisch entzücktes Gesicht und eine
+triumphierende Gebärde, der Auktionator nickte beifällig und schnupfte
+geräuschvoll aus einer braunen Papierdüte. Jedoch andere Gesichter sah
+der Lehrer auf sich gerichtet, deren prüfender Hohn ihn erschreckte,
+und als der Provisor nachlässig noch weiter steigerte, verließ er
+schweren Schrittes den Raum mit den Gefühlen eines Menschen, über den
+ein falscher Urteilsspruch ergangen ist.
+
+Ein trüber Wintertag war es; alle Scheiben waren mit Eisblumen bedeckt.
+Der Schnee lag hoch und rein und blendete die Augen des Lehrers. Auf
+einem Zaun, dessen Pfähle weiße, runde Kappen trugen, saßen drei Spatzen
+und zwinkerten bekümmert den Vorübergehenden an. Aus dem Schulhaus drang
+ein betäubender Lärm. Unter seiner Ladentüre stand der Bäcker und
+schaute spöttisch lachend hinauf. Kunigunde, die Wirtschafterin,
+begegnete ihm auf der Stiege und kicherte dumm vor sich hin. Er lächelte
+plötzlich freundlich, als ob er mit jemand eine liebenswürdige
+Unterhaltung führte, doch schien es ihm unzuvorkommend und bedrückend,
+daß dieser Jemand bildlos im Raum verblieb.
+
+Das Schulzimmer war zum Schlachtfeld geworden. Kriegsgeheul ertönte, und
+Gegenstände flogen durch die Luft, die einst einer andern Bestimmung
+geweiht waren. Die schwarze Tafel, in eine Generalstabskarte verwandelt,
+war mit Hieroglyphen bedeckt. Die Reiterei hatte sich des ganzen Globus
+bemächtigt, und ein dämonisch kleiner Knabe saß auf dem Nordpol und
+fuchtelte mit beiden Armen. Einige Amazonen hatten die Gegend des
+Katheders besetzt und sangen Kampfgesänge. Der Lehrer blieb auf der
+Schwelle stehen, schöpfte Atem und schrie eine fürchterliche Drohung in
+den Raum. Sechsundsechzig Paar Augen blickten ihn bestürzt und
+schuldbewußt an. Alle Kinder setzten sich mit geschäftsmäßiger Kühle auf
+ihre Plätze. Sie erwarteten eine unheilvolle Untersuchung. Der Kleine
+vom Nordpol hatte sich beim Herunterspringen die Hosen an der Erdachse
+zerrissen und saß leichenblaß da. Indes begann der Lehrer zu diktieren:
+Der Hamster und der Igel; eine Geschichte, worin die Häßlichkeit des
+Geizes eine große Rolle spielte. Die Enttäuschung der Kinder war groß.
+Sie hätten die gleichgültige Hamstergeschichte gern entbehrt gegen das
+aufregende Prozeßverfahren, das einer Vormittagsschlacht sonst zu folgen
+pflegte. Immerhin ereignete sich noch etwas sehr Merkwürdiges, was den
+Fortgang des einschläfernden Diktats angenehm unterbrach. Die Tür wurde
+heftig aufgerissen, und Apollonius Siebengeist trat herein. Er hatte ein
+dickes Buch unter dem Arm, schritt gerade auf das Pult zu, legte den
+Folianten nieder und sagte zu Philipp Unruh mit emporgezogenen Brauen:
+»Ich bringe Ihnen Ihre Chronik. Ich wollte Ihnen damit ein Geschenk
+machen. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen einzuwenden.« Er grüßte mit
+übertriebener Unbefangenheit, doch mit schüchternem Blick und ging.
+
+Einige Kinder lachten; das brünette Fräulein Süßmilch auf der dritten
+Bank fand sich am meisten erlustigt. Sie war blutrot im Gesicht und
+konnte kaum aufhören, in ihre Schürze hineinzulachen. Philipp Unruh war
+verwirrt und beschämt. Mit der schablonenhaften Strenge, die ein
+wichtiges Erziehungsmittel war, befahl er Ruhe und stellte sich an das
+Fenster. Es ist etwas Schönes um den Winter, dachte er mit jener Wärme
+im Innern, welche kühne Hoffnungen erzeugt. Draußen mag es stürmen, ich
+stehe da, um zuzuschauen. Schlaf und Frieden ist alles. Wie schön, wenn
+es dämmert und ich durch den Schnee wandere, den bläulichen Schnee, und
+kein Laut dringt aus der Erde.
+
+Mit liebevoller Sorgfalt legte er die Chronik in die Pultschublade, und
+bald darauf schlug es elf Uhr. Die Sechsundsechzig stürmten davon, und
+der Lehrer rüstete sich zu einem Spaziergang. An der Ecke bei dem
+Kasino stand Apollonius Siebengeist und plauderte mit einem Mann, der
+einen großen roten Zettel an das Hauseck klebte. Philipp Unruh grüßte
+und war sichtlich bemüht, etwas Weitläufiges und Kameradschaftliches in
+seinen Gruß zu legen.
+
+»Wir werden jetzt Großstadt,« sagte Siebengeist lebhaft, »bekommen ein
+Theater. Und was für ein ungewöhnliches Stück sie da ankündigen!«
+
+Der Lehrer tat überrascht, obwohl er in der Zeitung davon gelesen hatte.
+Er hauchte in seinen Schnurrbart, der ein wenig steifgefroren war, und
+rieb die Hände.
+
+»Sagen Sie, lieber Onkel,« wandte sich Siebengeist an den Zettelmann,
+»habt ihr denn hübsche Schauspielerinnen?«
+
+Der Zettelmann machte eine großartige Physiognomie. »Bei mir ist die
+Blüte unseres Standes engagiert«, entgegnete er kurz und majestätisch.
+
+»Aber Onkelchen, sind Sie denn der Direktor?« rief Siebengeist erstaunt.
+
+Der Schauspieler bestätigte es. »Mein Name ist Schmalich«, sagte er mit
+dem Stirnrunzeln eines berühmten Mannes.
+
+Scheinbar interessiert besah sich Philipp Unruh den angeklebten Zettel.
+»Melchior oder die Leiden des Alters«, hieß das Stück, ein Lebensbild in
+zehn Abteilungen. Einige Leute waren stehengeblieben und starrten
+neugierig auf das rote Papier. Der Direktor nahm seinen Kleistertopf und
+entfernte sich mit feierlichem Gruß. Auch der Lehrer wandte sich zum
+Gehen und war kaum einige Schritte weit, als er Siebengeist an seiner
+Seite sah. Der Provisor begann zu reden, als ob es ihm nur um Worte zu
+tun sei. Er schimpfte über das Nest, in das ihn ein unwirsches Geschick
+verschlagen habe; er machte sich über Himmel und Erde lustig, und etwas
+Knisterndes, Sprudelndes, Glattes war an ihm. Viele Zuckungen gingen
+über sein Gesicht. Seine Augen hafteten an vielen Punkten zugleich. Dem
+Lehrer ward es unbehaglich wie neben einer gefährlichen Maschine.
+Siebengeist aber schlug einen weiten Spaziergang vor, da ja heute
+Mittwoch sei. »Der ganze Nachmittag liegt vor Ihnen«, sagte er. »Gehen
+wir ein wenig hinaus in den Schnee.«
+
+Philipp Unruh wagte nicht, nein zu sagen. Er war überhaupt weder ein
+Nein- noch ein Ja-Sager, und hier fand er sich verpflichtet, Wünsche zu
+erfüllen. Siebengeist redete weiter, bespöttelte die Büchersucht des
+Lehrers und sprach im allgemeinen vernichtend über das Gelehrtentum.
+»Was wollen Sie denn mit Ihren Namen und Zahlen, Onkelchen? Erklären Sie
+sich doch. Die Geschichte? So? Die Geschichte ist ein altes Weib. Alles,
+was war, ist wertlos. Jener Komödiant und sein Theater ist jetzt
+wichtiger als alle Moses, Marc-Aurel, Robespierre und Lasalle. Der
+Unterrock meiner Geliebten wiegt das ganze babylonische Reich auf.
+Freilich, tausend Jahre sind euch nichts, denn auch die Stunden sind
+euch nichts.«
+
+Der Lehrer blickte verängstigt auf seinen Weg. Nichts Erschreckenderes
+für ihn als diese Reden, deren Sinn ihm vorüberglitt wie Wasser. Das
+Heftige, Sprunghafte, dabei Lachende und Kühne im Wesen seines
+Begleiters machte ihn schülerhaft verzagt. Eine Weile schwieg
+Siebengeist und pfiff nur vor sich hin. Weiß und still dehnten sich die
+ebenen Felder. Unbestimmte Laute kamen aus Fernen, die vom Nebel
+verhüllt waren. Im glatten Schnee waren zahllose Hasenfährten und
+Krähenfüße sichtbar, am Waldrand trippelte eine Rebhühnerschar mit
+schwachen, seufzenden Schreien. In der Luft war ein Sieden und Sausen,
+hervorgebracht durch das merkwürdige, schwere Schweigen ringsumher.
+
+»Sind Sie verheiratet?« fragte Siebengeist wie ein Untersuchungsrichter.
+»Nein? Sind Sie verliebt?«
+
+Der Lehrer wurde blaß und schüttelte unwillig den Kopf. Siebengeist
+lachte hell wie ein Kind. »Waren Sie je verliebt? Wissen Sie, Onkelchen,
+man könnte Sie geradezu für einen Eunuchen halten, wenn man nicht wüßte,
+daß Sie ein deutscher Bücherwurm sind. Sie verachten natürlich die
+Liebe, sofern sie nicht auf dem Papier verewigt ist. Haben Sie mal von
+einer gewissen Ninon de l’Enclos gehört? Ein wundersames Frauenzimmer.
+Sie hat ganze Generationen mit Liebe beschenkt. Ich war damals ein
+Gascognischer Prinz und in mancher Nacht küßte ich die unsterblichen
+Lippen. Seitdem ist die Welt bitter geworden. Onkelchen, was heutzutage
+sich Weib nennt, ist wert, eingesalzen zu werden. Ich habe keines kennen
+gelernt, in dem nicht die dumme Gans oder die Xantippe steckt. Sie sind
+schlecht, eitel, feig, anmaßend, sitzen stets auf dem Galanteriestühlchen
+und sind mit Leidenschaft der Lüge ergeben. Dagegen liest man in den
+Kunstbüchern von den erlauchtesten Idealgestalten. Davor warne ich Sie,
+Onkelchen. Durch diese Literatur geht ein Riß. Sehn Sie doch nur, ein
+Mann wie ich, Prinz von Geblüt, sitzt auf dem Trockenen und weiß nichts
+anzufangen mit seinen Gefühlen, geht sehnsüchtig in der Welt umher und
+gafft sich die Augen aus nach dem Bild der Liebe. Nun, ich gebe mir noch
+eine kurze Frist, dann wähle ich ein angenehmes und schmerzloses Gift.«
+Er lachte wieder fein kindliches Lachen.
+
+Der Lehrer wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es ist ein Traum,
+dachte er zweifelnd und betrübt und sah auf das Bahngeleise hinüber, auf
+dem ein Schnellzug einherraste. Er freute sich auf seine Abendstunden,
+auf seine Chronik, auf seine stille Abgeschiedenheit. Indessen forderte
+ihn der Provisor auf, mit ihm in einem Wirtshaus in Altenmuhr zu essen,
+und noch viel weniger als früher wagte er es abzuschlagen. Doch
+Siebengeist wurde merkwürdig schweigsam, ballte nur hier und da Schnee
+zusammen und warf ihn auf die Baumkronen, daß es knisterte. Dann lachte
+er und freute sich.
+
+In der niedrigen, heißen Wirtsstube saßen Fuhrleute beim Bier.
+Siebengeist berührte kaum die Speisen. Er stocherte nachdenklich in
+seinen weißen Zähnen, während der Lehrer tüchtig zugriff. »Gelehrsamkeit
+stärkt den Magen«, bemerkte Siebengeist sarkastisch. »Wissen Sie, was
+mir eingefallen ist? Ich forme mir eine Jungfrau aus Schnee: schön, rein
+und klug. Ich gebe ihr das Herz eines treuen Hundes und die Augen einer
+edlen Häßlichen, die in Verborgenheit lebte. Das Ganze belebt, wäre ein
+Wunder an Vollkommenheit.«
+
+Philipp Unruh dachte: wenn dieser Mann Apotheker ist, werden die Kranken
+seltsame Mixturen erhalten. Sein ordnungsliebendes Gemüt begann sich zu
+empören. Er betrachtete den Provisor scharf von der Seite und mußte sich
+gestehen, daß er ein schönes Gesicht habe, ein intelligentes Auge, einen
+weichen, schwärmerischen Mund.
+
+Auf dem Heimweg stockte jedes Gespräch. Die Ruhe der Natur war ein
+Befehl zur Ruhe für die Wanderer. Schon begann das beschneite Gelände
+bläulich zu schimmern. Wie schwärzliche Gestalten standen die Bäume da,
+streckten die Äste verzweifelt gegen den Himmel. Philipp Unruh empfand
+seinen Begleiter wie eine schwere Bürde. Er vermochte nicht zu überlegen
+und nicht zu denken in seiner Gegenwart. Unsichere Schuldgefühle
+belästigten ihn.
+
+Als sie den Marktplatz des Städtchens entlang schritten, begegnete
+ihnen der Baron Apotheker und lud sie ein, den Nachmittagskaffee in
+seinem Hause zu nehmen. »Meine Frau wird sich freuen«, sagte er süßlich
+und in einem Ton, als spräche er von einer majestätischen Person.
+Siebengeist nickte zerstreut und nahm des Lehrers Arm, der verschüchtert
+und abwartend der Einladung folgte.
+
+Es war ein uraltes Haus mit vielen Ecken und Winkeln, breiten, finstern
+Stiegen, geheimnisvollen Türen und knarrenden Dielen, worin die Apotheke
+war. Es stammte noch aus der Markgrafenzeit und teilte jedem seiner
+Bewohner etwas von seinem verschlossenen, düstern, eckigen und
+altmodischen Wesen mit. Aus der Tiefe des Flurs kam die Baronin und rief
+den Provisor zu sich hin. Philipp Unruh und der Apotheker gingen daher
+voran, doch da es schon finster war, bat der Baron seinen Gast,
+stehenzubleiben und eilte voraus, um ein Licht zu bringen. Der Lehrer
+lehnte sich aufseufzend an die breite, gotische Brüstung und hörte
+Stimmengeflüster auf der Stiege, das alsbald wieder verstummte. In
+diesem Augenblick kam der Baron mit der Lampe den Korridor entlang, und
+ein Lichtstrahl erhellte das ganze Treppenhaus. Da sah Philipp Unruh,
+wie sich zwei umschlungen hielten und küßten. Die Frau hing am Halse
+Siebengeists mit geschlossenen Augen. Er aber hatte die Augen offen, und
+es war, als sähe er weit über sie hinweg, in eine weite Ferne, und sein
+Blick war düster und starr. Das dauerte im Schein des Lichts keine
+Sekunde, aber der Lehrer glaubte, Zeuge eines grauenvollen Verbrechens
+gewesen zu sein. Als er dem Apotheker folgte, trugen ihn die Füße kaum,
+und seine Zähne schlugen heftig aufeinander. Der Baron drehte sich um
+und lachte in seiner Hohomanier. »Armer Teufel,« sagte er, »klapperkalt
+ist ihm.« Und er brüllte in die Küche, daß es von allen Mauern
+widerhallte: »Johanna, heißes Wasser zum Grog!« Gleich darauf begann er
+wieder zu lispeln und lispelte von der Poesie des Winters, während das
+andere Paar scheinbar harmlos plaudernd die Stube betrat.
+
+Gemütliche Wärme herrschte in dem großen Zimmer, dessen Decke gewölbt
+war wie in einer Kapelle. Der Ofen für sich war ein kleines Haus. Der
+Baron las seinen Prolog für das Theater vor, wobei Siebengeist ergeben
+in seine Tasse blickte. Offenbar waren die Gäste nur dieser Dichtung
+wegen herbeigeschleppt worden, denn der Baron las mit der studierten und
+zugleich naiven Wichtigkeit des Dilettanten, der sich ängstlich
+vorbereitet hat. Es kamen da viele Reime vor, und manche Gedanken, die
+eines Barons außerordentlich würdig waren, um wieviel mehr eines
+Apothekers. Die Hippogryphen waren zu diesem Ritt kostbar gesattelt
+worden, und vom großen Stall der Metaphern war, was Beine hatte,
+mitgelaufen. Zeit und Ewigkeit, Vaterland und Wissenschaft, Kunst und
+Natur waren, mit Traratrompetlein bewaffnet, auf einen erbaulichen
+Kothurn gestiegen und grinsten zum Vergnügen aller Mitbürger aufgeregt
+herab. Des Dichters Stirn war in Schweiß gebadet und sein blonder,
+zierlicher Schnurrbart zitterte rhythmisch mit.
+
+Zu anderer Zeit hätte Philipp Unruh hohes Gefallen an der Produktion
+gefunden. Aber der gemütliche Raum schien jetzt von schwülen Mysterien
+erfüllt. Er sah Siebengeist gequält und grübelnd sitzen und wagte es
+endlich, auch die junge Frau anzuschauen. Überrascht und erschreckt
+senkte er den Blick nieder. Die schwarzen Augen der Baronin waren
+begeistert auf die Lippen ihres Mannes gerichtet, und sie lächelte
+begeistert. Zorn und Scham erwachten in dem Lehrer. Er atmete in
+Lügenluft, aber eine ihm bisher unbekannte Empfindung sinnlicher
+Neugier ergriff ihn. Als der Apotheker geendet hatte, lief die Frau
+beglückt auf ihn zu, umarmte und küßte ihn stürmisch. Dem Lehrer graute.
+Gefährlich, tückisch und verschlagen zeigte sich ihm das Weib, und er
+sah dem Provisor ins Gesicht, der mit einem dummen Lächeln gegen das
+Fenster blickte.
+
+Auf einmal schrie jemand auf der Gasse laut und vernehmlich Feuer, und
+gleichzeitig ertönte die Sturmglocke. Siebengeist öffnete das Fenster
+und fragte hinunter. Es brenne beim alten Schulhaus, hieß es. Philipp
+Unruh stürzte davon, nur vom Gedanken an seine Bücher erfüllt.
+
+
+Viertes Kapitel
+
+Eine der Galerien, morsches, altersschwaches Zeug, stand lichterloh in
+Brand. Es sah unheilvoll aus, denn was da an Häusergerümpel
+beisammenstand, war sehr empfänglich für das Feuer. Die Flammen
+erfüllten den Hof, schlugen über das Dach des Schulhauses, und es gab
+ein Schock von Kindern, welches mit verbrecherischer Spannung darauf
+wartete, daß jenes verhaßte Gebäude zur Stunde vom Erdboden verschwinden
+würde. Diejenigen Leute aber, denen es gleichgültig sein durfte, ob es
+Schulferien gab oder nicht, zeigten sich aufgeregt, und die Turmglocke,
+die solche Gelegenheiten gern ergriff, um einen prahlerischen Lärm zu
+erzielen, vermehrte die Angst der Gemüter. Ihre kurzen Schläge glichen
+dem Pochen eines schreckenerfüllten Herzens. Es rückte die Feuerwehr an
+mit mutigen Messinghelmen und verzagten Gesichtern und diese guten
+Menschen verübten nun ihrerseits wieder solchen Skandal mit Trompeten
+und Kommandieren und einem rasselnden Spritzenwagen und himmelhohen
+Leitern, daß der Tumult größer wurde als die Gefahr. Statt zu handeln
+und sich unterzuordnen, machte sich jeder auf besondere Weise wichtig
+und benahm sich als eine verdienstvolle Autorität in Gummischläuchen
+oder im Wassertragen oder im Klettern und Fensterzertrümmern.
+
+Philipp Unruh stürmte in die Küche, nahm eine große Kohlenkiste, die er
+in seine Studierstube schleifte und warf dort mit erstaunlicher
+Handfertigkeit seine Bücher hinein. Unheimlich sah es aus, wie er von
+den düsterroten Flammen beleuchtet in atemloser Geschäftigkeit die
+schwarze Kiste mit den alten Folianten füllte. Mit einer Kraft, die er
+als Zuschauer verwundert beobachtet hätte, zerrte er den schweren Kasten
+zur Stiege, ließ ihn unter großem Gepolter herabgleiten, und erst unten
+fanden sich zwei Männer, die ihm halfen, seinen Schatz auf die Straße zu
+tragen. Zwischen zwei Schneehaufen blieb die Kiste stehen. Erleichtert
+betrat der Lehrer wieder das Haus, um wenn es nötig war, auch die
+übrigen Habseligkeiten zu bergen. Die Wirtschafterin lief heulend im
+Flur herum. Da niemand noch an Gefahr für das Schulhaus dachte, klomm
+Unruh allein empor, sah sich um, fand es merkwürdig still, hörte nur das
+Geprassel des Feuers und das Zischen der Wasserstrahlen. Schränke und
+Wände waren blutigrot; die Fensterscheiben zitterten vor Hitze, doch mit
+jedem Augenblick verminderte sich die Gefahr. Die Holzgalerie brannte ab
+wie Papier und die Steinmauer wurde schwarz von Ruß. Im Hofe stand die
+Feuerwehr, eine Schar von Todesverächtern.
+
+Philipp Unruh trat wieder auf die Straße. Er winkte den Gemeindediener
+herbei, daß er ihm helfe, die Kiste zurückzutragen. Allein die Kiste war
+verschwunden. Der Raum zwischen den beiden Schneehaufen war leer. In den
+weichen Schnee war ein tiefes Rechteck eingedrückt, sonst war nichts zu
+sehen. »Wo sind denn die Bücher?« fragte der Lehrer mechanisch, und
+blickte sich befremdet um. »Gutmann, wo ist meine Kiste?« schrie er
+einen vorübergehenden Feuerwehrmann an, und sein Gesicht verzerrte sich.
+Gutmann zuckte beschäftigt die Achseln. Der Gemeindediener versuchte zu
+trösten und öffnete nachdenklich sein Schnapsfläschchen. Einen um den
+andern rief der Lehrer an, aber keiner wußte etwas. Eine Gruppe sammelte
+sich, die Ratschläge gab und Meinungen austauschte. Der Polizist Grünhut
+stellte sich ein und schrieb Notizen in ein verschmiertes Buch. Der
+Lehrer hatte zuerst gejammert, jedem geklagt, einige um Beistand
+gebeten; jetzt wurde er still. Die Gewißheit, daß man ihm seinen
+teuersten Besitz entwendet habe, begann als etwas Ungeheures auf ihm zu
+lasten. Er fühlte sich vom Himmel selbst verwundet; beleidigt und
+verwundet in seinem innersten Wesen. Die Ungerechtigkeit, unter der er
+so zu leiden hatte, erstickte seine Überlegungen, raubte jedes Maß, jede
+Berechnung für das, was ihm zugestoßen. Hier lag ein Verbrechen vor,
+unerhört und frevelhaft. Wer durfte einen armen Friedlichen auf solche
+Art zu Schaden bringen? Er war ein Lehrer, nichts weiter, und
+verrichtete ehrlich sein Geschäft. Er war vor andern um nichts
+bevorzugt. Oder wurde es so bitter gerächt, daß er dem harten Brot des
+Berufs etwas Wohlgeschmack und Süßigkeit hinzugefügt?
+
+Breit und mit Würde angestopft, kam der Herr Wachtmeister des Wegs. Er
+versprach leutselig, sich der Sache anzunehmen. »Wacker,« sagte er,
+»wacker,« ein Lieblingswort, welches er grundlos bevorzugte. Der
+Polizist trank aus des Gemeindedieners Flasche und eilte in die Nacht,
+den Dieb zu verfolgen. Man schickte zum Bäcker und zum Schneider
+nebenan. Dieser begann zu schimpfen, man bringe ihn um seinen Ruf, jener
+tat sehr unschuldig und besorgt. Das Verschwinden der Kiste blieb ein
+finsteres Rätsel. Philipp Unruh ging noch immer auf der Straße hin und
+her, blickte mit zusammengepreßten Zähnen in die Nacht. Die Leute
+entfernten sich langsam. Es war neun Uhr und Schlafensstunde nah. Auf
+dem Brandplatz blieben zwei von den Messingbehelmten, lagerten sich an
+ein Kohlenfeuer und tranken zahllose Krüge Bier, die aus dem »lustigen
+Pfeifer« geholt wurden.
+
+Doktor Maspero war der letzte, der vor den trostlosen Beraubten hintrat.
+Er schaute prüfend zu dem Lehrer empor und sagte übelgelaunt: »Es ist ja
+gerade so, als ob Sie eine lebendige Familie verloren hätten. Pfui,
+Unruh, das heißt sich zum Narren stempeln.«
+
+»Lieber Herr Doktor,« entgegnete der Schulmeister unwillig und ohne die
+Stimme zu erheben, »wer etwas verliert, muß am besten wissen, was er
+verliert.«
+
+Der Doktor brummte, zog die Augenbrauen in die Höhe, kicherte in sich
+hinein und wünschte gute Nacht.
+
+
+Fünftes Kapitel
+
+Doktor Maspero hatte gut lachen; er wußte, wo die Bücher hingeraten
+waren. Nicht ganz ein Komplott und mehr als ein Einfall trug die Schuld.
+Das kleine Männchen mit dem Alleswissergesicht versuchte sich gern in
+der Seelenheilkunde. Auch der Apotheker und der Schulrat hatten Teil
+daran. Diese behördliche Person billigte das Treiben des Lehrers nicht.
+Obwohl von Pflichtversäumnissen bislang keine Rede sein konnte, – hinter
+stummen Bücherdeckeln erhebt sich oft ein unheilvoller Geist. Niemand
+konnte das gründlicher bestätigen als der Baron. »Verderblich ist das
+Wort,« lautete sein gebildetes Orakel. Der Doktor seinerseits mischte
+sich mit Leidenschaft in fremde Angelegenheiten. Er war ein Schnüffler
+und mißtraute allen Leuten, bei denen er Geheimnisse vermutete. Er haßte
+die Schweigenden, haßte die Leute, die anspruchslos ihres Weges gehen
+und in sich verschließen, was sie im Innern beschäftigt. Er haßte jene,
+die sich für irgend etwas mit wahrem Gefühl einsetzen und hielt sie für
+Lügner. Jeder Einsame galt ihm als Verräter an einem öffentlichen Wohl.
+Seine Zwerggestalt war der Grund eines wunderlichen, giftigen Ehrgeizes.
+War er den andern körperlich unterlegen, so wünschte er doch brennend,
+sonstwie zu herrschen. Daher sein penetranter Witz, seine angebliche
+Verachtung der Frauen; daher seine seltsame Eifersucht auf alles Große,
+was immer in der Welt geschah; daher seine Freude, sogenannte Wahrheiten
+zu sagen, seine unermüdliche Geschwätzigkeit, seine Gier, zu
+verurteilen, gehört zu werden, belacht zu werden, zu glänzen. Er war der
+erste gewesen, der Unternehmungen gegen die Bücherwut des Lehrers
+geplant hatte. Seine Motive waren menschenfreundlich; er sagte es. Aber
+es waren Worte geblieben bis zum Tag der Feuersbrunst. Da hatte er das
+Herausschleppen der Kiste beobachtet und war zum Bäcker geeilt, der für
+einen guten Spaß alles Brot im Ofen schwarz werden ließ. Alsbald war die
+Kiste unter dem Ladentisch verschwunden, und der Bäcker drückte sein
+gründliches Mißfallen an der Studierwut des Lehrers aus, vermutete
+Schwarzkunst und teuflische Zauberei dahinter. Der Doktor empfahl ihm,
+die Bücher ordentlich zu bewahren, und verhielt sich so, als ob ein
+reformatorischer Gedanke jeden Schritt in dieser Angelegenheit
+vorbestimmt habe.
+
+Auf dem Heimweg empfand Doktor Maspero ein verwickeltes System zu der
+Tat, die er gegen Philipp Unruh unternommen, ein System, welches
+zugleich philosophischer und pädagogischer Natur war. Als er sich der
+letzten Konklusion nahte, bemerkte er die Gestalt des Provisors
+Siebengeist, die am Zaun des Kasinogartens lehnte, als ob sie steif
+gefroren wäre, und die Augen des jungen Mannes beobachteten gespannt den
+Mond am klaren Himmel. Erschrocken blieb der Doktor stehen und sagte mit
+unsicherer Bosheit: »Sie sind mir ein gespenstischer Herr da.«
+
+Siebengeist senkte den Kopf und blickte den Doktor von der Seite an.
+»Dieser Kerl ist mein Feind,« erwiderte er langsam, die Faust gegen den
+Mond ballend. »Ich kann nicht schlafen, so lang er am Himmel steht.«
+
+»Also ein Romantiker,« meinte der Doktor, spöttisch in den Ton des
+Arztes verfallend, »ein Romantiker mit kalten Füßen also.«
+
+Siebengeist begleitete schweigend den Doktor die Straße hinab. Der Herr
+Adjutant kam ihnen entgegen, grüßte schreiend und lachend, als ob er
+eben von einer Amerikareise zurückgekehrt wäre und verschwand lautlos
+in der Nacht. Selten sind die Schlauen auch im Schweigen schlau. Der
+Doktor erzählte Siebengeist mit geheimnisvollem Wesen die Geschichte von
+den geraubten Büchern, und das philosophische System enthüllte sich in
+Beweiskraft. Siebengeist hatte nichts darauf zu antworten. Er nahm
+Schnee in die Hand und drückte ihn gegen seine Stirne. »Der Mond ist
+mein Feind,« murmelte er. »Mich verdrießt sein Grinsen, seine Klarheit,
+sein erborgtes Licht, seine anspruchsvolle Nutzlosigkeit. Er steht da
+droben und hat sein Amüsement von der Welt. Und ich, ich muß mir den
+Kopf im Schnee kühlen, fiebernd vor Überdruß.«
+
+Sie standen vor dem Turmbogen, und der Doktor blickte verdutzt sein
+Haustor an, wußte nichts zu entgegnen als: »Sie sind verliebt, junger
+Freund.« Er hatte bei den Redereien des Provisors ein Gefühl wie jemand,
+den man aus dem ersten Schlaf weckt, um ihm die Anfangsgründe der
+Eskimosprache beizubringen. Doch tat er verständnisvoll aus Furcht vor
+einer möglichen Überlegenheit des andern.
+
+»Richtig: eine meisterhafte Vermutung!« rief Siebengeist, mit dem Stock
+an das morsche Tor schlagend, daß es drinnen dumpf widerhallte.
+
+»O, ich bin ein geriebener Hund, was die Weiber betrifft,« sagte der
+Doktor. »Ich kenne alle Schliche darin. Wie sieht sie aus, was ist sie,
+wie ist sie?«
+
+»Wie sie aussieht? Je nun, das ist schwer. Eine gut funktionierende
+Nase, zwei erfahrene Augen, ein redseliger, lügnerischer Mund. Wie sie
+ist? Ebenso feig wie dumm, ebenso habgierig wie eitel, ebenso frech wie
+leer, ebenso gestorben wie die andern Leute hier herum. Aber Sie denken,
+ich spiele deshalb den Verschmäher? Ei, Doktor, da irren Sie sich. Der
+Rock ist alles, es lebe der Rock. Genug davon. Zuviel Wucht für die
+taube Nuß.«
+
+Unter dem Torbogen des Turms schallte ein leichter Schritt. Es ging da
+ein junges schwarzgekleidetes Mädchen, dessen Kopf mit einem Schal
+verhüllt war. Es sah nicht aus, als ob sie Eile hätte, denn sie ging
+mehr für sich hin, verloren und abgekehrt, den Kopf leicht vorgeneigt,
+und in ihrem Schritt war sowohl Müdigkeit als auch Verträumtheit
+enthalten. Siebengeist folgte ihr mit den Blicken, als ob sich sein
+Schatten in Bewegung gesetzt hätte, denn es war schon etwas
+Ungewöhnliches, daß zur Schlafenszeit in offener Gasse jemand ging, der
+nicht Eile zeigte, schlafen zu gehen.
+
+Des Doktors Schlüssel kreischte im verrosteten Schloß. Herr Maspero,
+Siebengeist beobachtend, gab seine liebenswürdige Nachsicht durch ein
+Lächeln kund, einem Veteranen gleich, der beim Anblick der Spielflinte
+eines Knaben an die großen Schlachtenkanonen denkt. Dann verabschiedete
+er sich in der akademischen Steifheit, die ihm eigen war. Er betrat den
+öden Flur seines Hauses, in dessen Hintergrund bei der Treppe eine
+nimmermüde Stehuhr ihr schläfriges Ticken seit Jahrzehnten ertönen ließ.
+Sechstausend Nächte und mehr noch lief das Werk im stummen
+Pflichtgefühl, und wenn es abends zehn Uhr war, kreischte der Schlüssel
+im verrosteten Schloß, und der Zwergdoktor sagte irgend einem gute
+Nacht, der vor dem Tore stand, riegelte sich ab von der Welt, machte die
+alten Dielen durch seine kleinen Füße knarren, hob an der Treppe das
+Kerzchen gegen das Zifferblatt, wobei in seinen grauen, unruhigen Augen
+etwas Fragendes aufblitzte, das unbehaglich und ängstlich den
+Fortschritt der Zeit wahrnahm. Die akademische Steifheit verlor sich,
+das leutselige oder sarkastische Lächeln verschwand. Unsichtbare
+Schatten der Zukunft schienen in dem stillen Haus emporzuwachsen, vom
+Flur bis in die Bodenkammer, und wehe, wenn sie einmal so weit
+gelangten, die beiden geschäftigen Zeiger der Doktorsuhr stehen bleiben
+zu heißen. So wird den Masperos allmählich die ganze Welt zu einer Uhr:
+die Hausmauern, von denen der Kalk abbröckelt; der Nachtwächter, dessen
+Stimme zitternder und leiser die Stunden ruft; der Wald, von dessen
+Bäumen die Blätter fallen; die Erde, die sich mit Schnee bedeckt; die
+Sonne, die hinter Frühjahrsnebeln blutet; ja, sogar die Kinder, denen
+der Schuster von Jahr zu Jahr größere Stiefeln machen muß.
+
+Am nächsten Tag wußten die Sechsundsechzig von komischen Sachen zu
+wispern, die sie in der Schule gehört. Von zehn bis elf war
+Geschichtsstunde gewesen, ein Fach, das bisher aus einigen Namen und
+Zahlen bestanden hatte, mühsam und überflüssig zu lernen. Heute war der
+Lehrer, die Hände auf dem Rücken, hin- und hergegangen und hatte
+unaufhörlich geredet. Ungerechtigkeit sitze auf dem Thron der Erde. Die
+Geschichte sei nichts anderes als die Wissenschaft von der
+Ungerechtigkeit. Was ein Edler unternehme, werde hundert Unwürdigen
+preisgegeben, und ist es Gott, welcher das Glück eines Einsamen bewacht,
+so seien seine Augen matt, seine Sinne erschöpft vom Anblick der
+Zerrüttung und des Übels. So sprach der Unbesonnene zu Kindern: Dinge,
+die weitab vom Kreis seines Amtes lagen, und sein Mund zitterte unter
+dem buschigen, herabhängenden Schnurrbart. Als das Schulzimmer leer war,
+setzte er sich vor den Globus, und so traf ihn Doktor Maspero, der beim
+Bäcker gewesen war und nun aus freundschaftlicher Besorgtheit auch den
+Lehrer besuchte. Philipp Unruhs Blicke waren fest auf einen Punkt in der
+Wüste Saharah gerichtet, dann liefen seine Augen meridianaufwärts über
+Hellas und den Hellespont, durchsegelten das Schwarze Meer und blieben
+stumpfsinnig nach rascher Landwanderung in der Nähe Sibiriens liegen.
+»Sie werden sich erkälten bei solchem Klimawechsel,« scherzte der
+Doktor.
+
+»Überall da leben Menschen,« erwiderte der Lehrer, mit einem vertieften
+Ausdruck emporblickend. »Lauter fremde Menschen.«
+
+Der Doktor geriet vor dem grabenden Blick Unruhs in Verlegenheit. Er
+fragte sich umsonst, was er sagen solle.
+
+Die Pausestunden verflossen, und die kurze Schulzeit des Nachmittags
+verging. Der Lehrer wandelte betrübt zwischen den Bänken umher, und
+beruhigte so den ängstlichen Geist der Kinder wieder. Gegen Abend
+klopfte es an die Türe von Unruhs eigenem Zimmer und Apollonius
+Siebengeist trat ein, warf den Hut irgendwohin und den Mantel nach, rieb
+sich am Ofen die Hände wie jemand, der einträgliche Geschäfte gemacht
+hat, und achtete kaum auf die erstaunten Mienen des Lehrers. »Eine
+gemütliche Stube haben Sie da,« sagte er, sich fröhlich umschauend. »Ich
+komme zu Ihnen, weil ich niemand hier weiß, mit dem sichs plaudern läßt.
+Die meisten Leute, mit denen man redet, hören gar nicht, sondern
+besinnen sich nur auf die Antwort. Heute brauch ich aber partout einen
+Zuhörer und ein warmes Öfchen. Aber Schulmeister! Onkelchen! Sie sehen
+aus wie der selige Griesgram.«
+
+»Alle meine Bücher sind mir gestohlen worden,« murmelte der Lehrer
+klagend.
+
+Siebengeist kratzte seinen Kopf und pfiff leise in die Ofennische. Dann
+machte er ein pfiffiges Gesicht, das ihm außerordentlich gut stand, trat
+dicht vor den Lehrer hin und legte beide Hände auf dessen Schultern.
+»Und wenn ich Ihnen nun verspreche, daß Sie Ihren Schatz wiederhaben
+sollen?« fragte er lächelnd.
+
+Philipp Unruh sprang auf. »Sie wissen? Was verlangen Sie dafür?« rief er
+mit überraschender Leidenschaftlichkeit.
+
+Siebengeist lachte und errötete. In seinen Augen war ein so
+merkwürdiges, verlorenes Glänzen, daß es wohl jeder bemerkt hätte, der
+sich besser auf Menschen verstand als dieser Philipp Bücherwurm.
+»Allerdings verlange ich etwas dafür,« sagte Siebengeist, und sein
+Lächeln kehrte wieder, das jetzt etwas Durstiges und Gedankenfernes
+hatte. »Sie kennen doch den Theaterdirektor, den Herrn, der mit dem
+Kleister so königlich hantiert? Sie erinnern sich doch? Gut. Gehen Sie
+heute ins Theater. Man gibt die erste Vorstellung. Und wenn das Stück
+aus ist, suchen Sie auf irgend eine Weise zu dem majestätischen Herrn zu
+kommen, knüpfen ein Gespräch an, indem Sie sich entzückt stellen über
+seine Leistung als Graf oder General oder Bettler, was er eben in dem
+Stück vorstellt. Der Mann wird butterweich werden, oder ich kenne die
+Komödianten nicht. Dann fangen Sie an, von seiner Truppe zu sprechen,
+laden ihn vielleicht zu einer Flasche Wein ein und kommen so auf Myra zu
+sprechen. Das ist eine von den Schauspielerinnen. Schreiben Sie sich den
+Namen auf: Myra. Einen andern hat sie momentan nicht.«
+
+»Myra,« redete Philipp Unruh nach, nicht begreifend, was er solle.
+
+Siebengeist schritt erregt auf und ab, legte die Hand auf die Stirn und
+fuhr etwas leiser und eintöniger fort. »Wenn der würdevolle Schuft nicht
+reden will, so schieben Sie ihm Geld in die Hand. Ich gebe Ihnen, was
+Sie brauchen. Fragen Sie also nach Myra. Wie sie lebt, woher sie kommt,
+weshalb sie sich beim Theater aufhält, ob sie ... ob sie Liebschaften
+hat oder gehabt hat, – nun, jetzt wissen Sie ja genug. Heiliger Himmel!«
+Er lachte überstürzt, setzte sich am Ofen nieder und schaute in die
+Glut. Dann, als verstünde er das Schweigen des Lehrers, begann er wieder
+und redete in das Ofenloch hinein: »Fürchten Sie nicht, daß Sie etwas
+Unehrenhaftes tun. Sie retten dabei nur mein irdisches Heil. Ich selbst
+kann es nicht übernehmen. Ich kann den Namen dieser Person nicht
+aussprechen, ohne etwas zu spüren, – eine innere Feuersbrunst! Und müßte
+ich hören, wovor mir schon in Gedanken graut, ich erschlüge den
+Kleisterbaron, so wahr ich bin. Die Leute beim Theater reden wasserklar
+einer über den andern. Nun, Schulmeister, wollen Sie das unternehmen für
+mich? Hier ist das Billett; alles ist vorbereitet.«
+
+Der Lehrer zauderte, fremdartig berührt durch das Wesen des jungen
+Mannes. Die Versprechung mit den Büchern erschien ihm plötzlich
+märchenhaft, wie alles, was der Provisor tat und sagte. Aber auch das
+erriet Siebengeist mit der sicheren Gabe des von seinen Zwecken ganz
+erfüllten Menschen. »Ihre Bücher, meine Hand darauf, sollen Sie wieder
+haben!« rief er und fügte mit übertriebenem Pathos hinzu: »Es sind da
+infame Ränke im Spiel, die ich zerstören werde.«
+
+Philipp Unruh reichte dem jungen Mann seine Hand, schüchtern und voller
+Zweifel. Siebengeist lächelte freudig und unbefangen und zeigte seine
+weißen Zähne. »Ich vertraue Ihnen darum das alles,« sagte er nun wieder
+in seiner natürlich gewinnenden Weise. »Sie sind ein Stiller, ein
+stiller Freund. Wenn Sie mehr Zutrauen zu sich hätten, könnten Sie
+weiter oben stehen in der Welt. Berichten Sie mir nur alles, was Sie da
+erfahren, und merken Sie sichs mit dem Herzen. Sie wissen nicht, was für
+mich davon abhängt. Beobachten Sie jedes Augenzwinkern, jeden
+Gedankenstrich in der Rede. Die Leute sagen vieles ohne Worte. Helfen
+Sie mir heute, und ich will Sie als meinen liebsten Freund betrachten.«
+
+Siebengeist sagte das mit einer Herzlichkeit, die auch kühle Seelen
+erwärmt hätte. Der Lehrer hörte verwundert zu und beinahe mechanisch
+fragte er: »Warum nur? Warum?«
+
+Siebengeist setzte sich an den Tisch, drehte ein wenig an dem Docht der
+Lampe, lächelte zart und erinnerungsvoll, wobei seine Augen strahlend
+und weit wurden. Dann sagte er, als ob er zur Lampe rede: »Da trifft man
+irgend einen Wanderer auf der Straße, in der Nacht, im Schnee und gleich
+schmieden sich Schicksale zusammen. Und man geht mit dem sonderbaren
+Wesen, spricht kaum, erfährt kaum einen Namen, nichts als einen lumpigen
+Theaternamen. Myra! Was für eine unverständliche Zusammenstellung von
+Buchstaben? Bis gestern noch etwas so unbekanntes wie der eigene
+Todestag, heute ein Ereignis, von dem alle Stunden schwer sind. Ich
+begreif’ es nicht, was die Leute Erleben nennen. In einem Geheimnis
+schlendern wir herum.«
+
+Voll Teilnahme, Sympathie und aufrichtiger Gesinnung blickte der Lehrer
+sein Gegenüber an. Er ahnte, daß ihm etwas wie ein wirklicher Mensch
+begegnet sei.
+
+
+Sechstes Kapitel
+
+Ein Brummbaß, zwei Geigen und eine Klarinette machten eine vortreffliche
+Musik vor Beginn des Stückes. Der »große Saal« des fränkischen Hofes,
+der eigentlich nur eine geräumige Wirtsstube war, füllte sich mit
+Zuschauern. Die Sitze der vorderen Reihen bestanden aus wirklichen
+Stühlen, während für die minder vermögenden Leute lange Bretter über
+Bierfässer gelegt waren. Alles strömte herbei, was für Kunst und Bildung
+eingenommen war. Man sah die Spitzen des »Kasino«, einer preiswürdigen
+Vereinigung der eleganten Kreise: die Frau Notar mit ihren Töchtern, die
+Frau Oberamtmann, die Frau Steuerrat, die Frau Expeditor, die Frau
+Apotheker, die Frau Major, die Frau Schulrat. Sodann zeigten sich die
+weniger ausgezeichneten Damen, die jüdischen Kaufmannsfrauen, die
+Handwerkerfrauen, welche aus Ehrfurcht vor jenen Titularherrlichkeiten
+nur zu flüstern wagten. Nicht so gebieterisch nahm sich die vornehme
+Männerwelt aus, aber man weiß, daß die stumme Würde keineswegs die
+geringere bedeutet. Es war eine Luft von Frohsinn und heiterer
+Erwartung, denn so versammelt das Theater stets die gutgestimmten
+Elemente, aller Nebeninteressen entledigt, um im entzückenden Spiel,
+nicht nur vor den Augen der eleganten Kreise, die Macht der Kunst zu
+erproben. Alles ist da einer edleren Erhebung geweiht. Niemand stellt
+sich ein, etwa nur um einen Schauspieler zu bewundern, oder um eine
+kostbare Robe sehen zu lassen, oder einen mißliebigen Verfasser um den
+verdienten Erfolg zu bringen.
+
+Der Vorhang erhob sich, und mit feierlichem Schritt erschien der
+Direktor, um den dichterischen Prolog des Barons von sich zu geben. Der
+Vortrag des Poems war nicht ohne Geschmack. Der Redner schrie oder
+brüllte nur, wenn es kaum zu umgehen war. Bei der Stelle: Wahrheit und
+Natur sind eins! streckte er beide Arme von sich, wie um ein Gespenst
+abzuwehren, und machte eine Generalpause, – eine verblüffende und gut
+gewählte Einzelheit. Als der Prolog zu Ende war, bekam die erste Geige
+ein ergreifendes Solo zu spielen. Der Baron saß mit tiefsinnigem und
+beglücktem Gesicht in der ersten Reihe, und einige Honoratioren kamen,
+ihm gerührt und mit Achtung die Hand zu schütteln. Seine Frau aber war
+in weicher Hingebung an seine Schulter gelehnt und blickte schmachtend
+ins Leere. Im Grund konnte sie nur schlecht ihre Verstimmung und ihren
+Ärger verhüllen, denn nicht der Provisor saß zu ihrer Linken, wie es
+verabredet war, sondern Philipp Unruh. Der wagte weder um sich noch
+neben sich zu blicken, ihn schüchterte der vornehme Platz ein, und er
+war froh, als der Vorhang für »Melchior oder die Leiden des Alters«
+aufging und eine atemlose Stille im Publikum eintrat. Nur die Baronin
+hörte er bisweilen vor sich hinseufzen.
+
+Es kam da ein alter und ein junger Mann vor. Der alte Mann hieß Melchior
+und war der Vater, der junge hieß Balthasar und war der Sohn. Der Sohn
+war ein verwerfliches Subjekt, denn er wollte Soldat werden, während der
+Alte wünschte, daß er sich zur Theologie wende. Die Verwerflichkeit
+dieses Sohnes ging so weit, daß er sich in ein armes Mädchen verliebte,
+und als die betrübende Tatsache nicht länger zu verheimlichen war,
+erschien das Mädchen selbst vor dem bitterbösen aber rechtschaffenen
+Melchior, welcher vom Direktor mit dem Gefühl eines gekränkten
+Patriarchen gespielt wurde. Die Person, welche die Rolle der armen
+Liebenden spielte, hatte zuerst nur wenige Worte zu sprechen; und sie
+sprach nicht, sondern flüsterte nur hastig und erschreckt, mit
+Seitenblicken auf die Zuhörer. Man hatte sie jämmerlich kostümiert: eine
+Mischung von Empiredame und Fabriksmädchen; aber in ihren Bewegungen
+verleugnete sich jedes Kostüm, war etwas, das anstatt aller Worte
+redete, und nicht aus der Rolle, sondern aus dem Wesen. Dies ist
+sicherlich Myra, dachte sich der Lehrer, und was ihn in Erstaunen und
+Verwirrung setzte, war Myras schöner Mund. Ihn dünkte, daß er einen
+ähnlichen Mund nie gesehen habe. Er sah Trauer und Anmut darin, Güte und
+Verschwiegenheit, Sehnsucht und frühen Tod. Es waren so jähe und starke
+Empfindungen, daß er dabei nicht auf sich selbst und seine Gedanken
+achtete, sondern sich nur einer Folge von seltsamen Einflüsterungen
+übergab. Myra verließ den Schauplatz und es wurde still auf der Bühne,
+obwohl noch immer Leute hin- und hergingen und sich erhitzten. Myra kam
+wieder, und die Luft schien von Wohlgeruch, ja von einem weithertönenden
+Gesang erfüllt. Die Lippen des schönen Mundes hoben sich und senkten
+sich in einer sanften, geheimnisvollen Bewegung, wie wenn der Nachtwind
+über zwei Rosenblätter huscht, die auf einen Marmorstein verweht sind.
+Und abgesehen von aller Schwermut war damit eine Art unsichtbarer,
+tiefer Heiterkeit verbunden, welche vielen Frauen das Seherische und
+zugleich das Vertrauenswürdige verleiht. Philipp Unruh saß vorgebückt
+da, hatte seine Hände flach zusammengedrückt und zwischen die Knie
+geschoben und fürchtete, daß jeder ihn beobachten müsse, und daß es um
+den Ruf seiner Vernunft geschehen sei. Auch diese Empfindung war ihm
+unklar. Sein ganzes Wesen geriet in eine Verworrenheit, welche
+Traumgefühle in ihm erzeugte. Myras Stimme wurde lauter und klarer, aber
+wenn sie sprach, blieben ihre Züge unbeweglich. Als Schauspielerin
+mußte sie das Mitleid eines Kenners wie Doktor Maspero erregen, und als
+die Sache unter großen Bemühungen bis zum Vaterfluch jenes
+ungewöhnlichen Melchior gediehen war, schrieb der erwähnte kritische
+Herr bedenkliche Notizen auf ein Rezeptpapier. Einige Leute, die es
+sahen, nickten respektvoll einander zu, denn der Geist der Verneinung
+ist an jedem Platze hochgeachtet. Melchior begann eben nebst
+verschiedenen anderen Dingen auch sich selbst zu verfluchen, als sich
+unter den Damen im Zuschauerraum eine wachsende Panik bemerkbar machte.
+Eine Ratte lief im Saal umher, verbreitete einen Schrecken, gegen den
+alle Wirkungen des zehnaktigen Lebensbildes verblaßten. Stets ist es die
+gemeinsame Gefahr, welches die Standesunterschiede verschwinden läßt.
+Bleich und zitternd erhoben sich die Frauen, und das Podium für das
+Schauspiel hatte plötzlich die Bedeutung einer Insel im Ozean. Melchior
+hörte auf, Melchior zu sein und machte für die Flüchtlinge, die nicht
+bis zur Saaltür hatten gelangen können, die Honneurs. Unten im Ozean
+waren nur noch Männer ernst und pflichtbewußt damit beschäftigt, das
+Untier aufzuspüren und zu töten. Auch Philipp Unruh hatte sich erhoben,
+verließ mechanisch den Raum und stand bald in dem verödeten Wirtsgarten
+draußen. Es wehten milde Lüfte, und der Schnee war weich geworden.
+Überall waren sickernde Geräusche vernehmbar; von den Bäumen und von den
+Rinnen tropfte das Tauwasser. Vor dem Tor eines Schuppens hockten zwei
+Katzen eng aneinander geschmiegt, und sie rührten sich nicht, sondern
+blickten stumpfsinnig in die flimmernden Lichter vom nahen Bahnhof. Nun
+war weiterhin ein ganz finsterer Winkel, denn der Schuppen grenzte an
+die Kegelbahn, und die beiden Mauern bildeten eine tiefe Ecke.
+
+Vor der Holztüre des Schuppens stand ein kleiner Handwagen und daneben
+eine Bank, auf welche sich der Lehrer setzte, Stille vor sich, Stille
+hinter sich, aber im Innern mancherlei Stimmen und Laute. Und als er so
+in einem Zustand fremdartigen Lauschens dasaß, knirschte der Schnee
+unter langsamen, näherkommenden Tritten. Eine Mädchengestalt tauchte
+auf, die den Kopf gesenkt trug und am Eck des Schuppens wie ermüdet
+stehen blieb. Als fürchte sie, gehört zu werden, setzte sie ihren Weg
+mit kaum vernehmlichem Auftreten fort bis zu dem Handwagen, auf dessen
+Deichsel sie sich setzte, die Ellbogen auf das Wagenbrett stützend. Das
+alles verfolgte Philipp Unruh genau, da seine Augen sich längst an das
+Dunkel gewöhnt hatten. Aber in einem unbewußten Drang von Scham und
+Furcht wandte er seine Augen ab, und in demselben Moment hörte er ein
+Schluchzen, dessen Unaufhaltsamkeit offenbar nur durch fest
+zusammengepreßte Lippen gemildert wurde. Den Lehrer begann es am ganzen
+Körper zu frieren, und sein Blick umschleierte sich. Er dachte nichts
+als den märchenhaften Namen Myra und sah nichts als einen Mund, der sich
+krampfhaft im Schmerz verschloß. Hatte sie nicht einmal vier Wände, um
+sich ausweinen zu können? daß ein dumpfer, kalter Schuppenwinkel im Hof
+dazu dienen mußte? Doch wagte er sich nicht zu rühren. Gequält und
+bedrückt ging er mit sich zu Rate, als wisse er den Grund und wäre
+fähig, Hilfsmittel zu finden.
+
+Eine dröhnende Stimme rief: »Myra!« Die Weinende verstummte, erhob sich
+und ging gegen das Haus. Philipp Unruh wartete lange, denn er wollte
+nicht, daß ihn jetzt jemand aus diesem Winkel gehen sehe. Ihn wunderte
+die Ruhe der Natur. Himmel und Erde schienen ihm noch erfüllt vom
+Widerhall jenes Weinens. Er stand auf und setzte sich auf die Deichsel
+des Handwägelchens, das unter seiner Last ächzte. Ihn erstaunte es, daß
+er nun in demselben engbegrenzten Raume war, in dem Minuten vorher Myras
+Herz geschlagen. Als ob er sich eines Amtes unwürdig fühle, erhob er
+sich wieder, und seine Gedanken richteten sich unvermittelt auf seine
+äußere Erscheinung, auf seine wenig einnehmenden Züge, auf seinen
+zerzausten, rötlichen, herabhängenden Schnurrbart. Ungeduldig verließ er
+die Finsternis und eilte dem Haus zu. Wie groß war aber sein Schrecken,
+sein feiger Schrecken, als er Myra noch auf der Schwelle stehen sah und
+hinausstarren in die Nacht. Er erkannte im Schein des unbestimmten
+Lichts, das aus dem Flur fiel, wie ihr Gesicht sich jäh belebte, als sie
+ihn aus dem Grunde des Hofes kommen sah. Doch blieb er nicht stehen und
+befand sich bald vor ihr, die sich an den Pfosten lehnte, um ihn vorbei
+zu lassen. Er spürte ihren fragenden, unwilligen Blick und sah sie
+verstört von der Seite an. Eine Gewalt von innen hinderte ihn, weiter zu
+gehen, und er murmelte, indem er sich bemühte, einen teilnehmenden Ton
+zu wählen: »Ich habe gehört. Aber zürnen Sie nicht deshalb.« Gott weiß,
+weshalb ihm das alles abenteuerlich und entlegen vorkam und er an seine
+Bücher dachte, wie an rettende Freunde.
+
+Myra erwiderte nichts. Sie nickte nur leicht mit dem Kopf.
+
+»Kann da niemand helfen?« fragte Philipp Unruh in kindischer
+Unbeholfenheit, und als er das geringschätzige Zucken ihres Mundes
+bemerkte, sagte er stotternd: »Ich denke, man hat die Ratte da drinnen
+schon erwischt.«
+
+Das junge Mädchen sah den sonderbaren Kauz mit Überraschung an, lächelte
+und erwiderte: »Ja, das ganze Nest ist leer.« Damit entfernte sie sich.
+
+Unentschieden, welcher Umstand nun den Lehrer mit solchem Glücksgefühl
+beschenkte. Vielleicht war es nur das Lächeln, das mit eines Gedankens
+Schnelligkeit über Myras nachdenkliches und erschöpftes Gesicht geflogen
+war. Vielleicht, daß er das Lächeln einkassierte wie den Gewinst aus
+einer Lotterie, und daß dabei etwas in ihm lebendig wurde, wie in jenen
+Vernachlässigten, die sich plötzlich auffallend vom Glück begünstigt
+sehen. Es kam ihm vor, als ob er in einer gesegneten Zeit lebe und in
+einer angenehmen Stadt. Er trank am Gassenschank durstig ein Glas Bier;
+darauf ward ihm mutig zu Sinn, und unternehmenden Schritts betrat er die
+schon verödeten Straßen. Wer schrie da schon wieder beim Haus des
+Hufschmieds und schwenkte grüßend den Hut, um dann schweigend wie vorher
+seinen Weg fortzusetzen? Es war der Herr Adjutant, dessen fabelhafte
+militärische Würde nur durch seine tiefeinsame Lebensweise
+Glaubhaftigkeit behielt. Philipp Unruh blieb stehen und schaute ihm
+nach. Ein Mann, hatte er sich sagen lassen, der sein Vermögen im Spiel
+verloren und Weib und Kind in Armut, dem Tod geweiht, verlassen hatte,
+der Goldgräber gewesen war und die neugewonnenen Schätze bei einem
+Schiffbruch eingebüßt hatte. Und derselbe Mann lief hier umher, begrüßte
+lärmend in der Nacht die Leute, sprach laut und eindringlich mit sich
+selber, ein Rätsel für alle und für Philipp Unruh mit einem Mal eine
+Kundgebung reichsten Lebens, wertvoller als eine ganze Bibliothek. Man
+konnte hingehen und ihn fragen, und er konnte erzählen mit Lachen und
+mit Weinen; in Büchern aber erzählte nur der Tod in einer bunten Maske.
+Der Nachtwächter trottete vorbei, ließ sein Pfeifchen schrillen und
+leierte seinen Singsang ab: daß man Feuer und Licht bewahren solle. Das
+schläfrige Gesicht glänzte über der Laterne, und er grinste trunken in
+den Schnee. Dann kamen hoch vom alten Turm die langsamen, dröhnenden
+Stundenschläge, um weit hinauszuschallen in das Tal der Altmühl, in den
+Wald und in die nahen Dörfer, ein Signal der Ruhe für Weib und Mann, für
+die Flucher und die Betenden, die Lacher und die Schluchzenden, für den
+Adjutanten und für Myra. Es war nicht zu leugnen, daß im Schlaf die Zeit
+dahingeflossen war, während ungesehen und dem Schläfer greifbar nah das
+Lebendige sich abspielte in Feierlichkeit und in Humor.
+
+
+Siebentes Kapitel
+
+Vor dem Schulhaus lauerte Apollonius Siebengeist dem Lehrer auf, und
+unbeschreiblich war sein Zorn, als Philipp Unruh sein Versäumnis
+eingestand. Er schrie, daß man ihn betrogen und verraten habe. Er sagte
+Schulmeisterlein, und das in einem Ton, der beleidigend wirkte.
+Schließlich aber umarmte er den Geschmähten und sagte, daß er ihm danke,
+denn er liebe seine Zweifel mehr als jene Gewißheit, vor der ihm bangte.
+Doch wurde sein Wissensdurst noch in der selben Nacht gelöscht. Er
+suchte die Wirtschaft zum lustigen Pfeifer auf, wo als letzter Gast ein
+abenteuerlich aussehender Jüngling am Ofen saß. Es war der Komiker des
+Theaters, wie sich aus einem rasch begonnenen Gespräch ergab. Wie alle
+Komiker von Beruf war auch dieser nichts weniger als komisch, sondern
+litt an einer bösartigen Dürre des Witzes, die ihm ein gramvolles und
+verruchtes Aussehen gab. Siebengeist ließ eine ansehnliche Schar von
+Flaschen aufmarschieren, denn bis zur Polizeistunde war es noch weit.
+Der Jüngling erzählte bald von Myra, und es zeigte sich, daß seine
+Sprache einen Klang ins Böhmische hatte, welcher nicht so sehr die
+Verständlichkeit als musikalische Wirkungen förderte.
+
+Wiederum stand der Mond in klarer Höhe, als Siebengeist heimwärts
+kehrte, aber nicht mehr als »sein Feind«. Es herrschte in den Gassen
+eine Stille, für deren Süßigkeit und Lockung es nicht Worte noch
+Gedanken gab. Was da zwischen den Häusern zog und ruhte, war wie
+blaugrünes, zartes Gespinst, Mondrauch; der Schnee glänzte kalt wie
+weißer Atlas. Eine Nacht für Myra; wenn sie auch litt, er wußte doch
+wofür und Wahrheit mußte es sei. Trübe Dinge, die ein Komiker erzählt,
+sind wahr. Sie hatte kein Wanderleben geführt. Die Mutter hatte als
+Witwe in einer kleinen thüringischen Stadt gelebt, wohin Schmalichs
+Wandertruppe kam. Lebenslustig und unzufrieden, durch Romanlektüre
+verdorben und unerfahren, hatte sich die noch junge Frau dem jungen
+Liebhaber der Schmiere an den Hals geworfen, wollte mit ihm ziehen, der
+»Kunst« ein Opfer bringen. Und Myra folgte von Ort zu Ort und wurde erst
+stutzig, als die Mutter im Theater mitzuspielen begann; von da an mußte
+sie in Wirrheit und Fährlichkeit gerissen worden sein. Der Mutter
+schwärmerisch zugetan, merkte sie nicht deren wachsende Kälte, spürte
+zuletzt nicht ihren Haß. Myras Mutter, so sagte der Komiker, war
+eifersüchtig auf die Tochter, und diese Eifersucht durchtränkte ihre
+Handlungen bis in den feindseligen Ton eines bloßen Grußes. Myra wußte
+nicht, wie ihr geschah. Ahnungslos wie bisher folgte sie an der Seite
+ihrer Mutter dem Wanderleben der Komödianten. Und in Bamberg war sie
+eines Tages allein, lag sie verlassen in einem armseligen Gasthof und
+las die dürftigen Abschiedsworte der Mutter. Man erinnerte sich bei der
+Truppe, sie ohnmächtig im Zimmer des Direktors gesehen zu haben. Sie
+hatte nicht Geld noch Kleider noch Freunde, nichts, als was sie sich
+selbst sein konnte. Man erinnerte sich des Tags, an dem sie zum
+erstenmal im Schauspiel aufgetreten war, ein Gegenstand des Hohns für
+die genialen Kollegen trotz der stummen Rolle. Aber Herrn Schmalichs
+Ansicht war, daß ein reisendes Theater hübsche Frauenzimmer brauche, und
+daß man auch das leidendste Gesicht in ein lustiges umschminken könne.
+Man hatte Myra niemals anders gesehen, als sie heute war, und heute
+schon war es, als trüge sie das Bild kommenden Unheils im Herzen.
+Solchen Augen kann kein Gewordensein die Furcht vor dem Werdenden
+nehmen. Zwischen Lügen, Schmutz, falscher Heiterkeit und wirklicher
+Armut lebte sie vielleicht gleichmütig, vielleicht abwartend hin, und
+Siebengeist sah sich schon als den, welcher erwartet wurde. Zu früh
+erschien ihm ein Geheimnis gelüftet, das ihm beim Wein offenbart worden.
+Zu früh nahm er das Geschehene als vergangen, ließ er seiner Hoffnung
+freien Lauf. Und zwischen ihm und dem andern Einsamen im Schulhaus spann
+die Nacht die gleichen Fäden der gleichen Gefühle und trieb irgendwo das
+Verhängnis aus einem abgelegenen Grunde hervor, daß es weiter weben
+möge, was sie spielerisch begonnen.
+
+Zu Philipp Unruh kam am Morgen der Schulrat. Es handelte sich um eine
+gewichtige Beschuldigung. Die seltsamen Reden aus der Geschichtsstunde
+waren beunruhigend zu den Ohren der Schulbehörde gedrungen. Der Herr
+Schulrat hatte ein Bläschen auf der Nase und außerdem ein Horn auf der
+Stirn, da er sich im Traum am Bettpfosten verwundet hatte. Beide
+Verunzierungen jedoch gaben seinem Gesicht einen erhöhten Ausdruck der
+Amtsgewalt, als könne einzig ein Schulrat darüber entscheiden, ob
+Ungerechtigkeit auf dem Thron der Welt residiere. Der Lehrer war
+erstaunt. Er wußte sich seiner Worte kaum zu erinnern, und als er
+vernahm, was er selber gesagt, fand er es so widersinnig und
+abgeschmackt, daß er beredter und liebenswürdiger als je den Mann mit
+Bläschen und Horn vollständig beruhigte. Seiner Leidenschaft für Bücher
+entsann er sich wie der sonderbaren Torheit eines andern; der Verlust
+der Kiste kam einem gewöhnlichen Unfall gleich. Die Leute, die ihm
+begegneten, hatten andere Gesichter, andere Bewegungen, andere Worte als
+sonst. Die Kinder im Schulzimmer waren nicht mehr so sehr Gegenstände,
+an denen der Stundenplan erledigt werden mußte. Ihre Augen waren
+belebt, ihr Ungehorsam schien liebenswürdiger, ihre Unwissenheit
+begreiflich, ihre Ungeduld gegen das Stillesitzen des Nachdenkens wert.
+
+Als er mittags an der Apotheke vorbeiging, sah er drinnen Siebengeist
+allein, und er trat ein. Der Provisor war mit leidenschaftlichen
+Gebärden beschäftigt, in einer kolbenartigen Schüssel eine dicke,
+weißliche Masse zu zerreiben. Philipp Unruh setzte sich auf die
+geschnitzte Bank und entschuldigte sein Betragen vom gestrigen Abend.
+Der Provisor lachte, schalt ihn einen kreuzverkehrten Bruder, machte die
+lustigsten Grimassen, während er aus Leibeskräften zu reiben fortfuhr.
+Plötzlich verdüsterte sich sein Wesen, und er erzählte andeutend und
+abgerissen einiges von dem, was er über Myra erfahren hatte. Es schien,
+als verlangte ihn selbst nach Rat und Klarheit, doch der Lehrer konnte
+nicht Einblick gewinnen in das Wirrsal der Erzählung. Er schwieg
+beharrlich, wünschte, nichts gehört zu haben, und Siebengeist fing
+wieder an, gesichterschneidend seine Salbe zu reiben. Plötzlich beugte
+er sich zu Unruh herab, flüsterte, den Mund nahe dessen Ohr und den Arm
+gegen eine Tür im dunkelsten Hintergrund ausstreckend. »Es steht eine
+dort auf der Schwelle und lauscht. Bin ich jemand verschuldet, der mir
+die Taschen mit Geschenken vollstopft? Ich nahm von jeder Dirne im Haus,
+wie es die Nacht gewollt. Darf man sich darum an meine Schuhe klammern
+und meine Kraft verringern, das zu erobern, woran mein Leben hängt?
+Wohlgemerkt, nicht jedes Spänchen Holz macht eine warme Stube!« Er hatte
+den Lehrer unter den Arm gefaßt und den Verschüchterten scheinbar
+absichtslos in die Ecke geführt. Nun riß er die Türe auf und sagte die
+letzten Worte laut, fast schreiend. Vor den beiden stand die Baronin,
+zitternd, linnenweiß im Gesicht und blickte gemartert den Flurgang
+hinab gegen die Straße. Siebengeist lachte und schlug die Türe wieder
+zu.
+
+Es kam nun so viel Schwüles, Überraschendes und Neues, daß die Zeit
+gewissermaßen ihre Abgemessenheit verlor. Ein Umhertaumeln zwischen
+Wissen und Erraten, zwischen Angst und Mut, zwischen Fülle und
+Entbehrung, ein Atmen in zitternder Luft, Reden ohne Besinnung, Träumen
+ohne Schlaf, Bilder, die vom Sturm vorbeigejagt und manche doch
+dauernder als Stein.
+
+Philipp Unruh saß in der kleinen Schankstube des fränkischen Hofs. Es
+war wieder kalt geworden, und die Scheiben zeigten Eisfiguren, trotzdem
+die Sonne vom blauen Himmel schien. Der Wirt und ein Viehhändler aus
+Nördlingen saßen kartenspielend beim eisernen Öfchen. Aber das Geknister
+des lustigen Feuers wurde bald übertönt von zornigen und heiseren
+Männerstimmen aus dem Theatersaal. Es ist eine Schauspielprobe, dachte
+der Lehrer, jedoch trat alsbald der Bonvivant aus dem Theater in die
+Schankstube, verlangte grimmig einen Krug Bier und erzählte grimmig in
+demselben Atem, daß die sentimentale Liebhaberin sich weigere, dem
+Kritiker ihren Verehrungsbesuch abzustatten. Dergleichen sei noch nicht
+dagewesen, so lange man Komödie spiele zwischen Himmel und Erde, und sei
+um so abscheulicher, als der Doktor Maspero ein charmanter Herr sei,
+welcher vortrefflichen Schnaps vorzusetzen wisse. Der Wirt hieb mit
+Geräusch die Trumpf-Aß auf den Tisch; der Viehhändler schielte den
+Schauspieler bösartig an. Im Saale war es still geworden, und auf einmal
+kam Myra heraus. Philipp Unruh schaute sie eine Sekunde lang mit
+blinzelnden Augen an, sah dann feig in eine Ecke, und es schien ihm, als
+sänken seine Schultern schwer gegen den Tisch. Das Mädchen hatte
+purpurrote Wangen, doch ihre Stirne war bleich, ihr Blick leer,
+unsicher, stechend, ihr Rücken ein wenig gekrümmt. Sie ging, als suche
+sie einen Ausgang, und blieb dann stehen wie in eine Falle geraten. Herr
+Schmalich kam hinter ihr her, und auf seinen Mienen drückte sich
+Verlegenheit aus. Sie wandte sich gegen den Direktor und sagte leisen
+Tones und mit erschreckender Schnelligkeit eine Reihe von Worten, welche
+niemand verstehen konnte. Ihre Stimme wurde immer lauter, doch die Worte
+verloren alle Artikulation. Aus dem Theaterraum kamen zwei dicke
+Schauspielerinnen und der Heldenvater und spendeten lachend Beifall,
+während der Wirt und sein Kartenkumpan aufgeregt näher traten. Jetzt
+begann Myra selbst zu lachen, und zwar so, daß der Lehrer wie Einhalt
+gebietend seine bebenden Arme gegen sie ausstreckte. Da stürzte sie auf
+den Boden, und Schaum quoll von ihren Lippen. Alle waren stumm und blaß
+geworden und rührten sich nicht. Philipp Unruh, der sich selbst und jede
+Scheu vergaß, stürzte herzu, kniete auf den Boden, legte den Arm unter
+ihren Hals, murmelte verstört vor sich hin und beugte suchend sein
+Gesicht gegen das ihre.
+
+Er konnte es niemals vergessen. Niemals die halbgeschlossenen und
+halberloschenen Augen, ob haßerfüllt, ob dankbar, er wußte es nicht. Er
+konnte die nahe Wärme ihres Körpers nicht vergessen, das verwirrte
+schwarze Haar, das seine Schläfen streifte. Er empfand immerfort den
+Druck ihres Nackens auf seinem Arm, den Hauch ihres Mundes neben seiner
+Hand. Als er zitternd in der Schankstube kniete, voll Furcht, daß man
+sie ihm raube, wollte er an kein Weiterleben denken, welches sich nur
+die Erinnerung zum Besitz machen konnte.
+
+Andere Dinge kamen. Ihr Name erfüllte die Luft bei allem, was geschah.
+Der Apotheker schickte in mysteriöser Weise herüber, um Unruh holen zu
+lassen. Als der Lehrer kam, schritt der blasse Baron in bedeutsamer
+Gangart im Zimmer auf und ab, erklärte ganz ohne weiteres, daß der
+künstlerische Geist im Ort gehoben werden müsse, daß er als Gemeinderat
+bereits in solchem Sinn vorgegangen sei und eine gewisse Summe zur
+Verfügung gestellt habe, um das treffliche Institut des Herrn Schmalich
+für die Dauer des Winters zu subventionieren. Ja, dann käme ein neuer
+Wind, ja, dann käme ein edles Feuer unter die lauen Gemüter. Er selbst
+habe ein Theaterstück verfertigt; er wolle weiter nichts verraten, aber
+es suche seinesgleichen. Darauf schob er an beiden Türen die Riegel vor,
+lud seinen Gast ein, vor dem prachtvoll mit Wein und kalten Speisen
+gedeckten Tisch Platz zu nehmen, rückte die Lampe zurecht und schlug
+eine sehr dicke Handschrift auf. Dieses Drama aller Dramen beschäftigte
+sich ausschließlich mit einer neuen und respektablen Idee, wie man die
+Wälder vor gänzlicher Ausrottung schützen könne. Aber von alledem hörte
+der Lehrer nur das eine, daß er nicht zu fürchten brauche, Myra heute
+oder morgen entschwinden zu sehen, und er liebte dieses stundenlange
+Trauerspiel, von welchem seine Hoffnungen sich lösten gleich farbigen
+Abendwolken aus trübem Moor.
+
+Tag und Nacht, Dunkelheit und Sonnenlicht wechselten nach anderen
+Gesetzen als bisher, wie wenn der Wille, dem der Weltkreis untertan,
+neue Erscheinungsformen erdacht hätte. Es waren sonderbare Empfindungen,
+die Philipp Unruhs Herz bestürmten, als er, beim Biere sitzend, in
+demselben Raum wie wenige Stunden vorher, Myra sich gegenüber sah. Drei
+Schauspieler befanden sich bei ihr am Tisch, und sie lächelte wie
+jemand, der alles mit Entschlossenheit abgeworfen hat, was ihn
+belästigte. Doch war das Lächeln fremd und unerklärbar durch seine
+Dauer und verursachte, daß man das eigentliche Gesicht nur wie durch
+eine unendlich dünne Maske erkennen konnte. Die Wangen waren noch ebenso
+rot, die Stirn noch ebenso bleich, der Hals noch ebenso vorgestreckt, so
+daß der Rücken gekrümmt erschien. Die verkniffenen Augen blickten
+mißtrauisch, listig, ziellos, bis plötzlich eine Art Schrecken in sie
+geriet, der sie aufriß. Sie sah den Lehrer nicht, sah überhaupt nichts.
+Später lachte sie über alles, was der Komiker sagte, und darnach
+erhielten ihre Züge einen halb unwilligen, halb trostlosen Ausdruck.
+
+Die Mutter Myras und der Galan kamen zurück. Sie hatten offenbar in der
+Welt mehr Hunger als Vergnügen gefunden. Die ehedem wohlhabende Witwe
+hatte schon alles verschleudert, was sie besessen. Mit der einen Hand
+hatte sie Liebe gegeben, mit der andern Geld; dementsprechend war die
+eine beschmutzt, die andere leer. Zwischen Trübsinn und überreizter
+Laune verzehrte sich ihr Gemüt, und viele Stunden lang konnte sie damit
+zubringen, sich zu schminken, zu putzen, zu verjüngen. Am ersten Tag
+schon war es so, saß sie bis in den Nachmittag vor dem Spiegel, rechts
+und links je zwei Kerzen, denn draußen war dicker Nebel. Dann kam der
+Schauspieler, und Myra mußte gehen. Sie erhob sich vom Kaffeetisch und
+ließ die volle Tasse unberührt. Der schlanke junge Mann, dessen Gesicht
+etwas von einem Cäsaren und etwas von einem Schäferhund hatte, sah ihr
+nach; er wußte genau, was sie bei ihm zurückließ, und sie, förmlich
+verwundet von seinem Blick, ging die Gasse hinauf und traf Siebengeist
+unter dem Turmbogen. Sie atmete schwer, hörte kaum die Worte ihres
+Begleiters und bat, er möchte sie in den Wald führen. Sie wanderten also
+gegen den Burgstall hinauf (so heißt der Wald), und es war, als
+schritten sie durch feuchten, bleiernen, grauen Rauch, so dick und
+lastend lag der Nebel. Siebengeist verstummte bald. Zufällig kam Philipp
+Unruh von den Holzschuppen herüber und stand mit einem Mal vor dem
+schweigenden Paar. Ihm war, als habe ihn ein Schuß getroffen, und es
+rieselte ihm kalt durch Mark und Bein. Jählings deckten sich ihm
+geheimnisvolle Beziehungen auf, die bisher gleichsam hinter Häusermauern
+verborgen waren, und ein allgemeiner, aber stürmischer Menschenhaß
+erwachte in seiner Seele. Doch wie es ihm aus Visionen vertraut war,
+ging ihm Myra einen Schritt entgegen. Sie stand so nahe bei ihm, daß er
+ein Schneeflöckchen auf ihren Wimpern gewahren konnte, welches langsam
+zerschmolz. Schüchtern und freundlich sagte sie: »Sie sind gut gegen
+mich gewesen, ich weiß es, ich danke Ihnen. Gehen Sie doch ein wenig mit
+uns.« Er schaute zu Boden und lachte lautlos, stotterte zwei, drei
+Worte. Dann schaute er vor allem den kindlich schönen Mund an, der dies
+gesprochen, und ein unbezähmbarer Wunsch erwachte in ihm, der um sich
+griff wie Feuer im dürren Buschwerk. Er wünschte, jenen Mund küssen zu
+dürfen, nichts weiter; aber das versetzte sein Wesen in einen Taumel,
+der ebenso nahe der Verzweiflung wie der Erfüllung war. Mehr als ein
+Traum und eine äußerliche Begierde; mehr als das bloße Aufwachen zu
+einem Wertbewußtsein; mehr als die Hoffnung auf ein mittelmäßiges Glück.
+Es war der elementare Schmerz und Rausch des dumpfen Menschen, der mit
+Raubtierkraft an Gittern rüttelt, deren Vorhandensein er nicht begreifen
+will.
+
+Myra hatte plötzlich das Verlangen, Schneeball zu werfen. Alle drei
+nahmen auf einem freien Stück Feld vor dem Wald Aufstellung. Das junge
+Mädchen war fröhlich bei der Sache, und der Lehrer sog ihr Wesen in sich
+auf wie Lebensnahrung. Er sprach nicht, weder bei dem Spiel, noch bei
+dem Waldgang später. Eine innige, überzeugende Gestalt wandelte an
+seiner Seite. Er hörte ihre gepreßten Worte, die sie aus allen Winkeln
+des Raums zusammenzusuchen schien, und die sie unsicher sprach mit
+milder Stimme und bittender Gebärde. Er sah, wie sie schüchtern Fragen
+stellte und schüchtern lächelte, wie sie über nichts in der Welt
+genügende Klarheit erhielt und jeden anstaunte, der mit Sicherheit eine
+Behauptung aufzustellen wußte; wie vieles ihr gefiel und wie viel sie
+besitzen mochte und wie sie zugleich darüber unruhig war und die Fülle
+ihres Wünschens als Vergehungen empfand; wie sie mit Sympathie umgeben
+war wie der Erdball mit Luft und wie sie gleichwohl fürchtete, von
+jedermann gehaßt zu sein: ein Wesen aus Fleisch und Blut, eine von
+denen, die für das Glück geschaffen scheinen.
+
+
+Achtes Kapitel
+
+Siebengeist war ein großmütiger Lustigmacher, der sich selbst vergessen
+konnte, um Myra zu erheitern. Wenn er anfing, zu plaudern und Gesichter
+zu schneiden, blieb sie nicht ernst. Was trieb er doch nicht alles! In
+derselben Stunde war er Fabulist und Taschenspieler, Schlangenmensch und
+komischer Musikant, sprang über die Tische und parodierte die
+Schauspieler, formte Damen aus Schnee und dichtete närrische Sonette
+über seine Laufbahn als Apotheker. Myra hatte viel Freude an ihm. Sie
+schenkte ihm einen schmalen Reif mit einem winzigen Rubin, und dafür gab
+ihr Siebengeist ein goldenes Herz, welches die Inschrift trug: /vers Dieu
+va./ Philipp Unruh fühlte sich als Zaungast und suchte Einsamkeit.
+Unsichtbar ging Myra an seiner Seite bei den weiten Spaziergängen,
+unsichtbar ging sie in seinem Haus umher. Unhörbare Reden wechselte sie
+mit ihm, schenkte ihm Vertrauen, billigte seine Entschlüsse. So
+erhielten sein Sehen und Denken, seine Gebärden und Worte eine
+verzweifelte und verschwiegene Glut. Auf allen Wegen, an allen Mauern
+stand ihr Name, und wurde er wirklich genannt, so erschrak der Lehrer
+wie ein Verbrecher, der unerkannt die Früchte seiner Tat genießt. So vor
+Doktor Maspero, der beim nächtlichen Heimgang von Myra sprach.
+
+Der Provisor sei ein Narr, meinte dieser gescheite Mann, und alle Welt
+habe recht, ihn zu verdammen wegen seiner Narrheit. Was für eine
+Bedeutung habe dies törichte Scharmuzieren? Ein bettelarmes Persönchen,
+das weder hübsch noch klug sei und zweifellos einen wahnsinnigen Zug in
+den Augen trage. Niemand wisse, was sie dabei wolle.
+
+»Ein altes Wort lautet: was ein Weib will, das will Gott,« murmelte der
+Lehrer.
+
+»So? Eine jammervolle Sentenz, Schulmeister! Ich glaube, Ihnen sitzen
+Gespenster im Magen. Sei’s drum! Ich gönne jedem sein Plätzchen an der
+Sonne. Gute Nacht.«
+
+Der Lehrer fühlte sich verlassen. Er blickte spähend durch die fallenden
+Schneeflocken, als erwarte er einen Freund, mit dem er die Nacht
+verbringen könnte. In der Tat tauchte eine schwarze, hagere Gestalt aus
+der Finsternis auf. Es war der Herr Adjutant. Beim Anblick des Lehrers
+packte er sofort begeistert seinen Hut, schwenkte ihn gegen das
+Firmament und schrie den Abendgruß, als ob er seinem Landesfürsten
+zujauchzte. Gleich darauf ging er wieder stelzengerade und lautlos
+seines Weges weiter, und sein gravitätischer Schritt machte den Schnee
+klirren. Philipp Unruh empfand auf einmal eine wunderliche Sympathie für
+diesen Mann, der seine einsame Wohnung nur mit einem zärtlich geliebten
+Affen teilte, dem er den aparten Namen Kümmerlich gegeben hatte.
+
+Neben der Post befand sich ein uraltes Gebäude, in welchem Myra mit
+ihrer Mutter wohnte. Die zwei Fenster waren erleuchtet und durch gelbe
+Rollvorhänge verdeckt. Der Lehrer stand im Schnee auf der andern Seite
+der Gasse und lehnte sich an die Türe des Kürschnerladens. Eine
+Silhouette ward auf dem Vorhang sichtbar: das Profil eines Mannes, das
+auftauchte und verschwand. Dann erschien derselbe Kopf noch einmal, nahe
+beim Fenster und deshalb sehr klein und scharf und wurde unter
+beständigem lebhaften Nicken immer größer. Ein zweites Bild, ein
+Frauenhaupt erschien daneben, und beide verharrten nun in Ruhe, als ob
+sie sich unverwandt ansähen, neigten einander zu, wichen von neuem
+zurück, und gleichzeitig erschien am zweiten Fenster ein anderer
+Schatten, bei dessen Anblick sich Philipp Unruhs Stirne unwillkürlich
+verdüsterte. Dieser Schatten, klar begrenzt von Licht, war den beiden
+übrigen bewegungslos zugewandt, als flösse sein Dasein von ihnen aus.
+Haare fielen abenteuerlich in die Stirn, deutlich war die feine Nase
+gezeichnet, deutlich der verschlossene Mund. Das ganze Spiel der drei
+körperlosen Gestalten hatte etwas so Unwirkliches und Phantastisches,
+daß der Lauscher bisweilen staunend in die Dunkelheit starrte, auf die
+friedlichen Häuser im Umkreis, und mit eigentümlicher Gewalt die Ruhe
+spürte, die in allen schneebedeckten Gassen ausgebreitet war. Aber dies
+erschien ihm nur als ein täuschendes Kleid, unter dessen unbewegten
+Falten verheerende Leidenschaften brüteten, um die Erde zu bedrohen und
+zu erschüttern. Er selber war ergriffen, ja gefoltert und wagte nicht,
+darüber ins klare zu kommen. Ungeduldigen neuen Lebens voll, sah er
+millionenfaches Leben um sich in eisiges Schweigen gehüllt durch die
+stummen Kräfte der Natur.
+
+Nun geschah etwas Sonderbares. Die beiden Schatten erhoben sich
+gleichzeitig, ohne von einander zu weichen. Der dritte Schatten streckte
+die Arme aus, flehentlich oder beschwörend. Dann glitt der eine
+Frauenschatten zum zweiten Fenster. Die ausgestreckten Arme fielen
+herab, und die ganze Gestalt versank. Die zweite wuchs geisterhaft
+empor, beugte sich auf und nieder mit beängstigender Hast. Die
+Silhouette des Mannes stand regungslos, eine Hand gegen das Gesicht
+gepreßt, – und plötzlich ward alles schwarz und finster.
+
+Der Lehrer seufzte bang. Unschlüssig und erratend stand er da, als ein
+Tor zugeschlagen wurde und jemand auf die Straße gestürzt kam. Unruh
+sah, daß es Myra war, in bloßen Kleidern, ohne winterliche Hülle, und
+mit einem halben Ausruf schritt er ihr entgegen. Mit tastendem Schritt
+näherte sie sich ihm, und er spürte ihre Hand in seinen Arm sich
+förmlich einkrallen. Mit einem Blick, der von Angst, Erschöpfung und
+Verzweiflung stier geworden war, schaute sie gleichsam durch sein
+Gesicht hindurch. Das alles geschah lautlos. Auch im Hause regte sich
+nichts, und die Fenster oben blieben schwarz.
+
+Philipp Unruh sah ein Geschöpf vor sich, auf dessen Wort und Aufschluß
+er nicht rechnen durfte, das nur noch mit einem Schein äußeren Lebens
+begabt, sich ihm überließ wie ein Gegenstand. Die augenscheinliche
+Gefahr, die außerordentlichen Umstände verliehen ihm Besinnung und Kraft
+des Entschlusses. Seine scheuen, dumpf brennenden Gefühle verkrochen
+sich in der Stunde der Tat. Er nahm Myra auf den Arm und eilte mit ihr
+durch die Nacht dem Schulhaus zu. Leicht schien ihm seine Last, aber das
+ungewisse Vibrieren des Körpers in seinen Armen ließ beinahe sein Blut
+stocken. Die leere, stumme Nacht eilte vor ihm her und verwirrte seinen
+Blick. Er fragte sich gar nicht, wohin er anders mit der willenlosen
+Myra gehen könne, als in seine eigene Behausung. Er hörte hinter sich,
+doch ziemlich ferne schon, Stimmen in der Finsternis, und eine davon
+schrie in hellem Ton immer wieder dasselbe Wort. Er achtete nicht
+darauf, sah nur mit Neugierde und Mißtrauen die Straße entlang, denn ihm
+schien, als sei er in ein bisher unbekanntes Land geraten.
+
+Das Schulhaus, ihm längst vertraut in jedem Winkel, barg heute Gefahren.
+Unter dem Stiegeneck waren glänzende Augen. Hoch im Gitterfenster
+leuchtete ein verräterisches Licht. Es war kein Mensch im ganzen
+Gebäude, denn die Wirtschafterin schlief im Haus des alten Löwy. Bis zur
+Kraftlosigkeit ermattet, nach Atem keuchend, schleppte er Myra die
+Treppen empor, stieß die Zimmertüre auf, legte das junge Mädchen auf das
+Bett und machte Licht.
+
+Sie hatte die Augen geschlossen. Zum erstenmal sah er ihr Gesicht
+bleich. Er benetzte ihre Schläfe mit Wasser und murmelte ihren Namen vor
+sich hin. Sie rührte sich nicht. Er legte das Ohr auf ihre Brust, und
+als er keinen Herzschlag vernahm, wurden vor Schrecken seine Augen
+feucht. Die verbrecherische Kraft eines kaum geahnten Wunsches habe ihn
+gezwungen, sie hierherzubringen, so glaubte er jetzt. Er riß das Fenster
+auf, um jemand zu erspähen, der zum Doktor laufen könne. Aber der Hof
+lag finster und öde. Er schrie: Johanna! dann: Kunigunde! und noch
+einige, denen er vielleicht den Schlaf aus den Lidern rufen konnte. Er
+rannte ins Schulzimmer, schaute dort hinaus, straßauf, straßab, aber er
+wurde nichts gewahr als eine drückende Verlassenheit, die sich zu regen
+schien unter dem gleichmäßigen Fall der Schneeflocken.
+
+Jedoch als er zurückkam, von Frost und Angst geschüttelt, saß Myra
+aufrecht im Bett.
+
+Sie lächelte; ein wunderliches, stumpfes, unveränderliches Lächeln. Die
+schöne Rundung der Unterlippe, die feine, etwas träumerische Linie der
+oberen traten in bezaubernder Klarheit hervor. Von einer eigentümlichen,
+furchtsamen Freude ergriffen, sagte der Lehrer: »Sie sind wach?« und
+seine Stimme bebte. Sein Beginnen kam ihm frevelhaft vor. Er hatte sich
+ihrer bemächtigt, das war es. Eine Verantwortung nahte, vor der er
+zusammenbrechen würde. Er bewunderte und fürchtete zugleich jene Person,
+die er selbst noch vor einer halben Stunde gewesen war, jene wild und
+unbekümmert handelnde Person. Sorgenvoll und überlegend stand er auf der
+Schwelle, der Rechenschaft gewärtig, die man von ihm fordern würde.
+Aber in seiner innersten Seele ergriff er Besitz von Myra und ging mit
+sich zu Rate, ob er nicht das Tor vor Eindringlingen schützen solle.
+Endlose Stunden der Nacht würden folgen, und am Morgen? Das Ende von
+allem.
+
+Das junge Mädchen schauderte vor der hereinfließenden Kälte, und so
+schloß er die Türe. Er setzte sich an das Bett und fragte Myra, ob sie
+krank sei, er wolle gehen und den Arzt holen.
+
+Sie antwortete nicht, sondern blickte aufmerksam ins Licht der Lampe.
+Mit traurigen Augen sah sie der Lehrer an. In wahrhaft ungestümer Gewalt
+erwachte der Wunsch in ihm, den so nahen Mund zu küssen. Überlegungen
+wie Kriegspläne formten sich, und er blickte dabei zurück auf sein Leben
+wie in eine graue, regnerische Heide. Er lehnte die Stirn an den
+Bettpfosten und fing unvermittelt zu weinen an wie ein Knabe. Die
+Erkenntnis seiner Leidenschaft und seines leidenschaftlichen Gemütes
+machte ihn in hohem Grade bestürzt, wie es oft bei religiösen und
+einsamen Naturen der Fall ist.
+
+»Ach, du bist es, Wilhelm?« sagte Myra tonlos. »Warum liest du mir nicht
+vor? Lies mir doch vor aus dem lustigen Stück.« Sie lächelte wie früher
+und legte ihre Hand auf die seine. Philipp Unruh richtete sich auf und
+hielt zitternd ihre Hand fest. Er vermeinte seine eigenen Gedanken zu
+sehen, wie sie auf einmal wirr und schwarz wurden.
+
+»Nimm dasselbe Buch,« fuhr Myra leise fort. »Du weißt, was du auf eine
+leere Seite geschrieben hast. Es war das Schönste, Seligste. Die Mutter
+hat es gelesen und kam mit dem Messer gegen mich. /Oh, cela ne fait rien,/
+sagt Madam Biraud. Du siehst es ja, ich lache und jetzt lies, lies vor!«
+
+Als Philipp Unruh zögerte, wurde sie ungeduldig, und ihr Mund verzog
+sich gramvoll. Da griff er mechanisch nach jener Ansbacher Chronik, die
+ihm allein von seinen Büchern geblieben war, blätterte mit bebenden
+Fingern und las von alten Ereignissen, vom markgräflichen Leben am Hof,
+von den Emigranten, von Denkmälern und Baubefugnissen, von Pest und
+Kriegsplage, kurz, was eben in solch einer Chronik Wichtiges zu stehen
+pflegt. Inhaltsloser und sinnloser waren ihm niemals Worte vorgekommen.
+Ihm schien, als grübe er Staub aus finstern Verstecken. Myra lauschte
+entzückt jeder Silbe und freute sich, als ob es eine amüsante Szene sei,
+deren Entwicklung sie zu hören bekomme. Allmählich wurden ihre Züge
+schlaff; sie lehnte sich zurück, ihre Augen schlossen sich, und sie
+schien zu schlafen, während der Lehrer aufgewühlten Herzens weiter las,
+den stillen Raum mit seinen monotonen Lauten füllend.
+
+Plötzlich fuhr Myra empor. »Glaubst du es denn nicht,« rief sie aus, mit
+einer inbrünstigen Hingebung in ihrer Stimme, in ihren Geberden, in
+ihrem Gesicht, »glaubst du es denn nicht? Für dich könnte ich ja
+sterben!« Sie lachte glücklich und fiel wieder auf das Kissen zurück.
+
+Philipp Unruh schlug die Chronik zu und stützte den Kopf in die Hand.
+Ihm war bang und weich zu Mut. Diese Worte, gleichviel ob sie ihm galten
+oder nicht, waren nun zu ihm gesprochen worden. Er durfte die
+Vergangenheit vergessen, ohne sie betrauern zu müssen. Diese Worte
+brachten sein Gemüt in Schwingung, wie der Glockenschall die Luft in
+einer Kirche bewegt. Er wußte, eine solche Stunde des Zutrauens, eine
+solche Nacht der Wunder würde nicht wiederkehren in seinem Leben, und
+unersättlich sog er alle Hoffnungsmöglichkeiten in sich ein, als könne
+dadurch seine Zukunft beschützt werden. Ringsum war alles Leben
+lebendig, geschmückt durch Hingabe und Zärtlichkeit, ja selbst durch
+Gefahr und Tod. Denn der Tod ist es wert, gestorben zu werden, wenn er
+etwas raubt, das zu besitzen sich lohnt. So wurde sein Geist
+weitschauend durch die Macht eines Augenblicks, welcher die Ewigkeit
+enthielt.
+
+Er überzeugte sich, daß Myra nun wirklich schlief, und erhob sich
+geräuschlos. Er legte das Buch auf die Lade und dachte angestrengt nach.
+Wenn Myra krank lag und im Fieber redete, was sollte er dann mit ihr
+beginnen? Die Leute waren zu fürchten, denen der Tag Kunde bringen
+würde, wer nächtlicherweile in des Lehrers Haus eingezogen sei. Darüber
+mußte er wachen, mehr als über sein Glück. Höher als dies stand ihm die
+Sitte. Sie regelte nach seiner Überzeugung den Mechanismus der Welt im
+kleinen wie im großen.
+
+Es war keine Zeit mehr zu versäumen. Betrübt warf er seinen Mantel
+wieder um die Schulter, trat neben die Schlafende und blickte lange auf
+das regungslose Gesicht, dem der Schlummer einen vergrämten und
+angestrengten Ausdruck verliehen hatte. Dann stellte er die Lampe auf
+den Schrank und ging leise hinaus. Er wollte zu Siebengeist, um mit ihm
+zu beraten, was hier zu tun sei.
+
+Ohne das Tor zu versperren, betrat er die Straße. Es schlug zwölf Uhr
+vom Turm. Der Himmel war klar geworden und zitterte vor Kälte. In
+graublauer Dämmerung lagen Dächer und Giebel.
+
+
+Neuntes Kapitel
+
+Nachdem er den Glockenstrang bei der Apotheke gezogen hatte, öffnete
+sich unter dem spitzen Dachwinkel ein Fenster, und eine dünne
+Mädchenstimme schrie herab, daß kein Mensch zu Hause sei. Die
+Herrschaften und der Provisor seien auf dem Ball beim »Ratgeber«. Der
+Provisor käme erst in einer Stunde zurück, und solang müßte man warten
+oder zum Ratgeber schicken.
+
+Der Ratgeber war ein Hotel, welches sich eine Viertelstunde außerhalb
+des Städtchens, auf der sogenannten »Höhe« befand. Dort schloß sich
+unmittelbar der Wald an, der sich dann weit hinein erstreckt ins
+mittlere Franken. Philipp Unruh entschloß sich rasch zu der Wanderung,
+und noch auf der Landstraße sah er oben am Waldrand die strahlenden
+Fenster und hörte, von Schritt zu Schritt deutlicher, den Brummbaß der
+Tanzmusik. Es war eine Art Faschingsball, den die Gemeinde selbst
+alljährlich mit großem Prunk veranstaltete. Dort waren nicht nur die
+größten Notabilitäten des Ortes, sondern auch der Präsident des Kreises
+anzutreffen, der von Ansbach herüberkam.
+
+Fern auf dem Bahnhof klirrte das Eisen der Waggons, welche rangiert
+wurden. Der Schnee der Straße schimmerte hell. Die Sterne standen am
+Himmel und schaukelten unruhig wie Lichter im Wasser.
+
+Wo sich der Weg gegen die Anhöhe hinaufbog, stand, auf der Landstraße
+noch, ein kleines Wirtshaus. Im größeren Raum waren Knechte und Dirnen,
+die nach der Musik einer Mundharmonika tanzten. Wie sich die Paare beim
+düstern Schein einer Öllampe drehten, das gab ein wüstes und grelles
+Bild. In der kleinen Stube lehnte ein Mann gegen das Fenster, die Stirn
+gegen die Scheibe gepreßt, und der Lehrer erkannte sofort Apollonius
+Siebengeist. Der Provisor seinerseits hatte ihn nicht wahrgenommen, denn
+kein Zug veränderte sich in seinem Gesicht, welches trüb und verzerrt
+aussah. Philipp Unruh bemerkte, daß das Zimmer leer war, und schritt dem
+Eingang zu. Der Wirt begrüßte ihn mit einem lärmenden Freudenausbruch
+und führte ihn durch einen stockfinstern Gang. Ohne daß es beide
+merkten, folgte ihnen eine Frauengestalt, welche vom Ratgeber
+herabgekommen war. Und als der Lehrer die Schwelle überschritt, drängte
+sich jene vor und lief mehr als sie ging, auf Siebengeist zu. Sie hatte
+eine schwarze Larve vor dem Gesicht, einen glatten langen Mantel über
+dem Ballkleid, und ihre Augen leuchteten unnatürlich. »Ich wußte es ja,
+daß du hier bist,« sagte sie mit heiserer Stimme. »Du machst den
+Wegelagerer, lauerst einer Komödiantin auf.« – »Was soll das?«
+entgegnete Siebengeist mit merkwürdiger Geduld. »Ja, ich erwarte sie,
+aber sie kommt nicht, kommt nicht, trotzdem sie es versprochen hat.«
+Seine Stimme klang müde, und er veränderte seine Haltung nicht, sondern
+blickte fortwährend durch das Fenster auf die nächtliche Straße. Der
+Wirt hatte das Gesicht in die Türspalte gepreßt und grinste freundlich
+und lauernd. Philipp Unruh ergriff die Klinke und schloß mit sanftem
+Druck die Tür. Dann räusperte er sich achtungsvoll, um seine Anwesenheit
+kundzugeben. Der Raum hier war wie eine Fortsetzung des engen Flurs, und
+nur gegen das Fenster hin verbreitete die Kerze spärliches Licht, die im
+Hals einer Weinflasche auf dem Tisch stand.
+
+»Was sorgst du dich, Liebster?« begann die Frau wieder und machte eine
+flehentliche Gebärde. »Sieh mich doch an, bitte. Befiehl mir, daß ich
+sie herbeiholen soll, die du liebst, und ich werde es tun. Befiehl mir,
+aber sieh mich an, errette mein Leben.« – »Wie kann ich dein Leben
+erretten, da du meines zerstört hast,« erwiderte Siebengeist, starrer
+noch als bisher. »Ich habe nicht besitzen dürfen, weil deine Künste mich
+schwach werden ließen. Deine Verlockungen haben meinem Wunsch die Kraft
+genommen, deshalb bin ich nicht würdig, das beste zu besitzen. An dir
+hab ich mich verschwendet. Also geh in dein Haus und sei zufrieden.«
+
+Das Weib nahm ein Glas mit Wein vom Tisch, schleuderte es zu Boden, daß
+die Scherben klirrten, und rief verzweifelt: »Dann soll _mein_ Wunsch
+kraft haben, denn ich wünsche ihr den Tod!« Damit fiel sie in die Kniee,
+rang die Hände und lehnte das Gesicht an die Hüften des regungslosen
+jungen Mannes.
+
+Der Lehrer verharrte eine Zeit lang völlig gelähmt in dem Winkel
+zwischen Tür und Ofen. Er dachte, gänzlich sich selbst entfremdet: die
+Liebe ist eine Gewalt, welche den Menschen erniedrigt. Er dachte, daß es
+besser sei, nicht zu wissen, als im Wissen zu sündigen. Wo früher rings
+um ihn her ein friedliches Einerlei sich gedehnt, sah er jetzt
+Gesichter, aus denen die Aufregungen des Leidens und des Verlangens
+redeten. Es war, als ob ein träges, aber starkes Wesen in ihm schwere,
+staunende Augen aufschlüge.
+
+Unter dem Zwang seines Anstandsgefühls trat er endlich mit vernehmlichem
+Schritt gegen den Tisch zu und wünschte guten Abend. Die Baronin stutzte
+und erhob sich rasch. Siebengeist drehte sich lässig um und blickte dem
+Lehrer forschend, jedoch nicht ohne Freundlichkeit ins Gesicht. »Ich
+komme,« sagte Philipp Unruh, indem sein eigenes Zimmer wie eine Insel
+der Sehnsucht vor ihm aufstieg, »ich komme, um Ihnen, Herr Siebengeist,
+etwas mitzuteilen.« Der Provisor, voller Ahnung, zog den Lehrer in den
+entgegengesetzten, dunklen Teil des Zimmers. Seine Augen waren
+umschattet und hatten einen zersplitterten Blick; die Stirn war unruhig;
+das ganze sympathische Gesicht glich dem eines Spielers, der im Begriff
+ist, einen hohen Einsatz zu verlieren.
+
+In schwerfälligen Worten brachte der Lehrer heraus, was sich ereignet
+hatte. Ohne zu zaudern, ohne einen Laut von sich zu geben, warf
+Siebengeist den Pelz um die Schultern, stülpte die Kappe über, winkte
+dem Lehrer durch eine Handbewegung, ihm zu folgen, und beide eilten nun
+hinaus und die Landstraße hinab. Als sie das Schulhaus erreicht hatten
+und die enge Treppe emporklommen, war kaum eine Viertelstunde vergangen.
+
+Der Lehrer öffnete die Tür. Sein Blick fiel auf das Bett, welches leer
+war. Myra war nicht im Zimmer. Jetzt erinnerte er sich, daß das Haustor
+nur angelehnt gewesen war. »Sie ist fort,« murmelte er tonlos, und Kälte
+rieselte über seinen schweißbedeckten Körper. »Hier lag sie auf dem
+Bett, sehen Sie.« Und da er sich der Worte entsann, die sie zu ihm
+gesprochen, verstummte er und schaute nachlauschend gegen die Wand, als
+ob von dort ein Wiederhall ausflösse.
+
+»Was haben Sie gemacht, Schulmeister? Haben Sie geträumt?« stieß
+Siebengeist hervor. Er rückte die Kappe gegen den Hinterkopf und legte
+die Hand über die Stirn, die von wirren, nassen Haaren bedeckt war. Dann
+griff er nach einem Gegenstand, der auf dem Tisch lag, mitten auf einem
+weißen Blatt Papier. Es war das Herz mit dem /vers Dieu va./ Ein Zucken
+ging über sein Gesicht, und er biß die Lippen zusammen. Das goldne Ding
+fiel auf die Erde. – »Vielleicht ist sie nach Hause zurück,« flüsterte
+Siebengeist fragend, und Philipp Unruh gab durch Haltung und Blick seine
+Willfährigkeit zu allem kund. Auf der Straße trafen sie den Nachtwächter,
+welcher sehr betrunken war. Er wußte von nichts, nicht einmal ob es Tag
+oder Nacht war, hatte niemand gesehen. Sie läuteten vor dem Haus, wo
+Myras Mutter wohnte, und nach einiger Zeit kam eine Person von
+ungewöhnlicher Beleibtheit zum Vorschein. Diese Person glich einem
+Laubfrosch; sie trug einen moosgrünen Schlafrock und hatte einen
+Schnurrbart, obwohl sie ein Weib war. Mit schnarrender Stimme berichtete
+sie, daß der Schauspieler und die Frau vor einer Stunde mit dem
+Münchener Eilzuge abgereist seien. Das junge Fräulein aber sei seit dem
+Abend nicht heimgekehrt. Siebengeist reichte der Dame ein Talerstück und
+bat in atemlosen Sätzen, sie möge ihm für ein paar Stunden eine gute
+Laterne leihen.
+
+Sie wanderten über den Markt und über die Altmühlbrücke gegen die
+Dinkelsbühler Landstraße hinaus mit ihrer Laterne. Schweigend legten sie
+ihren sinnlosen Weg zurück, während der Schnee im Lichtschein glitzerte.
+Beide waren von derselben Ahnung, derselben Unruhe aufs äußerste erregt,
+aber jeder scheute des andern Wort oder Frage. Bisweilen blieb
+Siebengeist stehen, hielt die Laterne hoch oder stieg auf einen
+Meilenstein und spähte in das lautlose, finstere Winterland. »Jetzt
+wollen wir auf Theilheim zu,« sagte Siebengeist, und mit einem Auflachen
+fügte er hinzu: »Glauben Sie denn, daß eine einzige Nacht genügen wird,
+sie zu finden?« – »Es sind Wälder hier herum,« entgegnete der Lehrer.
+»Aber es ist möglich, daß sie noch im Ort ist.« – »Es ist möglich, ja.
+Was ist nicht alles möglich! Es ist möglich, daß sie verschwunden
+bleibt, und ich habe nicht ein einziges Mal – –« »Was? –« »Diesen
+wunderbaren Mund küssen dürfen.« Siebengeist blieb am Flußufer stehen,
+warf den Kopf ein wenig zurück und drückte die Augen zu. Der Lehrer
+entgegnete nichts darauf.
+
+
+Zehntes Kapitel
+
+In derselben Nacht noch, gegen die Morgenstunden, kamen Tauwinde aus dem
+Süden. Siebengeist und der Lehrer waren heimgekehrt und verbrachten
+miteinander den schlaflosen Rest der Nacht in des Lehrers Zimmer.
+Abgerissene Erzählungen überdeckten die suchenden Gedanken. Siebengeist
+lachte über den Gang mit der Laterne, so wie nur er zu lachen verstand,
+und der Lehrer dachte wieder: ein Adonis. Jedoch glaubte er sich
+bevorzugt wie durch unvertilgbare Versprechungen.
+
+Zwischen sechs und sieben Uhr schlief er noch einen kurzen Schlummer der
+Müdigkeit. Er träumte, daß er sich in den Affen Kümmerlich verwandelt
+habe, daß er auf dem Dach des alten Turmes stehe und Grimassen schneide,
+über die die ganze Welt und insbesondere eine Frau mit einer schwarzen
+Larve unbändig lachen mußte. Doch wunderlicherweise hatte dieser Traum
+für ihn etwas Quälendes, vielleicht deshalb, weil die Höhe des Turms ihn
+trotz aller Grimassen mit Angst erfüllte.
+
+Als er um neun Uhr am Schulfenster stand und gleichgültig die
+Ziegelmauern der Synagoge anstierte, liefen auf der Straße Menschen
+zusammen. Ein Milchbauer hatte auf seinem Handwägelchen einen großen,
+dunklen Gegenstand liegen, der sich wie ein menschlicher Körper ausnahm.
+Der Milchbauer redete eifrig mit den Leuten und zwinkerte dabei erregt
+mit den Augen. Der Lehrer öffnete das Fenster und rief hinunter, was es
+denn sei. Man habe ein Mädchen erfroren auf dem Feld gefunden, hieß es,
+und diejenigen, die das sagten, es war der Schmied, ein Marktweib und
+der alte Löwy, gebärdeten sich außerordentlich sachkundig. Auch der
+Bäcker kam aus seinem Laden, indem er den Mehlstaub von den dicken
+Schenkeln klopfte. Die Kinder im Schulzimmer verließen alle ihre Plätze,
+drängten sich mit Wildheit an die Fenster, und Philipp Unruh sah sich
+alsbald seines Aussichtspunktes beraubt, da eine Horde von schwatzenden
+Mädchen ihn umringt und zurückgeschoben hatte. Er fand kein strafendes
+Wort, sondern blickte geistesabwesend auf einen der blondhaarigen
+Kinderköpfe.
+
+Schnell wie Strohfeuer lief das Gerücht umher, daß eine Schauspielerin
+von Herrn Schmalichs Truppe erfroren in den Feldern gefunden worden sei.
+»Se woar im Schneei douglegn wier in ihrn Bettla,« sagte der Milchbauer
+zu Doktor Maspero, der den Leichnam besichtigte. Auch der Bürgermeister
+und ein gerichtlicher Funktionär stellten sich ein, und die Leute, die
+den Totenwagen fuhren, zeigten sich verdrießlich über die Arbeit, die
+nichts trug.
+
+»In diesem begabten Mädchen steckte das Zeug zu einer Ophelia,« sagte
+Herr Schmalich zu den Mitgliedern seiner Truppe, als er die
+Gedächtnisrede während der Probe hielt. Dann kam noch etwas vom Pantheon
+der Kunst, vom Kampf ums Dasein und weiblicher Tugend.
+
+Die wahrhaft vornehmen Kreise nahmen das Ereignis mit Güte und Ruhe hin.
+Nur die Frau Assessor, welche eine unglückliche Schwärmerei fürs Theater
+hegte, schickte einen Immortellenkranz mit einer blaßroten Schleife, auf
+welcher ein nicht weniger blasses Verslein zu lesen war. Die Frau
+Oberamtmann geriet darüber in eine boshafte Aufregung und erzählte die
+ganze Geschichte im Kasinohof dem Herrn Adjutanten. »Kann solche
+Dummheit überboten werden!« rief die bewegte Dame aus. Der Herr Adjutant
+lächelte verzwickt, und als er zu Hause war, stellte er sich breitbeinig
+vor seinen Affen hin und redete ihn an: »Was sagst du, mein lieber
+Kümmerlich: ist es nicht rätselhaft, wie selbst die Dummen merken, daß
+die Dummen dumm sind?« Das Äffchen grinste höflich.
+
+»Der Tod ist ein Ereignis, mit welchem man rechnen muß,« sagte der Baron
+Apotheker ernst und poetisch gestimmt zu seiner Frau, welche wie
+versteinert am Bücherregal lehnte, mit herabhängenden Armen und
+verschränkten Fingern. Ihr sonderbares Wesen veranlaßte den Dichter kaum
+zu einem flüchtigen Nachdenken. Solche Naturen sind wie Messer ohne
+Klingen. Sie gleichen einem Schützen, der in der drohenden Pose des
+Anschlags steht, aber statt der Flinte ein Spazierstöckchen zwischen den
+Schultern hält. Sie kriechen herum wie aufgeblasene Regenwürmer und
+vermeinen einen Adlerflug zu nehmen. Bis zu ihrem Sterbebett werden sie
+den Tod für ein Ereignis halten, das Beachtung verdient.
+
+Die junge Frau schleppte sich mühsam eine Treppe empor und pochte an
+Siebengeists Zimmer. Da alles still blieb, drückte sie auf die Klinke,
+jedoch die Tür war verschlossen. Da pochte sie abermals und rief ein
+bittendes Wort, allein sie erhielt keine Antwort. Ihr schwindelte. Sie
+ging herab in die Apotheke und fragte den zweiten Gehilfen, wo das
+Strychnin sei. Im Grunde wußte sie, daß sie sich des Giftes nicht
+bedienen würde. Auch sie war angesteckt vom Lügengeist des Herrn. Auch
+sie hielt sich, wenn nicht für einen Adler, so doch für eine Schwalbe,
+eine sehnsüchtige, nestsuchende und war nur ein armes Würmchen.
+
+Es war ein träumerischer Tag. Der Himmel, mattblau, grünlichblau, war
+von schleierdünnen Wolken durchzogen. Allenthalben lief geschäftig
+murmelndes Tauwasser zu Bächen zusammen. Durch den schwarzgesprenkelten
+Ackerschnee ragten die Stoppeln vom letzten Herbst. Bis zu den fernsten
+Waldgrenzen dehnte sich der Horizont, und die Februarsonne füllte das
+Land mit frühlinghafter Wärme.
+
+Gegen die Zeit der Dämmerung kam Siebengeist zum Lehrer Unruh. »Machen
+wir einen letzten Gang,« sagte der Provisor, dessen Augäpfel auffallend
+ruhelos unter den Lidern hin und her irrten. Der Lehrer wußte sich nicht
+zu erklären, was damit gemeint war, aber er folgte. Für ihn hatte die
+Gegenwart noch keine Zunge. Wie ein Trunkener vergißt, was ihn trunken
+gemacht, so hatte er die Ursache dessen, was in ihm wühlte, aus der
+Empfindung verloren. Er begann nach rückwärts zu leben. Er erkannte sich
+selbst und das, was aus ihm geworden war, mit der Klarheit einer
+Halluzination. Ganz anders als früher schien es ihm jetzt seine eigene,
+angeborene Sprache, wenn er redete, schien ihm sein Gefühl, was er
+empfunden, und sein Urteil, was er beschlossen. Das Bild der Welt und
+ihrer Menschen verlor völlig den Anschein der Selbstverständlichkeit und
+des Unumstößlichen, und aus allen Dingen, aus allen Ereignissen, aus
+jedem Gesicht, aus jedem Hinschwinden des Tages und der Nacht tauchte
+etwas ungeheuer Geheimnisvolles auf, das ihn schaudern machte und ihn
+mit einer noch ganz anderen Trauer erfüllte, als derjenigen, die er in
+Siebengeist beobachtete. Aber wie sonderbar! Darüber schwebte wie das
+Licht über einem finstern Wald etwas wie Freiheits- und
+Einsamkeitsfreude.
+
+Sie waren zum Leichenhaus gewandert, einem Backsteinhäuschen, das
+verlassen in der Abenddämmerung lag. Siebengeist ging zur
+Totengräberwohnung und ließ aufsperren. Der Mann, unter dem Druck von
+Siebengeists Hand willfährig geworden, brachte eine Art Stallämpchen mit
+einem Blendblech und ließ die beiden allein. Zwei Särge standen
+inmitten des Raums, halb aufrecht gegen eine Bank gelehnt. In dem einen
+lag eine Greisin, deren Lider nicht ganz geschlossen waren, so daß sie,
+was vor sich ging, argwöhnisch zu beblinzeln schien. Ihr Gesicht war
+gelb wie frisches Baumholz und hatte einen außerordentlich höhnischen
+und feindseligen Ausdruck. Auf ihrer faltigen Stirne lief gemächlich
+eine Fliege umher. Der ganze Kopf bekam überdies durch eine hohe weiße
+Haube mit blauen Bändern ein theatralisches und bizarres Aussehen.
+
+Daneben lag Myra. Auf der einen Wange war ein seltsamer roter Fleck, wie
+ein Überbleibsel des Lebens. Die Unterlippe war ein wenig herabgesunken,
+wodurch das Gesicht müde, fast schlaftrunken aussah. Die Stirne sah aus
+wie geschliffen, und um die Augen lag ein abweisender, kindlich
+überlegener Zug. Die Hände waren leicht gefaltet. Der Ärmel des Gewands
+wurde leise von der Abendluft bewegt und erzeugte einen tierähnlichen
+Schatten über den Fingern.
+
+Siebengeist kniete nieder und legte still den Kopf auf den Sargrand.
+Sein Rücken begann zu zucken, und die rechte Hand suchte den Boden. Der
+Lehrer dachte etwas Unbestimmtes, Frommes über den Tod, verwarf aber
+leidenschaftlich diese Gedanken wieder und zwang seine Blicke, auf dem
+mißtrauischen Gesicht der alten Frau haften zu bleiben. Er ärgerte sich
+über die freche Fliege, die wie schlafend auf einem Augenlid saß. Und
+plötzlich sah er, wie Siebengeist sich ein wenig erhob, seine Lippen
+langsam dem Antlitz Myras näherte, und wie er lautlos seinen Mund auf
+ihren toten Mund drückte.
+
+Philipp Unruh stieß einen schwachen Schrei aus und fühlte den Boden
+unter sich wanken. Ihm brannte die Kehle und das Herz und das Gehirn,
+als ob er im Feuer stände, aber mit unbegreiflicher und erschreckender
+Raschheit kehrte eine eisige Ruhe in ihn zurück. Er legte die Hände vor
+die Augen und kehrte das Gesicht dem Kirchhof zu und dem Stückchen Wald
+hinter der Mauer. In diesem Augenblick hatte er Tod und Leben
+gleichzeitig in einem elementaren Bild empfunden.
+
+Beim Heimwärtsgang stand die Mondsichel über den Dächern des Städtchens.
+Von der Eisenbahn tönte ein langgezogenes Hornsignal herüber. Die
+Dunkelheit ist lästig und drückend, dachte Philipp Unruh. Er begann den
+Tag der Nacht vorzuziehen, wo eine bittere und verschwommene Traurigkeit
+so leicht Nahrung finden konnte. Sie gingen hinter den Gärten am Rand
+der Äcker und Siebengeist fing an zu reden. Er gefiel sich in Kapriolen
+des Geistes, in blasphemischen Anklagen, seufzte schwer und war dann
+wieder still. Alles nahm sich wie beabsichtigter Wahnsinn aus. Von
+seinem hübschen Gesicht war wie im Rausch jede Besonnenheit
+verschwunden, und was er tat, trug das Zeichen von überhebendem Schmerz.
+»Gute Nacht, Schulmeister,« sagte er. »Meine Seele ist leer wie ein
+ausgebranntes Haus.«
+
+Was er doch für Worte gebraucht, dachte der Lehrer. Er verspürte
+plötzlich einen nagenden Hunger, denn seit vielen Stunden hatte er
+nichts gegessen. Er trat neben dem Schulhaus in den Laden des Bäckers
+und verlangte frisches Schwarzbrot und ein wenig Butter.
+
+»Ach du _mein_ Gott, sieht man den Herrn Lehrer auch einmal,« sagte der
+Bäcker, und mit halb pfiffigem, halb verlegenem Gesicht schraubte er das
+blakende Licht tiefer. Er war eigentlich recht bestürzt, denn auf dem
+Ladentisch vor sich hatte er einen großen Folianten aus des Lehrers
+Bücherkiste liegen. Er hatte sich eben nach Herzenslust an einer
+Kriegsbeschreibung ergötzt. Der Lehrer sah sogleich das Buch und schlug
+erstaunt die Hände zusammen: »Herr Bäckermeister, Sie wissen wohl gar
+nicht, wessen Eigentum das ist?« sagte er unsicher, wie alle gutmütigen
+Menschen, wenn sie einem andern auf Schelmenstreiche kommen.
+
+Was nun den Bäcker betrifft, so begann er eine Geschichte zu erzählen,
+die durchaus kein Ende nehmen wollte. Diese Geschichte wurde allgemach
+recht verwickelt und bot schließlich selbst dem Erzähler
+Schwierigkeiten. Sprüche zur Weltweisheit mischten sich darein wie
+Aniskörnchen in den Brotteig, nur zuletzt kam, einer Apotheose zu
+vergleichen, der Preis des Handwerks, welches ebenso sein Gutes habe,
+wie die Gelehrsamkeit.
+
+Philipp Unruh lächelte. Der humoristische Mann, der ihm gegenüber auf
+dem Backtrog saß, hatte in der Glorie seiner Lügenhaftigkeit etwas
+seltsam Versöhnendes, und es lag wie eine unwiderstehliche Heiterkeit in
+jedem dieser Lügenworte, die weder gewogen, noch gezählt waren. Daß er
+wieder in den Besitz seiner Bücher kam, erfreute ihn, doch in anderm
+Grade, als er je geglaubt. Es war wie ein Geschenk, und er betrachtete
+sein Eigentum wie etwas, das er nie besessen. Er wußte, daß es da nur
+tote Dinge, tote Blätter gab. Die Vergangenheit ist etwas Gestorbenes,
+dachte er; wer ihren Leichnam küßt, macht das Gesicht des Todes doppelt
+furchtbar; was er berühren mag, wird dem Leben entfremdet sein.
+
+Es war ein so milder Abend, daß es den Lehrer wieder fort von seiner
+Behausung trieb, und er beschloß, gegen das Altmühlufer hinunter zu
+wandern. Als er in die enge Kirchengasse bog, sah er sich gegenüber auf
+der Schwelle eines beleuchteten, schmalen Hausflurs ein kleines Mädchen
+sitzen, welches das Gesicht in die Schürze gelegt hatte und weinte. Ein
+Knabe von vielleicht zwölf Jahren stelzte ernsthaft über die Gasse und
+fragte mit Würde, beide Hände tief in die Hosentaschen gesenkt: »Warum
+weinst du denn?« Die Kleine hob das Gesicht, und Philipp Unruh, der im
+dunklen Schatten stehen blieb, erkannte das Mädchen der Frau Süßmilch.
+»Ich kann meine Aufgabe nicht lernen, sie ist zu schwer,« schluchzte das
+Kind. Der Knabe räusperte sich, spreizte die Beine, legte die Hände auf
+den Rücken und begann: »Du bist meine schlechteste Schülerin, Süßmilch.
+Aus dir wird im Leben nichts werden. Du hast ja lauter Heu im Kopfe.
+Pfui!« Philipp Unruh sah, daß ihn der Bursche nachäffte, und errötete in
+seinem Versteck. Das kleine Mädchen aber trocknete die Augen, stützte
+den Kopf in das Händchen, schaute wehmütig zum klaren Sternenhimmel auf
+und sagte aus tiefstem Herzensgrund: »Ach ja! Unser Herr Lehrer ist ein
+sehr böser Mann.«
+
+Der Lehrer ging langsam über die Gasse, nahm das Mädchen auf die Arme
+und küßte es lächelnd auf die Stirn.
+
+
+
+
+Treunitz und Aurora
+
+Bekenntnisse eines Offiziers
+
+
+Die Stille des Gefängnisses ist der Selbsteinkehr günstig. Ich werde
+also das Papier zu meinem Beichtiger machen und der Wahrheit gemäß
+berichten, wie sich die Dinge abgespielt haben, und wie ich zu der Tat
+gelangt bin, durch die ich mein Leben verwirkt habe. Ich bin des Todes
+schuldig und ich werde aus dieser Erkenntnis alle Folgerungen ziehen, zu
+denen ich als Mann und Soldat so berechtigt als verpflichtet bin.
+Immerhin könnte ich beschönigend von einem verhängnisvollen Irrtum
+sprechen, durch den mein Glück, meine Freiheit, meine Zukunft, meine
+ganze Existenz der Vernichtung preisgegeben wurde, aber die Schmach
+würde dadurch um nichts geringer werden, und wenn ich gleich die
+furchtbare Leidenschaft, die mich ergriffen und ruiniert hat, zu
+verurteilen imstande bin, so ist es selbst in diesem Augenblick noch
+unmöglich, sie gänzlich aus meinem Herzen zu reißen.
+
+Ich bin mit der Vorliebe für den Soldatenstand geboren. Doch trieb mich
+dabei keineswegs Ehrgeiz oder Ruhmsucht; auch nach Abenteuern stand mir
+nicht der Sinn, wie das bei Knaben oder Jünglingen sonst der Fall zu
+sein pflegt, sondern ich wollte meine Person in den Dienst des
+Vaterlandes stellen, und wonach ich strebte, war eine würdige Verwendung
+meiner Kräfte und Fähigkeiten. Ich besaß Mut und war körperlich gewandt
+und tüchtig; auch hatte ich, was für den Militär jedes Ranges von
+Wichtigkeit ist, Disziplin im Leibe, das Talent und den Willen zur
+unbedingten sachlichen Unterordnung. Da ich von Haus aus vermögend bin,
+meine Mutter besitzt eine große Gutsherrschaft bei Arnstein, wurde der
+Wahl meines Berufs kein Hindernis in den Weg gelegt, und nach
+Absolvierung der Schule trat ich als Freiwilliger bei der Marine ein.
+Aber ich fand dort kein Genügen, das Leben war eintöniger, als ich
+gedacht, und nach Verlauf von zwei Jahren trat ich zur Feldartillerie
+über, wo ich mich als brauchbarer Offizier eines gewissen Ansehens
+erfreute und wegen meiner Begabung für militärwissenschaftliche Fächer
+die besondere Gunst der Vorgesetzten genoß.
+
+Da entbrannte in Südafrika der Burenkrieg; ich sah die Gelegenheit,
+etwas zu leisten, ich hatte keine Lust mehr am Garnisons- und
+Manöverdienst; die Verhältnisse, unter denen ich mich bewähren konnte,
+erschienen mir zu klein; kurz und gut, ich erbat den Abschied, zur
+Verwunderung und zum Bedauern meiner Kameraden, die mich gerne hatten,
+mich aber nach diesem für sie unbegreiflichen Schritt eines Mannes, der
+die begründetste Aussicht auf Karriere hat, für einen unbesonnenen
+Haudegen hielten.
+
+Ich habe da unten die Bluttaufe erhalten, die Fremde tat mir wohl, das
+wilde äußere Leben band mich fester in mich selbst. Als ich nach
+geschlossenem Frieden in die Heimat zurückkehrte, war ich ein anderer
+Mensch, und wenn ich noch einen Rest von unreifer Romantik in mir
+gehabt, so hätte ihn die ernsthafte Zeit, die ich verlebt, mit Stumpf
+und Stiel ausgetrieben. Ich erfuhr die Genugtuung, sogleich wieder als
+Offizier in die Armee eingereiht zu werden, und es war der froheste Tag
+meines Lebens, als ich wieder den dunklen Rock der Artilleristen
+anziehen durfte. Ich hatte nebenbei die Gewißheit, zum Generalstab
+berufen zu werden; dies geschah auch, und um meine kühnsten Erwartungen
+zu übertreffen, wurde ich mit einer Aufgabe betraut, die sonst nur
+selten einem Offizier meines Dienstalters gestellt wurde; man entsandte
+mich als Berichterstatter der mazedonischen Vorgänge nach Saloniki.
+
+Ich war noch nicht zwei Monate auf meinem Posten, da brach in unsern
+afrikanischen Kolonien der Aufstand der Schwarzen aus. Jetzt lag der
+Fall anders denn damals, wo ich das Heer hatte verlassen müssen, um ins
+Feld zu kommen; jetzt konnte ich mich meinem kaiserlichen Herrn und
+Kriegsherrn selber zur Verfügung stellen. Da man tüchtige Offiziere
+suchte, wurde mein Anerbieten ohne Verzug berücksichtigt, ich wurde zum
+Hauptmann bei der Schutztruppe ernannt, und vier Wochen später war ich
+schon auf See.
+
+Ist ja richtig; es war eine elende Katzbalgerei mit den schwarzen
+Rackern, und viel gutes deutsches Blut ist geflossen, aber wars gleich
+sauer, so wars doch nahrhaft, wie unsere Exzellenz zu sagen liebte. Es
+war ein schönes freies Leben, wie ich alles noch sehe und spüre! Die
+sengende Mittagshitze und die Morgenkühle, die zerstörten Pontonks und
+die infamen Wege, der Feind in Busch und Dickicht und die unaufhörlichen
+Schüsse aus den Baumkronen! Wie das surrte und schwirrte und sang und
+heulte, so dicht, daß es einen erstaunte, wenn man seine Gelenke noch
+zusammenhängen fühlte. Hungrig legte man sich schlafen, den Revolver im
+Arm, an Feueranzünden nicht zu denken, und weh dem, der vom Durst
+getrieben zu den Wasserlöchern schlich, er ward in der Frühe mit Kirris
+erschlagen gefunden. Da war man doch ein Kerl, da konnte man sich
+bewähren, da spürte man seine Pulse.
+
+Leider bin ich bei den Gefechten am Waterberg verwundet worden. Ich
+konnte nicht mehr Dienst tun und mußte alsbald die Heimreise antreten.
+Dritthalb Monate blieb ich in Berlin; man machte viel Aufhebens mit mir,
+und viele Leute feierten mich wie einen Blücher, was mir oft die
+Schamröte ins Gesicht trieb, denn ich war mir nicht bewußt, etwas
+Sonderliches verrichtet zu haben. Aber dergleichen gibt sich, und wenn
+man Verdienste hat, empfiehlt es sich, sie den Leuten nicht durch die
+eigene Gegenwart lästig zu machen. Eine Zeitlang war von meiner Aufnahme
+als Lehrer in die Kriegsakademie die Rede, doch, vor die Wahl gestellt,
+zog ich schließlich den subordinierten Posten eines Batteriechefs in der
+Provinz vor, allerdings mit der baldigen Anwartschaft auf den
+Majorsrang. Meine Mutter kränkelte, ich wünschte in ihrer Nähe zu leben,
+und des unruhvollen, weltstädtischen Treibens, an dem ich nie Freude
+gehabt, war ich ohnedies müde.
+
+Dazu kam noch, daß mir die Fremde ganz wie mit einem Male den Blick
+verwandelt hatte. Entweder war ich nicht mehr derselbe, oder die Heimat
+war nicht mehr dieselbe. Aufrichtig gesagt: die Luft im Reich gefiel mir
+nicht. Sie war mir zu wetterwendisch; winterlich scharf von oben und
+giftig süß von unten, fast wie eine afrikanische Nacht. Nichts wurde mit
+Wohlwollen reguliert, alles mit Manometer, und wer hinten nicht gestoßen
+wurde, der ging nach vorne nicht weiter. Unsre jungen Herren fand ich so
+ohne jede Herzlichkeit, daß sich einem der Gaumen zusammenzog, wenn man
+mit ihnen redete. Immer bloß aufs Elegante versessen, geschniegelt wie
+die Reitpferde und trocken wie Stiefelsohlen. Die Aristokraten hochnäsig
+und zimperlich, die Bürgerlichen streberhaft und vom frischen Reichtum
+verdorben und verweichlicht, das Volk rebellisch und respektlos. Keiner,
+der aus Eigenem was vorstellte, erst durch sein Geld oder sein Amt oder
+seine Orden oder seine Hemdbrust. Großes Maul, ja, aber kein freies
+Wort, keine offene Meinung. Hölzernes Getue galt für Form,
+kaltschnäuziges Nörgeln für Geist und öde Prahlhanserei für
+Selbstbewußtsein.
+
+Wenn man mir die Berechtigung abstreitet, eine solche Sprache zu
+führen, so habe ich allerdings keine andere Antwort, als den Hinweis auf
+eine bis dahin ehrenhafte Existenz. Es war mir eben die Laune verdorben,
+und eher trübgestimmt als hoffnungsvoll kam ich nach der kleinen
+Garnison. Auch hier fühlte ich mich nicht wohl; ich begann mich zu
+langweilen; ich merkte alsbald, was das heißt, in einer Provinzstadt zu
+leben, die trotz ihrer vierzigtausend Einwohner etwas ist wie ein Sparta
+des Altertums, mit ebenso streng geschiedenen Kasten, nur daß die
+kriegerische Härte der Vorschriften durch minder folgenschwere, aber
+keineswegs leicht zu übertretende Bestimmungen gesellschaftlichen
+Charakters ersetzt werden. Da sind die Spitzen der Behörden, die
+militärischen Würdenträger, die Industriellen, die Gutsbesitzer, die
+jungen Leute, die eine Rolle spielen, die andern, die bloß eine spielen
+möchten; da ist die Generalin oder Oberstin, die das Wetter macht, und
+die kleine Apothekersgattin, die gerade noch geduldet ist; da ist die
+reiche Fabrikantenfrau, die ihre Toiletten aus Berlin bezieht, und die
+Frau Amtsrichter, die aus ihrem Wirtschaftsgeld mittelst rührender
+Entbehrungen den Preis für ein einziges schwarzes Seidenkleid erübrigt,
+das sie unter Beihilfe der Köchin und eines Mädchens vom Lande selber
+näht und das ihr die abendlichen Feste verbietet, wenn der Stoff an den
+Ärmeln den fatalen Mattglanz zu zeigen beginnt. Zu Kaisers Geburtstag
+gibt der Regierungspräsident einen Ball; zur Errichtung eines
+Kriegerdenkmals wird eine künstlerische Soiree veranstaltet, bei welcher
+allerlei junge Mädchen wegen ihrer Fortschritte in Gesang und
+Klavierspiel beklatscht werden; man geht ins Theater, man wird zur
+Enten- und Hasenjagd geladen, und die verheirateten Frauen holen sich
+aufregende Romane aus der Leihbibliothek. Einmal im Monat ist
+Parademarsch, am Sonntag nach der Kirche spielt die Regimentskapelle
+auf dem Residenzplatz, abends sitzt man dann im Kasino oder im
+Speisesaal des Hotels de l’Europe, und nach elf Uhr nachts lungern nur
+noch irgendwo hinter abgesperrten Türen ein paar ausgestoßene Existenzen
+an einem Kartentisch, und zwei Studenten brüllen vor dem Fenster einer
+begehrten Kellnerin das Krambambuli.
+
+Alle diese kennen einander und wissen vieles von einander und verbergen
+sich voreinander und schätzen einander und sind einander im Wege und
+passen einander auf. Das enge Zusammenleben begünstigt Klatsch und
+Übelrednerei; jeder kehrt den Schmutz vor des Andern Tür; Dummheit,
+Bosheit, Neid und Mißgunst lassen selbst den Redlichen nicht
+ungeschoren, alles, was Aufsehen macht, findet Teilnahme, alles, was in
+der Mode ist, Nachahmung; für ernsthafte Interessen ist wenig Sinn. Dies
+erfuhr ich bald. So sehr es anfangs meinem Selbstgefühl schmeichelte,
+daß ich nun auch zu Hause ein jemand war, der Beachtung verdiente und
+Ansehen genoß, denn es war ja meine engste Heimat dahier, so wenig wurde
+ich meines Wirkens froh. Ich kam mir vor wie ein verfaulender Baum.
+
+Ich erinnere mich nicht mehr genau, an welchem Tag es war, als ich die
+Majorin Westermark kennen lernte. Ich schließe daraus, daß sie mir
+damals wenig Eindruck gemacht hat. Ich sah sie zum erstenmal bei der
+Frau von Rütten, die eine Freundin meiner Mutter ist, und die, wie mir
+meine Mutter vorsichtig verriet, die löbliche Absicht hatte, mich mit
+ihrer siebzehnjährigen Tochter zu verheiraten. Ich machte mir aber
+nichts aus dem Mädchen, und das ist lediglich mein Fehler, da sie ein
+hübsches und vernünftiges, obschon etwas nüchternes Geschöpf ist. Nach
+allem, was ich bereits über die Majorin gehört, hatte ich mir eine
+junonische Gestalt gedacht und war deshalb überrascht, sie so klein,
+zart und kindhaft zu finden. Ihr Wesen gab in Gesellschaft nichts her,
+nichts von Welt und nichts von Innerem, ihr Lächeln war kühl, in der
+Bewegung der Lippen zeigte sich eine gewisse Naschhaftigkeit; am meisten
+gefielen mir die Augen, die blau, durchsichtig, ausgedehnt und voll
+Perlmutter waren, mit Brauen, schwarz und fein wie zwei Sepiastriche.
+
+Eine solche Stadt wie die, in der ich mich befand, hat alle Späherblicke
+immer auf den Punkt geheftet, wo eine ungewöhnliche Erscheinung
+hervortritt und sich auf ihre besondere Art gebärdet. Ich habe schon
+angedeutet, daß das vielfache Gerede über die Majorin auch zu mir
+geflossen war. »Was sagen Sie zu der Frau? Ach, Sie wissen nicht? Sie
+wissen nicht, was die Spatzen von den Dächern pfeifen?« Nein, ich wußte
+es nicht, ich bezeigte auch kein Interesse dafür. »Sie verstellen sich
+doch wohl. Oder glauben Sie, daß das eine glückliche Ehe ist? Der Mann
+ist zwanzig Jahre älter, Sie begreifen. Die Frau hatte früher einen
+reichen, schlesischen Branntweinbrenner, von dem sie geschieden ist. Sie
+ist schön wie das Laster, und so elegant, daß unsre Damen vor Neid nicht
+schlafen können; echte Pariser Hüte, echte Brüsseler Spitzen, echte
+Pelze, Diamanten wie ein persischer Prinz, und Parfüms, Parfüms sage ich
+Ihnen, überwältigend wie eine Ananasbowle nach einem Jagdritt.« – »Nun
+ja, der Major ist sicherlich reich.« – »Nein, die Frau hat Geld, die
+Frau. Der Major ist ein Sonderling. Ich möchte ihm gern meine Augen
+leihen.«
+
+O Bosheit aus dem Winkel, die du Augen verleihen willst, dachte ich mir.
+Aber die üblen Gerüchte waren hartnäckiger als meine Gleichgültigkeit.
+Ich traf eines Tages einen Freund in der Stadt, einen jungen Ingenieur,
+der irgendwo in der Nähe den Bau einer Eisenbahnbrücke leitete. Wir
+waren als Gymnasiasten ein paar Jahre lang unzertrennlich gewesen, und
+es bereitete mir lebhaftes Vergnügen, ihn wiederzusehen. Wir kamen oft
+zusammen, bald in einer Weinstube, bald in seiner oder meiner Wohnung;
+und wie es schon so geht, einmal gerieten wir beim Gespräch auch auf
+Aurora Westermark und die über sie umlaufenden Gerüchte. Mein Freund
+kannte sie nur flüchtig, aber er war einer jener Menschen von
+instinktivem Scharfblick, die in andern Seelen lesen zu können scheinen,
+und deren Urteil sich daher von selber Vertrauen erzwingt.
+
+Deutlich steht mir noch jene Stunde vor Augen und genau ist mir noch
+jedes seiner Worte gegenwärtig, die ich nur mit innerem Unwillen
+anzuhören vermochte. »Diese Frau hat die Gabe, unschuldig zu scheinen
+und Leidenschaften einzuflößen«, sagte er ungefähr. »Wie sie den schwer
+zugänglichen Major umgarnt hat, das ist gewiß ein Kunststück gewesen.
+Ich weiß nicht, ob dir die Umstände bekannt sind; es war während der
+großen Manöver vor zwei Jahren; umschwärmt von den Offizieren eines
+ganzen Stabes, hatte sie sich’s offenbar in den Kopf gesetzt, den
+sprödesten und verstocktesten zu gewinnen, denjenigen, für den eine
+Weltdame etwas war wie ein seltenes Schmuckstück, das er sich verschafft
+ohne Freude und Verständnis, nur weil er gerade bei Geld und guter Laune
+ist und weil es von andern gerühmt und begehrt wird. Sie hatte den
+schlechtesten Ruf. Man sagt, daß sie Liebe verkauft hatte, unumwunden
+und unter Vorwänden, um einer Perlenkette willen, um eines Ränkespiels
+willen, um nichts ungenossen vorübergehen zu lassen von den Lockungen
+der Jugend, aus Gefallsucht, aus Sinnlichkeit, aus Langerweile, aus
+Schwäche, aus Lust an der Selbsterniedrigung, aus Vergnügen an einer
+doppelten Existenz in zwei Sphären der bürgerlichen Welt, von denen die
+eine nicht weiß, was in der andern geschieht, so daß die
+Geschicklichkeit, der einen die Kunde aus der andern vorzuenthalten,
+etwas von der Spannung eines Revolverdramas mit sich bringt und die
+sonst leeren Tage mit dem Tumult verschwiegener Betätigung erfüllt. Ich
+bin gewiß,« fuhr mein Freund fort, gegen den ich in diesem Augenblick
+eine nicht zu überwindende Empfindung des Hasses, ja des Abscheus hegte,
+»ich bin gewiß, daß sie’s gegenwärtig nicht viel besser treibt. Ich
+glaube nicht, daß sie je von Liebe erfahren hat, sondern nur von
+Aufregungen, Sorgen, abwägenden Interessen, Kränkungen des Stolzes,
+Gefahren der Enthüllung und die Überzeugung von der Nichtswürdigkeit der
+Männer, so wie eben solchen Frauen die Männer sich zeigen müssen.«
+
+»Aber was wäre denn das für ein Leben!« rief ich kopfschüttelnd. »Welche
+Einsamkeit setzt das voraus, welche Kraft, alle diese Dinge in der
+Stille mit sich selber abzumachen!«
+
+Mein Freund zuckte die Achsel. »Es ist das Leben eines Menschen, der auf
+glühenden Kohlen tanzt und sich stellen muß, als ging’s über einen
+harmlosen Teppich«, antwortete er. »Wir haben eine Menge solcher
+Equilibristen in der Gesellschaft, und das vertrackte und verlogene
+Dasein, das wir führen, fordert die unruhigen Köpfe geradewegs dazu
+heraus.«
+
+»Gibt es denn irgendwelche faktischen Delikte?« fragte ich.
+
+»Es heißt, daß sie mit jedem hübschen Offizier abenteuert; daß sie sich
+jedem Laffen hingibt, der sich der Mühe der Werbung unterzieht und den
+Preis nicht zu hoch findet, den Preis des Verrats nämlich. Auch sagt
+man, daß sie seit Jahren eine dauernde Beziehung zu einem Berliner
+Fabrikanten unterhält, der außerdem günstige Börsengeschäfte für sie
+vermitteln soll, den sie irgendwie draußen oder in der Stadt trifft und
+der eine unerklärliche Gewalt über sie ausübt, vielleicht die Gewalt
+bedenkenloser Brutalität. Daß der Major darüber in vollständiger
+Ahnungslosigkeit verbleibt, gehört zu unsern sonderbaren, aber nicht
+ungewöhnlichen sozialen Geheimnissen. Alle wissen, er nicht; alle
+raunen, er ist taub. Man schont ihn wahrscheinlich, man schont seine
+Stellung, seine Häuslichkeit, und sie hinwiederum profitiert von der
+Achtung, deren ihr Gatte genießt. Auch macht ihr Auftreten, ihre
+Schönheit, ihre vollendete Haltung die Argwöhnischen vorsichtig, und den
+Mut der Übelredner zunichte. Sie hat ja eine Art zu gehen, zu stehen, zu
+reiten, zu lachen, zu tanzen, die blendend ist, das muß man zugeben. Was
+tut’s, wenn bisweilen an den Grenzen des Bezirks ein Flämmchen aufzischt
+und einen Schritt der heimlichen Pfade beleuchtet? Oft sehen Augen,
+denen keine Zunge dient, die zu reden weiß, und ein anderes Mal
+schwatzen Mäuler, wo Augen nichts gesehen haben.«
+
+Ich bekenne, daß mich dieses Gespräch bis in die Nieren erkältete. Dies
+»es heißt« und »man sagt« erfüllte mich mit Mißtrauen gegen den Freund,
+mit einer Art Furcht vor ihm; ich ging ihm von da an für lange Zeit aus
+dem Wege. Seine Ehrlichkeit erschien mir durchaus böswilliger Natur; ich
+bildete mir ein, daß ich einer ritterlichen Pflicht gehorchte, indem ich
+mich in meinem Innern auf die Seite einer wehrlosen Geschmähten schlug.
+Kleinstädtischer Klatsch, sagte ich mir, läßt den reinlich Denkenden
+eher zum Anwalt des Besudelten werden, als daß er die Partei von Feinden
+nimmt, die sich verbergen. Es war ein Selbstbetrug, dem ich mich hingab.
+Die Frau hatte ganz einfach mein Gefallen erweckt, und das wollte ich
+mir verhehlen. Ich traute ihr Schlimmes nicht zu, ich sah ein Kind in
+ihr, verführerisch, am Ende mißleitet, aber nicht verworfen. Ich
+sträubte mich nicht gegen die Freundlichkeit, die der Major alsbald in
+auffälliger Weise gegen mich an den Tag legte. Ich besuchte oft sein
+Haus, und es schien sich ganz von selbst zu geben, daß ich manche
+Stunden mit Aurora allein verbrachte.
+
+Sie gestand mir, daß sie von Anfang an aufs innigste gewünscht habe,
+meine Bekanntschaft zu machen, denn sie habe beim ersten Blick gefühlt,
+daß ich ihr mit Wohlwollen gegenüber getreten sei. Dies mußte ich
+bestätigen, ihre schmeichelhaften Worte über meine Vergangenheit, meine
+Taten, meinen Ruhm usw. lehnte ich höflich ab. Die nichtigen Dinge, von
+denen sie mit mir plauderte, gewannen einen Reiz von Scherzhaftigkeit,
+dann wieder von anmutiger Melancholie. Vertrauen schien sie als
+selbstverständlich zu betrachten und war nicht einmal bedachtsam in
+ihrem Tadel über die Lebensführung anderer. Sie sprach mit einer
+unvergleichlich musikalischen Stimme, weich im Ton, klagend in der
+Färbung, hie und da mit einer Bemerkung voll Witz und Geist. Ihr Zuhören
+war sympathisch durch den Blick eines wißbegierigen Schülers. Sonst war
+sie nicht selten gequält, beunruhigt, verschüchtert, also gar nicht mehr
+Dame. Sie eroberte unbedingt, ich hätte ihr alles geglaubt, und ich
+glaubte auch alles, selbst das Unwahrscheinlichste, wennschon mir ihr
+Wesen manchmal wie Dünensand vorkam; erst denkt man etwas Festes zu
+halten, und wenn man zupackt, verrinnt und verrieselt alles zwischen den
+Fingern.
+
+Im Verkehr mit ihrem Mann sah ich sie von gemessener Liebenswürdigkeit,
+Nachsicht mehr gewährend als beanspruchend, gegen launenhafte
+Bärbeißigkeit sich mit ironischer Duldermine wappnend, wobei ein
+forschender und spöttisch-kühner Blick den Beobachter zum
+Mitverschworenen machte. Der Major erweckte den Eindruck eines
+gutmütigen Mannes; er war untersetzt und korpulent und trotz seiner
+Jahre nur mäßig ergraut; doch pflegte er den Schnurrbart mit einer
+Pomade zu behandeln, die diesem das Ansehen eines frisch lackierten
+Gegenstandes gab. Sein Blick war flackernd wie der eines viel und
+fruchtlos arbeitenden Menschen; in der Tat verhinderte er nur durch
+einen fast überstürzten Eifer im Dienst seine langgefürchtete
+Kaltstellung. Er gehörte zu jenen Offizieren vom alten Schlag, die durch
+Rauheit und martialisches Auftreten an verjährte Verdienste erinnern und
+den Mangel an gegenwärtigen verdecken wollen. Er liebte die Jagd, schöne
+Pferde und Hunde; doch mit diesen Leidenschaften verbarg er nur den
+Groll gegen ein Regime, das ihn zur schimpflichen Rolle eines Mitläufers
+und stummen Bittstellers verurteilte, und er erfüllte seine
+Obliegenheiten wie mit zusammengebissenen Zähnen, war immer in Hast und
+Angst, und, wie alle unsicheren Beamten, von übertriebener Strenge gegen
+Untergebene und übertriebener Devotion gegen Vorgesetzte.
+
+Ich glaube, mit solchem Urteil kein Unrecht an dem Major zu begehen;
+alle diese Umstände waren ja mehr oder weniger öffentliches Geheimnis.
+Ich habe beschlossen wahr zu sein, und so muß auch dieses gesagt werden.
+Es trifft nicht zu, daß ich dem Major ohne Achtung begegnet bin; ich
+hatte anfangs sogar Gefallen an ihm, wie er an mir, erst im Verlauf der
+Begebenheiten wandelte sich meine Gesinnung auf so verderbliche Art.
+
+Ich begleitete Aurora ins Theater, auf die Promenade, ich kam zu ihren
+Teestunden, und so vergingen Wochen, ohne daß ich ein Arg gegen mich
+selber faßte. Wenn ich Gäste bei ihr traf, zeigte sie mir
+unmißverstehlich, daß ihr Gäste zur Last waren und daß ich allein es
+nicht war. Ein solcher Beweis von Freundschaft heischte Dank, und ich
+blieb, nachdem alle sich verabschiedet hatten, auch der Major, der die
+späten Nachmittagsstunden im Kasino verbrachte und mit einem
+Oberleutnant vom Train Schach spielte. Oftmals mußte ich ihr von meinen
+Kriegserlebnissen erzählen, wobei sie atemlos lauschte. Wie sagt doch
+Othello? »Ich sprach von harten Unglücksfällen, manch rührendem Geschick
+zu See und Land, wie ich nur auf ein Haar dem Tod entronnen, von grausen
+Schlünden, öden Wüsteneien, von Klüften, Felsen, himmelhohen Bergen, von
+Kannibalen, die einander fressen. Und dies zu hören, war Desdemona
+innerlich gespannt.« Und als er geendet, lohnte ihn das Fräulein mit
+einer »Welt von Seufzern« und wünschte, sie hätte es nicht vernommen,
+und wünschte doch, Gott hätte aus ihr einen solchen Mann gemacht.
+
+War auch Aurora nicht dermaßen bezaubert, so stellte sie sich doch
+ähnlich und ihre Teilnahme war jedenfalls echt. Auch schrieb sie mir
+Verdienste zu, die ihr trotz aller Selbstverständlichkeit groß und neu
+dünkten, und vor allem erschien ich ihr verläßlich. Verläßlichkeit war
+ihr Ideal, wie wenn ihr das Geschick einen Trumpf im Spiel hätte
+vorgeben können durch die bewunderte Tugend eines andern.
+
+Heute seh’ ich dies klar, damals bestrickte mich ihr bedenkenloses
+Anschmiegen. Da ich merkte, daß sie wenig oder nichts las, brachte ich
+Bücher, unter andern schenkte ich ihr die Frithjofssage, ein Gedicht,
+für welches ich begeistert war. Sie gestand mir aber offen, daß Verse
+sie langweilten und daß sie zum Lesen überhaupt keine Geduld hätte; so
+ließ ich es denn sein. Sie wurde jetzt bisweilen karg in der
+Unterhaltung und von unverständlicher Vorsicht. Darin lag etwas
+Verwirrendes, denn ich fühlte mich einer Person gegenüber, die ihrer
+Rede wenig Gewicht beimißt, weil sie Bedeutsames verschweigen muß. Sie
+hatte immer den auffangenden Blick im Auge, der meine Ungeduld erregte.
+Ich fragte, hörte, antwortete und war mit der gleichen Aufmerksamkeit
+beschäftigt, dem Zwitschern eines Vogels oder dem Surren des Windes zu
+lauschen. Was kann der Major mit einem solchen Weib beginnen? dachte ich
+oft verwundert; er ist ein Soldat, aber kein Orchideenzüchter. Himmel,
+wenn ich dies Gesicht beständig um mich wüßte, ich wäre versucht, damit
+zu verfahren, wie die Kinder, die ihre geliebtesten Puppen aufschneiden,
+um herauszubringen, was drinnen ist.
+
+So fing es an, mit Abwehr und Wißbegier fing es an. Und wenn es ihr
+Entschluß war, mein ruhiges Herz in Flammen zu setzen, was bedurfte es
+da noch viel? Eines Abends fragte sie mich unumwunden nach meinen
+bisherigen Herzenserlebnissen und darauf mit Offenheit zu entgegnen, war
+leicht und schwer in einem. Ich hatte nicht viel zu berichten. Schon als
+Primaner hatte ich Verachtung für die Liebeleien gewisser Kommilitonen
+empfunden, und fernerhin war mir jede leidenschaftliche Entäußerung ein
+Greuel gewesen. Ich war freilich kein Kostverächter, kein Joseph; ich
+nahm stets, was man mir bot, aber zu langgesponnenen Verhältnissen
+fehlte mir die Zeit, und an die sogenannten großen Passionen glaubte ich
+nicht. Amüsement, ja; doch durfte es nicht zum Katzenjammer führen;
+alles übrige schien mir Bummelei und Jugendeselei. Ich weiß, es war
+erbärmlich, daß ein Kerl wie ich eigentlich nur von käuflicher Liebe
+wußte, nur von Vergnügen und nichts von Hingabe, nur von Dirnen und
+nichts von Frauen. Aber das passiert heute tausendmal, es ist viel
+häufiger, als man denkt, und gerade diejenigen, die ihre Stirn am
+aufdringlichsten mit dem Heldenlorbeer schmücken, sind, wenn man die
+Sachen bei Licht betrachtet, ebensolche Jämmerlinge. Dagegen lebt
+wahrscheinlich in dem Kopf jedes Frauenzimmers eine Vorstellung von
+Durchschnittspoesie und Schmökerromantik, die ihr unentbehrlich ist wie
+ein Luxuskleid, auch wenn sie selbst dergleichen nie erlebt hat und so
+wenig davon hält wie ein Moslem von der Hostie.
+
+Ich wußte nicht, wie mir geschah, als ich nun plötzlich fand, daß ich
+eine Armut verraten hatte, über die mir bis jetzt kein Skrupel
+aufgestiegen war. Schon atmeten wir in einer verderblichen Luft. Wir
+verständigten uns durch Blicke und Mienen, und die Selbstbeherrschung,
+die wir zu üben wähnten, war nur eine Gaukelei. Ich sagte mir im Anfang
+bisweilen: die Frau ist kalt, oder noch schlimmer, kühl; die Frau
+rechnet, die Frau lauert. Aber da war ihre Sanftmut, ihre zarte Stimme,
+ihr ergebenes, verstörtes, beschwichtigendes Lächeln; da hatte sie eine
+sonderbare, oft wiederkehrende Bewegung der Hände, die darin bestand,
+daß sie die Finger ineinanderflocht, um sie dann wie verzweifelt in den
+Schoß einzusenken. Das riß mich aus allem Gleichmut.
+
+Ihr Wesen blieb mir rätselhaft, bis sie mir eines Tages erzählte, wie
+ihre erste Ehe das Werk habsüchtiger Eltern und Verwandter gewesen sei;
+der Mann ein Trinker, ein Wucherer, ein Lüstling. Sie versicherte mir,
+daß sie im Zusammenleben mit ihm unberührt geblieben sei, und daß
+hauptsächlich deswegen nach drei qualvollen Jahren die Scheidung
+ausgesprochen werden konnte. Sie sprach dann von ihren Reisen, von
+zermarternder Unruhe, vom Wunsch nach Frieden, von ihrem Ekel an Welt
+und Männern, und da lernte sie Westermark kennen; sie dachte an ihm
+einen Beschützer zu finden, sie fühlte eine herzliche Kameradschaft für
+ihn, sie habe sich betören lassen und ihn geheiratet. Als sie nun lange
+schwieg, blickte ich sie fragend an.
+
+Ja, darüber sei Schweigen geboten, sagte sie, darüber, was jetzt kam,
+müsse geschwiegen werden.
+
+Geheimnis also? nicht anrührbares Geheimnis? Auroras Gesicht glich einer
+Uhr, die plötzlich stehen bleibt. Geheimnisse binden, auch wenn sie
+nicht enthüllt werden. Aber mein Inneres war schon zu sehr ergriffen,
+als daß ich aus Delikatesse hätte auf Teilnahme verzichten mögen. Ich
+bat in der dringlichsten Weise um Aufklärung. »Wozu? was soll es
+nützen?« antwortete mir Aurora. »Warum sollte ich Sie in eine
+Ungeheuerlichkeit einweihen, die mich allein schon übermäßig bedrückt
+und lebensuntüchtig macht? Sie würden mir nicht glauben, Sie dürfen mir
+nicht glauben, denn wer bin ich? Ein verlorenes, verachtetes Geschöpf,
+der Gegenstand unsauberer Gespräche am Biertisch, die wehrlose Beute
+aller Nachrichtenjäger der ganzen Stadt, mit meinem Namen in jede
+Spelunke geschleppt, beneidet, bewacht, einsam, unerhört einsam und
+unerhört verraten. Wollt’ ich bekennen, was ich in diesem Haus für ein
+Leben zubringe, so würde ich ja vielleicht auch Sie verlieren, der mir
+gutgesinnt ist. Nein, nein, erlassen Sie mir das, gönnen Sie mir die
+harmlosen Stunden mit Ihnen.«
+
+Man sagt gemeinhin, und die Erfahrung macht mich geneigt, dem
+beizupflichten, daß Männer über dreißig, wenn sie zum erstenmal in ihrem
+Leben der Gewalt einer Leidenschaft erliegen, sich in nichts von der
+Unbesonnenheit und Kopflosigkeit der Jünglinge unterscheiden, daß sie im
+Gegenteil noch großmütiger ihr Gefühl, noch bereitwilliger ihren Stolz,
+noch unbedingter ihr Vertrauen verschwenden. Ich habe versucht, das
+Unheil zu bekämpfen, als es da war, ich habe mich noch mit aller Kraft
+gewehrt, als es mich umschlang. Vielleicht hätte ich es bezwingen
+können; vielleicht gab es einen Tag, eine Stunde, wo ich noch Meister
+des Verhängnisses werden konnte, wo ich mit dem Gedanken an ein
+Abschiedswort, dem Vorsatz einer Reise zu der Frau ging. Aber da mochte
+es scheinen, als rede die Frau mit einem andern Ton denn gestern; als
+sei die Hand, die sie mir bot, verwandelt worden. Wenn Früchte reif
+sind, fühlen sie sich gleichsam wärmer an, und so hatte sich etwa ihre
+Hand angefühlt, wie eine reife Frucht.
+
+Einverständnis genug; Erwiderung genug; es braucht nicht mehr als den
+Abglanz der eigenen Sehnsucht in dem geliebten Antlitz und Auge, nicht
+mehr als ein gestammeltes Wort, als einen flehentlichen Blick, und
+Pflicht, Gewissen, Zukunftsfurcht entschwinden für immer in der
+Süßigkeit und Betäubung eines jähen Sicherkennens. Jetzt sind die Tore
+zugeschlossen, und es gibt keine Reise mehr. Ich entsinne mich eines
+Tages, wo ich mit Begierde die Gesellschaft eines Mannes suchte, eines
+Freundes, den außerhalb meines beruflichen Kreises zu finden mir höchst
+erwünscht war. Da traf ich den Ingenieur, von dem ich schon gesprochen,
+durch Zufall auf der Gasse. Er blieb unschlüssig stehen, ich reichte ihm
+die Hand. Ich verzieh ihm alles, was er über Aurora Westermark geäußert
+hatte, noch mehr, ich empfand das Bedürfnis, ihn mit der wunderbaren
+Frau näher bekannt zu machen, und ich war überzeugt, daß er sie mit
+andern Augen ansehen würde. Das Vorhaben war leicht, als Freund Auroras
+durfte ich es wagen, ihn einfach zu einem ihrer Empfangsnachmittage
+mitzunehmen. Ich fing alsbald davon an, er war ziemlich betroffen,
+erwiderte jedoch, wenn ich Wert darauf lege, wolle er mir gern
+willfahren, obwohl seine Zeit ihm die Pflege gesellschaftlicher
+Beziehungen sonst nicht gestatte. Wenn ich mir heute dies Gespräch
+überlege, so muß ich glauben, daß in meinem Benehmen etwas Krankhaftes,
+ja sogar Krankes enthalten sein mußte, denn der junge Mann blickte mich
+bisweilen fast mitleidig von der Seite an und meinte schließlich, es tue
+ihm aufrichtig leid, wenn er mich damals durch seine unüberlegte
+Offenheit verletzt habe. Am nächsten Tag gingen wir zusammen zur
+Majorin; Aurora nahm ihn mit Herzlichkeit auf, und sie schmeichelte ihm
+durch eine gewissermaßen sachliche Hochachtung, die bei Frauen selten
+ist, und die hier am Platze war. Er kam nun bisweilen an Montagen und
+Donnerstagen, blieb aber zumeist auffallend schweigsam, trotzdem ihm
+Auroras Sympathie durchaus nicht verborgen blieb. Einmal gingen wir
+zusammen weg, und ich sagte ganz unvermittelt zu ihm: »Hast du nun dein
+Urteil revidiert? Gibst du nicht zu, daß das ein Geschöpf ist, wie es so
+vollendet nur aus der Meisterhand Gottes hervorgehen kann?« Und als er
+nur mechanisch nickte, fügte ich hinzu: »Ich hoffe, daß du mich nicht
+mißdeutest, und daß du meine Worte so auslegst, daß wir uns auch
+weiterhin gerade in die Augen sehen können.«
+
+»Mehr brauche ich nicht zu wissen«, entgegnete er ernst und anscheinend
+überrascht. Er besuchte von da an das Westermarksche Haus nicht mehr.
+
+Warum ich die Art meines Verhältnisses zu Aurora vor dem Verdacht eines
+Freundes schützen zu müssen glaubte, weiß ich kaum. Ich hatte keinen
+Zweifel an ihrer Ehre und Reinheit. Aber das namen- und gesichtslose
+Hörensagen, unter dem ihr Ruf litt, war eine Qual sondergleichen für
+mich. Ich hätte mich gerne gestellt, aber wie durfte ich dies, wer hätte
+mir das Recht dazu eingeräumt? Ein Blick, ein zweideutiges Lächeln, ein
+Achselzucken, ein irrlichterndes Wort dann und wann, es überlief mich
+kalt, wenn ich dessen nur nachträglich gedachte; ich fand mich beleidigt
+und geschmäht, bald genug bekam ich zu spüren, daß das verleumderische
+Geschwätz auch schon meinen eigenen Namen bespritzte; aus dem Bewußtsein
+meiner Schuldlosigkeit, und, da Aurora sich mir gegenüber noch mit
+keinem Hauch etwas vergeben hatte, zog ich den Schluß, daß all die
+andern Anwürfe und Gerüchte ebenso trugvoll, lügnerisch und boshaft
+seien wie dieses. Traurigkeit und Ingrimm nahmen von mir Besitz, ich
+sonderte mich ab von den Kameraden wo es nur irgend anging, und hatte
+ich vorher schon für unliebenswürdig gegolten, so erklärte man mich
+jetzt für abstoßend hoffärtig, oder mildesten Falls für einen finstern
+Einsiedler. Ja, ich haßte sie, diese still beieinander hockenden
+Aufpasser, Schlimmredner und Giftkocher, diese gutangezogenen Megären
+und unbezahlten Spione, die ihrem Dünkel und ihrem Müßiggang kein
+unterhaltsameres Spiel wußten, als die nie wieder gutzumachende
+Besudelung eines schönen Herzens und edlen Charakters, denn so erschien
+mir Aurora.
+
+Indessen wucherte das Grübeln über die furchtbaren Andeutungen, die sie
+mir in bezug auf ihr eheliches Leben getan, heimlich in mir fort. Ich
+wagte sie nicht mehr daran zu erinnern, ich wollte nicht mehr fragen,
+ich glaubte zartfühlend zu sein, doch meine Seelenruhe kam dabei
+schlecht weg. Tausend Vermutungen erwog ich, bis in die Träume hinein
+verfolgte mich das haltlose Denken, und so geschah es denn doch, daß ich
+einstmals, wir saßen im oberen Gesellschaftszimmer vor der Terrasse
+einander gegenüber, daß ich die Frage stellte, mitten in eine ruhende
+Minute hinein, in der mir zu Sinn war, als hörte ich das Ziehen der
+Wolken am herbstlichen Himmel. Aurora erschauerte; sie sah mich eine
+Weile zornig an, plötzlich stand sie auf, kehrte sich mit dem Gesicht
+gegen das Fenster, und ich gewahrte am Zucken ihrer Schultern, daß sie
+weinte. Während ich ratlos dasaß und meine Taktlosigkeit verwünschte,
+hörte ich die säbelrasselnden, plumpen Schritte des Majors auf der
+Flurtreppe. Aurora wandte sich um, mit erschrockenen Augen starrte sie
+gegen die Türe und flüsterte: »Ich kann ihn jetzt nicht sehen.« Damit
+verließ sie das Zimmer. Der Major trat ein und zeigte ein verwundertes
+Gesicht, als er mich allein sah. Er begrüßte mich mit zusammengekniffenen
+Augen und begann mit mir ruhig über dienstliche Angelegenheiten zu
+sprechen. Meine Nerven waren bis zur Unerträglichkeit gespannt, ich
+hörte kaum, was er sagte, und ich verfolgte seine Schritte und
+Bewegungen mit einem beunruhigten und haßähnlichen Gefühl. Plötzlich
+fragte er mich, wo seine Frau sei. Ich antwortete, sie sei vor wenigen
+Minuten hinausgegangen. Sein Gesicht verdüsterte sich: »Sie macht mir
+viel Kopfzerbrechen mit ihren Launen«, sagte er seufzend, indem er sich
+schwer in einen Sessel fallen ließ. »Ich sollte mich wirklich mehr um
+sie bekümmern,« fuhr er fort, »aber, lieber Treunitz, Sie haben keine
+Ahnung, was für Plackereien ich ausgesetzt bin; es kostet mich
+Überwindung genug, sie nichts merken zu lassen, aber wer kann immer
+heiter sein, wenn’s einem an den Kragen geht? So eine Frau will nichts
+als eitel Wonne um sich sehen; ich kann’s ihr nicht verdenken, sie ist
+jung. Mag sie sich nur amüsieren, ich lege ihr keine Balken über den
+Weg. Doch wie gesagt, die Launen, die Launen!«
+
+Was er mit den Launen meinte, konnte ich mir nicht enträtseln. Es war
+mir eine Pein, ihn zu hören, andrerseits rührte mich sein Wesen, und er
+erschien mir durchaus nicht als böse. Ich wußte nur unbestimmte
+Redensarten zu erwidern. Meine Situation kam mir ebenso bedrückend wie
+die seine kläglich vor. Ich verabschiedete mich von ihm. Als ich über
+den Korridor schritt, stand Aurora neben der Treppe. Sie winkte mir, ihr
+zu folgen. Ich trat in ein kleines, boudoirähnliches Gemach. Aurora
+blickte mich forschend an. Etwas Trauriges, aber nicht bloß Trauriges,
+sondern auch Wildes, eine Art von Außersichsein in ihren Zügen brachte
+mich vollkommen um den Verstand. Plötzlich umschlangen mich ihre Arme,
+und ich fühlte ihre Lippen auf den meinen. »Geh, geh«, stieß sie dann
+durch die verpreßten Zähne hervor. Ich ging.
+
+Mir brannte Hirn und Herz. Nie mehr über diese Schwelle, rief es in mir.
+Ich scheute mich, den Menschen in die Augen zu blicken. Und doch war ich
+glücklich; ich hatte ihre Schultern gespürt, ihre Arme, ihren Mund. Ich
+begab mich nach Hause, lief wie toll in meinem Zimmer auf und ab, ging
+wieder fort und stand in der Nacht, ich weiß nicht wie lange, vor der
+Villa des Majors, zu den schwarzen Fenstern emporstarrend. Die Stunden
+bis zum andern Nachmittag schlichen qualvoll hin. Als ich zu Aurora kam,
+waren Gäste da. Sie scherzte und plauderte wie gewöhnlich. Dies war mir
+unbegreiflich. Erst um sechs Uhr waren wir allein. Mit rauher Stimme bat
+ich sie um Aufklärung. Ich sagte, daß ich den Zustand des Zweifels und
+der schlimmen Befürchtungen nicht mehr ertragen könne.
+
+»Was wollen Sie von mir?« entgegnete sie hart. Ich blickte sie erstaunt
+an, aber sie senkte nicht die Augen und flammte mich drohend an. Da
+packte ich ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen. Sie ließ mich ruhig
+gewähren, indes sie den Kopf in die andere Hand stützte. »Wenn ich alles
+sagen wollte, wer könnte mir glauben«, murmelte sie vor sich hin, und
+ihr Körper schrumpfte zusammen wie unter der Gewalt eines physischen
+Schmerzes. »Gehen wir ein wenig ins Freie«, schlug sie vor. Wir gingen
+in den Garten. Dort erzählte sie mir alles; während wir über die dunklen
+Wege schritten, schilderte sie mir ihre Ehe. Sie schilderte mir diese
+Ehe als ein Martyrium, das ohne Beispiel war. Sie schilderte den Major
+als einen argwöhnischen, neidischen, boshaften, ohnmächtigen,
+lügenhaften, und gewalttätigen Greis. Sie sagte mir, daß er sie schlüge.
+(O Gott, der Speichel im Munde wurde mir bitter wie Galle.) An ihr räche
+er die Unbill und Zurücksetzung, die er überall zu erleiden wähne. Wo er
+ihre Wünsche erfülle, sei es zum Schein; wenn er sich freundlich stelle,
+sei es zum Schein. Er behandle sie schlimmer als einen Hund. Seit
+sechzehn Monaten lebe sie wie in einem Starrkrampf, und was sie lache
+und rede, wisse sie nicht. Zuerst habe sie geschwiegen aus Furcht vor
+ihm, dann aus Furcht vor der Welt, denn noch einmal als geschiedene Frau
+bodenlos und heimatlos dastehn, das zu ertragen, sei sie nicht fähig,
+lieber wähle sie den langsamen Tod aus Kummer, Zorn und Angst.
+
+Ich glaubte. Man denke nach, ob es für mich eine andere Möglichkeit gab,
+als zu glauben. Es gibt im Ungeheuerlichen einen Punkt, wo der Zweifel
+erstickt, anstatt genährt wird. Man kann der Raserei mißtrauen, man kann
+der Wut oder dem Haß mißtrauen, aber der sanften, schwermütigen und
+verzweifelten Ruhe, mit der mich Aurora zum Mitwisser ihres Geheimnisses
+machte, ist schwer zu mißtrauen. Ich wußte zu wenig von Leidenschaft, zu
+wenig von dieser schrecklichen Narkose des Gemüts. Die Gewohnheit kalter
+Sinnenlust und bezahlter Vergnügungen hatte mich einem Sträfling ähnlich
+gemacht, der die Kette nicht mehr spürt, aber vor Freude verrückt wird,
+wenn man ihm die Freiheit schenkt.
+
+Wie hätte ich ahnen sollen, was in diesem Weibergehirn vor sich ging?
+ahnen sollen, daß Neugier sie zur Verderberin und Verbrecherin machen
+konnte? Neugier, wie weit sie mich zu treiben imstande war! Sie glaubte
+nicht an Männer, sie glaubte nicht an mich. Daß ich in der Schlacht
+gewesen, daß ich Feindesblut und eigenes Blut vergossen hatte, das
+verlockte sie, und sie wollte mich erproben. Sie wollte ihre Macht an
+mir erproben. Sie hatte die unbestimmte Sehnsucht, Urheberin einer Tat
+zu werden, aber sie glaubte nicht an diese Tat, so wenig wie sie an
+Worte, Schwüre, Vorsätze und Empfindungen glaubte. Die unergründliche,
+unermeßliche Leere ihrer Brust verzerrte ihr alles ernste Bestreben,
+Wissen, Wollen, Denken und Vollbringen zu spottwürdigen Schemen. Und so
+wurde meine Ergebenheit zu einem Piedestal für ihren lasterhaften
+Willen, und es war eine unheimliche Begierde in ihr, mich zu entfalten,
+mich gleichsam auseinanderzureißen, um zu sehen, – was in mir drinnen
+sei. Dieses und sonst nichts.
+
+Das weiß ich jetzt; ich habe es erfahren müssen in einer Stunde, die
+mich aus dem Himmel in die Hölle stürzte, einer Stunde, wie sie
+vielleicht nur wenige Menschen je erlebt haben, und die ich auch um
+keinen Preis noch einmal erleben möchte. Aber wie hätte ich es damals
+spüren oder nur denken sollen? frage ich. Vor mir stand eine Frau, jung
+und unvergleichlich schön, den Sammet rührender Duldung in den Augen,
+und so hingeschmolzen vor meinem Wort und schlechten Trost, daß ein Tier
+weich geworden wäre. Kann man das noch Verstellung oder Heuchelei
+nennen? Ist dies nicht vielmehr eine böse zauberische Kraft, für die es
+noch keinen Namen gibt?
+
+Ich will es nicht versuchen, meinen jammervollen Zustand zu schildern.
+Ich wandelte herum wie ein Vergifteter, auch schmeckte mir kein Bissen
+mehr. Daß ich liebte, war kein Glück mehr für mich, daß ich geliebt
+wurde, spürte ich nur wie im Traum. Wie ich es fertigbrachte, mich
+täglich anzukleiden, zu waschen, zu frühstücken und den Obliegenheiten
+meines Berufs zu genügen, ist mir heute noch ein Rätsel. Offenbar gibt
+es irgendeine Maschine in unserm Innern, welche die alltäglichen
+Pflichten gewohnheitsmäßig erfüllt. Eines Tages war ich bei meiner
+Mutter zu Tisch, und da ich alle Speisen unberührt ließ, stellte sie
+mich plötzlich in ernstem Ton zur Rede. Sie sagte, sie wisse alles; sie
+beschwor mich, von Aurora zu lassen und nannte sie eine gefährliche
+Kokette. Ich packte ihre Hände, wie man die Fäuste eines Gegners packt,
+der zum Schlag ausholt. »Auch du,« rief ich, außer mir vor Wut und
+Enttäuschung, »auch du gehst zu den Verleumdern. Du weißt ja nichts von
+ihr. Ach, wenn du wüßtest, wenn du wüßtest, es soll sich mir nur einer
+stellen! nur einmal Aug’ in Auge! Mich dürstet ja danach, sie vor die
+Pistole zu bekommen, die feigen Hunde!« Meine Mutter war erschrocken,
+sie umarmte mich schluchzend und sagte: »Daß du den Appetit verloren
+hast, mein Junge, ist für mich das beste Zeichen, daß deine Leidenschaft
+verderblich und unnatürlich ist.«
+
+So zeigt sich einem jeden die Welt anders; dem einen von der
+Herzensseite, dem andern von der Magenseite. Aber meine Mutter hatte
+Recht. Dennoch vermied ich es in der Folge, sie zu besuchen, und vom
+November bis zum Februar sah ich sie nur zweimal. Auch mit andern
+Menschen sprach ich nicht mehr als das Notdürftigste; ich gab jeden
+Verkehr auf und stellte Aurora meine freie Zeit völlig zur Verfügung.
+Nachdem ich mich lange in einem Zustand der Zerschmetterung befunden
+hatte, begann ich die Unhaltbarkeit der Lage zu spüren, um so mehr, als
+meine finstere Apathie in Aurora sichtlich eine gewisse Ungeduld
+erweckte. Ich sagte zu ihr, ich müsse mich mit dem Major schlagen. Sie
+erwiderte mit der ihr eigenen brennenden und faszinierenden Ruhe: »Wie?
+Du willst dein Leben gegen das seine in die Wagschale werfen? Ein
+Zufall, und er bleibt Sieger, und ich, verlassener als je, bin nicht nur
+auf seine Gnade angewiesen, sondern habe auch noch dich verloren. Bevor
+du mir das antust, schieß’ ich mir selber eine Kugel in den Kopf, das
+sollst du wissen.«
+
+Ihre Beredsamkeit war groß. Es ist von jeher meine Schwäche gewesen, daß
+ich gegen beredsame Naturen schnell unterlag. Ich faßte den Plan einer
+Flucht. »Fliehen wir!« schlug ich ihr vor, »ich bin reich, laß uns übers
+Meer fahren und ein neues Leben anfangen.«
+
+Sie schüttelte den Kopf. »Fliehen heißt, mich in den Augen der Welt für
+schuldig und ungetreu bekennen,« sagte sie. »Heutzutage ist die Welt zu
+klein für solche Wagnisse. Wer kann mich zwingen oder mir es als
+nützlich einreden, daß ich wie ein Dieb in der Nacht ein Haus verlassen
+soll, in dem man mit Füßen auf mich getreten ist, in dem man mich
+bespien und besudelt hat? Nein, Treunitz, das kann ein stolzer Mann
+nicht von mir wollen.«
+
+Da stand ich wie ein Schüler. »Was wollen wir also tun?« fragte ich.
+
+»So geben wir uns doch auf!« rief sie trotzig und wie ermüdet. Ich
+schwieg, muß jedoch sehr blaß geworden sein, denn sie sah mich an, erst
+besorgt, dann nachdenklich, düster und kalt. An jenem Tag verstand ich
+den Blick noch nicht. Der nächste Tag war Allerseelen. Ich war gegen
+Abend gekommen, und Aurora bat mich dringend, zu Tisch zu bleiben. Ich
+konnte es ihr nicht verweigern, obwohl mir vor dem Beisammensein mit dem
+Major graute. Ich hatte dienstlich mit ihm nichts zu schaffen; in der
+Stadt sah ich ihn fast nie, von den Veranstaltungen der Offiziere hielt
+ich mich fern; daß ich dennoch sein Haus betrat, dennoch an seiner Tafel
+speiste, fähig war, ihn zu begrüßen, ihm zuzuhören und zu antworten,
+dies alles müßte mich als einen hinterhältigen und niedrigen Charakter
+denunzieren, wenn es nicht durch die Macht, die Aurora über mich
+ausübte, einigermaßen erklärt würde. Ihre Worte hatten eine solche
+Gewalt über mich, daß in meinem Kopf gar keine Überlegung mehr war, wenn
+sie einmal gesprochen hatte. Da ich sie selber dulden sah, glaubte ich
+es unserer Liebe schuldig zu sein, mich ebenfalls zu beherrschen und
+alles zu versuchen, um ihr Los zu erleichtern. Was für Kämpfe und Leiden
+mich dies kostete, davon will ich nicht reden.
+
+Mit dem Augenblick, wo der Major das Zimmer betrat, pochte mir das Herz
+vor Haß, Ingrimm und Verachtung bis in den Schlund hinauf. Ich gewahrte
+ihn nur wie durch Schleier, jede seiner Bewegungen erregte mir Ekel, bei
+jedem seiner Worte zuckte ich zusammen; meine Stimme klang heiser, und
+wer weiß, wozu es gekommen wäre, wenn ich nicht Auroras Blick wie einen
+geisterhaften Bann beständig auf mir ruhen gefühlt hätte. Mitten in
+einem belanglosen Gespräch unterbrach sich der Major, stocherte mit der
+Gabel im Salat, führte ein Blättchen an die Lippen, indem er daran
+leckte, und warf dann Besteck und Serviette mit einem Fluch auf den
+Tisch. »Kreuzmillionenschwerenot,« schrie er, »wie oft soll ich denn
+noch sagen, daß ich den Salat mit Zitrone und nicht mit Essig angemacht
+will! Was haben denn die gottverdammten Frauenzimmer sonst zu denken?
+Bin ich denn der Niemand im Hause, daß man Schindluder mit mir treibt?
+Wahrhaftig, eine Lammsgeduld gehört dazu.«
+
+In diesem rüden Feldwebelton ging’s noch eine Weile weiter, bis er
+aufsprang, die Tür hinter sich zudonnerte und hinausstürzte.
+
+Ich war vollkommen perplex. Das Blut stieg mir langsam zu Kopf, und ich
+blickte Aurora schweigend an. Sie saß da und lächelte wie eine Frau, die
+es endlich zur Augenscheinlichkeit gebracht hat, was sie sonst nur
+insgeheim erleidet. »Dies ist ein Affront,« murmelte ich, »ich werde ihn
+zur Rechenschaft ziehen.« Aurora lachte. »Zur Rechenschaft ziehen? Einen
+Unzurechnungsfähigen? Was fällt dir ein!« erwiderte sie herrisch.
+»Abrechnen mit einem Vieh!«
+
+Ich zitterte vor innerem Frost an allen Gliedern. Und wie mich nun
+Aurora so anschaute, mit blitzendem Blick, mit geschlossenen Lidern und
+mit einer unbeweglichen Stirn, da war es mir, als ob mein Herz in
+siedendes Wasser getaucht würde, und, Gott möge mir verzeihen, ich fing
+an, jenen Blick zu verstehen, er ging auf in meiner Brust wie das
+Saatkorn in gedüngtem Boden. Es war mir klar, es war ein unabwendbarer
+Beschluß, daß der Major von meiner Hand sterben müsse. Aurora zu retten,
+war mein einziger wütender Drang, ich fühlte meine Liebe zu ihr so
+ungeheuer, daß ich die wenigen Worte, die alles entschieden, trotz des
+Flüsterns mit einer Festigkeit hervorbrachte, als ob dieses
+Fürchterliche eine alltägliche Angelegenheit sei. Aurora, der aus
+weitoffenen Augen die Tränen über das Gesicht liefen, hörte plötzlich
+zu weinen auf, ihre linke Hand bebte mir entgegen, ich ergriff die Hand
+und bedeckte mein Gesicht damit.
+
+Der Major kam nach einer Viertelstunde zurück und bat, anscheinend sehr
+betreten, um Entschuldigung, die ich meinerseits kalt quittierte.
+»Aurora,« rief er gezwungen scherzend, »komm einmal zu mir.« Sie erhob
+sich sogleich und trat eilig vor ihn hin. Diese Bewegung sklavischer
+Unterwürfigkeit und Angst rührte mich tief. Daß sie wahrscheinlich nur
+für mich berechnet war, ahnte ich ja nicht. Wie Napoleon, wenn er einen
+seiner Günstlinge wieder versöhnen wollte, zupfte der Major seine Gattin
+am Ohrläppchen und lachte. Unter irgendeinem Vorwand verabschiedete ich
+mich alsbald.
+
+Ich war jetzt bei ziemlich kaltem Blut, und während der ganzen Nacht
+überlegte ich meinen Plan. Am nächsten Vormittag um elf Uhr traf ich
+Aurora, wie oft bei schönem Wetter, im Stadtpark. Ich vermochte, mit ihr
+davon zu sprechen. Es fiel mir auf, daß sie dabei fortwährend mit
+niedergeschlagenen Augen lächelte. Dies dünkte mich sehr kurios. Ich
+wußte nicht, war es Unglaube, Befriedigung, Gedankenlosigkeit oder
+irgendeine Träumerei. Der Ausdruck ihrer Züge rief eine dunkle
+Erinnerung in mir hervor. Erst viel später entsann ich mich, daß vor
+Jahren, als ich in Basel war, das Bild der Herzogin vom sogenannten
+Basler Totentanz eine lange nicht verwischbare, fast unheimliche Wirkung
+auf mich ausgeübt hatte. Es war genau dieses süß-friedsame Gesicht, in
+dem etwas Wildes und Kindisches war, eine zerstreute und lustige
+Grausamkeit und ein Lächeln, als ob der Tod nur ein Schreckmittel für
+Schwachköpfe sei.
+
+Nun, was half’s; ich war darum nicht weniger verstrickt, der Gedanke
+wurde uns vertraut. Er erweckte kein Schaudern mehr in mir. Er nahm
+Gestalt an, und ich war von ihm besessen. Gleichwohl quälte mich Auroras
+Verhalten. Wenn wir eine Zeitlang ernst über das Vorhaben gesprochen
+hatten, klatschte sie plötzlich in die Hände und lachte, als ob es sich
+um ein Märchen handle, an dem zu sinnen angenehm war, das aber niemals
+in Erfüllung gehen könne. Dergleichen regte mich ungemein auf. Wenn sie
+mir die Perfidien und zahllosen tyrannischen Handlungen ihres Gatten
+klagte, beobachtete sie mit Angst, bisweilen mit einem Gemisch von
+Freude und hungriger Erwartung die geringste meiner Gebärden. Mein
+Geständnis, daß mich ihre Berichte unsinnig folterten, schien sie oft
+beinahe fröhlich zu stimmen, und es bestürzte mich, wenn sie unmittelbar
+nach einem der unheilvollen Gespräche mit dem Vergnügen eines kleinen
+Mädchens einen Hut probieren konnte und sich selber in den Spiegel
+hinein entzückt anlächelte. Ich habe während der ganzen Monate Dezember
+und Januar in keiner Nacht mehr als zwei Stunden Schlaf genossen, und am
+Ende sah ich aus wie ein Schwindsüchtiger.
+
+Dazu die gestohlenen Liebesstunden, in denen meine Leidenschaft nur
+durch versprechungsvolle Küsse Genüge fand. Was Genüge! Ein
+verzweifeltes Aufflackern war es immer wieder, das den Körper ruinierte
+und mir alle Klarheit des Gemüts und Geistes raubte. Aurora gab sich mir
+nicht hin; sie erklärte, das schände sie, sie wolle sich nicht noch mit
+Lug und Trug beladen, sie wolle ihr Gewissen fleckenlos bewahren. Ich
+ehrte diese Gründe, ich konnte nicht wissen, daß es ihr bloß darum zu
+tun war, mein Gefühl ins Maßlose zu steigern. Denn sie, sie hatte ja
+genossen! Sie wollte sich einnisten in der Anbetung eines
+vertrauensseligen Mannes, das verlieh ihr einen Halt, eine letzte Würde
+und weckte vielleicht ihr abgestumpftes Herz zu einer Regung von
+Zärtlichkeit. Das war es, das war das Ganze, und ich Tropf lief in die
+überdeckte Falle und stürzte so tief, daß keine Faser an meinem Leibe
+heil blieb.
+
+Eines Abends um sieben Uhr kam Aurora in meine Wohnung, dicht
+verschleiert. Sie war still und finster, wie ich sie nie gesehen. Sie
+entblößte ihre Brust und zeigte mir einen blutigen Striemen. Ich
+stotterte eine Frage. »Dies ist von ihm«, sagte sie dumpf. Da schlug ich
+besinnungslos mit der Faust um mich und zertrümmerte das Fenster. Mit
+meiner von Glassplittern verwundeten Hand wollte ich sie an mich ziehen,
+aber sie, auf das Blut starrend, wich sehr erschrocken zurück. »Du
+weißt, ich kann kein Blut sehen«, hauchte sie. »Und doch sollst du bald
+Blut sehen«, antwortete ich. »Nein sehen nicht«, versetzte sie abermals
+hauchend. »Ach, wenn das wäre«, fügte sie hinzu und schaute mich glühend
+an, »wenn du das vollbringen könntest, dann könnte ich sterben aus Liebe
+zu dir.«
+
+Daß sie gewagt hatte, zu mir zu kommen, erschütterte mich, da ich in
+dieser Verwegenheit nur eine Handlung des Vertrauens und der Zuneigung
+erblickte. Besorgt um ihren Ruf, holte ich selber einen Wagen; ich
+begleitete sie, und während der Fahrt setzten wir Tag und Stunde der Tat
+fest. Ich sagte »morgen«. Aurora antwortete, morgen sei der große Ball
+im Kasino, da wolle sie noch einmal tanzen. Dieses »noch einmal«
+zerstreute eine unangenehme Verwunderung, die mir der Einwand zunächst
+erregt hatte. Ich sagte also: übermorgen. Sie wünschte auch dieses
+nicht. Sie sagte, am Sonntag sei in Weidenberg Jahrmarkt, ihre Mädchen
+und der Bursche des Majors hätten für den Nachmittag und die Nacht
+Urlaub erbeten, und so könne ich ins Haus kommen ohne Gefahr, einen
+Unberufenen zu wecken. Ich fügte mich, obwohl mir jeder Tag und
+besonders jede Nacht bis dahin zur Ewigkeit werden mußte. An das, was
+nachher kam, dachte ich nicht im geringsten. Vermutlich spürte ich
+schon, daß ich auf eine Zukunft nicht mehr zu rechnen hatte.
+
+Als ich am nächsten Mittag in Gesellschaft des Regimentsadjutanten über
+den Domplatz ging, gewahrten wir einen sehr fetten und auffallend
+elegant gekleideten jungen Menschen, der offenbar fremd in der Stadt
+war. In der Provinz wird der Fremdling, und gar der Großstädter durch
+ein Etwas in Miene und Schritt sofort erkennbar. Ich hatte nur einen
+Blick auf ihn geworfen und fühlte gleich den äußersten Widerwillen gegen
+dies abgelebte, hochmütige und bornierte Gesicht. Der Regimentsadjutant
+zwinkerte mit den Augen und bemerkte spöttisch: »Aha, da ist ja der
+Fabrikant Dotterwachs aus Berlin.«
+
+Mich durchfuhr eine unklare Erinnerung von nicht sympathischer Art, aber
+erst hernach fiel mir ein, daß das vielleicht jene Person sein könne,
+von der mein Freund, der Ingenieur, gesprochen. Als ich am Nachmittag in
+die Westermarksche Villa kam, wurde mir gesagt, die gnädige Frau sei
+nicht zu Hause. In meiner Wohnung angelangt, übergab mir mein Bursche
+einen Brief. Es war ein anonymes Schreiben folgenden Inhalts: »Wenn Sie
+das geheime Absteigequartier der Majorin Westermark kennen lernen
+wollen, so verfügen Sie sich in den dritten Stock des Hauses Nummer 15,
+Schönlandstraße. Eine frühere Kammerjungfer und jetzige Vertraute der
+Majorin ist Kupplerin und Mieterin dortselbst.«
+
+Ich zerriß den Fetzen und heftete nicht zwei Gedanken daran, schon, weil
+mir die Sache zu albern erschien. Leider hatte ich Aurora versprochen,
+auf den Kasinoball zu kommen, wenn auch nur, um sie zu sehen. Ich
+überwand meine Abneigung, die mir in der jetzigen Stimmung derlei
+Festlichkeiten hassenswert machte, schob aber die Stunde möglichst
+hinaus, und so war es bereits recht spät, als ich den Saal betrat.
+Aurora war von einem Kreis junger Leutnants umgeben. Sie war hinreißend
+schön; die Haut von Busen, Hals und Antlitz glänzte wie Silber, darunter
+floß fischhaft das dunkelgrüne Spitzenkleid; sie war heiter, allzu
+heiter; und ich, ich war finster. Ich war einer Ohnmacht nahe, so
+schrecklich empfand ich in diesem Augenblick meine leidenschaftliche
+Liebe. Frau von Rütten, an der ich nicht grußlos vorübergehen konnte,
+saß mit einigen andern Leuten in einer Säulennische. Alle diese Leute
+sahen mich mit seltsamen Blicken an, wenigstens schien es mir so. Ich
+bemerkte darunter auch das siebzehnjährige Kind, mit dem man mich hatte
+verheiraten wollen. Ich glaubte die Augen dieses Mädchens mit einem
+rührenden Gefühl auf mich gerichtet. Ich wandte mich hastig ab und hatte
+gerade noch Zeit, dem Major Westermark aus dem Weg zu gehen, der auf
+mich zukam, lachend und winkend, als ob ich sein bester Freund wäre. Es
+überrieselte mich eiskalt.
+
+Ich stellte mich nun an das untere Ende des Saales und starrte in das
+lichtübergossene Geflimmer der Uniformen und Roben. Die Walzermusik
+stimmte mich traurig, und ich weiß nicht, wie es zuging, aber ich mußte
+beständig an den Mann denken, den ich mittags gesehen, und dessen
+fleischige und gemeine Züge nicht aus meiner Vorstellung schwinden
+wollten. Ich sah ihn essen, ich sah ihn Bier trinken, ich sah ihn
+widerlich lachen und prahlen, und voll Bitterkeit dachte ich mir: das
+ist also der jetzige Deutsche, ein solcher Mann darf den Namen eines
+Deutschen führen; Emporkömmling; dickfelliger, ohrenloser,
+aufgeblasener, herzloser Geselle, dem alles gehört und der nichts
+respektiert; und so sind sie alle, sie haben das Zittern verlernt und
+brauchen wieder einmal die Peitsche des Schicksals. Dabei kannte ich den
+Mann doch gar nicht und verband nur einen Eindruck mit dem Groll über
+eine allgemeine Kalamität, denn ich war in diesen Dingen schon zum
+Schwarzseher geworden und war deshalb auch nicht mehr mit innerer Freude
+Soldat.
+
+Nach dem Kotillon gelang es mir, Aurora für ein kurzes Alleinsein zu
+erobern. In ihrem Wesen war etwas Schmachtendes, das ich nicht lediglich
+der Wirkung des Tanzes zuschreiben mochte. Die Luft zitterte zwischen
+unsern Mündern und unsre Blicke bohrten sich fest ineinander. Trotzdem
+Leute um uns herumstanden, hatte sie die Verwegenheit, mich zu fragen,
+ob es beim Sonntag abend verbleibe, und als ich schweigend und bestürzt
+nickte, lächelte sie mit entblößten Zähnen. Noch lange nachher, als sie
+sich schon von mir entfernt hatte, beobachtete ich, daß ihre Augen
+bisweilen forschend, ja ängstlich auf mir ruhten. Plötzlich ging sie zu
+ihrem Mann, sagte ihm ein paar Worte und verließ den Saal. Der Major,
+der bei Frau von Rütten saß, erhob sich, um ihr zu folgen. Sie kehrte
+noch einmal um, und sie redeten wieder eine Weile miteinander, dann ging
+Aurora. Der Major schien unschlüssig und zeigte ein nachdenkliches
+Gesicht. Da Aurora nicht zurückkam, entschloß ich mich, Frau von Rütten
+zu fragen, ob sie wisse, was geschehen sei. Sie antwortete mir kalt, die
+Majorin habe sich nicht wohl gefühlt und sei nach Hause gefahren; sie
+habe nicht gewünscht, daß der Major sie begleite, weil sie bestimmt
+wiederkommen wollte. Ich wunderte mich und wurde besorgt. Ehe eine
+Viertelstunde verflossen war, hatte ich mich in aller Stille aus dem
+Saal entfernt, nahm außen meinen Mantel und eilte nach der
+Westermarkschen Villa. Daß meine Abwesenheit unter der Ballgesellschaft
+bemerkt und auffällig gefunden werden könne, darüber machte ich mir
+keine Gedanken. Da ich im Souterrain der Villa noch Licht sah, läutete
+ich am Gartentor. Eine Mädchenstimme fragte vom Fenster aus, wer da sei.
+Ich erkundigte mich, ob sich die gnädige Frau noch oben befinde; weil
+der Wagen nicht da war, mußte ich annehmen, daß sie schon zurückgekehrt
+wäre. Das Mädchen erwiderte mir, die gnädige Frau sei auf dem Ball. Sie
+sei aber doch vor kurzem nach Hause gefahren, versetzte ich. Dies wurde
+verneint.
+
+Ich spazierte auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf und ab und
+wartete, bis die Glocke zwölf schlug. Darauf machte ich mich wieder auf
+den Weg und dachte, sie habe am Ende das Kasino gar nicht verlassen. Als
+ich in die Wilhelmstraße einbog, rasselte eine Droschke an mir vorüber
+und blieb etwa zweihundert Schritte weiter stehn, ungefähr in der Mitte
+des Wegs zwischen mir und dem Kasino. Es stieg ein Herr aus, und der
+Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Der Herr kam mir auf demselben
+Trottoir entgegen, und ich erkannte den Fabrikanten aus Berlin. Er trug
+einen Zylinder und rote Handschuhe. Sein fettes Gesicht hatte einen
+angestrengt überlegenden Ausdruck, und seine Lippen waren wie zum
+Pfeifen gespitzt. Niedergeschlagen, ohne recht zu wissen, weshalb,
+wandelte ich noch ziemlich lange Zeit auf den Straßen herum. Als ich
+dann wieder den Ballsaal betrat, erfuhr ich, daß Westermarks schon nach
+Hause gefahren seien. Dies beschwichtigte mich einigermaßen.
+
+Als ich am folgenden Nachmittag zu Aurora kam, fand ich sie lesend. Sie
+hatte unter alten Sachen gekramt und ein Stammbuch aus ihrer Mädchenzeit
+entdeckt. Ich beugte mich über sie und sah, daß ihre Blicke auf einen
+Vers gerichtet waren, der in großväterischen Schriftzügen ein vergilbtes
+Blatt bedeckte. Er lautete:
+
+ Mit einer Blume zu spielen, ist dir erlaubt,
+ und sie zu pflücken.
+ Mit einem Herzen, das du geraubt,
+ sollst du nicht tücken.
+ Vergiß nicht, o Mann, o Weib,
+ Herz, das sich schenkt, ist Gottes Leib.
+
+»Ein hübscher Spruch«, sagte ich. Aurora schaute mich geistesabwesend
+an. Sie ergriff meine Hand und hielt sie fest. Ihre Finger waren heiß.
+Ihr Wesen war so gemsenhaft scheu und so bedrängt, daß ich den
+Augenblick sehnlich herbeiwünschte, wo ich ihr zurufen konnte: du bist
+erlöst. Sie hatte viel Gesichter und jeden Tag zeigte sich mir ein
+neues. Hätte sie nur ein einziges Gesicht besessen, so hätte ich
+vielleicht ergründen können, was in ihr vorging; aber von der
+hinschmelzenden Schwermut bis zur Trunkenheit des Vergnügens alle
+Verwandlungen mitzuerleben, hatte ich kein Talent. Ich hätte lernen
+müssen zu sehen, bevor ich sie liebte.
+
+Endlich brachte ich es über mich, sie zu fragen, wo sie gestern während
+des Balles gewesen sei. Ihr Gesicht verfinsterte sich erschreckend.
+»Bedeutet dies Mißtrauen?« flüsterte sie langsam. Ich schüttelte den
+Kopf. »Hast du denn gar keine Geheimnisse?« fragte sie in derselben
+düstern Weise. »Gar keine«, antwortete ich. »Aber ich,« fuhr sie fort,
+»ich habe Geheimnisse, und auch die sollst du lieben. Bin ich nicht mit
+meinem ganzen Dasein so und soviel tausend Zuschauern offenbar? Wenn ich
+kein Geheimnis hätte, müßte ich sterben. Übrigens magst du wissen,«
+fügte sie hinzu, »daß gegenwärtig ein ehemaliger Freund von mir in der
+Stadt weilt, ein Mensch, dem ich einst viel zu verdanken hatte, der aber
+meine Dankbarkeit jetzt ausbeutet. An Bedrückern hat es mir nie gefehlt.
+Aber von alledem sprechen wir ein andermal.« »Ein andermal?« versetzte
+ich mit stockender Stimme. »Ja, ein andermal«, bekräftigte sie mutig
+oder auch gedankenlos. Sie näherte sich mir, legte ihre Hände auf meine
+Wangen und flüsterte: »Ach, wir werden viel beieinander sein müssen,
+damit ich dir alles, alles sagen kann.« So verstand sie es, mich zu
+beunruhigen und mich sicher zu machen mit ein und derselben Rede.
+
+Als es zu dunkeln begann, gingen wir gegen den Fluß hinaus spazieren. Es
+war dies ein einsamer Weg, wo selten jemand zu sehen war. Da wir uns am
+folgenden Tag nicht sehen wollten, verabredeten wir alle Einzelheiten
+des mörderischen Vorhabens. Aurora gab mir den Schlüssel zur
+Gartenpforte. Der Hund, der während der Nacht im Garten frei war,
+brauchte keine Sorge für mich zu sein, denn das Tier kannte mich, die
+beiden Jagdhunde wurden nachts in den Verschlag neben den Keller
+gesperrt. Den Hausschlüssel könne sie mir nicht geben, sagte Aurora, es
+sei nur ein einziger vorhanden, und den habe ihr Mann. Sie wollte an der
+Rückseite der Villa das Flurfenster offen lassen, dort sollte ich
+einsteigen und mich der Stiefel entledigen, bevor ich ins Schlafzimmer
+des Majors ging, das er unversperrt zu lassen pflegte. Daß sie keinen
+Hausschlüssel besaß, war eine Lüge, davon konnte ich mich selbst
+überzeugen, ehe zweimal vierundzwanzig Stunden vergingen. Den Grund
+dieser Lüge vermag ich allerdings auch jetzt noch nicht einzusehen.
+Vielleicht wollte sie die Vorbereitungen abenteuerlicher machen, oder,
+was wahrscheinlicher ist, sich vor Überraschungen sicherstellen. Dies
+schlug fehl durch meine aufrichtige Entschlossenheit.
+
+Ich gestehe, daß mich schauderte. Aber ich war ja schon verdammt durch
+den Willen. Die Ausübung war nur noch eine mechanische Folge für mich.
+Aurora verwunderte mich dann und wann durch eine Miene des Staunens und
+eine mir unerklärliche, neugierige Spannung. Während des Rückwegs jedoch
+blieb sie bei einer Weide stehn, strich mit ihren Händen den Schnee von
+einem Ast und warf sich plötzlich, erst lachend, dann weinend an meine
+Schulter.
+
+In welcher Verfassung ich den nächsten und den übernächsten Tag
+verbrachte, ist zu beschreiben unmöglich. Wozu sollte ich auch dabei
+verweilen. Erst im Gefängnis habe ich erfahren, daß der Major gerade an
+jenem Sonntag sein Geburtsfest feierte und daß ihn Aurora mit einer
+neuen Jagdflinte, einem neuen Portefeuille und einem Paar von ihr selbst
+gestickter Pantoffeln beschenkte. Gleichfalls habe ich erfahren, daß sie
+ihm, wie das Stubenmädchen aussagte, schon am Morgen die Erlaubnis
+abschmeichelte, den Abend außer Haus verbringen zu dürfen, bei einer
+Freundin, die aus Stettin gekommen sei. Um zwei Uhr nachmittags schickte
+sie den Burschen des Majors mit einem Brief in meine Wohnung. In diesem
+Brief standen nur die Worte: »Aufschieben. Gründe mündlich.« Ich bekam
+aber den Brief nicht mehr in die Hand, und das war ein Unglück. Ich war
+um zwölf Uhr zum letztenmal in meinem Zimmer gewesen, hatte Zivilkleider
+angelegt, den Revolver zu mir gesteckt und war über Land gegangen. Ich
+hatte mir vorgenommen, nicht mehr nach Hause zurückzukehren, denn mir
+graute vor den vier Wänden. Dies war, wie gesagt, ein Unglück.
+
+Die schrecklichste Unruhe trieb mich draußen über Landstraßen, durch
+Wiesen, Äcker und Wälder. Ich war todmüde, als ich spät abends in die
+Stadt zurückkam, aber mein Kopf war klar. Um dreiviertel zwölf stand ich
+vor dem Gartentor der Villa. Im Zimmer des Majors brannte kein Licht
+mehr. Ich wußte, daß er sich täglich um elf Uhr zur Ruhe begab, denn des
+Morgens war er der erste Offizier in der Kaserne. Ich sperrte die
+Gartentür auf, und als ich nach der Rückseite des Hauses ging, folgte
+mir der große Bernhardinerhund mit freundlichem Wedeln seines Schweifes.
+Als ich das bezeichnete Fenster, entgegen der mit Aurora getroffenen
+Verabredung, fest zugeschlossen fand, stutzte ich. Eine Weile war ich
+ratlos. Ich zog aus dem Umstand nicht den vernünftigen Schluß, den ich
+hätte ziehen sollen. Ich beschloß zu tun, was die Diebe und Einbrecher
+tun. Mit der pelzbehandschuhten Hand preßte ich so lange an das Glas,
+bis es sprang. Die Jagdhunde im Verschlag fingen an zu bellen, da sich
+aber sonst nichts regte, entfernte ich mit Bedachtsamkeit die Scherben,
+öffnete den Innenriegel und stieg ein. Ich hatte Gummisohlen an den
+Stiefeln und stieg unter dem fortwährenden Gekläff der Hunde die Treppe
+hinan bis zum Schlafzimmer des Majors, in das ich ohne zu zögern
+eintrat. Es war eine ziemlich stürmische Mondscheinnacht, und obgleich
+der Mond häufig durch Wolken verdeckt wurde, fiel doch durch das
+unverhängte Fenster Licht genug, daß ich den Major sehen konnte. Er
+hatte eine Mütze auf dem Kopf und schnarchte laut. Er erschien mir sehr
+dick. Dicke Menschen waren mir von jeher zuwider, und in diesem
+Augenblick empfand ich nur die rein tierische Abneigung gegen den Mann.
+Als ich neben das Bett trat, gewahrte ich auf dem Nachtkästchen ein
+Buch, und ich konnte im Mondlicht ohne Mühe den Titel auf dem bunten
+Umschlag lesen. Es waren »Lederstrumpfs Erzählungen«. Einfältig und
+lächerlich kam es mir vor, daß ein Soldat in den Jahren des Majors
+solches Zeug zur Abendlektüre wählte; aber diese Betrachtung ließ mich
+nur um so mehr spüren, wie schändlich es sei, einen Mann im Schlafe zu
+töten. Einer derartigen Regung fühlte ich mich nicht gewachsen, ich
+legte meine linke Hand auf die Schulter des Majors, in der rechten hielt
+ich den Revolver. Der Major wachte sofort auf und sah mich stier an.
+»Nehmen Sie einen Revolver,« sagte ich kalt, »wir müssen uns auf der
+Stelle schießen.« Seine Augen rollten furchtsam im Kreis, und es war,
+als verstehe er mich nicht. Ich wiederholte meine Worte. Er fing an zu
+murmeln; ich schnitt ihm die Rede ab und wiederholte meine Worte. Er
+schüttelte sich ein wenig und sprach jetzt deutlich, ich hörte nichts
+und wiederholte abermals meine Worte. Plötzlich sprang er auf, die
+andere Seite des Bettes war ebenfalls wandlos, er taumelte aus dem Bett
+und schrie mit heiserer Stimme um Hilfe.
+
+Da schoß ich. Ich schoß zweimal. Er streckte gleich darauf die Arme in
+die Luft und stürzte zu Boden. Ich näherte mich ihm und sah, daß er tot
+war. Es rann mir eisig durch alle Glieder. Ich verließ das Zimmer und
+ging über den Korridor hinüber zu Auroras Schlafgemach. Sie mußte die
+Schüsse gehört haben. Was jetzt? fuhr es mir durch den Kopf; das
+beständige Geheul der Hunde machte mich rasend. Ich hatte mir das
+Nachher ganz und gar nicht vorgestellt, aber daß ich mich nun
+gemütsruhig entfernte, um zu warten, bis am Morgen die Untat, als von
+einem Unbekannten verübt, entdeckt wurde, das ging nicht an. Ich fühlte,
+daß ich sterben müsse, und es entstand in mir der Wunsch, daß Aurora mit
+mir sterben möge. Wie ward mir aber, als ich Auroras Zimmer leer fand
+und ihr Bett unberührt! Ich schritt der Reihe nach durch alle Zimmer des
+Stockwerks, und die wohlbekannten Möbel und Bilder blickten mich an, wie
+lebendige Dinge. Indes ich wie ein Gespenst dort herumirrte, vernahm ich
+das Rollen eines Wagens auf der Straße. Ich stand gerade wieder auf dem
+Korridor, welcher auf eine Tür zulief, die gegen einen kleinen
+Gassenbalkon oder Vorbau führte. Diese Tür öffnend, trat ich hinaus und
+kam eben recht, als der Wagen vor der Gartenpforte hielt. Durch die
+kahlen Baumzweige hindurch konnte ich sehen, daß Aurora ausstieg. Ich
+erblickte aber noch jemand im Wagen, ein Gesicht erschien am Fenster,
+das ich wohl erkannte. Aurora blickte flüchtig am Haus empor, aber nicht
+dorthin, wo ich stand, sondern gegen die Seite, wo des Majors Zimmer
+war. Darauf beugte sie sich noch einmal in den Wagen, ich sah einen
+roten Handschuh auf ihrem Arm und ich hörte sie flüstern und lachen.
+Gott! ich hatte kaum mehr die Kraft zu stehen, ich spürte, daß mich die
+Blässe überströmte wie Sand. Treunitz! Treunitz! schrie es in mir, du
+hast verspielt.
+
+Aurora war inzwischen ins Haus gegangen, den Schlüssel hatte ich in
+ihrer Hand blinken gesehen, ihre Schuhe schlürften auf den Steinfliesen
+im untern Flur, dann knarrte eine Tür, dann wieder eine. Ich ging in den
+Flur, blieb aber in der Ecke stehen. Aurora kam mit den beiden
+Jagdhunden die Stiege herauf. Sie hielt die Tiere, die sich wie toll
+gebärdeten, fest an der Leine. Wahrscheinlich hatte das unaufhörliche
+Gebell Furcht in ihr erweckt, und sie hatte den Verschlag geöffnet, um
+die Hunde mitzunehmen. Sie gewahrte mich nicht, sie ging in ihr Zimmer.
+Ich hörte, wie sie mit beinahe wilden Lauten die Hunde zu bändigen
+suchte, was ihr jedoch nicht gelang. Ich kehrte unterdes zum Zimmer des
+Majors zurück, blieb aber auf der Schwelle stehen. Jetzt trat Aurora mit
+der Kerze auf den Flur, sie hatte noch den Hut auf, der lange Schleier
+hing zu beiden Seiten herunter wie zwei blaue Fahnen. Die Hunde, der
+Leine entledigt, stürzten an mir vorüber in das Zimmer des Majors. Sie
+blieben an der Leiche stehen und verbellten den toten Mann wie ein im
+Feuer verendetes Stück. Aber auf einmal wurden sie alle beide still und
+winselten nur noch. Aurora schaute mit kaltem Blick in den Raum, dann
+mit demselben kalten Blick auf mich und fragte mit dem seltsamsten
+Gleichmut: »Was hast du denn da gemacht?« Und als ich schwieg, fuhr sie
+mit genau derselben matten und unbewegten Stimme fort: »Er ist wohl
+tot?« Und als ich abermals schwieg, begann sie wieder: »Warum hast du
+denn das getan?«
+
+Im ersten Augenblick glaubte ich den Verstand verloren zu haben. Ich
+konnte kein Wort aus meiner Kehle pressen, meine Zähne rieben sich
+hörbar aufeinander, und ich mußte das unbegreifliche Weib nur immerfort
+anstarren. Sie blickte sich noch einmal um, etwa wie wenn man in einem
+Museum Bilder anschaut, dann pfiff sie den Hunden und ging. Die Hunde
+folgten nicht, sie hörten nicht auf zu winseln. Da entfernte sie sich
+allein. Sie ging in ihr Zimmer. Ich blieb wie versteinert auf meinem
+Platze, die beiden Tiere zu sehen und zu hören, war mir plötzlich das
+hellste Grauen. Ich fing an zu zittern und wußte nicht, woran ich denken
+sollte. Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit verflossen war, möglich eine
+halbe Stunde, möglich eine ganze, als ich mich entschloß, in Auroras
+Zimmer zu gehen. Die Türe war unversperrt. Aurora war im Bett, die
+brennende Kerze stand noch auf dem Nachttisch. Im Zimmer selbst war die
+größte Unordnung, Kleider und Wäschestücke lagen umher, eine kleine
+Reisetasche stand, wie zum Gepacktwerden, offen auf einem Stuhl. Ich
+blieb am untern Bettpfosten stehn und fragte Aurora, ob sie es denn
+nicht gewollt habe. Aus den Kissen heraus antwortete sie: »Laß mich
+jetzt schlafen.« »Um Gotteswillen!« flüsterte ich. Da erhob sie den Kopf
+und fragte kalt, ob ich das Billett nicht erhalten habe. »Was für ein
+Billett?« fragte ich. Sie sah mich unwillig an, lachte plötzlich und
+sagte fast verächtlich und als ob ich ihr völlig fremd sei: »Gehen Sie
+hinaus und lassen Sie mich schlafen. Es schickt sich nicht, daß Sie bei
+meinem Bette sind.« Mit diesen Worten blies sie die Kerze aus, und ich
+hörte sie wieder leise ins Kissen lachen.
+
+Ich begriff es nicht. Ich hätte begriffen, wenn sie zornig, wenn sie
+wütend, wenn sie verzweifelt gewesen wäre, ich hätte alles begriffen,
+aber dies begriff ich nicht. Mir war es, als ob aus einer schönen
+Verkleidung ein Unhold hervorgetreten wäre, ein bestialisches Gebilde,
+ein grinsendes Affenwesen, wie es dermaßen furchtbar die Welt noch nicht
+erblickt. Ich tastete mich hinaus, das Entsetzen lag mir in allen
+Gliedern. Auf dieselbe Weise, wie ich gekommen war, mußte ich auch das
+Haus verlassen. Nachdem ich das Gartentor aufgesperrt und hinter mir
+zugeklappt hatte, warf ich den Schlüssel über den Zaun zurück. Es war
+ein Uhr, als ich nach Hause kam. Auf dem Tisch lag Auroras Brief. Ich
+öffnete ihn nicht. Es war mir alles zum Ekel und alles rätselhaft. Ich
+legte mich erschöpft aufs Bett und schlief bis sieben Uhr. Als mein
+Bursche kam, beauftragte ich ihn, eine Droschke zu holen, und zog
+unterdes die Uniform an. Ich fuhr in die Kaserne und wartete in der
+Kanzlei auf den Obersten. Er erschien erst gegen neun Uhr; er war bleich
+und fragte mich, ob ich schon wisse. Die Ermordung des Majors war
+bereits in der Stadt bekannt. Ich bat ihn um ein Wort unter vier Augen.
+Mein Geständnis machte seinem wohlwollenden und gegen mich stets
+vertraulichen Wesen ein schnelles Ende. Ich mußte den Degen abliefern
+und wurde sogleich inhaftiert. Dies alles war von keinem Belang mehr für
+mich. Ich wurde gefragt, ob ein Zweikampf beabsichtigt gewesen sei. Ich
+verneinte, weiß aber kaum, warum. Ich hätte meine Verteidigung darauf
+bauen können, ich tat es nicht. Ich hätte ja dem Major eine zweite Waffe
+in die Hand drücken können, bevor ich das Haus verließ. Ich tat es
+nicht, weil es mir gleichgültig war. Ich erfuhr von der Verhaftung
+Auroras, von dem Erstaunen und dem Schrecken, den meine Tat überall
+erregte, und auch dieses war mir gleichgültig. Am andern Morgen besuchte
+mich der Oberst, fragte, ob ich vor dem Transport ins Militärgefängnis
+noch etwas zu ordnen hätte, legte ein Terzerol auf den Tisch und stellte
+sich ans Fenster. Ich tat nicht, was er erwartete. Er entfernte sich
+ohne Gruß. Die Kameraden glaubten, daß ich aus Feigheit unterlassen
+habe, ein Ende zu machen, aber dem ist nicht so. Ich habe nichts vom
+Feigling in mir. Ich war bloß regungslos in meinem Innern. Ich war ganz
+wie aus Blei. Ich grübelte beständig ins Finstere hinein. Erst mit dem
+Verlauf vieler Tage kam ich wieder zur Besinnung. Ich fing an, meine
+Beichte dem Papier anzuvertrauen. Ich hinterlasse sie der geringen Zahl
+meiner Freunde. Es ist mir nun klar, daß mich die Menschen für schuldig
+halten und daß ich zu sterben die Pflicht habe. Ich selbst, ich kann
+nicht sagen, ob ich mich schuldig fühle oder nicht. Ich kann es nicht
+sagen. Aurora hat es ja gewollt. Um meiner Mutter willen bitte ich um
+ein anständiges Begräbnis.
+
+Und nun geschehe, was geschehen muß.
+
+
+
+
+Hilperich
+
+
+ Ein Schiffer fährt den dunklen Strom
+ Hinunter ohn Bedacht.
+ Die Lüfte ruhn, das Wasser schweigt,
+ Und mählig wird es Nacht.
+
+
+Kanzlist Johann Querschneider zu Nürnberg, ein seltsamer Kauz, ein
+Hungerleider doch nach Diogenes’ Art, erzählt:
+
+Vierundzwanzig Jahre sind seit meines Vaters Tod verflossen. Ich bin ein
+uneheliches Kind und führe den Namen meiner Mutter. Bis zu meinem
+zweiundzwanzigsten Jahr wußte ich von meinem Vater nichts, nicht einmal
+ob er lebte. Ich hatte mich nicht sonderlich dafür interessiert; Gott
+weiß aus welchem Grund ich stets darüber hinweg dachte. Meine Mutter
+verfuhr in diesem Punkt sehr kategorisch. Wenn ich fragte, so lachte sie
+mir ins Gesicht. Ich zerbrach mir nicht den Kopf, sondern lebte so hin,
+nicht schlechter und nicht besser als andere; Geld hatten wir wenig,
+litten aber keinen Mangel. Meine Mutter bezog irgendwoher eine kleine
+Pension, besorgte Nähereien für einige Bürgersfrauen im Bezirk, und ich
+selbst war beim Amtsgericht als Schreiber angestellt.
+
+Ich lebte also und beschäftigte mich nach meiner Art. Bis zu meinem
+zweiundzwanzigsten Jahr wie gesagt. Da ereignete es sich eines Morgens
+im Frühling, ich ging gerade zum Amt, daß ich im düsteren Korridor
+unseres uralten Gerichtsgebäudes ein junges Mädchen stehen sah, welches
+forschend und unruhig den langen Gang bald hinauf, bald hinunter
+blickte. Ich trat zu ihr hin und fragte unverhohlen nach ihrem Begehren.
+Sie antwortete etwas in italienischer Sprache, und da ich sie nicht
+verstand, schüttelte ich den Kopf und ging langsam meiner Wege. Das ist
+ein teuflisches Frauenzimmer, sagte ich mir, denn ich hatte im Leben
+Schöneres nicht gesehen. Voller Gedanken kam ich in die Amtsstube und
+setzte mich an meinen Tisch. Drei Personen von den Parteien waren schon
+anwesend. Der Diener schrie in den Flur hinaus: »Bianca Spinola!« und
+das schöne Mädchen trat ein.
+
+Die Verhandlung betraf einen schwierigen und absonderlichen Fall. Der
+alte Rat Hilperich (ein Mann, den jedes Kind auf der Straße kannte, und
+dessen abenteuerliche Vergangenheit den Gegenstand vieler Erzählungen
+bildete) war auf den Einfall gekommen, eines seiner unehelichen Kinder,
+ein junges Mädchen aus dem Trentino, an einen Bankbeamten zu
+verheiraten. Alles war schon im besten Zug gewesen, die jungen Leute
+selbst im Einvernehmen, als plötzlich die Mutter des Beamten mit Zeter
+und Mordio erschien: der junge Ehekandidat sei gleichfalls ein Kind
+Hilperichs. Was der alte Herr vorerst gründlich bestritt. So kam die
+Sache vors Gericht und bildete lange Zeit das Gelächter der amtlichen
+Personen und der ganzen Stadt. Mit Neugierde sah ich den alten Mann an,
+der nun vor dem Richter erschienen war. Sicherlich zählte er mehr denn
+siebzig Jahre, obwohl seine blauen Augen strahlend und lebhaft waren.
+Seine hagere und etwas gebogene Gestalt hatte etwas Majestätisches, und
+dieser Eindruck wurde verstärkt durch das Trotzige, Verbissene,
+Verächtliche seines Gesichtes. Wenn unter den zusammengezogenen Brauen
+die Augen verschwanden und die verkniffenen, schmalen Lippen sich hinter
+dem weißen Bart wie hinter dünnem Buschwerk versteckten, mochte man wohl
+Furcht empfinden, und das rote Gesicht, das vom Alter weniger versengt
+schien als von den Leidenschaften, konnte man nicht leicht vergessen.
+Das ist also der alte Hilperich, dachte ich mir und mußte gleichzeitig
+lächeln, weil ich sah, daß die Sonne auf die schwarze Kappe und den
+schwarzen Bart des Richters ein goldenes Emblem gemalt hatte. Das alles
+sehe ich noch deutlich. Auch den hübschen und verschwiegen aussehenden
+jungen Mann, den Bankbeamten; er hatte eine Narbe mitten auf der Stirn.
+Dann seine Mutter, eine sehr dicke Frau, welche fortwährend
+Schokoladestückchen aus der Tasche zog, wodurch aber die Redekraft ihrer
+Zunge keineswegs verringert wurde. Dann das junge Mädchen, aber von
+diesem will ich jetzt nicht reden. Der Richter wiegte den Kopf, fragte
+dies und jenes, und seine Klugheit war bald erschöpft.
+
+Ich weiß nicht mehr, wie ich daheim beim Mittagessen die Sprache auf den
+alten Hilperich brachte. Ich erzählte die ganze Geschichte, die mir sehr
+belustigend erschien. Meine Mutter aber verlor sofort ihr munteres
+Wesen, wurde nachdenklich und entfernte sich vom Tisch. Der Zufall fügte
+es – ich bin alt genug geworden, um das Wort Zufall nicht ohne ein
+Gefühl von Andacht hinzuschreiben – daß ich an demselben Tage der jungen
+Trentinerin wieder begegnete. Wir trafen uns nämlich beim Krämer, wo sie
+für ein Gewürz, das sie kaufen wollte, den deutschen Ausdruck nicht
+wußte. Ich machte nun den Dolmetsch, und zwar auf die komischste Weise
+der Welt, denn ich verstand ja selber nichts von der fremden Sprache.
+Ich schleppte alles herbei, was in dem Laden zu finden war, und stapelte
+es vor der schönen Dame auf, wie man einem fremden Monarchen etwa die
+Reichtümer eines Magazins zeigt. Es gab ein großes Gelächter, und der
+Krämer selbst, der mein guter Bekannter war, fand sich bei dem Spaß am
+besten amüsiert.
+
+Da die junge Bianca, wie ich mit Mühe erfuhr, in der Nähe wohnte,
+begleitete ich sie nach Hause, und es verursachte uns weiterhin großes
+Vergnügen, uns zu verständigen. Unsere Mißverständnisse waren so heiter,
+daß eins das andere übertraf und wir gewiß mehr davon hatten, als von
+einer regelrechten Unterhaltung. Ich sah, daß sie ein Mädchen aus dem
+Volk war, und daß es nicht schwer fiel, sie heiter zu stimmen und ihr zu
+gefallen. Ja, ich gefiel ihr, und meine drollige Zeichensprache, mein
+Murmeln und Kauderwelsch trieben Tränen des Lachens in ihre schönen
+Augen.
+
+Überflüssig, von all den Einzelheiten zu erzählen; nicht lange darauf
+konnte ich Bianca mit meiner Mutter bekanntmachen. Meine Mutter
+erinnerte sich sofort daran, was ich ihr von jener Verhandlung erzählt
+hatte. Sie führte mich beiseite und fragte mich sehr ernst, ob das jene
+Bianca Spinola sei. Mein unbefangenes Ja machte sie noch ernster und
+feierlicher, so daß ich besorgt zu werden anfing. Aber ich wußte nicht,
+was ich daraus machen sollte. Am folgenden Morgen, es war ein Sonntag,
+gebot sie mir, mich sorgfältiger als sonst anzukleiden, denn ich war
+immer ein wenig nachlässig darin. Sie nahm mich also wie einen
+Schuljungen mit sich und führte mich zu einem alten Haus in der
+Pfannenschmiedsgasse. Wir stiegen zwei knarrende Treppen empor, und
+meine Mutter zog die Klingel. An der Art ihrer Gebärde sah ich, daß ihr
+Gemüt heftig bewegt war, und ich fragte sie darum. Aber sie gab mir
+keine Antwort. Mein Erstaunen wuchs, als ich das Porzellanschildchen an
+dem gelben, staubigen Gitter sah, welches den Korridor von der Stiege
+trennte. Hilperich las ich; aber ehe ich meine Mutter von neuem fragen
+konnte, erschien eine Bedienerin. Meine Mutter zog einen Brief aus der
+Tasche und sagte, sie wolle auf Antwort warten. Die Frau führte uns in
+ein großes, leeres Zimmer, welches nichts als einen Spiegel und ein
+paar Stühle enthielt. Vor dem Spiegel stand ein dünner Mann mit einer
+Glatze und richtete sich eine rote Krawatte. Unser Eintreten störte ihn
+nicht im mindesten; ich war erstaunt, denn nie hatte ich ein so
+verhungertes, grämliches und furchtsames Gesicht gesehen.
+
+Die Bedienerin kam alsbald zurück und bat meine Mutter, ihr zu folgen.
+Wieder verging eine Weile, während ich saß und lauerte und mir den Kopf
+zerbrach über das, was vorging. Der dünne Mann stelzte komisch vor mir
+auf und ab, murmelte und schielte mich von der Seite an, so daß ich
+lachen mußte. Endlich öffnete sich die Türe, der alte Rat kam heraus,
+faßte mich schnell ins Auge, schritt auf mich zu, nahm meinen Kopf
+zwischen seine beiden Hände, verkniff seine Lippen streng, nickte und
+küßte mich auf die Stirn. Im Rahmen der Tür stand meine Mutter und sagte
+mit ganz verweintem Gesicht: Johann, das ist dein Vater. Immer
+sonderbarer wurde mir zumut, und das Sonderbarste war mir wohl in diesem
+Augenblick, daß mein Freund mit der roten Krawatte ganz ruhig weiter
+auf- und abstelzte, als ob er daran gar nichts Auffälliges fände oder es
+längst vorausgesehen hätte. Es ist wahr, das Wort Vater machte in diesem
+Augenblick keinen Eindruck auf mich, aber wer will mir das verübeln? Ich
+erinnere mich, daß ich für meine Mutter ein unbestimmtes Mitleid empfand
+und daß ich mich im übrigen weit weg wünschte. Auch war ich erstaunt und
+verlegen und wurde es immer mehr, so daß mir der Schweiß auf die Stirne
+trat.
+
+Ich erinnere mich, daß meine Mutter und der alte Mann einander noch
+lange Zeit gegenübersaßen und über die Vergangenheit plauderten. Der Rat
+Hilperich, den ich nicht einmal in Gedanken Vater zu nennen wagte, blieb
+dabei gelassen, ja sogar ein wenig spöttisch. Es fiel mir auf, daß die
+fernliegendsten und vergessensten Dinge ihm so nahe schienen wie die
+Gegenwart. Er sprach nicht wie ein alter Mann und nicht wie ein junger
+Mann, sondern als ob er ein Gebieter über die Zeit und über die Jahre
+wäre, und als ob es für ihn kein Verschwinden gäbe. Das ist mir freilich
+jetzt viel deutlicher als damals; denn ich habe ja erst durch ihn
+gelernt, was menschlich ist, abzuwägen.
+
+Die Rede kam auch auf mich, auf meinen Beruf und meine Beschäftigung.
+Die Mutter rühmte meine Fähigkeiten; ihre Augen glänzten dabei, als ob
+sie von etwas Großem spräche, und ich mußte lachen. Das schien meinem
+Vater zu gefallen. Er nahm meine Hand, tätschelte sie ein wenig und sah
+mich halb liebevoll an und halb wie einen seltsamen Zwerg. Plötzlich
+aber sprang er auf und kreischte mit einer zerbrochenen, gehässigen
+Stimme: Mittelmann, scheren Sie sich zum Teufel! Und der schweigsame
+Spaziergänger machte sich wie ein armer Hund auf die Beine. Mein Vater
+lachte uns triumphierend an und wandte sich dann unvermittelt zu mir. Er
+habe viele Schreibereien, sagte er, und brauche einen, dem er sein
+ganzes Vertrauen schenken könne. Er glaube, daß ich nicht auf den Kopf
+gefallen sei, denn ich sei ja von seinem Blut. Wenn es mir recht sei,
+möge ich täglich zwei Stunden zu ihm kommen; es wäre nicht umsonst, und
+meine Stelle beim Amt könne ich ja behalten. Ich erklärte mich bereit,
+und meine Mutter fing sogleich vor Freude wieder zu weinen an. So
+entließ er uns.
+
+Am andern Morgen brachte ein Dienstmann ein herrliches Geschenk für
+meine Mutter, eine Stehlampe, deren gläserne Kugel von zwei nackten
+Frauen getragen wurde. Das war ein zarter Beweis für die Gesinnungen
+meines Vaters, und mit Genugtuung trat ich den Weg zu seinem Hause an.
+Ich war so in Nachdenken verloren, daß ich beinahe überfahren worden
+wäre. Beständig sah ich mich an einem Wendepunkt meines Schicksals, das
+sich glänzend vor mir aufrollte.
+
+Ich fand meinen Vater in seinem Wohnzimmer. Er war in Unterhosen,
+betrachtete mich komödiantisch forschend, mit seinem gewohnheitsmäßigen,
+halb grinsenden Lächeln, doch mit ernst blitzenden Augen. Man hatte ihm
+gegenüber das Gefühl, daß man stets scharf beobachtet war, und daß
+nichts seiner Beobachtung entging. Alles an ihm war voll Leben und
+Lebendigkeit trotz seiner schlottrigen, mageren, baufälligen Gestalt.
+Das Zimmer war vernachlässigt und unordentlich. Keine Bilder schmückten
+die Wände. Neben dem Bett hing ein riesenhaftes Löschblatt, vom Gebrauch
+schwarz marmoriert, und auf dem Boden stand ein Schreibedeckel neben
+einem eisernen Tintenfaß, denn mein Vater pflegte im Bett zu schreiben.
+Wäschestücke, Briefe und Schachteln lagen umher; auf einer gelben
+Kommode pendelten zwei Uhren, von denen die eine Mitternacht oder
+Mittag, die andere fünf Uhr wies.
+
+Mein Vater hieß mich sogleich vor dem Schreibtisch Platz nehmen und
+diktierte mir eine ziemlich unverständliche Abhandlung, welche, wenn ich
+mich recht entsinne, Kultur und Mode hieß. Später erfuhr ich, daß er
+dergleichen viel schrieb, und manches, was mir recht überflüssig vorkam.
+Er tat es für Geld. Das war mir im Anfang unerklärlich, denn ich wußte
+nicht nur, daß er ein schönes Privatvermögen besaß, sondern auch, daß er
+das Geld verstreute, als ob es Kleie wäre. Er besah es nicht, sondern
+gab hin, nach allen Seiten. Dabei lebte er selbst in strenger
+Einfachheit, war genügsam wie ein Bauer, stand mit der Sonne auf, im
+Winter und im Sommer. Bald, bald erfuhr ich, wohin das viele Geld
+wanderte. Aber darüber laßt mich vorerst nicht reden. Damals verwirrte
+es meinen Sinn wie vieles andere Neue, und heute noch, in der
+Erinnerung, bewegt es mich sehr. Einmal, während ich bei ihm schrieb –
+es war immer noch über Mode und Kultur, denn das ging von Adams Zeiten
+an – kam ein Brief mit der Post. Mein Vater las ihn, und sein Gesicht
+zeigte dabei Zorn und Haß. Da! herrschte er mich an und warf das
+zusammengefaltete Papier vor mich hin. Ich schlug es auseinander und
+überflog ein Schreiben voller Vorstellungen und Vorwürfe; Religion
+bildete die Quelle der Beredsamkeit, so daß bisweilen der Ton etwas
+Prophetisches und Salbungsvolles hatte. Zum Schluß wurde der verderbte
+Greis flehentlich gebeten, in den Schoß der Kirche zurückzukehren.
+
+Ich hatte von der geschiedenen Ehe meines Vaters munkeln hören. Dieser
+Brief war von seiner Frau. Sie verdummt in den Händen der Pfaffen, sagte
+der Alte bitterböse zu mir; aber zugleich nahm ich einen traurigen
+Ausdruck in seinem Gesicht wahr, der mir naheging. Er schickte mich an
+diesem Tag fort. Als ich am folgenden Tag wiederkam, schenkte er mir
+eine wunderschöne, goldene Uhr – für meine Dienste, wie er sich
+ausdrückte, hieß mich jedoch abermals gehen. Als ich durch den Korridor
+schritt, sah ich ein Mädchen von nicht mehr als fünfzehn Jahren, die
+voll Unbefangenheit in Blick und Miene an mir vorüberging, in die
+Wohnung meines Vaters. Sie war sehr elegant gekleidet, doch hatte man
+gleich den Eindruck, daß dies etwas Selbstverständliches an ihr war. Ich
+schaute ihr neugierig, fast freudig nach, und die Freude an meinem
+Geschenk ließ mich ihre flüchtige Erscheinung doch nicht vergessen.
+
+Als ich nach Hause kam, traf ich zu meinem Erstaunen Bianca Spinola bei
+uns. Sie war auf Geheiß meines Vaters gekommen, wie ich hörte; sie solle
+nur mit uns Umgang suchen, hatte er gesagt. Ich lachte und erwiderte,
+daß es wie in einer türkischen Familie sei, aber im Grunde fand ich
+etwas Wohliges und Geheimnisvolles in der neuen Verwandtschaft von
+fernher. Bianca Spinola sprach schon viel besser deutsch; ihr
+Radebrechen entzückte meine Mutter. Ich selbst fühlte mich gehobener
+durch ihre Gegenwart, doch ohne die frühere Bewegtheit; auch war mein
+Kopf voll von Gedanken. Ich zeigte meine prächtige Uhr, die eitel
+Bewunderung weckte, und wir waren herzhaft vergnügt den ganzen Abend
+über.
+
+Ich weiß nicht mehr recht, ob es der darauffolgende Tag war, an dem ich
+von Mittag bis zum Abend bei meinem Vater Briefe schrieb. Ich erinnere
+mich nur, daß es draußen stürmte und regnete und gewitterte. Mein Vater
+saß an der Seite des Tisches und diktierte. Er schien eine große
+Vermögensordnung im Sinn zu haben, denn in allen Briefen war davon die
+Rede; auch zeigte die ganze Art meines Vaters wohlerwogene Entschlüsse.
+Meines Vaters ... An diesem Tag wurde mein Gehirn aufgeweckt, und ich
+sah mich nur als ein Körnchen unter vielen. Ich sah einen wahren
+Stammvater vor mir, dessen langes Leben, ein Leben, welches er noch
+nicht fühlte, in der Erzeugung von Kindern verflossen war. Freilich
+damals war es mir nur wie ein Schauer; heute verstehe ich. Jeder Brief
+war entweder an einen Sohn oder an eine Tochter oder an eine frühere
+Geliebte gerichtet, die jetzt alterte und arm war, und der er ein
+Scherflein zukommen ließ. Hier gab er Ratschläge und ermunterte, dort
+setzte es eine Strafpredigt; im Norden und im Süden, so schien es, hatte
+seine Jugend die gleichen Erfolge aufzuweisen gehabt, und in der Heimat
+selbst erblühte kräftig der junge Nachwuchs aus seinem Blut. Manchmal
+hatten mir Leute gesagt, daß Fürstinnen und Prinzessinnen von Liebe zu
+ihm geplagt worden seien, ja, daß eine gewisse Herzogin, nun schon bei
+hohen Jahren, oftmals ein Plauderstündchen beim alten Hilperich einhole.
+Das hatte man mir erzählt, und ich leugne nicht, daß ich dazu ein
+ungläubiges Gesicht aufgesetzt hatte. Jetzt wurde mir die Zeit zur
+Lehrerin, und ich verlachte meine eigene Zweifelsucht. Ich erfuhr
+freilich im Lauf der Zeit, daß mein Vater einst eine große Rolle
+gespielt habe. Der Hof und das Volk hätten gleichermaßen Vertrauen in
+ihn gesetzt; jener hätte seinen Kopf, dieses sein Herz zu würdigen
+gewußt, und beide seien auf ihre Rechnung gekommen. Im Revolutionsjahr
+soll er der Regierung wichtige Dienste geleistet haben, und man sagte,
+daß er auf die Neugestaltung unseres Strafgesetzes den größten Einfluß
+ausgeübt hätte. Ich erwähne alles dies mit Ängstlichkeit, denn ich kann
+nicht dafür bürgen. Aber zwei Umstände will ich noch anmerken, die für
+meine Augen ein Licht über meines Vaters Leben verbreiteten. Einmal
+zeigte er mir ein Ölgemälde, das ihn selbst in seinen jungen Jahren
+darstellte. Man konnte nichts Liebenswürdigeres sehen! Um die Stirne
+glitten braune Locken, die Augen blickten freundlich träumend, und das
+griechisch runde Kinn war fest wie ein junger Apfel. Der Maler mochte
+phantasiert haben, aber sicherlich hatte ihm das Entzücken über das
+lebendige Antlitz die Arbeit verschönt. Ich dachte mir damals, so muß
+man aussehen, um der Welt mehr zu sein, als sie uns ist. Oder vielleicht
+denk ich dies heute, denn damals war ich jung.
+
+Das zweite ist dies. Vor etwa zehn Jahren lernte ich einen alten Mann
+kennen, der mir von meinem Vater erzählte, und zwar in einem Ton wie von
+eigenen Heldentaten. Dieser Mann hatte meinen Vater als Fünfzigjährigen
+noch gekannt und behauptete, daß seine Anmut, sein weltmännisches
+Betragen, sein Witz und seine Güte einen eigenen Ruhm genossen hätten.
+Mein Erzähler berichtete tausend Einzelheiten mit einfältigem, aber
+rührendem Eifer. Nicht das jüngste Fräulein habe ihm zu widerstehen
+vermocht, dem Graubart, sagte der Schelm und lachte wie ein gackerndes
+Hühnchen. Schon damals sei die Zahl seiner Kinder zum Gegenstand vieler
+Witze geworden, und als er sich um diese Zeit verheiratete, hatte man in
+der Stadt gesagt, nun sei der Sultan zur Galeere verurteilt. Aber
+Hilperich war weiterhin auch Sultan geblieben, so meinte mein
+humoristischer Mann und fügte hinzu: wer ihn kannte, vermochte durchaus
+nicht an seinen Tod zu glauben. Etwas Starkes, Über den Tod-Starkes sei
+in ihm gewesen.
+
+Die Briefe, die mir mein Vater diktierte, mochten für einen Unvertrauten
+etwas Geheimnisvolles, sogar Wahnsinniges haben. Denn wer sollte denken,
+daß ein und derselbe Mann Söhne, Töchter, Frauen in allen Richtungen der
+Windrose besitze? Mich selbst zwang damals etwas Seltsames zu
+ungeprüfter Hinnahme. Ihr müßtet gesehen haben, wie mein Vater jedem
+einzelnen Brief gegenüber ein besonderer Mann wurde! Bei dem einen wurde
+sein Gesicht hämisch und verdrossen; bei dem andern leuchtete es
+erinnerungsvoll; jetzt war er karg und spröde, später von zärtlicher
+Geschwätzigkeit; hier verurteilte ihn ein kluger Ratschlag zu langem
+Nachdenken, dort war er zornig wie eine alte Katze, schlug vor Zorn auf
+den Tisch, fletschte die Zähne, und ich, ich wußte keinen Grund, sah
+ein Stück Vergangenheit wie in den Scherben eines Spiegels. Aber
+zugleich muteten mich all die Gesichter vertraut an, denen ich mich
+schreiberhaft zugewandt hatte. Ich trug etwas nach Hause, was ich vordem
+nicht besessen hatte; wer kann dafür Worte finden? Kummer und Freude sah
+ich fließen in der weiten Gasse der Zeit. Mein Vater, ein fleißiger
+Angler, angelte sein Teil heraus. Was er nach Haus trug, war sein, wie
+meins, was ich.
+
+Jetzt muß ich aber etwas Neues erzählen, denn viel Verwirrendes drängt
+sich vor mir. Damit ich jedoch nicht vergesse, will ich erwähnen, daß
+ich an jenem Abend vor meines Vaters Haus den Mittelmann traf (den
+dünnen Mann mit der roten Krawatte) der mir eine Viertelstunde lang
+Unsinn vorschwatzte. Er tat so, als sei er wohl Hilperichs Kind, doch
+enthalte man ihm dies Recht vor. Darüber schwatzte der Arme wie ein
+Besessener; später erzählte mir mein Vater, daß dies Mittelmanns fixe
+Idee sei, mit der er seit Jahren durch alle Kneipen hausieren gehe. Oder
+glaubst du, daß einer, den ich gemacht, so aussieht? fuhr mich mein
+Vater grob an, stieß mich mit dem Zeigefinger vor die Stirn, lachte aber
+sogleich in seiner keuchenden Weise.
+
+Es war an einem Oktoberabend, kaum eine Woche nach jenem Brieftag, und
+ich hatte meine Arbeit eben beendigt, da kam jenes junge Mädchen zur Tür
+herein, welches mir damals an der Treppe begegnet war. Mit allen Zeichen
+der Bestürzung und Eile ging sie auf meinen Vater zu und flüsterte
+etwas. Der alte Mann warf den Kopf zurück und blickte mit einem
+drohenden Ausdruck ins Leere. Darauf schielte er mich boshaft und
+finster von der Seite an und befahl mir durch eine Gebärde, zu gehen.
+Bevor ich aber noch meinen Hut ergriffen, hatte mein Vater eine der
+Türen geöffnet, die aus seinem verwahrlosten Schlafgemach in ein mir
+bisher unbekanntes Zimmer führte. Dorthin sah ich nun die beiden gehen,
+und mein Blick erhaschte zugleich gierig den fremden Raum, den mein
+Vater nie betreten hatte, während ich zugegen war. Ich gewahrte nun ein
+kleines Boudoir, das meinen unverwöhnten Augen einen fürstlichen Prunk
+zeigte. Aber es schien mir zugleich wohnlich und warm drinnen, und als
+ich auf der Straße war, empfand ich eine Begierde nach diesem Gemach wie
+nach einem verbotenen, verzauberten Garten.
+
+Die kurze Szene, kaum der Rede wert für einen Unbeteiligten, hatte
+trotzdem tiefen Eindruck auf mich gemacht. Zu Hause fand ich Bianca
+Spinola, welche zum Essen blieb und den ganzen Abend bei uns verbrachte;
+meine Mutter war bei trefflicher Laune; ich blieb schweigsam und
+nachdenklich. Ich mußte fortwährend an das junge Fräulein denken, und
+das nicht vielleicht mit den Gedanken von Mann zu Weib. Es war so, daß
+sie vor meinem inneren Auge nicht entwich und ich mich quälte, zu
+ergründen, was mir an ihr, seltsam genug, ein für alle mal unergründlich
+schien. Noch jetzt, wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihren
+graziösen, müden Gang. (Sie ging, als ob sie wüßte: so wie ich muß man
+gehen, aber wer wird darauf achten?) Ihre Verachtung der Welt schien
+groß, aber kindlich. Sie hatte etwas Bemitleidenswertes und zugleich
+Damenhaftes, etwas Wiegendes und Achtloses. Ihre Augen, voll Trauer und
+Ironie, zeigten zwei reine Augensterne wie schöne braune Perlen in
+gefrorener Milch.
+
+So schwebt sie mir vor, und was ich weiterhin erfuhr, erhorchte und
+herausspionierte, will ich hier gleich sagen. Nicht nur als neugieriger
+Tor wollte ich wissen, sondern was meinen Vater anging, ich nahm es
+immer stärker wahr, betraf mich tief. Um seiner würdig zu werden, hatte
+ich mich in den letzten Monaten mit einem bunten Studieren abgegeben.
+Auf eigne Faust lernte ich fremde Sprachen, trieb allerlei Wissenschaft,
+ohne Plan und Kraft, aber mit mehr Erfolg, als man bei einem Menschen
+wie mir vermuten sollte. Doch die größte Ausdauer zeigte ich bei der
+Erforschung des Verhältnisses zwischen meinem Vater und Henriette, eben
+jenem Mädchen, das ich bei ihm und vorher schon im Korridor gesehen
+hatte. Den leisen Andeutungen entnahm ich Wissenswertes; Ohr und Auge
+waren geschärft und einmal, gleichsam als Belohnung kam es zwischen mir
+und meinem Vater zu einer wirklichen Plauderstunde. Er hatte Zutrauen zu
+mir gefaßt; das wußte ich, oder ich weiß es jetzt; denn damals gab ich
+mir nicht Rechenschaft über die Dinge, sondern nahm sie nur mit Glut in
+mich auf.
+
+Eine flüchtige Leidenschaft hatte die Ehe meines Vaters geknüpft. Den
+damals schon Sechsundfünfzigjährigen hatte eine kühle und elegante Dame
+rasch entflammt. Doch bald bröckelte aller Schmuck von jener Frau ab wie
+von einer schlecht getünchten Wand. Sie war zäh in ihrem Dünkel und
+besaß eine unverwüstliche Einfalt. Ein bösartiges Schaf und doch wollte
+sie herrschen, sagte mein Vater unverhohlen von ihr. Er selbst war für
+die Ehe wie Feuer für Stroh; nach drei Jahren führten die
+Unverträglichkeiten zum Bruch, und die Frau ergab sich den Pfaffen. Mein
+Vater führte sein Leben weiter, ungestümer noch, als ob ihn der Ehekampf
+erregt hätte, aber eines war, das ihn sogar der Frau verpflichtete:
+Henriette. Er liebte diese Tochter mit der ganzen unbeschreiblichen
+Gewalt seines Temperamentes, und wenn ich es recht bedenke, war es etwa
+so, daß man sein Gefühl für Henriette und das für seine übrigen Kinder
+in die zwei Schalen einer Wage legen konnte, und jenes einzige wäre
+schwerer gewesen als die andern alle. Auch mich liebte der Alte, auch
+den blonden Ingenieur, den ich kannte, auch die drei Töchter aus Prag,
+wie er sie hieß, auch den überseeischen Kapitän oder den hübschen
+lebhaften Studenten, der einer Frühlingsliebe am Meer entstammte, aber
+wir alle waren gegen Henriette wie blasse Sterne gegen den Mond. Wie
+wunderlich, daß aus der einzigen Verbindung, die sich in Alltäglichkeit
+und Haß verlor, sein Liebstes kam.
+
+Da er ihre Erziehung nur bis zum dritten Lebensjahr überwachen konnte
+und das Kind der Frau verbleiben mußte, hatte in der ersten
+Trennungszeit seine väterliche Sorge alle andern Interessen vertilgt. Er
+konnte nicht täglich das Haus einer Verabscheuten betreten, welche
+ihrerseits das nicht sehr geliebte Kind dem Wüstling, wie sie seinen
+Vater nannte, entfremden wollte. Der Vater bestach die Dienstboten, ja
+er wußte es durchzusetzen, daß eine ihm ergebene Person das Mädchen
+völlig in ihre Obhut bekam. Diese würdige Frau Jakobea führte Tag für
+Tag Henriette in die Wohnung ihres Vaters.
+
+Tag für Tag also, seit zwölf Jahren, hatte mein Vater eine paradiesische
+Stunde in dem kleinen Gemach, das nur für ihn und Henriette war, und
+welches gemütlich und heimlich auszustatten er nicht müde wurde. Kein
+Kunstgegenstand war ihm zu teuer, um dieses oder jenes Eck zu schmücken,
+und mit Geschmack und Phantasie begabt, gestaltete er diesen Raum zu
+einem Werk gleich einem Künstler, der aus Sehnsucht nach Vollkommenheit
+seine letzte Arbeit bis ans Grab schleppt. In den Kinderjahren
+Henriettes spielte der alte Mann mit ihr und vergaß Zeit, Arbeit und
+Vergnügen darüber. Das frühkluge Mädchen fand selbst dem Spiel gegenüber
+eine Überlegenheit, welche komisch und reizvoll wirkte. Wenn auch nichts
+Starkes in ihr war, so doch etwas Sanftes, im Sanften Tüchtiges (da sie
+doch wußte, wie angenehm es war, sanft zu sein). Indem sie das Spiel
+beiseite schob, spielte sie, aber schon frühe wußte sie aus Klugheit für
+Ernstes ernst zu bleiben. Ihr Vater wollte sie aus den Reihen des
+Geschlechts erheben, wollte sie gleichsam mit Weisheit und Voraussicht
+kränzen, eben mehr zu Schmuck als zu Nutzen. Er selbst, in allen Künsten
+der Verführung Meister, wollte sie vielleicht auch gegen einen jüngeren
+Hilperich schützen. Ich erfuhr späterhin, daß er schon in ihrem zehnten
+Jahr den Storch aus ihrer Phantasie vertrieb, daß er ihr langsam, mit
+Nachdruck und Würde das Menschlichste nahe brachte. Nichts Verschleiertes
+also gab es mehr; er gedachte sie zu ehren durch Vertrauen und zu
+beruhigen durch Wissen. Schon mit dreizehn Jahren kam Henriette allein,
+und schwer ist es zu sagen, was _sie_ im tiefen Grund des Herzens zum
+Vater trieb. Er saß stets lange vor ihrem Kommen im Henriettenzimmer und
+wartete wie auf eine Geliebte. Sie kam, erregt durch die Heimlichkeit
+ihres Besuches (ach, das hatte mein Vater nicht ermessen!), lächelte,
+plauderte, fragte und urteilte, war plötzlich müde und verstimmt,
+kopfhängerisch und von entzückendem Pessimismus. So wuchs sie heran und
+teilte sich zwischen dem Haus des Vaters und der Mutter. Ihr ganzes
+Wesen wurde so entzwei geschnitten.
+
+Das Ende des Jahres nahte heran. Zu Weihnachten schenkte mir mein Vater
+einen wundervollen spanischen Mantel, den er einst in Sevilla gekauft.
+Er war mit roter Seide gefüttert und aus dem kostbarsten schwarzen Tuch
+gefertigt, das ich je gesehen; wenn man ihn auf die Erde breitete, war
+er so groß wie ein Zeltdach. Als ich mit diesem Geschenk freudestrahlend
+durch das Vorzimmer ging, stürzte Mittelmann auf mich los, der noch
+immer irgendwo da herumlungerte. Mit kreideweißem Gesicht stellte er
+atemlose Fragen an mich, ob er etwas geschenkt bekomme, was es sei und
+wie es aussehe. Ich war sehr unfreundlich gegen ihn, aber ich hätte es
+vielleicht nicht sein sollen. Der arme Mensch war immer hungrig und
+machte der alten Bedienerin den Hof, um ein paar Bissen zu ergattern.
+Dabei ging er mit seinen Sohnesansprüchen an Hilperich umher wie mit
+einem sicheren Kapital, und was ihn in seinem Glauben so befestigte, war
+nur das Gewäsch eines Anverwandten, der einst im Hilperichschen Hause
+Aufwärter gewesen war.
+
+Mein Vater ging in diesen Tagen mit einer festlichen geheimnisvollen
+Miene herum. Er diktierte mir einen Aufsatz, der den merkwürdigen Titel
+führte: »Die Erziehung zur Liebe«, und von dem ich nicht das mindeste
+verstand. Zwei Tage vor Neujahr wurden wir fertig. Es war schon dunkel,
+mein Vater stand lange Zeit am Fenster und blickte auf die schneeblaue
+Straße. Plötzlich wandte er sich heftig um und fragte scharf: Na, willst
+du kommen? Ich wußte nicht, was er meinte, und blieb still. Er stampfte
+zornig auf den Boden, lachte verächtlich, doch bald wurde er sanft und
+streichelte mir die Wangen. Ich hatte dabei meist ein schüchternes, fast
+furchtsames Gefühl; denn wenn er liebevoll tat, war er oft gefährlich.
+Doch erklärte er mir kichernd, daß es am Sylvesterabend »etwas gäbe«,
+und damit mußte ich zufrieden sein.
+
+Am folgenden Abend zog ich meine besten Kleider an und war voll
+Erwartung. Jedenfalls ist Henriette da, dachte ich mir; denn ich wußte,
+daß ihre Mutter sich seit Wochen in einem Kloster aufhielt und das junge
+Mädchen die ohnehin gewohnte Freiheit so in noch höherem Maße genoß. Ich
+sah in Henriette durchaus keine Schwester, eher eine ganz Fremde, aber
+liebe Fremde.
+
+Als ich hinkam, war Henriette schon da, auch eine alte, vornehme Dame
+mit glatten, silberweißen Haaren, die in einem Lehnstuhl saß und mich
+spöttisch anlächelte. Mein Vater schalt mich, weil ich zu spät gekommen.
+Ich schämte mich, denn ich hatte es für sehr vornehm gehalten. Stolz und
+vornehm war ich mit meinem spanischen Mantel durch die Straßen
+geschritten.
+
+Wir saßen im Henriettenzimmer, und ich wagte mich kaum zu bewegen, so
+sehr gefiel mir alles, was ich erblickte. Herrliche Teller und Gläser
+schmückten den weißen Tisch; von der Decke hing ein zwölfarmiger
+Leuchter herab, ganz von Gold, wenigstens schien es mir so. Die Fenster
+waren mit dunkelblauem Stoff verhängt, und an den Wänden hingen die
+schönsten Bilder. Henriette trug ein einfaches, blaues Kleid, und ihr
+Gesicht hatte etwas Geplagtes. Sie sprach wenig, aber immer sehr betont
+und aufmerksam, und die alte Dame, deren schwarzseidenes Kleid beständig
+knisterte, weil sie so belebt war, schien voller Liebe gegen sie. Ich
+glaube, daß sie eine sehr vornehme Person war; weder damals noch später
+erfuhr ich ihren Namen. Aber was sie auch sein mochte, ihr gewinnendes
+Wesen ließ mir jedes heimliche Forschen frevelhaft erscheinen. Sie duzte
+meinen Vater, wie er sie, und eine lange Vertraulichkeit, viel
+Zusammenerleben mußten es sein, die einen so herzlichen Ton geschaffen
+hatten, wie er unter ihnen bestand.
+
+Während des Essens erhob sich mein Vater zu einem Trinkspruch. Ich
+erinnere mich heute nicht mehr an seine Worte. Damals schien es mir
+hinreißend, ihn so zu hören, und mein Blick, der auf ihn gerichtet war,
+zitterte förmlich. Er sprach zu uns von seinem Leben, von dem was
+untergeht und was bleibt, Erinnerungen, die wie Schiffe am Horizont
+vorbeizogen, – und eines ist mir unvergeßlich. Er sagte: Wenn ich einmal
+alt sein werde ... Er war im Oktober dreiundsiebzig geworden. Er dachte
+so wenig an den Tod wie ein Knabe.
+
+Als er geendet hatte, stand Henriette auf, beugte sich zu ihm und küßte
+ihn auf die Nasenspitze. Das war ihre Art etwas Scherzhaftes mußte dabei
+sein. Die alte Dame klatschte in die Hände. Mit einem kindlichen, fast
+mädchenhaften Lachen ergriff sie das Glas und sagte, indem ihre Augen
+tief und warm strahlten: Mein unsterblicher Hilperich soll leben. Wer
+sie und Henriette zusammen sah, den mochten wohl sonderbare Gedanken
+über Jugend und Alter gefangen nehmen.
+
+Mein Vater wurde immer aufgeräumter. Er stieß mich in die Seite, drohte
+mir mit Prügeln, wenn ich fortführe, so schweigsam zu sein. Henriette
+antwortete etwas zu meiner Entschuldigung, was mir sehr verständig
+vorkam. Überhaupt fand ich ihren Verstand immer bewundernswerter. Über
+alles ringsumher schien sie sich spielerisch klar zu werden. Dennoch sah
+ich Unruhe in ihren Augen.
+
+Wie lang ist es eigentlich her, daß wir uns schon kennen? fragte die
+alte Dame in träumerischer Erinnerung.
+
+Mein Vater wiegte den Kopf. Lange, lange, erwiderte er und tat einen
+tiefen Schluck aus dem Glase.
+
+Ich glaube, es war an dem Tage, da Goethe starb, fuhr sie fort und
+lächelte. Mich durchzuckte es wunderbar, und ihr Seufzen kam mir
+lieblich vor, womit sie weiterredete, (indem sie einen Blick auf
+Henriette heftete): So blühen die Jungen auf und werden den Alten teuer.
+Was wirst du tun, wenn Henriette heiratet? fragte sie und blinzelte
+dabei schalkhaft.
+
+Sie heiratet nicht, entgegnete der Greis kurz. Oder nicht sobald, fügte
+er hinzu, indem er das Ohr bis auf die Schulter senkte; heiraten ist ein
+Unfug.
+
+Gut. Sie ist ja auch noch jung. Aber schließlich, Weib ist Weib. Nicht
+wahr? Die alte Dame zeigte ihre weißen Zähne und ließ den Blick naiv
+fragend von einem zum andern gehen. Dann lachte sie und fuhr heiter
+fort: Alle schreien wir: nie, und auf einmal sagen wir ganz leise Ja.
+Gut, Heirat hin oder her, aber – ihr Blick wurde plötzlich versonnen –
+nimm an, man verführt sie dir. Wie? Nun ja, das ist schon dagewesen. Du,
+der Freidenkende, was wirst du tun?
+
+Henriette lachte mit gesenkten Augen kurz vor sich hin. Mein Vater kniff
+die Lippen zusammen und erwiderte mit einem unbestimmt jovialen Ausdruck
+und mit weinglänzenden Augen: Das ist plausibel; ich sag ihr: Gehe hin,
+was du verdienst ist dein Gewinn. Nachdem er dies gesagt hatte, stand er
+so heftig auf, daß der Stuhl hinter ihm zur Erde fiel, schlug mit der
+Faust auf den Tisch und brüllte oder kreischte: Ich würde sie zum
+Fenster hinunter werfen.
+
+Henriette erhob sich, gänzlich blaß, ging zum Kamin und hielt wie
+frierend die Hände dagegen. Mein Vater folgte ihr, klopfte mit der
+flachen Hand auf ihren Rücken, lachte, setzte sich und nahm sie auf sein
+Knie. Sie hielt aber die Augen geschlossen.
+
+Da die Glocken zu läuten anfingen, erhob sich auch die alte Dame vom
+Tisch, öffnete ein Fenster, so daß man nun die Glockenschläge dröhnend
+und deutlich von allen Seiten vernahm. Der kalte Winter dampfte herein,
+und Leute schrien auf der Gasse. Die alte Dame blickte andächtig gegen
+den Himmel, und ich blieb sitzen wie ein Vergessener.
+
+Noch im Traum in der Nacht sah ich die wohlwollende alte Dame, die
+vielleicht gegen keinen Menschen Böses hegte; meinen Vater, von
+Lebenskraft und -Größe erfüllt wie einen Gott des Altertums; Henriette,
+unentschieden, graziös und fatalistisch kühl. Es war mir einen
+Augenblick im Traum, sonderbar, als übe sie nur Nachsicht mit meinem
+Vater, ihrem Vater, beuge sich dennoch gütig unter seiner Liebe.
+
+Den Neujahrstag verbrachte ich mit der Mutter, und als ich am nächsten
+Tag zu meinem Vater kam, fand ich ihn unruhig und finster. Er begrüßte
+mich kaum, sagte, es sei nichts los heute. Ohne Arges zu denken, ging
+ich wieder. Am nächsten Tag erklärte mir die Bedienerin, der Herr Rat
+sei nach Z. gegangen. Mich erstaunte das; er konnte dort nur das Kloster
+besuchen, in welchem seine Frau war. Vor dem Hause lungerte Mittelmann
+herum. Ohne weiteres erklärte er mir in seiner singenden, hastigen
+Redeweise, daß Henriette verschwunden sei. Der einzelnen Ausdrücke
+erinnere ich mich nicht mehr, die das dünne Männlein gebrauchte, aber
+mir wurde der Kopf heiß.
+
+Den Tag darauf war ich nicht wenig überrascht, meinen Vater und
+Mittelmann miteinander Schach spielen zu sehen. Ich wagte nicht zu
+reden, nicht zu fragen, setzte mich und sah zu. Das Gesicht meines
+Vaters war verändert wie ein laubreicher Baum nach einer Orkannacht.
+Aber mit ruhiger Hand schob er die Figuren, ohne den Blick vom Brett zu
+erheben. Seine weißen Wimpern schienen schwer. Er verlor die Partie;
+Mittelmann grinste entzückt, als ihm mein Vater verächtlich einen Gulden
+hinwarf, und ohne von meiner Anwesenheit Notiz zu nehmen, begannen sie
+eine neue Partie. Plötzlich aber stieß mein Vater das Tischchen mit dem
+Fuße um, und von dem Getöse erschreckt, flüchtete Mittelmann in eine
+Ecke. Mit schweren Schritten ging mein Vater auf und ab, dann ergriff er
+nacheinander die Stehuhr, die Lampe, eine Wasserkaraffe, den
+Handspiegel und seine Waschschüssel und warf sie mit voller Wucht gegen
+die Dielen. Sein Gesicht war blau, die Adern an der Stirn und an den
+Händen wie Stricke geschwollen; so ging er auf mich Zitternden zu,
+packte mich beim Kragen, schüttelte mich mit riesiger Kraft wie eine
+Puppe und schrie hohl krächzend: Wo ist sie? Wer hat sie verführt? Wo
+ist sie? Schaff sie mir her, Lumpenhund! Dann ließ er ab von mir,
+öffnete das Fenster, wie um Luft zu schöpfen, und stieß einen langen,
+tiefen Seufzer aus, der wie das Geheul eines Hundes klang. Die
+Bedienerin war aus der Küche gekommen und betrachtete schweigend und
+erschrocken das Bild der Verwüstung.
+
+Wie ich heim kam, wie ich die Nacht verbrachte, was in meinen Gedanken
+vorging, das weiß ich nicht mehr. Ich säumte nicht, am folgenden Tag
+wieder zu meinem Vater zu gehen; wie gestern fand ich ihn mit Mittelmann
+Schach spielend. Wie gestern beachtete er mich nicht, und ich sah
+geduldig zu. Der Abend kam, und es geschah nichts. Fast wäre ich froh
+gewesen um einen Ausbruch seines Zorns. Aber er saß still und in sich
+gekehrt. Alle Tage ging ich hin, wartete, trauerte. Immer fand ich ihn
+mit Mittelmann beim Schach und hie und da beim Domino. Zu arbeiten gab
+es nichts für mich; ich haßte und verwünschte das Schachspiel und das
+andere Spiel, verwünschte Mittelmann in meinem Herzen. Was mein Vater
+auch sagen mochte, Mittelmann wiederholte es wie ein lästiges Echo, auch
+wenn es eine Beschimpfung war, die ihm selbst galt. Seine Körperhaltung
+zeigte die tiefste Unterwürfigkeit, aber zugleich die Unruhe eines
+Kobolds. Wenn eine Partie für ihn schlecht stand, hüpfte er auf seinem
+Sitz, wiegte sich aufgeregt hin und her, steckte die dünnen Fingerchen
+in den Mund, murmelte sinnlose Worte, fuhr förmlich wehklagend mit der
+Hand über die Stirn, und wenn er keine Rettung mehr sah, zeigte sein
+Gesicht einen Ausdruck geisterhafter Frechheit. Dies schien meinem Vater
+zu behagen und ihn zu erwärmen.
+
+Die Ungeduld, zu wissen, verzehrte mich. Ich dachte mich an Mittelmann
+zu halten, der doch beständig um meinen Vater war. Ich hatte erfahren,
+daß er ein Zeitungsreporter war, und glaubte, einen guten Spion an ihm
+zu haben. Ich nahm ihn mit in ein Wirtshaus und ließ ihm Speisen, Wein
+und Bier vorsetzen. Zwei Stunden hindurch aß er, ohne daß in seinem
+Munde Raum für ein überflüssiges Wort verblieb. Mich erbarmte seiner,
+wie er mit vollen Backen stammelte oder glückselig auf die heißen
+Kartoffeln blies. Ich ließ es also dabei bewendet sein und begriff, daß
+Mittelmann meinem Vater nichts anderes war, denn ein Haustier, ein
+folgsamer Hund, der sprechende Hund. Er brauchte ihn nur, um für sein
+düsteres Schweigen ein Ohr zu haben.
+
+Henriette war fort; sie hatte sich einem an den Hals geworfen, und war
+Gott weiß wohin gegangen, ohne Wort noch Zeichen. Mehr wußte ich nicht
+und konnte nichts sonst erfahren. Für meinen Vater war ich wie Luft.
+Warum, das weiß ich selber nicht. Oft stieg es mir bitter auf: hat er
+ihr das Blut vererbt, so vielleicht auch die Tat; aber es zu sagen,
+hütete ich mich wohl.
+
+An einem wunderschönen, sonnigen Nachmittag kam ich hin und fand Bianca
+Spinola in seiner Schlafstube. Das Henriettenzimmer war zugeschlossen,
+war seit dem Neujahrstag nicht mehr betreten worden. Ja, sogar die
+leeren Teller und Flaschen standen noch auf dem Tisch, wie mir Bianca
+später erzählte. Die Bedienerin war am Feiertag über Land gefahren, und
+schon am Abend war das Unheil geahnt und mein Vater hatte die Türen
+versperrt.
+
+Bianca war also da. Mein Vater lag auf seinem mageren Bett, und sie saß
+am Fußende und hielt ein Buch in den Händen, aus welchem sie Verse ihrer
+Heimatsprache vorlas. Mein Vater sah mich fremd und unwillig an, schloß
+aber gleich wieder die Augen, um weiter zu lauschen. Nie habe ich ein
+schöneres Bild gesehen; das schlanke heitere Mädchen mit den
+tintenschwarzen Haaren und den regungslos hingestreckten Greis und die
+helle Februarsonne im Zimmer und dazu wie Musik die italienischen Worte.
+Ich entfernte mich auf Zehen. In dem kühlen Vorzimmer schlief auf einem
+Stuhl fahl und zusammengesunken der wunderliche Mittelmann.
+
+Am Abend erzählte mir Bianca etwas Schreckliches. Ihrem welschen Gerede
+entnahm ich nur, daß mein Vater jetzt herumging und sich vor dem Sterben
+fürchtete. Er! Sie habe ihn beobachtet, sagte Bianca, auch habe er
+gesprochen. Die Phantasie des jungen Mädchens war wie durch Gespenster
+erschüttert. Ich glaubte ihr nicht. Meine Mutter lachte sogar darüber.
+
+Mit bangem Sinn trat ich das nächste Mal den mir so vertrauten Weg in
+die alte Gasse an. Mein Vater war allein. Er saß am Fenster und starrte
+vor sich hin. Mit schüchternen Worten suchte ich ihn zu einem
+Spaziergang zu bewegen. Er verzog die Lippen verächtlich und erwiderte
+nichts. Ich begriff meinen Vater, begriff seine Einsamkeit. Als es
+dunkelte, wollte ich gehen; jedoch er hielt mich zurück mit einem
+Gebaren, das ich noch nicht an ihm bemerkt hatte. Er wurde sanft, seine
+Stimme klang weich und wie zerbrochen; er bat mich, die Lampe
+anzuzünden, und als dies geschehen war, wurde er sichtlich ruhiger. Er
+sagte, er wollte nicht mehr diktieren, ihm sei das zu mühsam, er wollte
+sich überhaupt um all die Geschichten nicht mehr kümmern. Zum erstenmal
+wagte ich es, von Henriette zu sprechen. Er sah mich groß an und
+schüttelte den Kopf. Das Frauenzimmer hat jetzt mehr Pläsier von der
+Welt als von mir, sagte er und kicherte zynisch vor sich hin. Ich wußte
+keine Antwort, verbarg meine Überraschung. Wieder wollte ich aufbrechen,
+denn ich fürchtete ihn zu stören. Er nahm meine Hand zwischen seine
+beiden, hielt sie fest und sagte, ich sollte warten, bis er im Bette
+sei. Dann nahm er eine Kerze, öffnete die Tür zu dem großen Zimmer,
+leuchtete hinein, ging mit schlürfenden Schritten dem Licht förmlich
+nach, spähte in alle Ecken, spähte auch in den Flur hinaus, wobei er
+kurz auflachte, wie um irgend einen Lauerer aufzustören, und ich saß da,
+schaudernd und von neuem begreifend.
+
+Man darf es nicht wagen, sagte er zurückkommend und schielte mich von
+der Seite an. Man ist nirgends sicher. Wenn du die Treppe hinuntergehst,
+kannst du dir das Genick brechen, mein Söhnchen. Überall wartet etwas
+auf dich, und was du verlachst, kann dein Verderben sein.
+
+Er entkleidete sich mit Hast, warf sich auf das Bett und seufzte. Jetzt
+kannst du gehen, brummte er mürrisch, aber sieh zu, daß das Schloß
+einklappt.
+
+Ich ging. Es war schon späte Nacht. Ich irrte herum und kam bis in die
+Vorstädte.
+
+In den nächsten acht Tagen suchte ich meinen Vater nicht mehr auf. Eine
+neue Stellung, die ich erlangt hatte, nahm mich sehr in Anspruch. Aber
+während dieser Zeit wurde mein Geist so von Unruhe gepeinigt, daß ich
+für die Arbeit ganz abgestumpft wurde. Dennoch hielt mich etwas Schweres
+ab, zu ihm zu gehen. Ich war feig, ja, ich fürchtete mich vor seiner
+Furcht. Es war der letzte Sonntag im Februar, als ich mich meiner
+Pflicht erinnerte. Still war ich herumgegangen und hatte niemandem etwas
+davon gesagt; und auch das quälte mein Gewissen, als hätte die Welt
+helfen können.
+
+Es regnete an diesem Tag. Obgleich so viele Jahre verflossen sind,
+erinnere ich mich, daß vor meines Vaters Haus ein Betrunkener lag, und
+daß dies einen fatalen Eindruck auf mich machte; besonders das matte,
+gedunsene, gleichgültige Gesicht des Mannes und seine halboffenen Augen.
+Johlende Kinder sprangen um ihn herum.
+
+Oben öffnete mir die Bedienerin. Wieder fand ich meinen Vater allein,
+und zwar in dem großen, leeren Zimmer. Er saß neben dem Spiegel, vor dem
+kleinen, runden Schachtisch. Er hatte mich nicht bemerkt, meine Schritte
+nicht gehört. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt und war anscheinend
+in tiefes Sinnen verloren. Kein Laut störte die Ruhe; nichts Belebtes
+machte die Einsamkeit vergessen. Es sah aus, als ob er seit vielen
+Stunden so sitze, mit etwas Unerklärlichem beschäftigt. Endlich wagte
+ich es, laut den Tagesgruß zu rufen, und er hob langsam den Kopf. Er
+besann sich, nickte; ich trat näher, und er gab mir die Hand wie er in
+guten Stimmungen zu tun pflegte, fest, mit festem Druck. Aber sein
+Aussehen war verstört.
+
+Ich denke über die Toten nach, die hinter mir liegen, sagte er. Ich
+schaue zurück, und jedes Jahr ist ein Zaunpfahl, an dem eine Leiche
+hängt.
+
+Es ist das allgemeine Los, Vater, entgegnete ich beengt.
+
+Sein Gesicht verzerrte sich wie vor einer Flamme. Allgemeine Los? Warum?
+Warum? Antworte, du Zeisig? Warum fühl ich dabei? Warum? Warum weiß ich
+davon? Warum erst alles und dann nichts? He? Warum? Er stand auf und sah
+mich gebieterisch an.
+
+Gott will es, flüsterte ich.
+
+Gott? Wer ist Gott? Was kann Gott wollen, was nicht ich will? Muß ich
+sterben, weil ein Gott will, den ich nicht kenne? Ich glaube nicht an
+den Tod. Oder wie? Wer könnte mich von meinem eigenen Tod überzeugen? Er
+blickte gegen das regennasse Fenster und gegen den Himmel; sein Hals war
+dunkelrot gefärbt, und die rechte Hand war geballt. Und doch, was ist zu
+tun? fuhr er nun mit feierlicher Stimme fort, ohne seine Stellung zu
+verändern. Es nützt nichts, daß ich leben will, leben, leben. Es nützt
+nichts, daß ich weiß, auch ihr werdet tot sein, wenn ich’s bin. Es nützt
+nichts. Wenn’s auch nur noch zehn Jahre sind, was sind zehn Jahre für
+mich?
+
+Ich erinnere mich, daß ich etwas sagte von unserer Liebe für ihn. Aber
+er schwieg und hörte nicht. Langsam wanderte er auf und ab, die Hände
+auf dem Rücken und wiederholte noch einmal vor sich hin: was sind zehn
+Jahre für mich? Mir standen plötzlich die hellen Tränen in den Augen,
+und voll Betrübnis schlich ich davon. Immerfort glaubte ich ihn zu
+hören, den anklägerischen Ton seiner Stimme, den Trotz seiner Worte;
+immer sah ich ihn einsam in seiner leeren Stube gehen und konnte nicht
+die Inbrunst und das Furchtbare seiner Augen vergessen, als er ausrief:
+Was kann Gott wollen, das nicht ich will? Raum und Zeit verachtend,
+stand er im Mittelpunkt des Weltalls, allein, aufrührerischen Geistes,
+ein aufrührerischer Fährmann, die abendliche Flut des Lebens befahrend.
+Die Jahre konnten ihm nichts sein, denn seine Seele hatte stets den
+Augenblick besessen – und nun verloren.
+
+Den nächsten Tag verbrachte ich mit meinen Angelegenheiten. In der
+Nacht, die folgte, fand ich keinen Schlaf. Die Luft schien mir schwül,
+und kaum daß es Morgen geworden, trieb es mich nach der Wohnung meines
+Vaters. Als ich in sein Schlafzimmer trat, sah ich ihn ruhig auf dem
+Bett liegen, und daneben hockte Mittelmann, das Schachbrett vor sich,
+anscheinend stumpfsinnig in ein Problem vertieft. Mich wunderte das so
+früh am Tag. Mittelmann gewahrte mich und sagte scheu: Ich war die ganze
+Nacht hier, es war um zwölf Uhr, solange spielten wir. In dieser
+Stellung brachen wir ab. Sehr interessante Stellung, sehen Sie nur.
+
+Geschwätzig redete er weiter. Ich blickte unbeweglich auf die
+geschlossenen Augen des Greises. Sein Gesicht zeigte denselben Ausdruck
+des Trotzes, wie vor zwei Tagen.
+
+Die Fenster waren geöffnet, und die Sonne strahlte herein. Ich wurde so
+traurig wie nie zuvor; und doch war es mir, als hätte ich meinen Vater
+schon tot hingestreckt gesehen damals, als Bianca ihm vorlas.
+
+Am nächsten Tag begrub man ihn. Den armen Mittelmann führte ich darnach
+in ein Wirtshaus und gab ihm satt zu essen.
+
+
+
+
+ * * * * *
+
+Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane
+
+Dritte Reihe
+
+ 1. Bd. Th. Fontane, Irrungen Wirrungen
+ 2. Bd. Björnstjerne Björnson, Mary
+ 3. Bd. Gabriele Reuter, Frauenseelen
+ 4. Bd. Laurids Bruun, Van Zantens Insel der Verheißung
+ 5. Bd. Sophie Hoechstetter, Passion
+ 6. Bd. Knut Hamsun, Redakteur Lynge
+ 7. Bd. Hermann Bahr, Theater
+ 8. Bd. Gustaf af Geijerstam, Pastor Hallin
+ 9. Bd. Bernhard Kellermann, Yester und Li
+10. Bd. Felix Hollaender, Das letzte Glück
+11. Bd. Jonas Lie, Auf Irrwegen
+12. Bd. J. Wassermann, Der niegeküßte Mund
+
+Jeden Monat erscheint ein Band
+
+ * * * * *
+
+Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane
+
+Bisher erschienen unter anderen:
+
+Gabriele d’Annunzio: Lust I/II
+Hermann Bahr: Theater
+Herman Bang: Am Wege
+Björnstjerne Björnson: Mary
+Laurids Bruun: Van Zantens glückliche Zeit
+Theodor Fontane: L’Adultera
+Gustaf af Geijerstam: Thora
+Knut Hamsun: Redakteur Lynge
+Hermann Hesse: Unterm Rad
+Felix Holländer: Das letzte Glück
+Bernhard Kellermann: Yester und Li
+E. von Keyserling: Beate und Mareile
+Jonas Lie: Eine Ehe
+Peter Nansen: Julies Tagebuch
+Thomas Mann: Der kleine Herr Friedemann
+Gabriele Reuter: Liselotte von Reckling
+Jakob Schaffner: Die Erlhöferin
+Emil Strauß: Der Engelwirt
+
+ * * * * *
+
+Werke von Jakob Wassermann
+bei S. Fischer, Verlag, Berlin
+
+
+Die Juden von Zirndorf.
+Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Vierte Auflage. Geheftet 4 Mark,
+in Leinen 5 Mark, in Leder 6 Mark 50 Pfg.
+
+Kaum je hat ein jüdischer Poet seinen Glaubensgenossen, und über das
+Judentum der Gegenwart überhaupt schärfere, und zutreffendere Dinge
+gesagt als Wassermann in diesem Buche. Die besten Eigenschaften des
+jüdischen Volkes erscheinen in ihm selbst verkörpert, vor allem der
+kritisch-skeptische Sinn, der auch sich selbst nicht schont. Mit diesem
+verbindet sich auch bei Wassermann eine starke, jedoch mehr mystisch als
+sinnlich glühende Phantasie, der namentlich in dem phantastischen
+»Vorspiel« des Romans eine glänzende poetische Leistung gelungen ist.
+Dieses Vorspiel bildet den Grundakkord zu der in unseren Tagen
+spielenden Geschichte der »Juden von Zirndorf«, in denen ein begabter
+Jüngling Agathon, der das edelste Judentum verkörpert, die von einem
+brutalen Christen erduldete Schmach durch einen Mord an seinem Peiniger
+rächt.
+ (Neue Zürcher Zeitung)
+
+
+Die Geschichte der jungen Renate Fuchs.
+Elfte Auflage. Geheftet 6 Mark, in Leinen 7 Mark 50 Pfg.
+
+Jedes große, befreiende Buch muß ein Buch der Erlösung und der
+Wiedergeburt sein. Dies ist ein Buch von der Erlösung der Frauen, »die
+alten sinnlichen Vorurteilen zu mißtrauen beginnen, die ihr Schicksal,
+ihr Frauenschicksal erleben und nicht länger leibeigen sein wollen«. –
+Seit dem »Grünen Heinrich« Kellers ist in deutscher Sprache kein so
+interessanter und tiefsinniger Roman erschienen.
+ (Die Zukunft)
+
+
+Der Moloch.
+Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Vierte Auflage. Geheftet 4 Mark,
+in Leinen 5 Mark, in Leder 6 Mark 50 Pfg.
+
+Ein bedeutendes Werk! Bedeutend durch die ernste Idee, die ihm zugrunde
+liegt, bedeutend durch die psychologische und gestaltende Kunst, mit der
+Wassermann jene Idee zu einem groß und breit angelegten, lebensvollen
+Gemälde gestaltet hat!... Der Verfasser hat dieses psychologische
+Problem in der Tat auch vollständig, seinem Wesen entsprechend,
+psychologisch behandelt, und zwar in geradezu bewundernswerter Weise.
+Mag das Weltbild, das Wassermann hier entwirft, ein einseitiges sein,
+mögen einzelne weniger interessierende Seiten seines Bildes gar zu breit
+aufgeführt, mag selbst die ihm zugrunde liegende Idee nicht unbedingt
+anzuerkennen sein und das Poetische etwas zu kurz kommen –, so viel
+bleibt gewiß, daß das umfangreiche Werk von Anfang bis zum Ende eine
+Stimmung ausströmt, die unwiderstehlich fesselt und mit der Macht fast
+eines Erlebnisses wirkt.
+ (Berner Bund)
+
+
+Der niegeküßte Mund – Hilperich.
+Novellistische Studien. Geheftet 2 Mark, in Leinen 3 Mark.
+
+In diesen Novellen hat die Wassermannsche Erzählungskunst eine mehr als
+respektable Höhe erreicht. Es sind belletristische Kunstwerke von einer
+so feinen und sicheren Arbeit, wie wir ihrer in der heutigen deutschen
+Literatur nicht viele besitzen. Was sie vornehmlich auszeichnet, ist
+ihre gute Haltung im Sinne der epischen Kleinkunst. Wie hier alles in
+den Verhältnissen abgewogen ist, wie anmutig und doch streng die Linie
+fließt, wie der Zierat sich verteilt, Licht und Schatten sich verhalten,
+Ausführung und Andeutung zueinander stehen – alles das verrät einen in
+Deutschland sehr seltenen Kunstverstand und ungemein viel Talent.
+ (Die Zeit, Wien)
+
+
+Alexander in Babylon.
+Roman. Dritte Auflage. Geheftet 3 Mark 50 Pfg., in Leinen 4 Mark 50 Pfg.,
+in Leder 6 Mark.
+
+Nichts als der reale Gang der geschichtlichen Ereignisse von Alexanders
+Rückkehr aus Indien bis zu seinem vorzeitigen Tode wird uns erzählt,
+dies freilich in farbigreicher kulturhistorischer Ausmalung und mit
+ebenso kühner als intensiver Psychologie. So ist dieses Buch weit mehr
+ein Prosaepos als ein Roman, und es bietet weit mehr eine faszinierende
+Ausdeutung der Geschichte als etwa eine Spannungserzeugung durch
+pragmatische Verwicklungen. Auf jeden Fall aber ist es ein Kunstwerk,
+sowohl durch die Geschlossenheit seiner Komposition wie durch seine kaum
+genug zu preisende sprachliche Behandlung. Es gehört zu unsern schönsten
+deutschen Prosabüchern. Manche Kapitel verdienten in den Schulen gelesen
+zu werden. Auf solche Weise wird Geschichte lebendig gemacht und
+beseelt.
+ (Neue Freie Presse, Wien)
+
+
+Die Schwestern.
+Drei Novellen. Dritte Auflage. Geheftet 2 Mark, in Halbleder 3 Mark,
+in Leder 4 Mark.
+
+Der Vortrag dieser Geschichten ist stilistisch meisterhaft, in der
+Schilderung des Tatsächlichen von der Einfachheit der altitalienischen
+Novellen, dabei hin und wieder blitzend von seltsam geschliffenen
+Wortprägungen spezifisch Wassermannscher Art. Nur einem kabbalistischen
+Grübelsinn, einer so heißen Phantasie wie der dieses deutschen
+Orientalen konnte es gelingen, die Verrücktheiten der kastilischen
+Isabella so tief poetisch märchenhaft zu durchleuchten und aus den zwei
+phantastisch konstruierten Kriminalfällen das Rauschen geheimnisvoller
+seelischer Unterströmungen so hervortönen zu lassen.
+ (Literarisches Echo)
+
+
+Die Masken Erwin Reiners.
+Roman. Siebente Auflage. Geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark.
+
+Dieser Roman wird einmal in der Entwicklungsgeschichte der modernen
+Literatur eine wichtige Rolle spielen. Man wird ihn als einen alles
+Wesentliche zusammenfassenden und reflektierenden Spiegel des zügellosen
+Individualitätsstrebens betrachten, das doch das entscheidende Merkmal
+unserer modernen Romanliteratur bleibt, von ihm zugleich aber eine
+Wendung zum realen Leben datieren. Es sind einige Kapitel in dem Roman,
+die wie das Morgenrot einer neuen Klassik anmuten.
+ (Westermanns Monatshefte)
+
+
+Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
+
+
+
+
+[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
+Grundlage der 1911 in der Reihe »Fischers Bibliothek zeitgenössischer
+Romane« erschienenen Ausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält
+eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen
+Korrekturen. Soweit möglich, wurden die Korrekturen der typographischen
+Fehler anhand der Erstausgabe im Albert Langen Verlag, München, 1903
+überprüft (Der niegeküßte Mund und Hilperich). Die Verlagswerbung wurde
+am Ende des Buchs gesammelt.
+
+p 011: Komma ergänzt: glänzenden, gefährlichen
+p 013: Freundes empor, der ihm um zwei Kopflängen -> ihn
+p 017: Drittel Kapitel -> Drittes
+p 037: erwiderte der Lerhre -> Lehrer
+p 053: dagegewesen -> dagewesen
+p 071: Dinkeslbühler -> Dinkelsbühler
+p 071: Der Lehrer entgegenete nichts darauf. -> entgegnete
+p 103: Zustand des Zweifelsund -> Zweifels und
+p 140: Punkt ergänzt: Scherben eines Spiegels.
+p 157: Gustav af Geijerstam -> Gustaf ]
+
+
+
+[Transcriber’s Note: This ebook has been prepared from the edition
+published in 1911 as part of the series "Fischers Bibliothek
+zeitgenössischer Romane". The table below lists all corrections applied
+to the original text. Where available, the corrections have been
+cross-checked with the first print of "Der niegeküßte Mund" and
+"Hilperich" published at Albert Langen Verlag, München, 1903. The
+publisher’s advertisements have been collected at the end of the book.
+
+p 011: added comma: glänzenden, gefährlichen
+p 013: Freundes empor, der ihm um zwei Kopflängen -> ihn
+p 017: Drittel Kapitel -> Drittes
+p 037: erwiderte der Lerhre -> Lehrer
+p 053: dagegewesen -> dagewesen
+p 071: Dinkeslbühler -> Dinkelsbühler
+p 071: Der Lehrer entgegenete nichts darauf. -> entgegnete
+p 103: Zustand des Zweifelsund -> Zweifels und
+p 140: added period: Scherben eines Spiegels.
+p 157: Gustav af Geijerstam -> Gustaf ]
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Der niegeküßte Mund, by Jakob Wassermann
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK Der niegeküßte Mund ***
+
+***** This file should be named 17143-0.txt or 17143-0.zip *****
+This and all associated files of various formats will be found in:
+ https://www.gutenberg.org/1/7/1/4/17143/
+
+Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders
+Europe at at http://dp.rastko.net
+
+
+Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.
+
+Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
+permission and without paying copyright royalties. Special rules,
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+electronic work, or any part of this electronic work, without
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+License as specified in paragraph 1.E.1.
+
+1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
+performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
+unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.
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+1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
+access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
+that
+
+- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
+ the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
+ you already use to calculate your applicable taxes. The fee is
+ owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
+ has agreed to donate royalties under this paragraph to the
+ Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments
+ must be paid within 60 days following each date on which you
+ prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
+ returns. Royalty payments should be clearly marked as such and
+ sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
+ address specified in Section 4, "Information about donations to
+ the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
+
+- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
+ you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
+ does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
+ License. You must require such a user to return or
+ destroy all copies of the works possessed in a physical medium
+ and discontinue all use of and all access to other copies of
+ Project Gutenberg-tm works.
+
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+ money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
+ electronic work is discovered and reported to you within 90 days
+ of receipt of the work.
+
+- You comply with all other terms of this agreement for free
+ distribution of Project Gutenberg-tm works.
+
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+electronic work or group of works on different terms than are set
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+receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
+is also defective, you may demand a refund in writing without further
+opportunities to fix the problem.
+
+1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
+WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
+
+1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
+warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
+If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
+law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
+interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
+the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
+provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
+
+1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
+trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
+providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
+with this agreement, and any volunteers associated with the production,
+promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
+harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
+that arise directly or indirectly from any of the following which you do
+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at https://pglaf.org
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit https://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including including checks, online payments and credit card
+donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ https://www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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index 0000000..1599893
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@@ -0,0 +1,4540 @@
+The Project Gutenberg EBook of Der niegeküßte Mund, by Jakob Wassermann
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Der niegeküßte Mund
+ Drei Erzählungen
+
+Author: Jakob Wassermann
+
+Release Date: November 23, 2005 [EBook #17143]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER NIEGEKÜßTE MUND ***
+
+
+
+
+Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders
+Europe at at http://dp.rastko.net
+
+
+
+
+
+
+ Der niegeküßte Mund
+
+ Drei Erzählungen von
+ Jakob Wassermann
+
+
+
+ S. Fischer, Verlag, Berlin
+
+ Alle Rechte vorbehalten.
+
+
+
+
+Inhalt
+
+Der niegeküßte Mund ...... 7
+Treunitz und Aurora ...... 81
+Hilperich ................ 127
+
+
+
+
+Der niegeküßte Mund
+
+
+Erstes Kapitel
+
+Schon von ferne sieht man den gelben, alten, fünfeckigen Turm mit seinem
+dunklen Ziegeldach, das einer Nachthaube gleicht. Er schließt eine
+breite, stille Straße mit seltsam regelmäßigen Häusern ab, die sich wie
+Zierrat ausnehmen. Mit seinem Torbogen scheint er auf den gebrechlichen
+Schultern zweier Häuser zu stehen; das eine ist die Wirtschaft zum
+lustigen Pfeifer, das andere gehört dem Doktor Maspero. Die Straße setzt
+sich verengert bis zum Marktplatz fort, welcher den Eindruck eines
+städtischen Mittelpunkts macht. Viele ruhige Gassen und Gäßchen zweigen
+von da ab: zum Schießanger, zur Altmühlbrücke, zur Kirche, und ein ganz
+schmaler Gang zwischen der Apotheke und dem Bezirksamt zur jüdischen
+Synagoge, einem lustigen Bau aus rotem Backstein, gekrönt von zwei
+dickbäuchigen Kuppeln. Ringsherum zieht sich ein weitläufiger
+Obstgarten, der den Tempelvorhof gegen die Straße frei läßt. Aber diese
+Straße hat nur noch ein einziges Stirngebäude, eingeklemmt zwischen
+uraltem Häusergerümpel, doch nicht minder alt und nicht minder
+baufällig: das Schulhaus. Sechsundsechzig Kinder, Knaben und Mädchen,
+werden hier täglich von Herrn Philipp Unruh in die Geheimnisse des
+Alphabets und der Arithmetik eingeführt.
+
+Es gibt Namen und Namen. Manche sind ihrem Besitzer wie aus dem Wesen
+geschnitten, manche passen zu ihm wie etwa die Synagoge zum Obstgarten.
+Ein solcher Obstgarten, um den Vergleich müde zu machen, war der Name
+jenes Lehrers. Er selbst und der Kreis seines Daseins waren voller Ruhe.
+Die kleine Stadt lag unter dem Horizont der Ereignisse. Die Leute von
+Gunzenhausen verrichteten ihre Geschäfte bei Tage und schliefen in der
+Nacht und von eisernen Gesetzen wurden die Stunden geregelt. Uhren und
+Kalender hatten nur einen äußerlichen Wert. Die Glocke schlug, aber was
+sie schlug, brauchte an keines Hörers Ohr zu tönen. Die Zeit ging, wie
+sie seit Ewigkeiten gegangen war, aber wohin sie ging, gab keinem
+Verstand ein Rätsel. Nur die Eisenbahnzüge, die das friedliche
+Altmühltal hinab- und hinaufrollten, brachten einen Duft von Welt mit,
+von Geschehnissen, vom Wandel der Dinge, von den traurigen und heiteren
+Spielen, die in den Ländern vor sich gehen, welche eingespannt liegen
+zwischen den Ozeanen.
+
+Philipp Unruh war also ein Ruhiger mit den Ruhigen. Er war auch kein
+Philippos, kein Pferdefreund, sondern eher der beschaulich schreitenden
+Katze zugeneigt. In seinem Amt war er weder rühmenswert, noch gab er zu
+tadeln Grund. Seit einem Dezenium rollte das Jahrwerk ab ohne sein
+Hinzutun. Es glitt ihm vor den Händen vorbei, ähnlich wie bei
+geschickten Arbeitern, die ohne Augen, ohne Licht vollbringen könnten,
+was Zwang und Gewohnheit sie gelehrt. Der Tag zerfiel in Stunden;
+einzelne Stunden bedeuteten Fächer, und jedes Fach war ein Häuflein
+Eingelerntes, bereit, in ein Schock mehr oder minder williger Gehirne
+gestopft zu werden. Diese kleine Maschinensammlung um Philipp Unruh war
+seine Schule, in welcher er gleichmütig herumschritt und hantierte und
+mit Wohlwollen und kühler Befriedigung dem ordnungsmäßigen Verlauf der
+Dinge anwohnte.
+
+Derselbe Mann, der weder alt noch jung, weder lustig noch traurig, weder
+lebendig noch tot war, hatte eine Liebhaberei, welche fast mehr als
+diesen Namen verdiente, weil sie den eigentlichen Zirkel seines Wesens
+überschritt. In seiner dumpfen Kammer, aus der der hellste Sommertag die
+Dämmerung nicht vertreiben konnte, weil rings Dächer und Galerien ihr
+den Himmel nahmen, gab es eine lange Reihe von Folianten: Chronika und
+Memoria und ernsthafte Darstellungen, die Geschichte aller Zeiten und
+Völker enthaltend. Darin las und grübelte, studierte und spekulierte
+Philipp Unruh seit Jahr und Tag. War gleich gelehrter Eifer im Spiel, --
+etwas wie Abenteuergelüst war sicher auch dabei. Und wohl noch eines.
+Während um ihn die Zeit starr lag gleich einem gefrorenen See, erblickte
+er durch seine Bücher ein aufgewühltes Meer von Leben. Für ihn war die
+Gegenwart nur der Schatten, das lautlose Widerspiel der bunten,
+glänzenden, gefährlichen und anziehenden Vergangenheit. Seine Stube, das
+zufriedene Städtchen, das stille fränkische Land, das war die Gegenwart.
+Die Vergangenheit war Europa, Asien, Ägypten, waren mörderische
+Schlachten, strahlende Revolutionen, versinkende Reiche. Hier war der
+Doktor, der Apotheker, der Bürgermeister, der Schulrat. Dort war eine
+Gesellschaft von Königen, genialen Feldherrn, erhabenen Verbrechern,
+blutgierigen Empörern, ruhmvollen Märtyrern und unerschrockenen
+Entdeckern. Es gab glänzende Künstler, Propheten, falsche Herzöge,
+aufopfernde Bürger, heroische Weiber, Vaterlandshelden und märchenhafte
+Städte. Und solchem Reichtum gegenüber, der unerschöpflich vor ihm lag,
+der seine Sinne entzündete, seinen Geist bewegte, seine Träume mit
+unvergleichlichen Gestalten bevölkerte, sollte ihm der matte Tag noch
+etwas bedeuten? Er ahnte das Schicksal, das seine Hand von Jahrtausend
+zu Jahrtausend spannt, das die Kleinen vernichtet, um die Großen zu
+erhalten; das ganze Länder verbrennt, um die Asche zum Mörtel für das
+Häuschen eines Heilands zu verwenden, das jedes Ereignis menschlichem
+Maß entrückt, jeden Zufall zur Bestimmung wandelt. Deshalb hatte sich
+unter seinem rötlichen, buschigen Schnurrbart jenes Lächeln eingenistet,
+das ebenso kindlich war, wie es für weise gelten konnte. Deshalb hatte
+er kein Verständnis für die kleine Spottsucht des Doktor Maspero und
+keine Teilnahme für den Kummer der Frau Süßmilch, deren Töchterchen dem
+ABC feindlich gegenüber stand. Der Herr Adjutant (man nannte ihn so,
+obwohl niemand sich erinnern konnte, ihn jemals in einer Uniform gesehen
+zu haben) sagte, der Unruh zähle seine fünfunddreißig Jahre doppelt. Und
+da er es zu Frau Federlein sagte, welche die Frau des Nachtwächters war,
+erfuhren es alle Leute, die in der Abgeschlossenheit des Lehrers etwas
+Verdächtiges und Geheimnisvolles sahen.
+
+
+Zweites Kapitel
+
+Wie heute hatte Doktor Maspero fast täglich einen Begleiter, der die
+nächtliche Heimkehr vom Wirtshaus verkürzte. Er plauderte in seiner
+finster-spöttischen Manier mit dem Baron, der die Apotheke besaß. Es gab
+manchmal ausgedehnte und tiefsinnige Gespräche in der Nacht, wenn das
+Kartenspiel beendet war. Der Doktor war ein Mann, klein wie ein Zwerg,
+hager wie ein Knabe, hatte auch die Bewegungen eines Knaben, sprach
+überlaut und meist grimmig, auch wenn er witzig war. Sein bärbeißiges
+Wesen glich einer Schutzwaffe gegen die länger gewachsenen Menschen.
+
+Lispelnd und visionär erzählte der Baron von seinem neuen Provisor. Das
+Lispelnde und Visionäre war ihm stets eigen. Seine Art erinnerte an
+frische Butter, so reinlich, mild und appetitlich war er. Er war den
+schönen Künsten ergeben und verdankte dieser Neigung das Zerflossene und
+Selbstgefällige seiner Natur. Immer ging er durch die Straßen wie
+jemand, der sagen will: Seht, welch ein Träumer bin ich.
+
+Der Doktor drückte seine Verwunderung aus, daß er den neuen Provisor,
+der doch schon vier Wochen hier sei, noch nicht gesehen habe, und fragte
+nach dem Namen.
+
+»Apollonius Siebengeist,« erwiderte der Baron, und seine Blicke waren
+verloren ins schwarze Firmament gerichtet.
+
+»Einstampfen lassen! Einstampfen lassen! So heißt man nicht,« kreischte
+der Doktor mit unbegründeter Wut und lauschte auf den Beifall seines
+Freundes empor, der ihn um zwei Kopflängen überragte. Auch er war nicht
+ohne Beziehung zum geistigen Leben der Nation. Sein ungestümer Witz war
+eine Frucht der Bildung. Sein Ideal unter den Bücherschreibern war
+jener Saphir, der einst nach des Doktors Ansicht die Welt aus ihren
+Fugen gerüttelt.
+
+Der Baron entgegnete langsam und bedeutungsvoll, daß Siebengeist aus
+einer guten Familie sei, jedoch sei sein Gehirn nicht in gehöriger
+Ordnung. Er habe etwas Koboldartiges an sich, etwas Sozialdemokratisches.
+Darauf antwortete der Doktor, indem er mit zwei Fingern seine Nasenspitze
+kniff, der Apotheker möge ihm doch ein Pülverchen zur Beruhigung
+zubereiten, eine staatserhaltende Mixtur.
+
+»Rizinusöl!« platzte der Baron heraus und brach über diesen unerwarteten
+Geistesblitz in solch brüllendes Hoho-Gelächter aus, daß der
+Nachtwächter Federlein an der Marktecke erschrocken stehen blieb.
+Geringschätzig verzog der Doktor den Mund, während der sanfte Apotheker
+noch lange nicht zur Ruhe kommen konnte. Und während sie ihren Weg durch
+die außerordentlich stille Nacht fortsetzten, sprach man noch von den
+Theatervorstellungen, welche für die nächsten Tage angekündigt waren,
+denn eine Wandertruppe wollte im fränkischen Hof ihr Lager aufschlagen.
+Der Doktor war vom Redakteur des Tageblatts als Kritiker gewonnen
+worden, und der Baron hatte die Absicht, dem Direktor ein Vorspiel in
+Versen zu schreiben.
+
+Beim Schulhaus winkte der Doktor leutselig zum dunkeln Fenster hinauf,
+aus dem der Lehrer auf die Straße sah. Die Glocke schlug eben elf Uhr.
+Der Doktor fragte empor, ob Philipp Unruh morgen zur Auktion kommen
+werde. »Es soll auch Bücher geben,« fügte er mit überlegenem Spott
+hinzu. Die beiden Männer wünschten gute Nacht und waren bald in der
+Finsternis verschwunden.
+
+Der Lehrer wußte, daß es Bücher bei der Versteigerung geben würde. Der
+jüdische Kantor war gestorben, ohne Angehörige zu hinterlassen, und
+dessen Habseligkeiten kamen unter den Hammer. Insbesondere wußte Unruh
+um eine alte Ansbacher Chronik, die der Kantor nie hatte verkaufen noch
+verleihen wollen. Daran erinnert, freute er sich jetzt, vergaß die
+trüben Gedanken, die ihn beherrscht, musterte lächelnd den schwarzen
+Vorbau der Synagoge, schaute straßauf, straßunter, ruhegewohnt,
+friedesicher und achtete der Kälte nicht. Schnee fiel, flaumig
+anzusehen, aufglitzernd im Licht einer einzigen Laterne. Indes, jene
+allzuschnell vertriebenen Gedanken kehrten zurück.
+
+Er hatte etwas Seltsames gelesen. Unlängst war er bei seinem Schwager,
+einem Schwestermann in Teilheim, gewesen. Das ist ein Örtchen in der
+Nähe Hesselbergs und mitten im sogenannten Hahnenkamm. Der Freund besaß
+eine Krämerei, und beim Herumstöbern in Kisten und Kasten, wie es
+Philipp Unruhs Besuch mit sich brachte, fand sich ein vergessener
+Schmöker vor, benagt von Motten und Mäusen, um alles Ansehen gebracht
+durch Liegen und Staub. Der Krämer hatte schmunzelnd den Fund
+verschenkt, welcher die Aufzeichnungen einer Marquise Bourguignon
+enthielt, von einem Kammerherrn, Exzellenz, behäbig und schnörkelhaft in
+das Deutsch des achtzehnten Jahrhunderts übertragen.
+
+Nun sitzt da weltfern und lebensfremd ein Schulmeisterlein in seiner
+engen Kammer und vertieft sich dumpfen und erschrockenen Sinnes in die
+frivolen Erinnerungen der Hofdame. Ein goldgieriger Räuber steigt durchs
+Fenster, aber das Fräulein, fast noch ein Kind, gibt gutlaunig Edleres
+hin. Der würdige Pater im Beichtstuhl zeigt sich nachsichtig gegen
+Sünden, an deren Begehung er teilnehmen darf. Auf der Treppe küßt die
+reizende Marquise ihrem Geliebten das Herz aus dem Leibe, während zehn
+Stufen höher der arme Gatte nach der Lampe ruft. Mönch und Nonne, Fürst
+und Lakai, Bauer und Soldat, Kavalier und Bürgerin nehmen teil am
+übermütigen Tanz der Liebe, ja die Dinge der unbelebten Welt sind
+ergriffen vom heiteren Taumel, der Himmel wiederhallt vom frohsinnigen
+Gelächter, und die graziösen Geister der Galanterie werfen jauchzend
+bunte Tücher über Gräber und Schlachtfelder. Was Gesetze, Philosophen,
+Zukunft, Religion! Kein Schauer der Ewigkeit für diese lächelnde
+Bacchantin und ihre Liebeskünste.
+
+Es sind ja längstvergangene Zeiten, dachte schließlich Philipp Unruh
+furchtsam. Das ist damals so gewesen, durfte damals so sein, denn es war
+eine Zeit der Barbarei, eine wilde, sittenlose Zeit. Heute ist die Welt
+still geworden; nichts ist mehr zu erblicken von solch übertriebenem
+Abenteuerzeug. Ein jeder Mann geht wacker dem Geschäfte nach, ein jedes
+Weib wohnt züchtig in seinem Hause, und es regiert die Ordnung. Törichte
+Leidenschaften der Vergangenheit mit eurem Überschwang und eurer
+Gefährlichkeit, dachte der Lehrer mitleidig und war zufrieden damit,
+einem besseren Jahrhundert anzugehören.
+
+Daneben war aber etwas Unbestimmtes und Hinterlistiges, das ihn quälte.
+Bei all dem Herumdenken suchte er sich heimlich zu beschwindeln, und das
+wußte er. Exzellenz Kammerherr hatte sich da eine teuflische Sache
+ausgesucht für seine lahme Feder. Mit böser Zähigkeit kamen und gingen
+Bilder, und Philipp Unruh schaute sie an mit wildfremden Gefühlen. Er,
+der alle Dinge über sich ergehen und herabsinken ließ wie Schnee, fühlte
+plötzlich etwas wie Lebenslast und -besinnung.
+
+Endlich schien es ihm genug des Träumens. Er schloß das Fenster, ging
+noch eine Weile zwischen den leeren Schulbänken auf und ab, trotz der
+Dunkelheit sicher den Weg findend und suchte dann seine Studier- und
+Schlafstube auf, um sich zur Ruhe zu begeben.
+
+
+Drittes Kapitel
+
+Ziemlich viele Menschen waren in der Kantorwohnung versammelt,
+Ortswürdenträger und andere Leute. Es gab auch solche, die nur gekommen
+waren, um für eine Stunde der Winterkälte zu entrinnen. Der Auktionator
+war ein dicker Mann mit einer militärischen Fistelstimme. Bei den
+billigen Gegenständen wurde er herablassend, fast gnädig, und sein
+Würdegefühl stieg um so mehr, je geringer sich die Kauflust erwies.
+Doktor Maspero erstand einen Schreibtisch, der Bürgermeister ein Dutzend
+leere Flaschen, der Trödler Most die Gebetbücher, das »Kasino« einen
+Teppich.
+
+»Eine Chronik!« rief der Auktionator finster.
+
+»Eine Chronik für Unruh!« witzelte der Doktor.
+
+»Eine Chronik der Markgrafschaft Ansbach,« sagte der Auktionator streng,
+wartete, bis das Gelächter zu Ende war und fügte verächtlich hinzu:
+»Zwei Mark zum ersten.«
+
+»Drei Mark,« murmelte Philipp Unruh schüchtern. Einige kehrten sich
+lächelnd um, denn er stand an der Rückwand des Raums. Die Geschäftigkeit
+hier hatte ihn aus irgend einem Grund betrübt gemacht. Alle Gegenstände,
+die unter den Hammer kamen, hatten einen Schein von Persönlichem, von
+Zusammengehörigkeit, sahen aus wie Glieder einer Familie, die in die
+Welt verstreut werden sollten. Etwas wie Todestrauer lag über ihnen,
+besonders über dem schwarzen Ledersofa im Winkel. Es war, als säße der
+alte Kantor unsichtbar darin und betrachte mit mürrischem Gesicht die
+entrückte, kunterbunte Welt.
+
+Die Fistelstimme rief mit beleidigtem Ausdruck den Taler zum zweitenmal
+ab.
+
+»Fünf Mark,« sagte jemand, der eben eingetreten war. Alle drehten sich
+um, und die Mienen wurden zurückhaltend und unzufrieden, als man den
+neuen Provisor sah.
+
+Philipp Unruh erbebte. Er blickte nach Apollonius Siebengeist und dachte
+erbittert: der reine Adonis. Warum er gerade diese Bezeichnung wählte,
+und warum es in einer gehässigen Bedeutung geschah, blieb ihm
+rätselhaft. Der Auktionator nahm das höhere Angebot mit erwachendem
+Interesse zur Kenntnis.
+
+»Zwei Taler«, erwiderte der Lehrer mit dünner und unsicherer Stimme. Die
+Leute wurden neugierig, drängten sich zusammen und sahen zu, als ob ein
+Hahnenkampf vor sich ginge. Der Lehrer schämte sich wie jemand, der auf
+irgend eine Weise Interesse erregt, ohne es rechtfertigen zu können.
+
+»Drei Taler,« sagte Siebengeist mit kaltem Lächeln. Er stand an den
+Pfosten gelehnt, beide Hände in den Taschen seines Pelzmantels, in der
+nachlässigen Haltung eines Mannes von Welt. In Philipp Unruh erwachte
+ein trüber Zorn. Doch wie alle schwachen Menschen, die sich beleidigt
+oder übervorteilt sehen, hatte er den Wunsch, dem Gegner sein Anrecht
+logisch und herzlich zu beweisen. Er hatte die dunkle Empfindung, als
+müsse er hingehen und dem Manne sagen, wie viel ihm der Besitz der
+Chronik wert sei, und wie er sich darauf gefreut habe, sie erwerben zu
+können. Besonders den Umstand seiner Freude und Erwartung wollte er
+betonen. Indessen haßte und verachtete er gleichzeitig den fremden
+Eindringling, und in einer Aufwallung dieser Gefühle bot er zehn Mark.
+Der Doktor machte ein faunisch entzücktes Gesicht und eine
+triumphierende Gebärde, der Auktionator nickte beifällig und schnupfte
+geräuschvoll aus einer braunen Papierdüte. Jedoch andere Gesichter sah
+der Lehrer auf sich gerichtet, deren prüfender Hohn ihn erschreckte,
+und als der Provisor nachlässig noch weiter steigerte, verließ er
+schweren Schrittes den Raum mit den Gefühlen eines Menschen, über den
+ein falscher Urteilsspruch ergangen ist.
+
+Ein trüber Wintertag war es; alle Scheiben waren mit Eisblumen bedeckt.
+Der Schnee lag hoch und rein und blendete die Augen des Lehrers. Auf
+einem Zaun, dessen Pfähle weiße, runde Kappen trugen, saßen drei Spatzen
+und zwinkerten bekümmert den Vorübergehenden an. Aus dem Schulhaus drang
+ein betäubender Lärm. Unter seiner Ladentüre stand der Bäcker und
+schaute spöttisch lachend hinauf. Kunigunde, die Wirtschafterin,
+begegnete ihm auf der Stiege und kicherte dumm vor sich hin. Er lächelte
+plötzlich freundlich, als ob er mit jemand eine liebenswürdige
+Unterhaltung führte, doch schien es ihm unzuvorkommend und bedrückend,
+daß dieser Jemand bildlos im Raum verblieb.
+
+Das Schulzimmer war zum Schlachtfeld geworden. Kriegsgeheul ertönte, und
+Gegenstände flogen durch die Luft, die einst einer andern Bestimmung
+geweiht waren. Die schwarze Tafel, in eine Generalstabskarte verwandelt,
+war mit Hieroglyphen bedeckt. Die Reiterei hatte sich des ganzen Globus
+bemächtigt, und ein dämonisch kleiner Knabe saß auf dem Nordpol und
+fuchtelte mit beiden Armen. Einige Amazonen hatten die Gegend des
+Katheders besetzt und sangen Kampfgesänge. Der Lehrer blieb auf der
+Schwelle stehen, schöpfte Atem und schrie eine fürchterliche Drohung in
+den Raum. Sechsundsechzig Paar Augen blickten ihn bestürzt und
+schuldbewußt an. Alle Kinder setzten sich mit geschäftsmäßiger Kühle auf
+ihre Plätze. Sie erwarteten eine unheilvolle Untersuchung. Der Kleine
+vom Nordpol hatte sich beim Herunterspringen die Hosen an der Erdachse
+zerrissen und saß leichenblaß da. Indes begann der Lehrer zu diktieren:
+Der Hamster und der Igel; eine Geschichte, worin die Häßlichkeit des
+Geizes eine große Rolle spielte. Die Enttäuschung der Kinder war groß.
+Sie hätten die gleichgültige Hamstergeschichte gern entbehrt gegen das
+aufregende Prozeßverfahren, das einer Vormittagsschlacht sonst zu folgen
+pflegte. Immerhin ereignete sich noch etwas sehr Merkwürdiges, was den
+Fortgang des einschläfernden Diktats angenehm unterbrach. Die Tür wurde
+heftig aufgerissen, und Apollonius Siebengeist trat herein. Er hatte ein
+dickes Buch unter dem Arm, schritt gerade auf das Pult zu, legte den
+Folianten nieder und sagte zu Philipp Unruh mit emporgezogenen Brauen:
+»Ich bringe Ihnen Ihre Chronik. Ich wollte Ihnen damit ein Geschenk
+machen. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen einzuwenden.« Er grüßte mit
+übertriebener Unbefangenheit, doch mit schüchternem Blick und ging.
+
+Einige Kinder lachten; das brünette Fräulein Süßmilch auf der dritten
+Bank fand sich am meisten erlustigt. Sie war blutrot im Gesicht und
+konnte kaum aufhören, in ihre Schürze hineinzulachen. Philipp Unruh war
+verwirrt und beschämt. Mit der schablonenhaften Strenge, die ein
+wichtiges Erziehungsmittel war, befahl er Ruhe und stellte sich an das
+Fenster. Es ist etwas Schönes um den Winter, dachte er mit jener Wärme
+im Innern, welche kühne Hoffnungen erzeugt. Draußen mag es stürmen, ich
+stehe da, um zuzuschauen. Schlaf und Frieden ist alles. Wie schön, wenn
+es dämmert und ich durch den Schnee wandere, den bläulichen Schnee, und
+kein Laut dringt aus der Erde.
+
+Mit liebevoller Sorgfalt legte er die Chronik in die Pultschublade, und
+bald darauf schlug es elf Uhr. Die Sechsundsechzig stürmten davon, und
+der Lehrer rüstete sich zu einem Spaziergang. An der Ecke bei dem
+Kasino stand Apollonius Siebengeist und plauderte mit einem Mann, der
+einen großen roten Zettel an das Hauseck klebte. Philipp Unruh grüßte
+und war sichtlich bemüht, etwas Weitläufiges und Kameradschaftliches in
+seinen Gruß zu legen.
+
+»Wir werden jetzt Großstadt,« sagte Siebengeist lebhaft, »bekommen ein
+Theater. Und was für ein ungewöhnliches Stück sie da ankündigen!«
+
+Der Lehrer tat überrascht, obwohl er in der Zeitung davon gelesen hatte.
+Er hauchte in seinen Schnurrbart, der ein wenig steifgefroren war, und
+rieb die Hände.
+
+»Sagen Sie, lieber Onkel,« wandte sich Siebengeist an den Zettelmann,
+»habt ihr denn hübsche Schauspielerinnen?«
+
+Der Zettelmann machte eine großartige Physiognomie. »Bei mir ist die
+Blüte unseres Standes engagiert«, entgegnete er kurz und majestätisch.
+
+»Aber Onkelchen, sind Sie denn der Direktor?« rief Siebengeist erstaunt.
+
+Der Schauspieler bestätigte es. »Mein Name ist Schmalich«, sagte er mit
+dem Stirnrunzeln eines berühmten Mannes.
+
+Scheinbar interessiert besah sich Philipp Unruh den angeklebten Zettel.
+»Melchior oder die Leiden des Alters«, hieß das Stück, ein Lebensbild in
+zehn Abteilungen. Einige Leute waren stehengeblieben und starrten
+neugierig auf das rote Papier. Der Direktor nahm seinen Kleistertopf und
+entfernte sich mit feierlichem Gruß. Auch der Lehrer wandte sich zum
+Gehen und war kaum einige Schritte weit, als er Siebengeist an seiner
+Seite sah. Der Provisor begann zu reden, als ob es ihm nur um Worte zu
+tun sei. Er schimpfte über das Nest, in das ihn ein unwirsches Geschick
+verschlagen habe; er machte sich über Himmel und Erde lustig, und etwas
+Knisterndes, Sprudelndes, Glattes war an ihm. Viele Zuckungen gingen
+über sein Gesicht. Seine Augen hafteten an vielen Punkten zugleich. Dem
+Lehrer ward es unbehaglich wie neben einer gefährlichen Maschine.
+Siebengeist aber schlug einen weiten Spaziergang vor, da ja heute
+Mittwoch sei. »Der ganze Nachmittag liegt vor Ihnen«, sagte er. »Gehen
+wir ein wenig hinaus in den Schnee.«
+
+Philipp Unruh wagte nicht, nein zu sagen. Er war überhaupt weder ein
+Nein- noch ein Ja-Sager, und hier fand er sich verpflichtet, Wünsche zu
+erfüllen. Siebengeist redete weiter, bespöttelte die Büchersucht des
+Lehrers und sprach im allgemeinen vernichtend über das Gelehrtentum.
+»Was wollen Sie denn mit Ihren Namen und Zahlen, Onkelchen? Erklären Sie
+sich doch. Die Geschichte? So? Die Geschichte ist ein altes Weib. Alles,
+was war, ist wertlos. Jener Komödiant und sein Theater ist jetzt
+wichtiger als alle Moses, Marc-Aurel, Robespierre und Lasalle. Der
+Unterrock meiner Geliebten wiegt das ganze babylonische Reich auf.
+Freilich, tausend Jahre sind euch nichts, denn auch die Stunden sind
+euch nichts.«
+
+Der Lehrer blickte verängstigt auf seinen Weg. Nichts Erschreckenderes
+für ihn als diese Reden, deren Sinn ihm vorüberglitt wie Wasser. Das
+Heftige, Sprunghafte, dabei Lachende und Kühne im Wesen seines
+Begleiters machte ihn schülerhaft verzagt. Eine Weile schwieg
+Siebengeist und pfiff nur vor sich hin. Weiß und still dehnten sich die
+ebenen Felder. Unbestimmte Laute kamen aus Fernen, die vom Nebel
+verhüllt waren. Im glatten Schnee waren zahllose Hasenfährten und
+Krähenfüße sichtbar, am Waldrand trippelte eine Rebhühnerschar mit
+schwachen, seufzenden Schreien. In der Luft war ein Sieden und Sausen,
+hervorgebracht durch das merkwürdige, schwere Schweigen ringsumher.
+
+»Sind Sie verheiratet?« fragte Siebengeist wie ein Untersuchungsrichter.
+»Nein? Sind Sie verliebt?«
+
+Der Lehrer wurde blaß und schüttelte unwillig den Kopf. Siebengeist
+lachte hell wie ein Kind. »Waren Sie je verliebt? Wissen Sie, Onkelchen,
+man könnte Sie geradezu für einen Eunuchen halten, wenn man nicht wüßte,
+daß Sie ein deutscher Bücherwurm sind. Sie verachten natürlich die
+Liebe, sofern sie nicht auf dem Papier verewigt ist. Haben Sie mal von
+einer gewissen Ninon de l'Enclos gehört? Ein wundersames Frauenzimmer.
+Sie hat ganze Generationen mit Liebe beschenkt. Ich war damals ein
+Gascognischer Prinz und in mancher Nacht küßte ich die unsterblichen
+Lippen. Seitdem ist die Welt bitter geworden. Onkelchen, was heutzutage
+sich Weib nennt, ist wert, eingesalzen zu werden. Ich habe keines kennen
+gelernt, in dem nicht die dumme Gans oder die Xantippe steckt. Sie sind
+schlecht, eitel, feig, anmaßend, sitzen stets auf dem Galanteriestühlchen
+und sind mit Leidenschaft der Lüge ergeben. Dagegen liest man in den
+Kunstbüchern von den erlauchtesten Idealgestalten. Davor warne ich Sie,
+Onkelchen. Durch diese Literatur geht ein Riß. Sehn Sie doch nur, ein
+Mann wie ich, Prinz von Geblüt, sitzt auf dem Trockenen und weiß nichts
+anzufangen mit seinen Gefühlen, geht sehnsüchtig in der Welt umher und
+gafft sich die Augen aus nach dem Bild der Liebe. Nun, ich gebe mir noch
+eine kurze Frist, dann wähle ich ein angenehmes und schmerzloses Gift.«
+Er lachte wieder fein kindliches Lachen.
+
+Der Lehrer wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es ist ein Traum,
+dachte er zweifelnd und betrübt und sah auf das Bahngeleise hinüber, auf
+dem ein Schnellzug einherraste. Er freute sich auf seine Abendstunden,
+auf seine Chronik, auf seine stille Abgeschiedenheit. Indessen forderte
+ihn der Provisor auf, mit ihm in einem Wirtshaus in Altenmuhr zu essen,
+und noch viel weniger als früher wagte er es abzuschlagen. Doch
+Siebengeist wurde merkwürdig schweigsam, ballte nur hier und da Schnee
+zusammen und warf ihn auf die Baumkronen, daß es knisterte. Dann lachte
+er und freute sich.
+
+In der niedrigen, heißen Wirtsstube saßen Fuhrleute beim Bier.
+Siebengeist berührte kaum die Speisen. Er stocherte nachdenklich in
+seinen weißen Zähnen, während der Lehrer tüchtig zugriff. »Gelehrsamkeit
+stärkt den Magen«, bemerkte Siebengeist sarkastisch. »Wissen Sie, was
+mir eingefallen ist? Ich forme mir eine Jungfrau aus Schnee: schön, rein
+und klug. Ich gebe ihr das Herz eines treuen Hundes und die Augen einer
+edlen Häßlichen, die in Verborgenheit lebte. Das Ganze belebt, wäre ein
+Wunder an Vollkommenheit.«
+
+Philipp Unruh dachte: wenn dieser Mann Apotheker ist, werden die Kranken
+seltsame Mixturen erhalten. Sein ordnungsliebendes Gemüt begann sich zu
+empören. Er betrachtete den Provisor scharf von der Seite und mußte sich
+gestehen, daß er ein schönes Gesicht habe, ein intelligentes Auge, einen
+weichen, schwärmerischen Mund.
+
+Auf dem Heimweg stockte jedes Gespräch. Die Ruhe der Natur war ein
+Befehl zur Ruhe für die Wanderer. Schon begann das beschneite Gelände
+bläulich zu schimmern. Wie schwärzliche Gestalten standen die Bäume da,
+streckten die Äste verzweifelt gegen den Himmel. Philipp Unruh empfand
+seinen Begleiter wie eine schwere Bürde. Er vermochte nicht zu überlegen
+und nicht zu denken in seiner Gegenwart. Unsichere Schuldgefühle
+belästigten ihn.
+
+Als sie den Marktplatz des Städtchens entlang schritten, begegnete
+ihnen der Baron Apotheker und lud sie ein, den Nachmittagskaffee in
+seinem Hause zu nehmen. »Meine Frau wird sich freuen«, sagte er süßlich
+und in einem Ton, als spräche er von einer majestätischen Person.
+Siebengeist nickte zerstreut und nahm des Lehrers Arm, der verschüchtert
+und abwartend der Einladung folgte.
+
+Es war ein uraltes Haus mit vielen Ecken und Winkeln, breiten, finstern
+Stiegen, geheimnisvollen Türen und knarrenden Dielen, worin die Apotheke
+war. Es stammte noch aus der Markgrafenzeit und teilte jedem seiner
+Bewohner etwas von seinem verschlossenen, düstern, eckigen und
+altmodischen Wesen mit. Aus der Tiefe des Flurs kam die Baronin und rief
+den Provisor zu sich hin. Philipp Unruh und der Apotheker gingen daher
+voran, doch da es schon finster war, bat der Baron seinen Gast,
+stehenzubleiben und eilte voraus, um ein Licht zu bringen. Der Lehrer
+lehnte sich aufseufzend an die breite, gotische Brüstung und hörte
+Stimmengeflüster auf der Stiege, das alsbald wieder verstummte. In
+diesem Augenblick kam der Baron mit der Lampe den Korridor entlang, und
+ein Lichtstrahl erhellte das ganze Treppenhaus. Da sah Philipp Unruh,
+wie sich zwei umschlungen hielten und küßten. Die Frau hing am Halse
+Siebengeists mit geschlossenen Augen. Er aber hatte die Augen offen, und
+es war, als sähe er weit über sie hinweg, in eine weite Ferne, und sein
+Blick war düster und starr. Das dauerte im Schein des Lichts keine
+Sekunde, aber der Lehrer glaubte, Zeuge eines grauenvollen Verbrechens
+gewesen zu sein. Als er dem Apotheker folgte, trugen ihn die Füße kaum,
+und seine Zähne schlugen heftig aufeinander. Der Baron drehte sich um
+und lachte in seiner Hohomanier. »Armer Teufel,« sagte er, »klapperkalt
+ist ihm.« Und er brüllte in die Küche, daß es von allen Mauern
+widerhallte: »Johanna, heißes Wasser zum Grog!« Gleich darauf begann er
+wieder zu lispeln und lispelte von der Poesie des Winters, während das
+andere Paar scheinbar harmlos plaudernd die Stube betrat.
+
+Gemütliche Wärme herrschte in dem großen Zimmer, dessen Decke gewölbt
+war wie in einer Kapelle. Der Ofen für sich war ein kleines Haus. Der
+Baron las seinen Prolog für das Theater vor, wobei Siebengeist ergeben
+in seine Tasse blickte. Offenbar waren die Gäste nur dieser Dichtung
+wegen herbeigeschleppt worden, denn der Baron las mit der studierten und
+zugleich naiven Wichtigkeit des Dilettanten, der sich ängstlich
+vorbereitet hat. Es kamen da viele Reime vor, und manche Gedanken, die
+eines Barons außerordentlich würdig waren, um wieviel mehr eines
+Apothekers. Die Hippogryphen waren zu diesem Ritt kostbar gesattelt
+worden, und vom großen Stall der Metaphern war, was Beine hatte,
+mitgelaufen. Zeit und Ewigkeit, Vaterland und Wissenschaft, Kunst und
+Natur waren, mit Traratrompetlein bewaffnet, auf einen erbaulichen
+Kothurn gestiegen und grinsten zum Vergnügen aller Mitbürger aufgeregt
+herab. Des Dichters Stirn war in Schweiß gebadet und sein blonder,
+zierlicher Schnurrbart zitterte rhythmisch mit.
+
+Zu anderer Zeit hätte Philipp Unruh hohes Gefallen an der Produktion
+gefunden. Aber der gemütliche Raum schien jetzt von schwülen Mysterien
+erfüllt. Er sah Siebengeist gequält und grübelnd sitzen und wagte es
+endlich, auch die junge Frau anzuschauen. Überrascht und erschreckt
+senkte er den Blick nieder. Die schwarzen Augen der Baronin waren
+begeistert auf die Lippen ihres Mannes gerichtet, und sie lächelte
+begeistert. Zorn und Scham erwachten in dem Lehrer. Er atmete in
+Lügenluft, aber eine ihm bisher unbekannte Empfindung sinnlicher
+Neugier ergriff ihn. Als der Apotheker geendet hatte, lief die Frau
+beglückt auf ihn zu, umarmte und küßte ihn stürmisch. Dem Lehrer graute.
+Gefährlich, tückisch und verschlagen zeigte sich ihm das Weib, und er
+sah dem Provisor ins Gesicht, der mit einem dummen Lächeln gegen das
+Fenster blickte.
+
+Auf einmal schrie jemand auf der Gasse laut und vernehmlich Feuer, und
+gleichzeitig ertönte die Sturmglocke. Siebengeist öffnete das Fenster
+und fragte hinunter. Es brenne beim alten Schulhaus, hieß es. Philipp
+Unruh stürzte davon, nur vom Gedanken an seine Bücher erfüllt.
+
+
+Viertes Kapitel
+
+Eine der Galerien, morsches, altersschwaches Zeug, stand lichterloh in
+Brand. Es sah unheilvoll aus, denn was da an Häusergerümpel
+beisammenstand, war sehr empfänglich für das Feuer. Die Flammen
+erfüllten den Hof, schlugen über das Dach des Schulhauses, und es gab
+ein Schock von Kindern, welches mit verbrecherischer Spannung darauf
+wartete, daß jenes verhaßte Gebäude zur Stunde vom Erdboden verschwinden
+würde. Diejenigen Leute aber, denen es gleichgültig sein durfte, ob es
+Schulferien gab oder nicht, zeigten sich aufgeregt, und die Turmglocke,
+die solche Gelegenheiten gern ergriff, um einen prahlerischen Lärm zu
+erzielen, vermehrte die Angst der Gemüter. Ihre kurzen Schläge glichen
+dem Pochen eines schreckenerfüllten Herzens. Es rückte die Feuerwehr an
+mit mutigen Messinghelmen und verzagten Gesichtern und diese guten
+Menschen verübten nun ihrerseits wieder solchen Skandal mit Trompeten
+und Kommandieren und einem rasselnden Spritzenwagen und himmelhohen
+Leitern, daß der Tumult größer wurde als die Gefahr. Statt zu handeln
+und sich unterzuordnen, machte sich jeder auf besondere Weise wichtig
+und benahm sich als eine verdienstvolle Autorität in Gummischläuchen
+oder im Wassertragen oder im Klettern und Fensterzertrümmern.
+
+Philipp Unruh stürmte in die Küche, nahm eine große Kohlenkiste, die er
+in seine Studierstube schleifte und warf dort mit erstaunlicher
+Handfertigkeit seine Bücher hinein. Unheimlich sah es aus, wie er von
+den düsterroten Flammen beleuchtet in atemloser Geschäftigkeit die
+schwarze Kiste mit den alten Folianten füllte. Mit einer Kraft, die er
+als Zuschauer verwundert beobachtet hätte, zerrte er den schweren Kasten
+zur Stiege, ließ ihn unter großem Gepolter herabgleiten, und erst unten
+fanden sich zwei Männer, die ihm halfen, seinen Schatz auf die Straße zu
+tragen. Zwischen zwei Schneehaufen blieb die Kiste stehen. Erleichtert
+betrat der Lehrer wieder das Haus, um wenn es nötig war, auch die
+übrigen Habseligkeiten zu bergen. Die Wirtschafterin lief heulend im
+Flur herum. Da niemand noch an Gefahr für das Schulhaus dachte, klomm
+Unruh allein empor, sah sich um, fand es merkwürdig still, hörte nur das
+Geprassel des Feuers und das Zischen der Wasserstrahlen. Schränke und
+Wände waren blutigrot; die Fensterscheiben zitterten vor Hitze, doch mit
+jedem Augenblick verminderte sich die Gefahr. Die Holzgalerie brannte ab
+wie Papier und die Steinmauer wurde schwarz von Ruß. Im Hofe stand die
+Feuerwehr, eine Schar von Todesverächtern.
+
+Philipp Unruh trat wieder auf die Straße. Er winkte den Gemeindediener
+herbei, daß er ihm helfe, die Kiste zurückzutragen. Allein die Kiste war
+verschwunden. Der Raum zwischen den beiden Schneehaufen war leer. In den
+weichen Schnee war ein tiefes Rechteck eingedrückt, sonst war nichts zu
+sehen. »Wo sind denn die Bücher?« fragte der Lehrer mechanisch, und
+blickte sich befremdet um. »Gutmann, wo ist meine Kiste?« schrie er
+einen vorübergehenden Feuerwehrmann an, und sein Gesicht verzerrte sich.
+Gutmann zuckte beschäftigt die Achseln. Der Gemeindediener versuchte zu
+trösten und öffnete nachdenklich sein Schnapsfläschchen. Einen um den
+andern rief der Lehrer an, aber keiner wußte etwas. Eine Gruppe sammelte
+sich, die Ratschläge gab und Meinungen austauschte. Der Polizist Grünhut
+stellte sich ein und schrieb Notizen in ein verschmiertes Buch. Der
+Lehrer hatte zuerst gejammert, jedem geklagt, einige um Beistand
+gebeten; jetzt wurde er still. Die Gewißheit, daß man ihm seinen
+teuersten Besitz entwendet habe, begann als etwas Ungeheures auf ihm zu
+lasten. Er fühlte sich vom Himmel selbst verwundet; beleidigt und
+verwundet in seinem innersten Wesen. Die Ungerechtigkeit, unter der er
+so zu leiden hatte, erstickte seine Überlegungen, raubte jedes Maß, jede
+Berechnung für das, was ihm zugestoßen. Hier lag ein Verbrechen vor,
+unerhört und frevelhaft. Wer durfte einen armen Friedlichen auf solche
+Art zu Schaden bringen? Er war ein Lehrer, nichts weiter, und
+verrichtete ehrlich sein Geschäft. Er war vor andern um nichts
+bevorzugt. Oder wurde es so bitter gerächt, daß er dem harten Brot des
+Berufs etwas Wohlgeschmack und Süßigkeit hinzugefügt?
+
+Breit und mit Würde angestopft, kam der Herr Wachtmeister des Wegs. Er
+versprach leutselig, sich der Sache anzunehmen. »Wacker,« sagte er,
+»wacker,« ein Lieblingswort, welches er grundlos bevorzugte. Der
+Polizist trank aus des Gemeindedieners Flasche und eilte in die Nacht,
+den Dieb zu verfolgen. Man schickte zum Bäcker und zum Schneider
+nebenan. Dieser begann zu schimpfen, man bringe ihn um seinen Ruf, jener
+tat sehr unschuldig und besorgt. Das Verschwinden der Kiste blieb ein
+finsteres Rätsel. Philipp Unruh ging noch immer auf der Straße hin und
+her, blickte mit zusammengepreßten Zähnen in die Nacht. Die Leute
+entfernten sich langsam. Es war neun Uhr und Schlafensstunde nah. Auf
+dem Brandplatz blieben zwei von den Messingbehelmten, lagerten sich an
+ein Kohlenfeuer und tranken zahllose Krüge Bier, die aus dem »lustigen
+Pfeifer« geholt wurden.
+
+Doktor Maspero war der letzte, der vor den trostlosen Beraubten hintrat.
+Er schaute prüfend zu dem Lehrer empor und sagte übelgelaunt: »Es ist ja
+gerade so, als ob Sie eine lebendige Familie verloren hätten. Pfui,
+Unruh, das heißt sich zum Narren stempeln.«
+
+»Lieber Herr Doktor,« entgegnete der Schulmeister unwillig und ohne die
+Stimme zu erheben, »wer etwas verliert, muß am besten wissen, was er
+verliert.«
+
+Der Doktor brummte, zog die Augenbrauen in die Höhe, kicherte in sich
+hinein und wünschte gute Nacht.
+
+
+Fünftes Kapitel
+
+Doktor Maspero hatte gut lachen; er wußte, wo die Bücher hingeraten
+waren. Nicht ganz ein Komplott und mehr als ein Einfall trug die Schuld.
+Das kleine Männchen mit dem Alleswissergesicht versuchte sich gern in
+der Seelenheilkunde. Auch der Apotheker und der Schulrat hatten Teil
+daran. Diese behördliche Person billigte das Treiben des Lehrers nicht.
+Obwohl von Pflichtversäumnissen bislang keine Rede sein konnte, -- hinter
+stummen Bücherdeckeln erhebt sich oft ein unheilvoller Geist. Niemand
+konnte das gründlicher bestätigen als der Baron. »Verderblich ist das
+Wort,« lautete sein gebildetes Orakel. Der Doktor seinerseits mischte
+sich mit Leidenschaft in fremde Angelegenheiten. Er war ein Schnüffler
+und mißtraute allen Leuten, bei denen er Geheimnisse vermutete. Er haßte
+die Schweigenden, haßte die Leute, die anspruchslos ihres Weges gehen
+und in sich verschließen, was sie im Innern beschäftigt. Er haßte jene,
+die sich für irgend etwas mit wahrem Gefühl einsetzen und hielt sie für
+Lügner. Jeder Einsame galt ihm als Verräter an einem öffentlichen Wohl.
+Seine Zwerggestalt war der Grund eines wunderlichen, giftigen Ehrgeizes.
+War er den andern körperlich unterlegen, so wünschte er doch brennend,
+sonstwie zu herrschen. Daher sein penetranter Witz, seine angebliche
+Verachtung der Frauen; daher seine seltsame Eifersucht auf alles Große,
+was immer in der Welt geschah; daher seine Freude, sogenannte Wahrheiten
+zu sagen, seine unermüdliche Geschwätzigkeit, seine Gier, zu
+verurteilen, gehört zu werden, belacht zu werden, zu glänzen. Er war der
+erste gewesen, der Unternehmungen gegen die Bücherwut des Lehrers
+geplant hatte. Seine Motive waren menschenfreundlich; er sagte es. Aber
+es waren Worte geblieben bis zum Tag der Feuersbrunst. Da hatte er das
+Herausschleppen der Kiste beobachtet und war zum Bäcker geeilt, der für
+einen guten Spaß alles Brot im Ofen schwarz werden ließ. Alsbald war die
+Kiste unter dem Ladentisch verschwunden, und der Bäcker drückte sein
+gründliches Mißfallen an der Studierwut des Lehrers aus, vermutete
+Schwarzkunst und teuflische Zauberei dahinter. Der Doktor empfahl ihm,
+die Bücher ordentlich zu bewahren, und verhielt sich so, als ob ein
+reformatorischer Gedanke jeden Schritt in dieser Angelegenheit
+vorbestimmt habe.
+
+Auf dem Heimweg empfand Doktor Maspero ein verwickeltes System zu der
+Tat, die er gegen Philipp Unruh unternommen, ein System, welches
+zugleich philosophischer und pädagogischer Natur war. Als er sich der
+letzten Konklusion nahte, bemerkte er die Gestalt des Provisors
+Siebengeist, die am Zaun des Kasinogartens lehnte, als ob sie steif
+gefroren wäre, und die Augen des jungen Mannes beobachteten gespannt den
+Mond am klaren Himmel. Erschrocken blieb der Doktor stehen und sagte mit
+unsicherer Bosheit: »Sie sind mir ein gespenstischer Herr da.«
+
+Siebengeist senkte den Kopf und blickte den Doktor von der Seite an.
+»Dieser Kerl ist mein Feind,« erwiderte er langsam, die Faust gegen den
+Mond ballend. »Ich kann nicht schlafen, so lang er am Himmel steht.«
+
+»Also ein Romantiker,« meinte der Doktor, spöttisch in den Ton des
+Arztes verfallend, »ein Romantiker mit kalten Füßen also.«
+
+Siebengeist begleitete schweigend den Doktor die Straße hinab. Der Herr
+Adjutant kam ihnen entgegen, grüßte schreiend und lachend, als ob er
+eben von einer Amerikareise zurückgekehrt wäre und verschwand lautlos
+in der Nacht. Selten sind die Schlauen auch im Schweigen schlau. Der
+Doktor erzählte Siebengeist mit geheimnisvollem Wesen die Geschichte von
+den geraubten Büchern, und das philosophische System enthüllte sich in
+Beweiskraft. Siebengeist hatte nichts darauf zu antworten. Er nahm
+Schnee in die Hand und drückte ihn gegen seine Stirne. »Der Mond ist
+mein Feind,« murmelte er. »Mich verdrießt sein Grinsen, seine Klarheit,
+sein erborgtes Licht, seine anspruchsvolle Nutzlosigkeit. Er steht da
+droben und hat sein Amüsement von der Welt. Und ich, ich muß mir den
+Kopf im Schnee kühlen, fiebernd vor Überdruß.«
+
+Sie standen vor dem Turmbogen, und der Doktor blickte verdutzt sein
+Haustor an, wußte nichts zu entgegnen als: »Sie sind verliebt, junger
+Freund.« Er hatte bei den Redereien des Provisors ein Gefühl wie jemand,
+den man aus dem ersten Schlaf weckt, um ihm die Anfangsgründe der
+Eskimosprache beizubringen. Doch tat er verständnisvoll aus Furcht vor
+einer möglichen Überlegenheit des andern.
+
+»Richtig: eine meisterhafte Vermutung!« rief Siebengeist, mit dem Stock
+an das morsche Tor schlagend, daß es drinnen dumpf widerhallte.
+
+»O, ich bin ein geriebener Hund, was die Weiber betrifft,« sagte der
+Doktor. »Ich kenne alle Schliche darin. Wie sieht sie aus, was ist sie,
+wie ist sie?«
+
+»Wie sie aussieht? Je nun, das ist schwer. Eine gut funktionierende
+Nase, zwei erfahrene Augen, ein redseliger, lügnerischer Mund. Wie sie
+ist? Ebenso feig wie dumm, ebenso habgierig wie eitel, ebenso frech wie
+leer, ebenso gestorben wie die andern Leute hier herum. Aber Sie denken,
+ich spiele deshalb den Verschmäher? Ei, Doktor, da irren Sie sich. Der
+Rock ist alles, es lebe der Rock. Genug davon. Zuviel Wucht für die
+taube Nuß.«
+
+Unter dem Torbogen des Turms schallte ein leichter Schritt. Es ging da
+ein junges schwarzgekleidetes Mädchen, dessen Kopf mit einem Schal
+verhüllt war. Es sah nicht aus, als ob sie Eile hätte, denn sie ging
+mehr für sich hin, verloren und abgekehrt, den Kopf leicht vorgeneigt,
+und in ihrem Schritt war sowohl Müdigkeit als auch Verträumtheit
+enthalten. Siebengeist folgte ihr mit den Blicken, als ob sich sein
+Schatten in Bewegung gesetzt hätte, denn es war schon etwas
+Ungewöhnliches, daß zur Schlafenszeit in offener Gasse jemand ging, der
+nicht Eile zeigte, schlafen zu gehen.
+
+Des Doktors Schlüssel kreischte im verrosteten Schloß. Herr Maspero,
+Siebengeist beobachtend, gab seine liebenswürdige Nachsicht durch ein
+Lächeln kund, einem Veteranen gleich, der beim Anblick der Spielflinte
+eines Knaben an die großen Schlachtenkanonen denkt. Dann verabschiedete
+er sich in der akademischen Steifheit, die ihm eigen war. Er betrat den
+öden Flur seines Hauses, in dessen Hintergrund bei der Treppe eine
+nimmermüde Stehuhr ihr schläfriges Ticken seit Jahrzehnten ertönen ließ.
+Sechstausend Nächte und mehr noch lief das Werk im stummen
+Pflichtgefühl, und wenn es abends zehn Uhr war, kreischte der Schlüssel
+im verrosteten Schloß, und der Zwergdoktor sagte irgend einem gute
+Nacht, der vor dem Tore stand, riegelte sich ab von der Welt, machte die
+alten Dielen durch seine kleinen Füße knarren, hob an der Treppe das
+Kerzchen gegen das Zifferblatt, wobei in seinen grauen, unruhigen Augen
+etwas Fragendes aufblitzte, das unbehaglich und ängstlich den
+Fortschritt der Zeit wahrnahm. Die akademische Steifheit verlor sich,
+das leutselige oder sarkastische Lächeln verschwand. Unsichtbare
+Schatten der Zukunft schienen in dem stillen Haus emporzuwachsen, vom
+Flur bis in die Bodenkammer, und wehe, wenn sie einmal so weit
+gelangten, die beiden geschäftigen Zeiger der Doktorsuhr stehen bleiben
+zu heißen. So wird den Masperos allmählich die ganze Welt zu einer Uhr:
+die Hausmauern, von denen der Kalk abbröckelt; der Nachtwächter, dessen
+Stimme zitternder und leiser die Stunden ruft; der Wald, von dessen
+Bäumen die Blätter fallen; die Erde, die sich mit Schnee bedeckt; die
+Sonne, die hinter Frühjahrsnebeln blutet; ja, sogar die Kinder, denen
+der Schuster von Jahr zu Jahr größere Stiefeln machen muß.
+
+Am nächsten Tag wußten die Sechsundsechzig von komischen Sachen zu
+wispern, die sie in der Schule gehört. Von zehn bis elf war
+Geschichtsstunde gewesen, ein Fach, das bisher aus einigen Namen und
+Zahlen bestanden hatte, mühsam und überflüssig zu lernen. Heute war der
+Lehrer, die Hände auf dem Rücken, hin- und hergegangen und hatte
+unaufhörlich geredet. Ungerechtigkeit sitze auf dem Thron der Erde. Die
+Geschichte sei nichts anderes als die Wissenschaft von der
+Ungerechtigkeit. Was ein Edler unternehme, werde hundert Unwürdigen
+preisgegeben, und ist es Gott, welcher das Glück eines Einsamen bewacht,
+so seien seine Augen matt, seine Sinne erschöpft vom Anblick der
+Zerrüttung und des Übels. So sprach der Unbesonnene zu Kindern: Dinge,
+die weitab vom Kreis seines Amtes lagen, und sein Mund zitterte unter
+dem buschigen, herabhängenden Schnurrbart. Als das Schulzimmer leer war,
+setzte er sich vor den Globus, und so traf ihn Doktor Maspero, der beim
+Bäcker gewesen war und nun aus freundschaftlicher Besorgtheit auch den
+Lehrer besuchte. Philipp Unruhs Blicke waren fest auf einen Punkt in der
+Wüste Saharah gerichtet, dann liefen seine Augen meridianaufwärts über
+Hellas und den Hellespont, durchsegelten das Schwarze Meer und blieben
+stumpfsinnig nach rascher Landwanderung in der Nähe Sibiriens liegen.
+»Sie werden sich erkälten bei solchem Klimawechsel,« scherzte der
+Doktor.
+
+»Überall da leben Menschen,« erwiderte der Lehrer, mit einem vertieften
+Ausdruck emporblickend. »Lauter fremde Menschen.«
+
+Der Doktor geriet vor dem grabenden Blick Unruhs in Verlegenheit. Er
+fragte sich umsonst, was er sagen solle.
+
+Die Pausestunden verflossen, und die kurze Schulzeit des Nachmittags
+verging. Der Lehrer wandelte betrübt zwischen den Bänken umher, und
+beruhigte so den ängstlichen Geist der Kinder wieder. Gegen Abend
+klopfte es an die Türe von Unruhs eigenem Zimmer und Apollonius
+Siebengeist trat ein, warf den Hut irgendwohin und den Mantel nach, rieb
+sich am Ofen die Hände wie jemand, der einträgliche Geschäfte gemacht
+hat, und achtete kaum auf die erstaunten Mienen des Lehrers. »Eine
+gemütliche Stube haben Sie da,« sagte er, sich fröhlich umschauend. »Ich
+komme zu Ihnen, weil ich niemand hier weiß, mit dem sichs plaudern läßt.
+Die meisten Leute, mit denen man redet, hören gar nicht, sondern
+besinnen sich nur auf die Antwort. Heute brauch ich aber partout einen
+Zuhörer und ein warmes Öfchen. Aber Schulmeister! Onkelchen! Sie sehen
+aus wie der selige Griesgram.«
+
+»Alle meine Bücher sind mir gestohlen worden,« murmelte der Lehrer
+klagend.
+
+Siebengeist kratzte seinen Kopf und pfiff leise in die Ofennische. Dann
+machte er ein pfiffiges Gesicht, das ihm außerordentlich gut stand, trat
+dicht vor den Lehrer hin und legte beide Hände auf dessen Schultern.
+»Und wenn ich Ihnen nun verspreche, daß Sie Ihren Schatz wiederhaben
+sollen?« fragte er lächelnd.
+
+Philipp Unruh sprang auf. »Sie wissen? Was verlangen Sie dafür?« rief er
+mit überraschender Leidenschaftlichkeit.
+
+Siebengeist lachte und errötete. In seinen Augen war ein so
+merkwürdiges, verlorenes Glänzen, daß es wohl jeder bemerkt hätte, der
+sich besser auf Menschen verstand als dieser Philipp Bücherwurm.
+»Allerdings verlange ich etwas dafür,« sagte Siebengeist, und sein
+Lächeln kehrte wieder, das jetzt etwas Durstiges und Gedankenfernes
+hatte. »Sie kennen doch den Theaterdirektor, den Herrn, der mit dem
+Kleister so königlich hantiert? Sie erinnern sich doch? Gut. Gehen Sie
+heute ins Theater. Man gibt die erste Vorstellung. Und wenn das Stück
+aus ist, suchen Sie auf irgend eine Weise zu dem majestätischen Herrn zu
+kommen, knüpfen ein Gespräch an, indem Sie sich entzückt stellen über
+seine Leistung als Graf oder General oder Bettler, was er eben in dem
+Stück vorstellt. Der Mann wird butterweich werden, oder ich kenne die
+Komödianten nicht. Dann fangen Sie an, von seiner Truppe zu sprechen,
+laden ihn vielleicht zu einer Flasche Wein ein und kommen so auf Myra zu
+sprechen. Das ist eine von den Schauspielerinnen. Schreiben Sie sich den
+Namen auf: Myra. Einen andern hat sie momentan nicht.«
+
+»Myra,« redete Philipp Unruh nach, nicht begreifend, was er solle.
+
+Siebengeist schritt erregt auf und ab, legte die Hand auf die Stirn und
+fuhr etwas leiser und eintöniger fort. »Wenn der würdevolle Schuft nicht
+reden will, so schieben Sie ihm Geld in die Hand. Ich gebe Ihnen, was
+Sie brauchen. Fragen Sie also nach Myra. Wie sie lebt, woher sie kommt,
+weshalb sie sich beim Theater aufhält, ob sie ... ob sie Liebschaften
+hat oder gehabt hat, -- nun, jetzt wissen Sie ja genug. Heiliger Himmel!«
+Er lachte überstürzt, setzte sich am Ofen nieder und schaute in die
+Glut. Dann, als verstünde er das Schweigen des Lehrers, begann er wieder
+und redete in das Ofenloch hinein: »Fürchten Sie nicht, daß Sie etwas
+Unehrenhaftes tun. Sie retten dabei nur mein irdisches Heil. Ich selbst
+kann es nicht übernehmen. Ich kann den Namen dieser Person nicht
+aussprechen, ohne etwas zu spüren, -- eine innere Feuersbrunst! Und müßte
+ich hören, wovor mir schon in Gedanken graut, ich erschlüge den
+Kleisterbaron, so wahr ich bin. Die Leute beim Theater reden wasserklar
+einer über den andern. Nun, Schulmeister, wollen Sie das unternehmen für
+mich? Hier ist das Billett; alles ist vorbereitet.«
+
+Der Lehrer zauderte, fremdartig berührt durch das Wesen des jungen
+Mannes. Die Versprechung mit den Büchern erschien ihm plötzlich
+märchenhaft, wie alles, was der Provisor tat und sagte. Aber auch das
+erriet Siebengeist mit der sicheren Gabe des von seinen Zwecken ganz
+erfüllten Menschen. »Ihre Bücher, meine Hand darauf, sollen Sie wieder
+haben!« rief er und fügte mit übertriebenem Pathos hinzu: »Es sind da
+infame Ränke im Spiel, die ich zerstören werde.«
+
+Philipp Unruh reichte dem jungen Mann seine Hand, schüchtern und voller
+Zweifel. Siebengeist lächelte freudig und unbefangen und zeigte seine
+weißen Zähne. »Ich vertraue Ihnen darum das alles,« sagte er nun wieder
+in seiner natürlich gewinnenden Weise. »Sie sind ein Stiller, ein
+stiller Freund. Wenn Sie mehr Zutrauen zu sich hätten, könnten Sie
+weiter oben stehen in der Welt. Berichten Sie mir nur alles, was Sie da
+erfahren, und merken Sie sichs mit dem Herzen. Sie wissen nicht, was für
+mich davon abhängt. Beobachten Sie jedes Augenzwinkern, jeden
+Gedankenstrich in der Rede. Die Leute sagen vieles ohne Worte. Helfen
+Sie mir heute, und ich will Sie als meinen liebsten Freund betrachten.«
+
+Siebengeist sagte das mit einer Herzlichkeit, die auch kühle Seelen
+erwärmt hätte. Der Lehrer hörte verwundert zu und beinahe mechanisch
+fragte er: »Warum nur? Warum?«
+
+Siebengeist setzte sich an den Tisch, drehte ein wenig an dem Docht der
+Lampe, lächelte zart und erinnerungsvoll, wobei seine Augen strahlend
+und weit wurden. Dann sagte er, als ob er zur Lampe rede: »Da trifft man
+irgend einen Wanderer auf der Straße, in der Nacht, im Schnee und gleich
+schmieden sich Schicksale zusammen. Und man geht mit dem sonderbaren
+Wesen, spricht kaum, erfährt kaum einen Namen, nichts als einen lumpigen
+Theaternamen. Myra! Was für eine unverständliche Zusammenstellung von
+Buchstaben? Bis gestern noch etwas so unbekanntes wie der eigene
+Todestag, heute ein Ereignis, von dem alle Stunden schwer sind. Ich
+begreif' es nicht, was die Leute Erleben nennen. In einem Geheimnis
+schlendern wir herum.«
+
+Voll Teilnahme, Sympathie und aufrichtiger Gesinnung blickte der Lehrer
+sein Gegenüber an. Er ahnte, daß ihm etwas wie ein wirklicher Mensch
+begegnet sei.
+
+
+Sechstes Kapitel
+
+Ein Brummbaß, zwei Geigen und eine Klarinette machten eine vortreffliche
+Musik vor Beginn des Stückes. Der »große Saal« des fränkischen Hofes,
+der eigentlich nur eine geräumige Wirtsstube war, füllte sich mit
+Zuschauern. Die Sitze der vorderen Reihen bestanden aus wirklichen
+Stühlen, während für die minder vermögenden Leute lange Bretter über
+Bierfässer gelegt waren. Alles strömte herbei, was für Kunst und Bildung
+eingenommen war. Man sah die Spitzen des »Kasino«, einer preiswürdigen
+Vereinigung der eleganten Kreise: die Frau Notar mit ihren Töchtern, die
+Frau Oberamtmann, die Frau Steuerrat, die Frau Expeditor, die Frau
+Apotheker, die Frau Major, die Frau Schulrat. Sodann zeigten sich die
+weniger ausgezeichneten Damen, die jüdischen Kaufmannsfrauen, die
+Handwerkerfrauen, welche aus Ehrfurcht vor jenen Titularherrlichkeiten
+nur zu flüstern wagten. Nicht so gebieterisch nahm sich die vornehme
+Männerwelt aus, aber man weiß, daß die stumme Würde keineswegs die
+geringere bedeutet. Es war eine Luft von Frohsinn und heiterer
+Erwartung, denn so versammelt das Theater stets die gutgestimmten
+Elemente, aller Nebeninteressen entledigt, um im entzückenden Spiel,
+nicht nur vor den Augen der eleganten Kreise, die Macht der Kunst zu
+erproben. Alles ist da einer edleren Erhebung geweiht. Niemand stellt
+sich ein, etwa nur um einen Schauspieler zu bewundern, oder um eine
+kostbare Robe sehen zu lassen, oder einen mißliebigen Verfasser um den
+verdienten Erfolg zu bringen.
+
+Der Vorhang erhob sich, und mit feierlichem Schritt erschien der
+Direktor, um den dichterischen Prolog des Barons von sich zu geben. Der
+Vortrag des Poems war nicht ohne Geschmack. Der Redner schrie oder
+brüllte nur, wenn es kaum zu umgehen war. Bei der Stelle: Wahrheit und
+Natur sind eins! streckte er beide Arme von sich, wie um ein Gespenst
+abzuwehren, und machte eine Generalpause, -- eine verblüffende und gut
+gewählte Einzelheit. Als der Prolog zu Ende war, bekam die erste Geige
+ein ergreifendes Solo zu spielen. Der Baron saß mit tiefsinnigem und
+beglücktem Gesicht in der ersten Reihe, und einige Honoratioren kamen,
+ihm gerührt und mit Achtung die Hand zu schütteln. Seine Frau aber war
+in weicher Hingebung an seine Schulter gelehnt und blickte schmachtend
+ins Leere. Im Grund konnte sie nur schlecht ihre Verstimmung und ihren
+Ärger verhüllen, denn nicht der Provisor saß zu ihrer Linken, wie es
+verabredet war, sondern Philipp Unruh. Der wagte weder um sich noch
+neben sich zu blicken, ihn schüchterte der vornehme Platz ein, und er
+war froh, als der Vorhang für »Melchior oder die Leiden des Alters«
+aufging und eine atemlose Stille im Publikum eintrat. Nur die Baronin
+hörte er bisweilen vor sich hinseufzen.
+
+Es kam da ein alter und ein junger Mann vor. Der alte Mann hieß Melchior
+und war der Vater, der junge hieß Balthasar und war der Sohn. Der Sohn
+war ein verwerfliches Subjekt, denn er wollte Soldat werden, während der
+Alte wünschte, daß er sich zur Theologie wende. Die Verwerflichkeit
+dieses Sohnes ging so weit, daß er sich in ein armes Mädchen verliebte,
+und als die betrübende Tatsache nicht länger zu verheimlichen war,
+erschien das Mädchen selbst vor dem bitterbösen aber rechtschaffenen
+Melchior, welcher vom Direktor mit dem Gefühl eines gekränkten
+Patriarchen gespielt wurde. Die Person, welche die Rolle der armen
+Liebenden spielte, hatte zuerst nur wenige Worte zu sprechen; und sie
+sprach nicht, sondern flüsterte nur hastig und erschreckt, mit
+Seitenblicken auf die Zuhörer. Man hatte sie jämmerlich kostümiert: eine
+Mischung von Empiredame und Fabriksmädchen; aber in ihren Bewegungen
+verleugnete sich jedes Kostüm, war etwas, das anstatt aller Worte
+redete, und nicht aus der Rolle, sondern aus dem Wesen. Dies ist
+sicherlich Myra, dachte sich der Lehrer, und was ihn in Erstaunen und
+Verwirrung setzte, war Myras schöner Mund. Ihn dünkte, daß er einen
+ähnlichen Mund nie gesehen habe. Er sah Trauer und Anmut darin, Güte und
+Verschwiegenheit, Sehnsucht und frühen Tod. Es waren so jähe und starke
+Empfindungen, daß er dabei nicht auf sich selbst und seine Gedanken
+achtete, sondern sich nur einer Folge von seltsamen Einflüsterungen
+übergab. Myra verließ den Schauplatz und es wurde still auf der Bühne,
+obwohl noch immer Leute hin- und hergingen und sich erhitzten. Myra kam
+wieder, und die Luft schien von Wohlgeruch, ja von einem weithertönenden
+Gesang erfüllt. Die Lippen des schönen Mundes hoben sich und senkten
+sich in einer sanften, geheimnisvollen Bewegung, wie wenn der Nachtwind
+über zwei Rosenblätter huscht, die auf einen Marmorstein verweht sind.
+Und abgesehen von aller Schwermut war damit eine Art unsichtbarer,
+tiefer Heiterkeit verbunden, welche vielen Frauen das Seherische und
+zugleich das Vertrauenswürdige verleiht. Philipp Unruh saß vorgebückt
+da, hatte seine Hände flach zusammengedrückt und zwischen die Knie
+geschoben und fürchtete, daß jeder ihn beobachten müsse, und daß es um
+den Ruf seiner Vernunft geschehen sei. Auch diese Empfindung war ihm
+unklar. Sein ganzes Wesen geriet in eine Verworrenheit, welche
+Traumgefühle in ihm erzeugte. Myras Stimme wurde lauter und klarer, aber
+wenn sie sprach, blieben ihre Züge unbeweglich. Als Schauspielerin
+mußte sie das Mitleid eines Kenners wie Doktor Maspero erregen, und als
+die Sache unter großen Bemühungen bis zum Vaterfluch jenes
+ungewöhnlichen Melchior gediehen war, schrieb der erwähnte kritische
+Herr bedenkliche Notizen auf ein Rezeptpapier. Einige Leute, die es
+sahen, nickten respektvoll einander zu, denn der Geist der Verneinung
+ist an jedem Platze hochgeachtet. Melchior begann eben nebst
+verschiedenen anderen Dingen auch sich selbst zu verfluchen, als sich
+unter den Damen im Zuschauerraum eine wachsende Panik bemerkbar machte.
+Eine Ratte lief im Saal umher, verbreitete einen Schrecken, gegen den
+alle Wirkungen des zehnaktigen Lebensbildes verblaßten. Stets ist es die
+gemeinsame Gefahr, welches die Standesunterschiede verschwinden läßt.
+Bleich und zitternd erhoben sich die Frauen, und das Podium für das
+Schauspiel hatte plötzlich die Bedeutung einer Insel im Ozean. Melchior
+hörte auf, Melchior zu sein und machte für die Flüchtlinge, die nicht
+bis zur Saaltür hatten gelangen können, die Honneurs. Unten im Ozean
+waren nur noch Männer ernst und pflichtbewußt damit beschäftigt, das
+Untier aufzuspüren und zu töten. Auch Philipp Unruh hatte sich erhoben,
+verließ mechanisch den Raum und stand bald in dem verödeten Wirtsgarten
+draußen. Es wehten milde Lüfte, und der Schnee war weich geworden.
+Überall waren sickernde Geräusche vernehmbar; von den Bäumen und von den
+Rinnen tropfte das Tauwasser. Vor dem Tor eines Schuppens hockten zwei
+Katzen eng aneinander geschmiegt, und sie rührten sich nicht, sondern
+blickten stumpfsinnig in die flimmernden Lichter vom nahen Bahnhof. Nun
+war weiterhin ein ganz finsterer Winkel, denn der Schuppen grenzte an
+die Kegelbahn, und die beiden Mauern bildeten eine tiefe Ecke.
+
+Vor der Holztüre des Schuppens stand ein kleiner Handwagen und daneben
+eine Bank, auf welche sich der Lehrer setzte, Stille vor sich, Stille
+hinter sich, aber im Innern mancherlei Stimmen und Laute. Und als er so
+in einem Zustand fremdartigen Lauschens dasaß, knirschte der Schnee
+unter langsamen, näherkommenden Tritten. Eine Mädchengestalt tauchte
+auf, die den Kopf gesenkt trug und am Eck des Schuppens wie ermüdet
+stehen blieb. Als fürchte sie, gehört zu werden, setzte sie ihren Weg
+mit kaum vernehmlichem Auftreten fort bis zu dem Handwagen, auf dessen
+Deichsel sie sich setzte, die Ellbogen auf das Wagenbrett stützend. Das
+alles verfolgte Philipp Unruh genau, da seine Augen sich längst an das
+Dunkel gewöhnt hatten. Aber in einem unbewußten Drang von Scham und
+Furcht wandte er seine Augen ab, und in demselben Moment hörte er ein
+Schluchzen, dessen Unaufhaltsamkeit offenbar nur durch fest
+zusammengepreßte Lippen gemildert wurde. Den Lehrer begann es am ganzen
+Körper zu frieren, und sein Blick umschleierte sich. Er dachte nichts
+als den märchenhaften Namen Myra und sah nichts als einen Mund, der sich
+krampfhaft im Schmerz verschloß. Hatte sie nicht einmal vier Wände, um
+sich ausweinen zu können? daß ein dumpfer, kalter Schuppenwinkel im Hof
+dazu dienen mußte? Doch wagte er sich nicht zu rühren. Gequält und
+bedrückt ging er mit sich zu Rate, als wisse er den Grund und wäre
+fähig, Hilfsmittel zu finden.
+
+Eine dröhnende Stimme rief: »Myra!« Die Weinende verstummte, erhob sich
+und ging gegen das Haus. Philipp Unruh wartete lange, denn er wollte
+nicht, daß ihn jetzt jemand aus diesem Winkel gehen sehe. Ihn wunderte
+die Ruhe der Natur. Himmel und Erde schienen ihm noch erfüllt vom
+Widerhall jenes Weinens. Er stand auf und setzte sich auf die Deichsel
+des Handwägelchens, das unter seiner Last ächzte. Ihn erstaunte es, daß
+er nun in demselben engbegrenzten Raume war, in dem Minuten vorher Myras
+Herz geschlagen. Als ob er sich eines Amtes unwürdig fühle, erhob er
+sich wieder, und seine Gedanken richteten sich unvermittelt auf seine
+äußere Erscheinung, auf seine wenig einnehmenden Züge, auf seinen
+zerzausten, rötlichen, herabhängenden Schnurrbart. Ungeduldig verließ er
+die Finsternis und eilte dem Haus zu. Wie groß war aber sein Schrecken,
+sein feiger Schrecken, als er Myra noch auf der Schwelle stehen sah und
+hinausstarren in die Nacht. Er erkannte im Schein des unbestimmten
+Lichts, das aus dem Flur fiel, wie ihr Gesicht sich jäh belebte, als sie
+ihn aus dem Grunde des Hofes kommen sah. Doch blieb er nicht stehen und
+befand sich bald vor ihr, die sich an den Pfosten lehnte, um ihn vorbei
+zu lassen. Er spürte ihren fragenden, unwilligen Blick und sah sie
+verstört von der Seite an. Eine Gewalt von innen hinderte ihn, weiter zu
+gehen, und er murmelte, indem er sich bemühte, einen teilnehmenden Ton
+zu wählen: »Ich habe gehört. Aber zürnen Sie nicht deshalb.« Gott weiß,
+weshalb ihm das alles abenteuerlich und entlegen vorkam und er an seine
+Bücher dachte, wie an rettende Freunde.
+
+Myra erwiderte nichts. Sie nickte nur leicht mit dem Kopf.
+
+»Kann da niemand helfen?« fragte Philipp Unruh in kindischer
+Unbeholfenheit, und als er das geringschätzige Zucken ihres Mundes
+bemerkte, sagte er stotternd: »Ich denke, man hat die Ratte da drinnen
+schon erwischt.«
+
+Das junge Mädchen sah den sonderbaren Kauz mit Überraschung an, lächelte
+und erwiderte: »Ja, das ganze Nest ist leer.« Damit entfernte sie sich.
+
+Unentschieden, welcher Umstand nun den Lehrer mit solchem Glücksgefühl
+beschenkte. Vielleicht war es nur das Lächeln, das mit eines Gedankens
+Schnelligkeit über Myras nachdenkliches und erschöpftes Gesicht geflogen
+war. Vielleicht, daß er das Lächeln einkassierte wie den Gewinst aus
+einer Lotterie, und daß dabei etwas in ihm lebendig wurde, wie in jenen
+Vernachlässigten, die sich plötzlich auffallend vom Glück begünstigt
+sehen. Es kam ihm vor, als ob er in einer gesegneten Zeit lebe und in
+einer angenehmen Stadt. Er trank am Gassenschank durstig ein Glas Bier;
+darauf ward ihm mutig zu Sinn, und unternehmenden Schritts betrat er die
+schon verödeten Straßen. Wer schrie da schon wieder beim Haus des
+Hufschmieds und schwenkte grüßend den Hut, um dann schweigend wie vorher
+seinen Weg fortzusetzen? Es war der Herr Adjutant, dessen fabelhafte
+militärische Würde nur durch seine tiefeinsame Lebensweise
+Glaubhaftigkeit behielt. Philipp Unruh blieb stehen und schaute ihm
+nach. Ein Mann, hatte er sich sagen lassen, der sein Vermögen im Spiel
+verloren und Weib und Kind in Armut, dem Tod geweiht, verlassen hatte,
+der Goldgräber gewesen war und die neugewonnenen Schätze bei einem
+Schiffbruch eingebüßt hatte. Und derselbe Mann lief hier umher, begrüßte
+lärmend in der Nacht die Leute, sprach laut und eindringlich mit sich
+selber, ein Rätsel für alle und für Philipp Unruh mit einem Mal eine
+Kundgebung reichsten Lebens, wertvoller als eine ganze Bibliothek. Man
+konnte hingehen und ihn fragen, und er konnte erzählen mit Lachen und
+mit Weinen; in Büchern aber erzählte nur der Tod in einer bunten Maske.
+Der Nachtwächter trottete vorbei, ließ sein Pfeifchen schrillen und
+leierte seinen Singsang ab: daß man Feuer und Licht bewahren solle. Das
+schläfrige Gesicht glänzte über der Laterne, und er grinste trunken in
+den Schnee. Dann kamen hoch vom alten Turm die langsamen, dröhnenden
+Stundenschläge, um weit hinauszuschallen in das Tal der Altmühl, in den
+Wald und in die nahen Dörfer, ein Signal der Ruhe für Weib und Mann, für
+die Flucher und die Betenden, die Lacher und die Schluchzenden, für den
+Adjutanten und für Myra. Es war nicht zu leugnen, daß im Schlaf die Zeit
+dahingeflossen war, während ungesehen und dem Schläfer greifbar nah das
+Lebendige sich abspielte in Feierlichkeit und in Humor.
+
+
+Siebentes Kapitel
+
+Vor dem Schulhaus lauerte Apollonius Siebengeist dem Lehrer auf, und
+unbeschreiblich war sein Zorn, als Philipp Unruh sein Versäumnis
+eingestand. Er schrie, daß man ihn betrogen und verraten habe. Er sagte
+Schulmeisterlein, und das in einem Ton, der beleidigend wirkte.
+Schließlich aber umarmte er den Geschmähten und sagte, daß er ihm danke,
+denn er liebe seine Zweifel mehr als jene Gewißheit, vor der ihm bangte.
+Doch wurde sein Wissensdurst noch in der selben Nacht gelöscht. Er
+suchte die Wirtschaft zum lustigen Pfeifer auf, wo als letzter Gast ein
+abenteuerlich aussehender Jüngling am Ofen saß. Es war der Komiker des
+Theaters, wie sich aus einem rasch begonnenen Gespräch ergab. Wie alle
+Komiker von Beruf war auch dieser nichts weniger als komisch, sondern
+litt an einer bösartigen Dürre des Witzes, die ihm ein gramvolles und
+verruchtes Aussehen gab. Siebengeist ließ eine ansehnliche Schar von
+Flaschen aufmarschieren, denn bis zur Polizeistunde war es noch weit.
+Der Jüngling erzählte bald von Myra, und es zeigte sich, daß seine
+Sprache einen Klang ins Böhmische hatte, welcher nicht so sehr die
+Verständlichkeit als musikalische Wirkungen förderte.
+
+Wiederum stand der Mond in klarer Höhe, als Siebengeist heimwärts
+kehrte, aber nicht mehr als »sein Feind«. Es herrschte in den Gassen
+eine Stille, für deren Süßigkeit und Lockung es nicht Worte noch
+Gedanken gab. Was da zwischen den Häusern zog und ruhte, war wie
+blaugrünes, zartes Gespinst, Mondrauch; der Schnee glänzte kalt wie
+weißer Atlas. Eine Nacht für Myra; wenn sie auch litt, er wußte doch
+wofür und Wahrheit mußte es sei. Trübe Dinge, die ein Komiker erzählt,
+sind wahr. Sie hatte kein Wanderleben geführt. Die Mutter hatte als
+Witwe in einer kleinen thüringischen Stadt gelebt, wohin Schmalichs
+Wandertruppe kam. Lebenslustig und unzufrieden, durch Romanlektüre
+verdorben und unerfahren, hatte sich die noch junge Frau dem jungen
+Liebhaber der Schmiere an den Hals geworfen, wollte mit ihm ziehen, der
+»Kunst« ein Opfer bringen. Und Myra folgte von Ort zu Ort und wurde erst
+stutzig, als die Mutter im Theater mitzuspielen begann; von da an mußte
+sie in Wirrheit und Fährlichkeit gerissen worden sein. Der Mutter
+schwärmerisch zugetan, merkte sie nicht deren wachsende Kälte, spürte
+zuletzt nicht ihren Haß. Myras Mutter, so sagte der Komiker, war
+eifersüchtig auf die Tochter, und diese Eifersucht durchtränkte ihre
+Handlungen bis in den feindseligen Ton eines bloßen Grußes. Myra wußte
+nicht, wie ihr geschah. Ahnungslos wie bisher folgte sie an der Seite
+ihrer Mutter dem Wanderleben der Komödianten. Und in Bamberg war sie
+eines Tages allein, lag sie verlassen in einem armseligen Gasthof und
+las die dürftigen Abschiedsworte der Mutter. Man erinnerte sich bei der
+Truppe, sie ohnmächtig im Zimmer des Direktors gesehen zu haben. Sie
+hatte nicht Geld noch Kleider noch Freunde, nichts, als was sie sich
+selbst sein konnte. Man erinnerte sich des Tags, an dem sie zum
+erstenmal im Schauspiel aufgetreten war, ein Gegenstand des Hohns für
+die genialen Kollegen trotz der stummen Rolle. Aber Herrn Schmalichs
+Ansicht war, daß ein reisendes Theater hübsche Frauenzimmer brauche, und
+daß man auch das leidendste Gesicht in ein lustiges umschminken könne.
+Man hatte Myra niemals anders gesehen, als sie heute war, und heute
+schon war es, als trüge sie das Bild kommenden Unheils im Herzen.
+Solchen Augen kann kein Gewordensein die Furcht vor dem Werdenden
+nehmen. Zwischen Lügen, Schmutz, falscher Heiterkeit und wirklicher
+Armut lebte sie vielleicht gleichmütig, vielleicht abwartend hin, und
+Siebengeist sah sich schon als den, welcher erwartet wurde. Zu früh
+erschien ihm ein Geheimnis gelüftet, das ihm beim Wein offenbart worden.
+Zu früh nahm er das Geschehene als vergangen, ließ er seiner Hoffnung
+freien Lauf. Und zwischen ihm und dem andern Einsamen im Schulhaus spann
+die Nacht die gleichen Fäden der gleichen Gefühle und trieb irgendwo das
+Verhängnis aus einem abgelegenen Grunde hervor, daß es weiter weben
+möge, was sie spielerisch begonnen.
+
+Zu Philipp Unruh kam am Morgen der Schulrat. Es handelte sich um eine
+gewichtige Beschuldigung. Die seltsamen Reden aus der Geschichtsstunde
+waren beunruhigend zu den Ohren der Schulbehörde gedrungen. Der Herr
+Schulrat hatte ein Bläschen auf der Nase und außerdem ein Horn auf der
+Stirn, da er sich im Traum am Bettpfosten verwundet hatte. Beide
+Verunzierungen jedoch gaben seinem Gesicht einen erhöhten Ausdruck der
+Amtsgewalt, als könne einzig ein Schulrat darüber entscheiden, ob
+Ungerechtigkeit auf dem Thron der Welt residiere. Der Lehrer war
+erstaunt. Er wußte sich seiner Worte kaum zu erinnern, und als er
+vernahm, was er selber gesagt, fand er es so widersinnig und
+abgeschmackt, daß er beredter und liebenswürdiger als je den Mann mit
+Bläschen und Horn vollständig beruhigte. Seiner Leidenschaft für Bücher
+entsann er sich wie der sonderbaren Torheit eines andern; der Verlust
+der Kiste kam einem gewöhnlichen Unfall gleich. Die Leute, die ihm
+begegneten, hatten andere Gesichter, andere Bewegungen, andere Worte als
+sonst. Die Kinder im Schulzimmer waren nicht mehr so sehr Gegenstände,
+an denen der Stundenplan erledigt werden mußte. Ihre Augen waren
+belebt, ihr Ungehorsam schien liebenswürdiger, ihre Unwissenheit
+begreiflich, ihre Ungeduld gegen das Stillesitzen des Nachdenkens wert.
+
+Als er mittags an der Apotheke vorbeiging, sah er drinnen Siebengeist
+allein, und er trat ein. Der Provisor war mit leidenschaftlichen
+Gebärden beschäftigt, in einer kolbenartigen Schüssel eine dicke,
+weißliche Masse zu zerreiben. Philipp Unruh setzte sich auf die
+geschnitzte Bank und entschuldigte sein Betragen vom gestrigen Abend.
+Der Provisor lachte, schalt ihn einen kreuzverkehrten Bruder, machte die
+lustigsten Grimassen, während er aus Leibeskräften zu reiben fortfuhr.
+Plötzlich verdüsterte sich sein Wesen, und er erzählte andeutend und
+abgerissen einiges von dem, was er über Myra erfahren hatte. Es schien,
+als verlangte ihn selbst nach Rat und Klarheit, doch der Lehrer konnte
+nicht Einblick gewinnen in das Wirrsal der Erzählung. Er schwieg
+beharrlich, wünschte, nichts gehört zu haben, und Siebengeist fing
+wieder an, gesichterschneidend seine Salbe zu reiben. Plötzlich beugte
+er sich zu Unruh herab, flüsterte, den Mund nahe dessen Ohr und den Arm
+gegen eine Tür im dunkelsten Hintergrund ausstreckend. »Es steht eine
+dort auf der Schwelle und lauscht. Bin ich jemand verschuldet, der mir
+die Taschen mit Geschenken vollstopft? Ich nahm von jeder Dirne im Haus,
+wie es die Nacht gewollt. Darf man sich darum an meine Schuhe klammern
+und meine Kraft verringern, das zu erobern, woran mein Leben hängt?
+Wohlgemerkt, nicht jedes Spänchen Holz macht eine warme Stube!« Er hatte
+den Lehrer unter den Arm gefaßt und den Verschüchterten scheinbar
+absichtslos in die Ecke geführt. Nun riß er die Türe auf und sagte die
+letzten Worte laut, fast schreiend. Vor den beiden stand die Baronin,
+zitternd, linnenweiß im Gesicht und blickte gemartert den Flurgang
+hinab gegen die Straße. Siebengeist lachte und schlug die Türe wieder
+zu.
+
+Es kam nun so viel Schwüles, Überraschendes und Neues, daß die Zeit
+gewissermaßen ihre Abgemessenheit verlor. Ein Umhertaumeln zwischen
+Wissen und Erraten, zwischen Angst und Mut, zwischen Fülle und
+Entbehrung, ein Atmen in zitternder Luft, Reden ohne Besinnung, Träumen
+ohne Schlaf, Bilder, die vom Sturm vorbeigejagt und manche doch
+dauernder als Stein.
+
+Philipp Unruh saß in der kleinen Schankstube des fränkischen Hofs. Es
+war wieder kalt geworden, und die Scheiben zeigten Eisfiguren, trotzdem
+die Sonne vom blauen Himmel schien. Der Wirt und ein Viehhändler aus
+Nördlingen saßen kartenspielend beim eisernen Öfchen. Aber das Geknister
+des lustigen Feuers wurde bald übertönt von zornigen und heiseren
+Männerstimmen aus dem Theatersaal. Es ist eine Schauspielprobe, dachte
+der Lehrer, jedoch trat alsbald der Bonvivant aus dem Theater in die
+Schankstube, verlangte grimmig einen Krug Bier und erzählte grimmig in
+demselben Atem, daß die sentimentale Liebhaberin sich weigere, dem
+Kritiker ihren Verehrungsbesuch abzustatten. Dergleichen sei noch nicht
+dagewesen, so lange man Komödie spiele zwischen Himmel und Erde, und sei
+um so abscheulicher, als der Doktor Maspero ein charmanter Herr sei,
+welcher vortrefflichen Schnaps vorzusetzen wisse. Der Wirt hieb mit
+Geräusch die Trumpf-Aß auf den Tisch; der Viehhändler schielte den
+Schauspieler bösartig an. Im Saale war es still geworden, und auf einmal
+kam Myra heraus. Philipp Unruh schaute sie eine Sekunde lang mit
+blinzelnden Augen an, sah dann feig in eine Ecke, und es schien ihm, als
+sänken seine Schultern schwer gegen den Tisch. Das Mädchen hatte
+purpurrote Wangen, doch ihre Stirne war bleich, ihr Blick leer,
+unsicher, stechend, ihr Rücken ein wenig gekrümmt. Sie ging, als suche
+sie einen Ausgang, und blieb dann stehen wie in eine Falle geraten. Herr
+Schmalich kam hinter ihr her, und auf seinen Mienen drückte sich
+Verlegenheit aus. Sie wandte sich gegen den Direktor und sagte leisen
+Tones und mit erschreckender Schnelligkeit eine Reihe von Worten, welche
+niemand verstehen konnte. Ihre Stimme wurde immer lauter, doch die Worte
+verloren alle Artikulation. Aus dem Theaterraum kamen zwei dicke
+Schauspielerinnen und der Heldenvater und spendeten lachend Beifall,
+während der Wirt und sein Kartenkumpan aufgeregt näher traten. Jetzt
+begann Myra selbst zu lachen, und zwar so, daß der Lehrer wie Einhalt
+gebietend seine bebenden Arme gegen sie ausstreckte. Da stürzte sie auf
+den Boden, und Schaum quoll von ihren Lippen. Alle waren stumm und blaß
+geworden und rührten sich nicht. Philipp Unruh, der sich selbst und jede
+Scheu vergaß, stürzte herzu, kniete auf den Boden, legte den Arm unter
+ihren Hals, murmelte verstört vor sich hin und beugte suchend sein
+Gesicht gegen das ihre.
+
+Er konnte es niemals vergessen. Niemals die halbgeschlossenen und
+halberloschenen Augen, ob haßerfüllt, ob dankbar, er wußte es nicht. Er
+konnte die nahe Wärme ihres Körpers nicht vergessen, das verwirrte
+schwarze Haar, das seine Schläfen streifte. Er empfand immerfort den
+Druck ihres Nackens auf seinem Arm, den Hauch ihres Mundes neben seiner
+Hand. Als er zitternd in der Schankstube kniete, voll Furcht, daß man
+sie ihm raube, wollte er an kein Weiterleben denken, welches sich nur
+die Erinnerung zum Besitz machen konnte.
+
+Andere Dinge kamen. Ihr Name erfüllte die Luft bei allem, was geschah.
+Der Apotheker schickte in mysteriöser Weise herüber, um Unruh holen zu
+lassen. Als der Lehrer kam, schritt der blasse Baron in bedeutsamer
+Gangart im Zimmer auf und ab, erklärte ganz ohne weiteres, daß der
+künstlerische Geist im Ort gehoben werden müsse, daß er als Gemeinderat
+bereits in solchem Sinn vorgegangen sei und eine gewisse Summe zur
+Verfügung gestellt habe, um das treffliche Institut des Herrn Schmalich
+für die Dauer des Winters zu subventionieren. Ja, dann käme ein neuer
+Wind, ja, dann käme ein edles Feuer unter die lauen Gemüter. Er selbst
+habe ein Theaterstück verfertigt; er wolle weiter nichts verraten, aber
+es suche seinesgleichen. Darauf schob er an beiden Türen die Riegel vor,
+lud seinen Gast ein, vor dem prachtvoll mit Wein und kalten Speisen
+gedeckten Tisch Platz zu nehmen, rückte die Lampe zurecht und schlug
+eine sehr dicke Handschrift auf. Dieses Drama aller Dramen beschäftigte
+sich ausschließlich mit einer neuen und respektablen Idee, wie man die
+Wälder vor gänzlicher Ausrottung schützen könne. Aber von alledem hörte
+der Lehrer nur das eine, daß er nicht zu fürchten brauche, Myra heute
+oder morgen entschwinden zu sehen, und er liebte dieses stundenlange
+Trauerspiel, von welchem seine Hoffnungen sich lösten gleich farbigen
+Abendwolken aus trübem Moor.
+
+Tag und Nacht, Dunkelheit und Sonnenlicht wechselten nach anderen
+Gesetzen als bisher, wie wenn der Wille, dem der Weltkreis untertan,
+neue Erscheinungsformen erdacht hätte. Es waren sonderbare Empfindungen,
+die Philipp Unruhs Herz bestürmten, als er, beim Biere sitzend, in
+demselben Raum wie wenige Stunden vorher, Myra sich gegenüber sah. Drei
+Schauspieler befanden sich bei ihr am Tisch, und sie lächelte wie
+jemand, der alles mit Entschlossenheit abgeworfen hat, was ihn
+belästigte. Doch war das Lächeln fremd und unerklärbar durch seine
+Dauer und verursachte, daß man das eigentliche Gesicht nur wie durch
+eine unendlich dünne Maske erkennen konnte. Die Wangen waren noch ebenso
+rot, die Stirn noch ebenso bleich, der Hals noch ebenso vorgestreckt, so
+daß der Rücken gekrümmt erschien. Die verkniffenen Augen blickten
+mißtrauisch, listig, ziellos, bis plötzlich eine Art Schrecken in sie
+geriet, der sie aufriß. Sie sah den Lehrer nicht, sah überhaupt nichts.
+Später lachte sie über alles, was der Komiker sagte, und darnach
+erhielten ihre Züge einen halb unwilligen, halb trostlosen Ausdruck.
+
+Die Mutter Myras und der Galan kamen zurück. Sie hatten offenbar in der
+Welt mehr Hunger als Vergnügen gefunden. Die ehedem wohlhabende Witwe
+hatte schon alles verschleudert, was sie besessen. Mit der einen Hand
+hatte sie Liebe gegeben, mit der andern Geld; dementsprechend war die
+eine beschmutzt, die andere leer. Zwischen Trübsinn und überreizter
+Laune verzehrte sich ihr Gemüt, und viele Stunden lang konnte sie damit
+zubringen, sich zu schminken, zu putzen, zu verjüngen. Am ersten Tag
+schon war es so, saß sie bis in den Nachmittag vor dem Spiegel, rechts
+und links je zwei Kerzen, denn draußen war dicker Nebel. Dann kam der
+Schauspieler, und Myra mußte gehen. Sie erhob sich vom Kaffeetisch und
+ließ die volle Tasse unberührt. Der schlanke junge Mann, dessen Gesicht
+etwas von einem Cäsaren und etwas von einem Schäferhund hatte, sah ihr
+nach; er wußte genau, was sie bei ihm zurückließ, und sie, förmlich
+verwundet von seinem Blick, ging die Gasse hinauf und traf Siebengeist
+unter dem Turmbogen. Sie atmete schwer, hörte kaum die Worte ihres
+Begleiters und bat, er möchte sie in den Wald führen. Sie wanderten also
+gegen den Burgstall hinauf (so heißt der Wald), und es war, als
+schritten sie durch feuchten, bleiernen, grauen Rauch, so dick und
+lastend lag der Nebel. Siebengeist verstummte bald. Zufällig kam Philipp
+Unruh von den Holzschuppen herüber und stand mit einem Mal vor dem
+schweigenden Paar. Ihm war, als habe ihn ein Schuß getroffen, und es
+rieselte ihm kalt durch Mark und Bein. Jählings deckten sich ihm
+geheimnisvolle Beziehungen auf, die bisher gleichsam hinter Häusermauern
+verborgen waren, und ein allgemeiner, aber stürmischer Menschenhaß
+erwachte in seiner Seele. Doch wie es ihm aus Visionen vertraut war,
+ging ihm Myra einen Schritt entgegen. Sie stand so nahe bei ihm, daß er
+ein Schneeflöckchen auf ihren Wimpern gewahren konnte, welches langsam
+zerschmolz. Schüchtern und freundlich sagte sie: »Sie sind gut gegen
+mich gewesen, ich weiß es, ich danke Ihnen. Gehen Sie doch ein wenig mit
+uns.« Er schaute zu Boden und lachte lautlos, stotterte zwei, drei
+Worte. Dann schaute er vor allem den kindlich schönen Mund an, der dies
+gesprochen, und ein unbezähmbarer Wunsch erwachte in ihm, der um sich
+griff wie Feuer im dürren Buschwerk. Er wünschte, jenen Mund küssen zu
+dürfen, nichts weiter; aber das versetzte sein Wesen in einen Taumel,
+der ebenso nahe der Verzweiflung wie der Erfüllung war. Mehr als ein
+Traum und eine äußerliche Begierde; mehr als das bloße Aufwachen zu
+einem Wertbewußtsein; mehr als die Hoffnung auf ein mittelmäßiges Glück.
+Es war der elementare Schmerz und Rausch des dumpfen Menschen, der mit
+Raubtierkraft an Gittern rüttelt, deren Vorhandensein er nicht begreifen
+will.
+
+Myra hatte plötzlich das Verlangen, Schneeball zu werfen. Alle drei
+nahmen auf einem freien Stück Feld vor dem Wald Aufstellung. Das junge
+Mädchen war fröhlich bei der Sache, und der Lehrer sog ihr Wesen in sich
+auf wie Lebensnahrung. Er sprach nicht, weder bei dem Spiel, noch bei
+dem Waldgang später. Eine innige, überzeugende Gestalt wandelte an
+seiner Seite. Er hörte ihre gepreßten Worte, die sie aus allen Winkeln
+des Raums zusammenzusuchen schien, und die sie unsicher sprach mit
+milder Stimme und bittender Gebärde. Er sah, wie sie schüchtern Fragen
+stellte und schüchtern lächelte, wie sie über nichts in der Welt
+genügende Klarheit erhielt und jeden anstaunte, der mit Sicherheit eine
+Behauptung aufzustellen wußte; wie vieles ihr gefiel und wie viel sie
+besitzen mochte und wie sie zugleich darüber unruhig war und die Fülle
+ihres Wünschens als Vergehungen empfand; wie sie mit Sympathie umgeben
+war wie der Erdball mit Luft und wie sie gleichwohl fürchtete, von
+jedermann gehaßt zu sein: ein Wesen aus Fleisch und Blut, eine von
+denen, die für das Glück geschaffen scheinen.
+
+
+Achtes Kapitel
+
+Siebengeist war ein großmütiger Lustigmacher, der sich selbst vergessen
+konnte, um Myra zu erheitern. Wenn er anfing, zu plaudern und Gesichter
+zu schneiden, blieb sie nicht ernst. Was trieb er doch nicht alles! In
+derselben Stunde war er Fabulist und Taschenspieler, Schlangenmensch und
+komischer Musikant, sprang über die Tische und parodierte die
+Schauspieler, formte Damen aus Schnee und dichtete närrische Sonette
+über seine Laufbahn als Apotheker. Myra hatte viel Freude an ihm. Sie
+schenkte ihm einen schmalen Reif mit einem winzigen Rubin, und dafür gab
+ihr Siebengeist ein goldenes Herz, welches die Inschrift trug: /vers Dieu
+va./ Philipp Unruh fühlte sich als Zaungast und suchte Einsamkeit.
+Unsichtbar ging Myra an seiner Seite bei den weiten Spaziergängen,
+unsichtbar ging sie in seinem Haus umher. Unhörbare Reden wechselte sie
+mit ihm, schenkte ihm Vertrauen, billigte seine Entschlüsse. So
+erhielten sein Sehen und Denken, seine Gebärden und Worte eine
+verzweifelte und verschwiegene Glut. Auf allen Wegen, an allen Mauern
+stand ihr Name, und wurde er wirklich genannt, so erschrak der Lehrer
+wie ein Verbrecher, der unerkannt die Früchte seiner Tat genießt. So vor
+Doktor Maspero, der beim nächtlichen Heimgang von Myra sprach.
+
+Der Provisor sei ein Narr, meinte dieser gescheite Mann, und alle Welt
+habe recht, ihn zu verdammen wegen seiner Narrheit. Was für eine
+Bedeutung habe dies törichte Scharmuzieren? Ein bettelarmes Persönchen,
+das weder hübsch noch klug sei und zweifellos einen wahnsinnigen Zug in
+den Augen trage. Niemand wisse, was sie dabei wolle.
+
+»Ein altes Wort lautet: was ein Weib will, das will Gott,« murmelte der
+Lehrer.
+
+»So? Eine jammervolle Sentenz, Schulmeister! Ich glaube, Ihnen sitzen
+Gespenster im Magen. Sei's drum! Ich gönne jedem sein Plätzchen an der
+Sonne. Gute Nacht.«
+
+Der Lehrer fühlte sich verlassen. Er blickte spähend durch die fallenden
+Schneeflocken, als erwarte er einen Freund, mit dem er die Nacht
+verbringen könnte. In der Tat tauchte eine schwarze, hagere Gestalt aus
+der Finsternis auf. Es war der Herr Adjutant. Beim Anblick des Lehrers
+packte er sofort begeistert seinen Hut, schwenkte ihn gegen das
+Firmament und schrie den Abendgruß, als ob er seinem Landesfürsten
+zujauchzte. Gleich darauf ging er wieder stelzengerade und lautlos
+seines Weges weiter, und sein gravitätischer Schritt machte den Schnee
+klirren. Philipp Unruh empfand auf einmal eine wunderliche Sympathie für
+diesen Mann, der seine einsame Wohnung nur mit einem zärtlich geliebten
+Affen teilte, dem er den aparten Namen Kümmerlich gegeben hatte.
+
+Neben der Post befand sich ein uraltes Gebäude, in welchem Myra mit
+ihrer Mutter wohnte. Die zwei Fenster waren erleuchtet und durch gelbe
+Rollvorhänge verdeckt. Der Lehrer stand im Schnee auf der andern Seite
+der Gasse und lehnte sich an die Türe des Kürschnerladens. Eine
+Silhouette ward auf dem Vorhang sichtbar: das Profil eines Mannes, das
+auftauchte und verschwand. Dann erschien derselbe Kopf noch einmal, nahe
+beim Fenster und deshalb sehr klein und scharf und wurde unter
+beständigem lebhaften Nicken immer größer. Ein zweites Bild, ein
+Frauenhaupt erschien daneben, und beide verharrten nun in Ruhe, als ob
+sie sich unverwandt ansähen, neigten einander zu, wichen von neuem
+zurück, und gleichzeitig erschien am zweiten Fenster ein anderer
+Schatten, bei dessen Anblick sich Philipp Unruhs Stirne unwillkürlich
+verdüsterte. Dieser Schatten, klar begrenzt von Licht, war den beiden
+übrigen bewegungslos zugewandt, als flösse sein Dasein von ihnen aus.
+Haare fielen abenteuerlich in die Stirn, deutlich war die feine Nase
+gezeichnet, deutlich der verschlossene Mund. Das ganze Spiel der drei
+körperlosen Gestalten hatte etwas so Unwirkliches und Phantastisches,
+daß der Lauscher bisweilen staunend in die Dunkelheit starrte, auf die
+friedlichen Häuser im Umkreis, und mit eigentümlicher Gewalt die Ruhe
+spürte, die in allen schneebedeckten Gassen ausgebreitet war. Aber dies
+erschien ihm nur als ein täuschendes Kleid, unter dessen unbewegten
+Falten verheerende Leidenschaften brüteten, um die Erde zu bedrohen und
+zu erschüttern. Er selber war ergriffen, ja gefoltert und wagte nicht,
+darüber ins klare zu kommen. Ungeduldigen neuen Lebens voll, sah er
+millionenfaches Leben um sich in eisiges Schweigen gehüllt durch die
+stummen Kräfte der Natur.
+
+Nun geschah etwas Sonderbares. Die beiden Schatten erhoben sich
+gleichzeitig, ohne von einander zu weichen. Der dritte Schatten streckte
+die Arme aus, flehentlich oder beschwörend. Dann glitt der eine
+Frauenschatten zum zweiten Fenster. Die ausgestreckten Arme fielen
+herab, und die ganze Gestalt versank. Die zweite wuchs geisterhaft
+empor, beugte sich auf und nieder mit beängstigender Hast. Die
+Silhouette des Mannes stand regungslos, eine Hand gegen das Gesicht
+gepreßt, -- und plötzlich ward alles schwarz und finster.
+
+Der Lehrer seufzte bang. Unschlüssig und erratend stand er da, als ein
+Tor zugeschlagen wurde und jemand auf die Straße gestürzt kam. Unruh
+sah, daß es Myra war, in bloßen Kleidern, ohne winterliche Hülle, und
+mit einem halben Ausruf schritt er ihr entgegen. Mit tastendem Schritt
+näherte sie sich ihm, und er spürte ihre Hand in seinen Arm sich
+förmlich einkrallen. Mit einem Blick, der von Angst, Erschöpfung und
+Verzweiflung stier geworden war, schaute sie gleichsam durch sein
+Gesicht hindurch. Das alles geschah lautlos. Auch im Hause regte sich
+nichts, und die Fenster oben blieben schwarz.
+
+Philipp Unruh sah ein Geschöpf vor sich, auf dessen Wort und Aufschluß
+er nicht rechnen durfte, das nur noch mit einem Schein äußeren Lebens
+begabt, sich ihm überließ wie ein Gegenstand. Die augenscheinliche
+Gefahr, die außerordentlichen Umstände verliehen ihm Besinnung und Kraft
+des Entschlusses. Seine scheuen, dumpf brennenden Gefühle verkrochen
+sich in der Stunde der Tat. Er nahm Myra auf den Arm und eilte mit ihr
+durch die Nacht dem Schulhaus zu. Leicht schien ihm seine Last, aber das
+ungewisse Vibrieren des Körpers in seinen Armen ließ beinahe sein Blut
+stocken. Die leere, stumme Nacht eilte vor ihm her und verwirrte seinen
+Blick. Er fragte sich gar nicht, wohin er anders mit der willenlosen
+Myra gehen könne, als in seine eigene Behausung. Er hörte hinter sich,
+doch ziemlich ferne schon, Stimmen in der Finsternis, und eine davon
+schrie in hellem Ton immer wieder dasselbe Wort. Er achtete nicht
+darauf, sah nur mit Neugierde und Mißtrauen die Straße entlang, denn ihm
+schien, als sei er in ein bisher unbekanntes Land geraten.
+
+Das Schulhaus, ihm längst vertraut in jedem Winkel, barg heute Gefahren.
+Unter dem Stiegeneck waren glänzende Augen. Hoch im Gitterfenster
+leuchtete ein verräterisches Licht. Es war kein Mensch im ganzen
+Gebäude, denn die Wirtschafterin schlief im Haus des alten Löwy. Bis zur
+Kraftlosigkeit ermattet, nach Atem keuchend, schleppte er Myra die
+Treppen empor, stieß die Zimmertüre auf, legte das junge Mädchen auf das
+Bett und machte Licht.
+
+Sie hatte die Augen geschlossen. Zum erstenmal sah er ihr Gesicht
+bleich. Er benetzte ihre Schläfe mit Wasser und murmelte ihren Namen vor
+sich hin. Sie rührte sich nicht. Er legte das Ohr auf ihre Brust, und
+als er keinen Herzschlag vernahm, wurden vor Schrecken seine Augen
+feucht. Die verbrecherische Kraft eines kaum geahnten Wunsches habe ihn
+gezwungen, sie hierherzubringen, so glaubte er jetzt. Er riß das Fenster
+auf, um jemand zu erspähen, der zum Doktor laufen könne. Aber der Hof
+lag finster und öde. Er schrie: Johanna! dann: Kunigunde! und noch
+einige, denen er vielleicht den Schlaf aus den Lidern rufen konnte. Er
+rannte ins Schulzimmer, schaute dort hinaus, straßauf, straßab, aber er
+wurde nichts gewahr als eine drückende Verlassenheit, die sich zu regen
+schien unter dem gleichmäßigen Fall der Schneeflocken.
+
+Jedoch als er zurückkam, von Frost und Angst geschüttelt, saß Myra
+aufrecht im Bett.
+
+Sie lächelte; ein wunderliches, stumpfes, unveränderliches Lächeln. Die
+schöne Rundung der Unterlippe, die feine, etwas träumerische Linie der
+oberen traten in bezaubernder Klarheit hervor. Von einer eigentümlichen,
+furchtsamen Freude ergriffen, sagte der Lehrer: »Sie sind wach?« und
+seine Stimme bebte. Sein Beginnen kam ihm frevelhaft vor. Er hatte sich
+ihrer bemächtigt, das war es. Eine Verantwortung nahte, vor der er
+zusammenbrechen würde. Er bewunderte und fürchtete zugleich jene Person,
+die er selbst noch vor einer halben Stunde gewesen war, jene wild und
+unbekümmert handelnde Person. Sorgenvoll und überlegend stand er auf der
+Schwelle, der Rechenschaft gewärtig, die man von ihm fordern würde.
+Aber in seiner innersten Seele ergriff er Besitz von Myra und ging mit
+sich zu Rate, ob er nicht das Tor vor Eindringlingen schützen solle.
+Endlose Stunden der Nacht würden folgen, und am Morgen? Das Ende von
+allem.
+
+Das junge Mädchen schauderte vor der hereinfließenden Kälte, und so
+schloß er die Türe. Er setzte sich an das Bett und fragte Myra, ob sie
+krank sei, er wolle gehen und den Arzt holen.
+
+Sie antwortete nicht, sondern blickte aufmerksam ins Licht der Lampe.
+Mit traurigen Augen sah sie der Lehrer an. In wahrhaft ungestümer Gewalt
+erwachte der Wunsch in ihm, den so nahen Mund zu küssen. Überlegungen
+wie Kriegspläne formten sich, und er blickte dabei zurück auf sein Leben
+wie in eine graue, regnerische Heide. Er lehnte die Stirn an den
+Bettpfosten und fing unvermittelt zu weinen an wie ein Knabe. Die
+Erkenntnis seiner Leidenschaft und seines leidenschaftlichen Gemütes
+machte ihn in hohem Grade bestürzt, wie es oft bei religiösen und
+einsamen Naturen der Fall ist.
+
+»Ach, du bist es, Wilhelm?« sagte Myra tonlos. »Warum liest du mir nicht
+vor? Lies mir doch vor aus dem lustigen Stück.« Sie lächelte wie früher
+und legte ihre Hand auf die seine. Philipp Unruh richtete sich auf und
+hielt zitternd ihre Hand fest. Er vermeinte seine eigenen Gedanken zu
+sehen, wie sie auf einmal wirr und schwarz wurden.
+
+»Nimm dasselbe Buch,« fuhr Myra leise fort. »Du weißt, was du auf eine
+leere Seite geschrieben hast. Es war das Schönste, Seligste. Die Mutter
+hat es gelesen und kam mit dem Messer gegen mich. /Oh, cela ne fait rien,/
+sagt Madam Biraud. Du siehst es ja, ich lache und jetzt lies, lies vor!«
+
+Als Philipp Unruh zögerte, wurde sie ungeduldig, und ihr Mund verzog
+sich gramvoll. Da griff er mechanisch nach jener Ansbacher Chronik, die
+ihm allein von seinen Büchern geblieben war, blätterte mit bebenden
+Fingern und las von alten Ereignissen, vom markgräflichen Leben am Hof,
+von den Emigranten, von Denkmälern und Baubefugnissen, von Pest und
+Kriegsplage, kurz, was eben in solch einer Chronik Wichtiges zu stehen
+pflegt. Inhaltsloser und sinnloser waren ihm niemals Worte vorgekommen.
+Ihm schien, als grübe er Staub aus finstern Verstecken. Myra lauschte
+entzückt jeder Silbe und freute sich, als ob es eine amüsante Szene sei,
+deren Entwicklung sie zu hören bekomme. Allmählich wurden ihre Züge
+schlaff; sie lehnte sich zurück, ihre Augen schlossen sich, und sie
+schien zu schlafen, während der Lehrer aufgewühlten Herzens weiter las,
+den stillen Raum mit seinen monotonen Lauten füllend.
+
+Plötzlich fuhr Myra empor. »Glaubst du es denn nicht,« rief sie aus, mit
+einer inbrünstigen Hingebung in ihrer Stimme, in ihren Geberden, in
+ihrem Gesicht, »glaubst du es denn nicht? Für dich könnte ich ja
+sterben!« Sie lachte glücklich und fiel wieder auf das Kissen zurück.
+
+Philipp Unruh schlug die Chronik zu und stützte den Kopf in die Hand.
+Ihm war bang und weich zu Mut. Diese Worte, gleichviel ob sie ihm galten
+oder nicht, waren nun zu ihm gesprochen worden. Er durfte die
+Vergangenheit vergessen, ohne sie betrauern zu müssen. Diese Worte
+brachten sein Gemüt in Schwingung, wie der Glockenschall die Luft in
+einer Kirche bewegt. Er wußte, eine solche Stunde des Zutrauens, eine
+solche Nacht der Wunder würde nicht wiederkehren in seinem Leben, und
+unersättlich sog er alle Hoffnungsmöglichkeiten in sich ein, als könne
+dadurch seine Zukunft beschützt werden. Ringsum war alles Leben
+lebendig, geschmückt durch Hingabe und Zärtlichkeit, ja selbst durch
+Gefahr und Tod. Denn der Tod ist es wert, gestorben zu werden, wenn er
+etwas raubt, das zu besitzen sich lohnt. So wurde sein Geist
+weitschauend durch die Macht eines Augenblicks, welcher die Ewigkeit
+enthielt.
+
+Er überzeugte sich, daß Myra nun wirklich schlief, und erhob sich
+geräuschlos. Er legte das Buch auf die Lade und dachte angestrengt nach.
+Wenn Myra krank lag und im Fieber redete, was sollte er dann mit ihr
+beginnen? Die Leute waren zu fürchten, denen der Tag Kunde bringen
+würde, wer nächtlicherweile in des Lehrers Haus eingezogen sei. Darüber
+mußte er wachen, mehr als über sein Glück. Höher als dies stand ihm die
+Sitte. Sie regelte nach seiner Überzeugung den Mechanismus der Welt im
+kleinen wie im großen.
+
+Es war keine Zeit mehr zu versäumen. Betrübt warf er seinen Mantel
+wieder um die Schulter, trat neben die Schlafende und blickte lange auf
+das regungslose Gesicht, dem der Schlummer einen vergrämten und
+angestrengten Ausdruck verliehen hatte. Dann stellte er die Lampe auf
+den Schrank und ging leise hinaus. Er wollte zu Siebengeist, um mit ihm
+zu beraten, was hier zu tun sei.
+
+Ohne das Tor zu versperren, betrat er die Straße. Es schlug zwölf Uhr
+vom Turm. Der Himmel war klar geworden und zitterte vor Kälte. In
+graublauer Dämmerung lagen Dächer und Giebel.
+
+
+Neuntes Kapitel
+
+Nachdem er den Glockenstrang bei der Apotheke gezogen hatte, öffnete
+sich unter dem spitzen Dachwinkel ein Fenster, und eine dünne
+Mädchenstimme schrie herab, daß kein Mensch zu Hause sei. Die
+Herrschaften und der Provisor seien auf dem Ball beim »Ratgeber«. Der
+Provisor käme erst in einer Stunde zurück, und solang müßte man warten
+oder zum Ratgeber schicken.
+
+Der Ratgeber war ein Hotel, welches sich eine Viertelstunde außerhalb
+des Städtchens, auf der sogenannten »Höhe« befand. Dort schloß sich
+unmittelbar der Wald an, der sich dann weit hinein erstreckt ins
+mittlere Franken. Philipp Unruh entschloß sich rasch zu der Wanderung,
+und noch auf der Landstraße sah er oben am Waldrand die strahlenden
+Fenster und hörte, von Schritt zu Schritt deutlicher, den Brummbaß der
+Tanzmusik. Es war eine Art Faschingsball, den die Gemeinde selbst
+alljährlich mit großem Prunk veranstaltete. Dort waren nicht nur die
+größten Notabilitäten des Ortes, sondern auch der Präsident des Kreises
+anzutreffen, der von Ansbach herüberkam.
+
+Fern auf dem Bahnhof klirrte das Eisen der Waggons, welche rangiert
+wurden. Der Schnee der Straße schimmerte hell. Die Sterne standen am
+Himmel und schaukelten unruhig wie Lichter im Wasser.
+
+Wo sich der Weg gegen die Anhöhe hinaufbog, stand, auf der Landstraße
+noch, ein kleines Wirtshaus. Im größeren Raum waren Knechte und Dirnen,
+die nach der Musik einer Mundharmonika tanzten. Wie sich die Paare beim
+düstern Schein einer Öllampe drehten, das gab ein wüstes und grelles
+Bild. In der kleinen Stube lehnte ein Mann gegen das Fenster, die Stirn
+gegen die Scheibe gepreßt, und der Lehrer erkannte sofort Apollonius
+Siebengeist. Der Provisor seinerseits hatte ihn nicht wahrgenommen, denn
+kein Zug veränderte sich in seinem Gesicht, welches trüb und verzerrt
+aussah. Philipp Unruh bemerkte, daß das Zimmer leer war, und schritt dem
+Eingang zu. Der Wirt begrüßte ihn mit einem lärmenden Freudenausbruch
+und führte ihn durch einen stockfinstern Gang. Ohne daß es beide
+merkten, folgte ihnen eine Frauengestalt, welche vom Ratgeber
+herabgekommen war. Und als der Lehrer die Schwelle überschritt, drängte
+sich jene vor und lief mehr als sie ging, auf Siebengeist zu. Sie hatte
+eine schwarze Larve vor dem Gesicht, einen glatten langen Mantel über
+dem Ballkleid, und ihre Augen leuchteten unnatürlich. »Ich wußte es ja,
+daß du hier bist,« sagte sie mit heiserer Stimme. »Du machst den
+Wegelagerer, lauerst einer Komödiantin auf.« -- »Was soll das?«
+entgegnete Siebengeist mit merkwürdiger Geduld. »Ja, ich erwarte sie,
+aber sie kommt nicht, kommt nicht, trotzdem sie es versprochen hat.«
+Seine Stimme klang müde, und er veränderte seine Haltung nicht, sondern
+blickte fortwährend durch das Fenster auf die nächtliche Straße. Der
+Wirt hatte das Gesicht in die Türspalte gepreßt und grinste freundlich
+und lauernd. Philipp Unruh ergriff die Klinke und schloß mit sanftem
+Druck die Tür. Dann räusperte er sich achtungsvoll, um seine Anwesenheit
+kundzugeben. Der Raum hier war wie eine Fortsetzung des engen Flurs, und
+nur gegen das Fenster hin verbreitete die Kerze spärliches Licht, die im
+Hals einer Weinflasche auf dem Tisch stand.
+
+»Was sorgst du dich, Liebster?« begann die Frau wieder und machte eine
+flehentliche Gebärde. »Sieh mich doch an, bitte. Befiehl mir, daß ich
+sie herbeiholen soll, die du liebst, und ich werde es tun. Befiehl mir,
+aber sieh mich an, errette mein Leben.« -- »Wie kann ich dein Leben
+erretten, da du meines zerstört hast,« erwiderte Siebengeist, starrer
+noch als bisher. »Ich habe nicht besitzen dürfen, weil deine Künste mich
+schwach werden ließen. Deine Verlockungen haben meinem Wunsch die Kraft
+genommen, deshalb bin ich nicht würdig, das beste zu besitzen. An dir
+hab ich mich verschwendet. Also geh in dein Haus und sei zufrieden.«
+
+Das Weib nahm ein Glas mit Wein vom Tisch, schleuderte es zu Boden, daß
+die Scherben klirrten, und rief verzweifelt: »Dann soll _mein_ Wunsch
+kraft haben, denn ich wünsche ihr den Tod!« Damit fiel sie in die Kniee,
+rang die Hände und lehnte das Gesicht an die Hüften des regungslosen
+jungen Mannes.
+
+Der Lehrer verharrte eine Zeit lang völlig gelähmt in dem Winkel
+zwischen Tür und Ofen. Er dachte, gänzlich sich selbst entfremdet: die
+Liebe ist eine Gewalt, welche den Menschen erniedrigt. Er dachte, daß es
+besser sei, nicht zu wissen, als im Wissen zu sündigen. Wo früher rings
+um ihn her ein friedliches Einerlei sich gedehnt, sah er jetzt
+Gesichter, aus denen die Aufregungen des Leidens und des Verlangens
+redeten. Es war, als ob ein träges, aber starkes Wesen in ihm schwere,
+staunende Augen aufschlüge.
+
+Unter dem Zwang seines Anstandsgefühls trat er endlich mit vernehmlichem
+Schritt gegen den Tisch zu und wünschte guten Abend. Die Baronin stutzte
+und erhob sich rasch. Siebengeist drehte sich lässig um und blickte dem
+Lehrer forschend, jedoch nicht ohne Freundlichkeit ins Gesicht. »Ich
+komme,« sagte Philipp Unruh, indem sein eigenes Zimmer wie eine Insel
+der Sehnsucht vor ihm aufstieg, »ich komme, um Ihnen, Herr Siebengeist,
+etwas mitzuteilen.« Der Provisor, voller Ahnung, zog den Lehrer in den
+entgegengesetzten, dunklen Teil des Zimmers. Seine Augen waren
+umschattet und hatten einen zersplitterten Blick; die Stirn war unruhig;
+das ganze sympathische Gesicht glich dem eines Spielers, der im Begriff
+ist, einen hohen Einsatz zu verlieren.
+
+In schwerfälligen Worten brachte der Lehrer heraus, was sich ereignet
+hatte. Ohne zu zaudern, ohne einen Laut von sich zu geben, warf
+Siebengeist den Pelz um die Schultern, stülpte die Kappe über, winkte
+dem Lehrer durch eine Handbewegung, ihm zu folgen, und beide eilten nun
+hinaus und die Landstraße hinab. Als sie das Schulhaus erreicht hatten
+und die enge Treppe emporklommen, war kaum eine Viertelstunde vergangen.
+
+Der Lehrer öffnete die Tür. Sein Blick fiel auf das Bett, welches leer
+war. Myra war nicht im Zimmer. Jetzt erinnerte er sich, daß das Haustor
+nur angelehnt gewesen war. »Sie ist fort,« murmelte er tonlos, und Kälte
+rieselte über seinen schweißbedeckten Körper. »Hier lag sie auf dem
+Bett, sehen Sie.« Und da er sich der Worte entsann, die sie zu ihm
+gesprochen, verstummte er und schaute nachlauschend gegen die Wand, als
+ob von dort ein Wiederhall ausflösse.
+
+»Was haben Sie gemacht, Schulmeister? Haben Sie geträumt?« stieß
+Siebengeist hervor. Er rückte die Kappe gegen den Hinterkopf und legte
+die Hand über die Stirn, die von wirren, nassen Haaren bedeckt war. Dann
+griff er nach einem Gegenstand, der auf dem Tisch lag, mitten auf einem
+weißen Blatt Papier. Es war das Herz mit dem /vers Dieu va./ Ein Zucken
+ging über sein Gesicht, und er biß die Lippen zusammen. Das goldne Ding
+fiel auf die Erde. -- »Vielleicht ist sie nach Hause zurück,« flüsterte
+Siebengeist fragend, und Philipp Unruh gab durch Haltung und Blick seine
+Willfährigkeit zu allem kund. Auf der Straße trafen sie den Nachtwächter,
+welcher sehr betrunken war. Er wußte von nichts, nicht einmal ob es Tag
+oder Nacht war, hatte niemand gesehen. Sie läuteten vor dem Haus, wo
+Myras Mutter wohnte, und nach einiger Zeit kam eine Person von
+ungewöhnlicher Beleibtheit zum Vorschein. Diese Person glich einem
+Laubfrosch; sie trug einen moosgrünen Schlafrock und hatte einen
+Schnurrbart, obwohl sie ein Weib war. Mit schnarrender Stimme berichtete
+sie, daß der Schauspieler und die Frau vor einer Stunde mit dem
+Münchener Eilzuge abgereist seien. Das junge Fräulein aber sei seit dem
+Abend nicht heimgekehrt. Siebengeist reichte der Dame ein Talerstück und
+bat in atemlosen Sätzen, sie möge ihm für ein paar Stunden eine gute
+Laterne leihen.
+
+Sie wanderten über den Markt und über die Altmühlbrücke gegen die
+Dinkelsbühler Landstraße hinaus mit ihrer Laterne. Schweigend legten sie
+ihren sinnlosen Weg zurück, während der Schnee im Lichtschein glitzerte.
+Beide waren von derselben Ahnung, derselben Unruhe aufs äußerste erregt,
+aber jeder scheute des andern Wort oder Frage. Bisweilen blieb
+Siebengeist stehen, hielt die Laterne hoch oder stieg auf einen
+Meilenstein und spähte in das lautlose, finstere Winterland. »Jetzt
+wollen wir auf Theilheim zu,« sagte Siebengeist, und mit einem Auflachen
+fügte er hinzu: »Glauben Sie denn, daß eine einzige Nacht genügen wird,
+sie zu finden?« -- »Es sind Wälder hier herum,« entgegnete der Lehrer.
+»Aber es ist möglich, daß sie noch im Ort ist.« -- »Es ist möglich, ja.
+Was ist nicht alles möglich! Es ist möglich, daß sie verschwunden
+bleibt, und ich habe nicht ein einziges Mal -- --« »Was? --« »Diesen
+wunderbaren Mund küssen dürfen.« Siebengeist blieb am Flußufer stehen,
+warf den Kopf ein wenig zurück und drückte die Augen zu. Der Lehrer
+entgegnete nichts darauf.
+
+
+Zehntes Kapitel
+
+In derselben Nacht noch, gegen die Morgenstunden, kamen Tauwinde aus dem
+Süden. Siebengeist und der Lehrer waren heimgekehrt und verbrachten
+miteinander den schlaflosen Rest der Nacht in des Lehrers Zimmer.
+Abgerissene Erzählungen überdeckten die suchenden Gedanken. Siebengeist
+lachte über den Gang mit der Laterne, so wie nur er zu lachen verstand,
+und der Lehrer dachte wieder: ein Adonis. Jedoch glaubte er sich
+bevorzugt wie durch unvertilgbare Versprechungen.
+
+Zwischen sechs und sieben Uhr schlief er noch einen kurzen Schlummer der
+Müdigkeit. Er träumte, daß er sich in den Affen Kümmerlich verwandelt
+habe, daß er auf dem Dach des alten Turmes stehe und Grimassen schneide,
+über die die ganze Welt und insbesondere eine Frau mit einer schwarzen
+Larve unbändig lachen mußte. Doch wunderlicherweise hatte dieser Traum
+für ihn etwas Quälendes, vielleicht deshalb, weil die Höhe des Turms ihn
+trotz aller Grimassen mit Angst erfüllte.
+
+Als er um neun Uhr am Schulfenster stand und gleichgültig die
+Ziegelmauern der Synagoge anstierte, liefen auf der Straße Menschen
+zusammen. Ein Milchbauer hatte auf seinem Handwägelchen einen großen,
+dunklen Gegenstand liegen, der sich wie ein menschlicher Körper ausnahm.
+Der Milchbauer redete eifrig mit den Leuten und zwinkerte dabei erregt
+mit den Augen. Der Lehrer öffnete das Fenster und rief hinunter, was es
+denn sei. Man habe ein Mädchen erfroren auf dem Feld gefunden, hieß es,
+und diejenigen, die das sagten, es war der Schmied, ein Marktweib und
+der alte Löwy, gebärdeten sich außerordentlich sachkundig. Auch der
+Bäcker kam aus seinem Laden, indem er den Mehlstaub von den dicken
+Schenkeln klopfte. Die Kinder im Schulzimmer verließen alle ihre Plätze,
+drängten sich mit Wildheit an die Fenster, und Philipp Unruh sah sich
+alsbald seines Aussichtspunktes beraubt, da eine Horde von schwatzenden
+Mädchen ihn umringt und zurückgeschoben hatte. Er fand kein strafendes
+Wort, sondern blickte geistesabwesend auf einen der blondhaarigen
+Kinderköpfe.
+
+Schnell wie Strohfeuer lief das Gerücht umher, daß eine Schauspielerin
+von Herrn Schmalichs Truppe erfroren in den Feldern gefunden worden sei.
+»Se woar im Schneei douglegn wier in ihrn Bettla,« sagte der Milchbauer
+zu Doktor Maspero, der den Leichnam besichtigte. Auch der Bürgermeister
+und ein gerichtlicher Funktionär stellten sich ein, und die Leute, die
+den Totenwagen fuhren, zeigten sich verdrießlich über die Arbeit, die
+nichts trug.
+
+»In diesem begabten Mädchen steckte das Zeug zu einer Ophelia,« sagte
+Herr Schmalich zu den Mitgliedern seiner Truppe, als er die
+Gedächtnisrede während der Probe hielt. Dann kam noch etwas vom Pantheon
+der Kunst, vom Kampf ums Dasein und weiblicher Tugend.
+
+Die wahrhaft vornehmen Kreise nahmen das Ereignis mit Güte und Ruhe hin.
+Nur die Frau Assessor, welche eine unglückliche Schwärmerei fürs Theater
+hegte, schickte einen Immortellenkranz mit einer blaßroten Schleife, auf
+welcher ein nicht weniger blasses Verslein zu lesen war. Die Frau
+Oberamtmann geriet darüber in eine boshafte Aufregung und erzählte die
+ganze Geschichte im Kasinohof dem Herrn Adjutanten. »Kann solche
+Dummheit überboten werden!« rief die bewegte Dame aus. Der Herr Adjutant
+lächelte verzwickt, und als er zu Hause war, stellte er sich breitbeinig
+vor seinen Affen hin und redete ihn an: »Was sagst du, mein lieber
+Kümmerlich: ist es nicht rätselhaft, wie selbst die Dummen merken, daß
+die Dummen dumm sind?« Das Äffchen grinste höflich.
+
+»Der Tod ist ein Ereignis, mit welchem man rechnen muß,« sagte der Baron
+Apotheker ernst und poetisch gestimmt zu seiner Frau, welche wie
+versteinert am Bücherregal lehnte, mit herabhängenden Armen und
+verschränkten Fingern. Ihr sonderbares Wesen veranlaßte den Dichter kaum
+zu einem flüchtigen Nachdenken. Solche Naturen sind wie Messer ohne
+Klingen. Sie gleichen einem Schützen, der in der drohenden Pose des
+Anschlags steht, aber statt der Flinte ein Spazierstöckchen zwischen den
+Schultern hält. Sie kriechen herum wie aufgeblasene Regenwürmer und
+vermeinen einen Adlerflug zu nehmen. Bis zu ihrem Sterbebett werden sie
+den Tod für ein Ereignis halten, das Beachtung verdient.
+
+Die junge Frau schleppte sich mühsam eine Treppe empor und pochte an
+Siebengeists Zimmer. Da alles still blieb, drückte sie auf die Klinke,
+jedoch die Tür war verschlossen. Da pochte sie abermals und rief ein
+bittendes Wort, allein sie erhielt keine Antwort. Ihr schwindelte. Sie
+ging herab in die Apotheke und fragte den zweiten Gehilfen, wo das
+Strychnin sei. Im Grunde wußte sie, daß sie sich des Giftes nicht
+bedienen würde. Auch sie war angesteckt vom Lügengeist des Herrn. Auch
+sie hielt sich, wenn nicht für einen Adler, so doch für eine Schwalbe,
+eine sehnsüchtige, nestsuchende und war nur ein armes Würmchen.
+
+Es war ein träumerischer Tag. Der Himmel, mattblau, grünlichblau, war
+von schleierdünnen Wolken durchzogen. Allenthalben lief geschäftig
+murmelndes Tauwasser zu Bächen zusammen. Durch den schwarzgesprenkelten
+Ackerschnee ragten die Stoppeln vom letzten Herbst. Bis zu den fernsten
+Waldgrenzen dehnte sich der Horizont, und die Februarsonne füllte das
+Land mit frühlinghafter Wärme.
+
+Gegen die Zeit der Dämmerung kam Siebengeist zum Lehrer Unruh. »Machen
+wir einen letzten Gang,« sagte der Provisor, dessen Augäpfel auffallend
+ruhelos unter den Lidern hin und her irrten. Der Lehrer wußte sich nicht
+zu erklären, was damit gemeint war, aber er folgte. Für ihn hatte die
+Gegenwart noch keine Zunge. Wie ein Trunkener vergißt, was ihn trunken
+gemacht, so hatte er die Ursache dessen, was in ihm wühlte, aus der
+Empfindung verloren. Er begann nach rückwärts zu leben. Er erkannte sich
+selbst und das, was aus ihm geworden war, mit der Klarheit einer
+Halluzination. Ganz anders als früher schien es ihm jetzt seine eigene,
+angeborene Sprache, wenn er redete, schien ihm sein Gefühl, was er
+empfunden, und sein Urteil, was er beschlossen. Das Bild der Welt und
+ihrer Menschen verlor völlig den Anschein der Selbstverständlichkeit und
+des Unumstößlichen, und aus allen Dingen, aus allen Ereignissen, aus
+jedem Gesicht, aus jedem Hinschwinden des Tages und der Nacht tauchte
+etwas ungeheuer Geheimnisvolles auf, das ihn schaudern machte und ihn
+mit einer noch ganz anderen Trauer erfüllte, als derjenigen, die er in
+Siebengeist beobachtete. Aber wie sonderbar! Darüber schwebte wie das
+Licht über einem finstern Wald etwas wie Freiheits- und
+Einsamkeitsfreude.
+
+Sie waren zum Leichenhaus gewandert, einem Backsteinhäuschen, das
+verlassen in der Abenddämmerung lag. Siebengeist ging zur
+Totengräberwohnung und ließ aufsperren. Der Mann, unter dem Druck von
+Siebengeists Hand willfährig geworden, brachte eine Art Stallämpchen mit
+einem Blendblech und ließ die beiden allein. Zwei Särge standen
+inmitten des Raums, halb aufrecht gegen eine Bank gelehnt. In dem einen
+lag eine Greisin, deren Lider nicht ganz geschlossen waren, so daß sie,
+was vor sich ging, argwöhnisch zu beblinzeln schien. Ihr Gesicht war
+gelb wie frisches Baumholz und hatte einen außerordentlich höhnischen
+und feindseligen Ausdruck. Auf ihrer faltigen Stirne lief gemächlich
+eine Fliege umher. Der ganze Kopf bekam überdies durch eine hohe weiße
+Haube mit blauen Bändern ein theatralisches und bizarres Aussehen.
+
+Daneben lag Myra. Auf der einen Wange war ein seltsamer roter Fleck, wie
+ein Überbleibsel des Lebens. Die Unterlippe war ein wenig herabgesunken,
+wodurch das Gesicht müde, fast schlaftrunken aussah. Die Stirne sah aus
+wie geschliffen, und um die Augen lag ein abweisender, kindlich
+überlegener Zug. Die Hände waren leicht gefaltet. Der Ärmel des Gewands
+wurde leise von der Abendluft bewegt und erzeugte einen tierähnlichen
+Schatten über den Fingern.
+
+Siebengeist kniete nieder und legte still den Kopf auf den Sargrand.
+Sein Rücken begann zu zucken, und die rechte Hand suchte den Boden. Der
+Lehrer dachte etwas Unbestimmtes, Frommes über den Tod, verwarf aber
+leidenschaftlich diese Gedanken wieder und zwang seine Blicke, auf dem
+mißtrauischen Gesicht der alten Frau haften zu bleiben. Er ärgerte sich
+über die freche Fliege, die wie schlafend auf einem Augenlid saß. Und
+plötzlich sah er, wie Siebengeist sich ein wenig erhob, seine Lippen
+langsam dem Antlitz Myras näherte, und wie er lautlos seinen Mund auf
+ihren toten Mund drückte.
+
+Philipp Unruh stieß einen schwachen Schrei aus und fühlte den Boden
+unter sich wanken. Ihm brannte die Kehle und das Herz und das Gehirn,
+als ob er im Feuer stände, aber mit unbegreiflicher und erschreckender
+Raschheit kehrte eine eisige Ruhe in ihn zurück. Er legte die Hände vor
+die Augen und kehrte das Gesicht dem Kirchhof zu und dem Stückchen Wald
+hinter der Mauer. In diesem Augenblick hatte er Tod und Leben
+gleichzeitig in einem elementaren Bild empfunden.
+
+Beim Heimwärtsgang stand die Mondsichel über den Dächern des Städtchens.
+Von der Eisenbahn tönte ein langgezogenes Hornsignal herüber. Die
+Dunkelheit ist lästig und drückend, dachte Philipp Unruh. Er begann den
+Tag der Nacht vorzuziehen, wo eine bittere und verschwommene Traurigkeit
+so leicht Nahrung finden konnte. Sie gingen hinter den Gärten am Rand
+der Äcker und Siebengeist fing an zu reden. Er gefiel sich in Kapriolen
+des Geistes, in blasphemischen Anklagen, seufzte schwer und war dann
+wieder still. Alles nahm sich wie beabsichtigter Wahnsinn aus. Von
+seinem hübschen Gesicht war wie im Rausch jede Besonnenheit
+verschwunden, und was er tat, trug das Zeichen von überhebendem Schmerz.
+»Gute Nacht, Schulmeister,« sagte er. »Meine Seele ist leer wie ein
+ausgebranntes Haus.«
+
+Was er doch für Worte gebraucht, dachte der Lehrer. Er verspürte
+plötzlich einen nagenden Hunger, denn seit vielen Stunden hatte er
+nichts gegessen. Er trat neben dem Schulhaus in den Laden des Bäckers
+und verlangte frisches Schwarzbrot und ein wenig Butter.
+
+»Ach du _mein_ Gott, sieht man den Herrn Lehrer auch einmal,« sagte der
+Bäcker, und mit halb pfiffigem, halb verlegenem Gesicht schraubte er das
+blakende Licht tiefer. Er war eigentlich recht bestürzt, denn auf dem
+Ladentisch vor sich hatte er einen großen Folianten aus des Lehrers
+Bücherkiste liegen. Er hatte sich eben nach Herzenslust an einer
+Kriegsbeschreibung ergötzt. Der Lehrer sah sogleich das Buch und schlug
+erstaunt die Hände zusammen: »Herr Bäckermeister, Sie wissen wohl gar
+nicht, wessen Eigentum das ist?« sagte er unsicher, wie alle gutmütigen
+Menschen, wenn sie einem andern auf Schelmenstreiche kommen.
+
+Was nun den Bäcker betrifft, so begann er eine Geschichte zu erzählen,
+die durchaus kein Ende nehmen wollte. Diese Geschichte wurde allgemach
+recht verwickelt und bot schließlich selbst dem Erzähler
+Schwierigkeiten. Sprüche zur Weltweisheit mischten sich darein wie
+Aniskörnchen in den Brotteig, nur zuletzt kam, einer Apotheose zu
+vergleichen, der Preis des Handwerks, welches ebenso sein Gutes habe,
+wie die Gelehrsamkeit.
+
+Philipp Unruh lächelte. Der humoristische Mann, der ihm gegenüber auf
+dem Backtrog saß, hatte in der Glorie seiner Lügenhaftigkeit etwas
+seltsam Versöhnendes, und es lag wie eine unwiderstehliche Heiterkeit in
+jedem dieser Lügenworte, die weder gewogen, noch gezählt waren. Daß er
+wieder in den Besitz seiner Bücher kam, erfreute ihn, doch in anderm
+Grade, als er je geglaubt. Es war wie ein Geschenk, und er betrachtete
+sein Eigentum wie etwas, das er nie besessen. Er wußte, daß es da nur
+tote Dinge, tote Blätter gab. Die Vergangenheit ist etwas Gestorbenes,
+dachte er; wer ihren Leichnam küßt, macht das Gesicht des Todes doppelt
+furchtbar; was er berühren mag, wird dem Leben entfremdet sein.
+
+Es war ein so milder Abend, daß es den Lehrer wieder fort von seiner
+Behausung trieb, und er beschloß, gegen das Altmühlufer hinunter zu
+wandern. Als er in die enge Kirchengasse bog, sah er sich gegenüber auf
+der Schwelle eines beleuchteten, schmalen Hausflurs ein kleines Mädchen
+sitzen, welches das Gesicht in die Schürze gelegt hatte und weinte. Ein
+Knabe von vielleicht zwölf Jahren stelzte ernsthaft über die Gasse und
+fragte mit Würde, beide Hände tief in die Hosentaschen gesenkt: »Warum
+weinst du denn?« Die Kleine hob das Gesicht, und Philipp Unruh, der im
+dunklen Schatten stehen blieb, erkannte das Mädchen der Frau Süßmilch.
+»Ich kann meine Aufgabe nicht lernen, sie ist zu schwer,« schluchzte das
+Kind. Der Knabe räusperte sich, spreizte die Beine, legte die Hände auf
+den Rücken und begann: »Du bist meine schlechteste Schülerin, Süßmilch.
+Aus dir wird im Leben nichts werden. Du hast ja lauter Heu im Kopfe.
+Pfui!« Philipp Unruh sah, daß ihn der Bursche nachäffte, und errötete in
+seinem Versteck. Das kleine Mädchen aber trocknete die Augen, stützte
+den Kopf in das Händchen, schaute wehmütig zum klaren Sternenhimmel auf
+und sagte aus tiefstem Herzensgrund: »Ach ja! Unser Herr Lehrer ist ein
+sehr böser Mann.«
+
+Der Lehrer ging langsam über die Gasse, nahm das Mädchen auf die Arme
+und küßte es lächelnd auf die Stirn.
+
+
+
+
+Treunitz und Aurora
+
+Bekenntnisse eines Offiziers
+
+
+Die Stille des Gefängnisses ist der Selbsteinkehr günstig. Ich werde
+also das Papier zu meinem Beichtiger machen und der Wahrheit gemäß
+berichten, wie sich die Dinge abgespielt haben, und wie ich zu der Tat
+gelangt bin, durch die ich mein Leben verwirkt habe. Ich bin des Todes
+schuldig und ich werde aus dieser Erkenntnis alle Folgerungen ziehen, zu
+denen ich als Mann und Soldat so berechtigt als verpflichtet bin.
+Immerhin könnte ich beschönigend von einem verhängnisvollen Irrtum
+sprechen, durch den mein Glück, meine Freiheit, meine Zukunft, meine
+ganze Existenz der Vernichtung preisgegeben wurde, aber die Schmach
+würde dadurch um nichts geringer werden, und wenn ich gleich die
+furchtbare Leidenschaft, die mich ergriffen und ruiniert hat, zu
+verurteilen imstande bin, so ist es selbst in diesem Augenblick noch
+unmöglich, sie gänzlich aus meinem Herzen zu reißen.
+
+Ich bin mit der Vorliebe für den Soldatenstand geboren. Doch trieb mich
+dabei keineswegs Ehrgeiz oder Ruhmsucht; auch nach Abenteuern stand mir
+nicht der Sinn, wie das bei Knaben oder Jünglingen sonst der Fall zu
+sein pflegt, sondern ich wollte meine Person in den Dienst des
+Vaterlandes stellen, und wonach ich strebte, war eine würdige Verwendung
+meiner Kräfte und Fähigkeiten. Ich besaß Mut und war körperlich gewandt
+und tüchtig; auch hatte ich, was für den Militär jedes Ranges von
+Wichtigkeit ist, Disziplin im Leibe, das Talent und den Willen zur
+unbedingten sachlichen Unterordnung. Da ich von Haus aus vermögend bin,
+meine Mutter besitzt eine große Gutsherrschaft bei Arnstein, wurde der
+Wahl meines Berufs kein Hindernis in den Weg gelegt, und nach
+Absolvierung der Schule trat ich als Freiwilliger bei der Marine ein.
+Aber ich fand dort kein Genügen, das Leben war eintöniger, als ich
+gedacht, und nach Verlauf von zwei Jahren trat ich zur Feldartillerie
+über, wo ich mich als brauchbarer Offizier eines gewissen Ansehens
+erfreute und wegen meiner Begabung für militärwissenschaftliche Fächer
+die besondere Gunst der Vorgesetzten genoß.
+
+Da entbrannte in Südafrika der Burenkrieg; ich sah die Gelegenheit,
+etwas zu leisten, ich hatte keine Lust mehr am Garnisons- und
+Manöverdienst; die Verhältnisse, unter denen ich mich bewähren konnte,
+erschienen mir zu klein; kurz und gut, ich erbat den Abschied, zur
+Verwunderung und zum Bedauern meiner Kameraden, die mich gerne hatten,
+mich aber nach diesem für sie unbegreiflichen Schritt eines Mannes, der
+die begründetste Aussicht auf Karriere hat, für einen unbesonnenen
+Haudegen hielten.
+
+Ich habe da unten die Bluttaufe erhalten, die Fremde tat mir wohl, das
+wilde äußere Leben band mich fester in mich selbst. Als ich nach
+geschlossenem Frieden in die Heimat zurückkehrte, war ich ein anderer
+Mensch, und wenn ich noch einen Rest von unreifer Romantik in mir
+gehabt, so hätte ihn die ernsthafte Zeit, die ich verlebt, mit Stumpf
+und Stiel ausgetrieben. Ich erfuhr die Genugtuung, sogleich wieder als
+Offizier in die Armee eingereiht zu werden, und es war der froheste Tag
+meines Lebens, als ich wieder den dunklen Rock der Artilleristen
+anziehen durfte. Ich hatte nebenbei die Gewißheit, zum Generalstab
+berufen zu werden; dies geschah auch, und um meine kühnsten Erwartungen
+zu übertreffen, wurde ich mit einer Aufgabe betraut, die sonst nur
+selten einem Offizier meines Dienstalters gestellt wurde; man entsandte
+mich als Berichterstatter der mazedonischen Vorgänge nach Saloniki.
+
+Ich war noch nicht zwei Monate auf meinem Posten, da brach in unsern
+afrikanischen Kolonien der Aufstand der Schwarzen aus. Jetzt lag der
+Fall anders denn damals, wo ich das Heer hatte verlassen müssen, um ins
+Feld zu kommen; jetzt konnte ich mich meinem kaiserlichen Herrn und
+Kriegsherrn selber zur Verfügung stellen. Da man tüchtige Offiziere
+suchte, wurde mein Anerbieten ohne Verzug berücksichtigt, ich wurde zum
+Hauptmann bei der Schutztruppe ernannt, und vier Wochen später war ich
+schon auf See.
+
+Ist ja richtig; es war eine elende Katzbalgerei mit den schwarzen
+Rackern, und viel gutes deutsches Blut ist geflossen, aber wars gleich
+sauer, so wars doch nahrhaft, wie unsere Exzellenz zu sagen liebte. Es
+war ein schönes freies Leben, wie ich alles noch sehe und spüre! Die
+sengende Mittagshitze und die Morgenkühle, die zerstörten Pontonks und
+die infamen Wege, der Feind in Busch und Dickicht und die unaufhörlichen
+Schüsse aus den Baumkronen! Wie das surrte und schwirrte und sang und
+heulte, so dicht, daß es einen erstaunte, wenn man seine Gelenke noch
+zusammenhängen fühlte. Hungrig legte man sich schlafen, den Revolver im
+Arm, an Feueranzünden nicht zu denken, und weh dem, der vom Durst
+getrieben zu den Wasserlöchern schlich, er ward in der Frühe mit Kirris
+erschlagen gefunden. Da war man doch ein Kerl, da konnte man sich
+bewähren, da spürte man seine Pulse.
+
+Leider bin ich bei den Gefechten am Waterberg verwundet worden. Ich
+konnte nicht mehr Dienst tun und mußte alsbald die Heimreise antreten.
+Dritthalb Monate blieb ich in Berlin; man machte viel Aufhebens mit mir,
+und viele Leute feierten mich wie einen Blücher, was mir oft die
+Schamröte ins Gesicht trieb, denn ich war mir nicht bewußt, etwas
+Sonderliches verrichtet zu haben. Aber dergleichen gibt sich, und wenn
+man Verdienste hat, empfiehlt es sich, sie den Leuten nicht durch die
+eigene Gegenwart lästig zu machen. Eine Zeitlang war von meiner Aufnahme
+als Lehrer in die Kriegsakademie die Rede, doch, vor die Wahl gestellt,
+zog ich schließlich den subordinierten Posten eines Batteriechefs in der
+Provinz vor, allerdings mit der baldigen Anwartschaft auf den
+Majorsrang. Meine Mutter kränkelte, ich wünschte in ihrer Nähe zu leben,
+und des unruhvollen, weltstädtischen Treibens, an dem ich nie Freude
+gehabt, war ich ohnedies müde.
+
+Dazu kam noch, daß mir die Fremde ganz wie mit einem Male den Blick
+verwandelt hatte. Entweder war ich nicht mehr derselbe, oder die Heimat
+war nicht mehr dieselbe. Aufrichtig gesagt: die Luft im Reich gefiel mir
+nicht. Sie war mir zu wetterwendisch; winterlich scharf von oben und
+giftig süß von unten, fast wie eine afrikanische Nacht. Nichts wurde mit
+Wohlwollen reguliert, alles mit Manometer, und wer hinten nicht gestoßen
+wurde, der ging nach vorne nicht weiter. Unsre jungen Herren fand ich so
+ohne jede Herzlichkeit, daß sich einem der Gaumen zusammenzog, wenn man
+mit ihnen redete. Immer bloß aufs Elegante versessen, geschniegelt wie
+die Reitpferde und trocken wie Stiefelsohlen. Die Aristokraten hochnäsig
+und zimperlich, die Bürgerlichen streberhaft und vom frischen Reichtum
+verdorben und verweichlicht, das Volk rebellisch und respektlos. Keiner,
+der aus Eigenem was vorstellte, erst durch sein Geld oder sein Amt oder
+seine Orden oder seine Hemdbrust. Großes Maul, ja, aber kein freies
+Wort, keine offene Meinung. Hölzernes Getue galt für Form,
+kaltschnäuziges Nörgeln für Geist und öde Prahlhanserei für
+Selbstbewußtsein.
+
+Wenn man mir die Berechtigung abstreitet, eine solche Sprache zu
+führen, so habe ich allerdings keine andere Antwort, als den Hinweis auf
+eine bis dahin ehrenhafte Existenz. Es war mir eben die Laune verdorben,
+und eher trübgestimmt als hoffnungsvoll kam ich nach der kleinen
+Garnison. Auch hier fühlte ich mich nicht wohl; ich begann mich zu
+langweilen; ich merkte alsbald, was das heißt, in einer Provinzstadt zu
+leben, die trotz ihrer vierzigtausend Einwohner etwas ist wie ein Sparta
+des Altertums, mit ebenso streng geschiedenen Kasten, nur daß die
+kriegerische Härte der Vorschriften durch minder folgenschwere, aber
+keineswegs leicht zu übertretende Bestimmungen gesellschaftlichen
+Charakters ersetzt werden. Da sind die Spitzen der Behörden, die
+militärischen Würdenträger, die Industriellen, die Gutsbesitzer, die
+jungen Leute, die eine Rolle spielen, die andern, die bloß eine spielen
+möchten; da ist die Generalin oder Oberstin, die das Wetter macht, und
+die kleine Apothekersgattin, die gerade noch geduldet ist; da ist die
+reiche Fabrikantenfrau, die ihre Toiletten aus Berlin bezieht, und die
+Frau Amtsrichter, die aus ihrem Wirtschaftsgeld mittelst rührender
+Entbehrungen den Preis für ein einziges schwarzes Seidenkleid erübrigt,
+das sie unter Beihilfe der Köchin und eines Mädchens vom Lande selber
+näht und das ihr die abendlichen Feste verbietet, wenn der Stoff an den
+Ärmeln den fatalen Mattglanz zu zeigen beginnt. Zu Kaisers Geburtstag
+gibt der Regierungspräsident einen Ball; zur Errichtung eines
+Kriegerdenkmals wird eine künstlerische Soiree veranstaltet, bei welcher
+allerlei junge Mädchen wegen ihrer Fortschritte in Gesang und
+Klavierspiel beklatscht werden; man geht ins Theater, man wird zur
+Enten- und Hasenjagd geladen, und die verheirateten Frauen holen sich
+aufregende Romane aus der Leihbibliothek. Einmal im Monat ist
+Parademarsch, am Sonntag nach der Kirche spielt die Regimentskapelle
+auf dem Residenzplatz, abends sitzt man dann im Kasino oder im
+Speisesaal des Hotels de l'Europe, und nach elf Uhr nachts lungern nur
+noch irgendwo hinter abgesperrten Türen ein paar ausgestoßene Existenzen
+an einem Kartentisch, und zwei Studenten brüllen vor dem Fenster einer
+begehrten Kellnerin das Krambambuli.
+
+Alle diese kennen einander und wissen vieles von einander und verbergen
+sich voreinander und schätzen einander und sind einander im Wege und
+passen einander auf. Das enge Zusammenleben begünstigt Klatsch und
+Übelrednerei; jeder kehrt den Schmutz vor des Andern Tür; Dummheit,
+Bosheit, Neid und Mißgunst lassen selbst den Redlichen nicht
+ungeschoren, alles, was Aufsehen macht, findet Teilnahme, alles, was in
+der Mode ist, Nachahmung; für ernsthafte Interessen ist wenig Sinn. Dies
+erfuhr ich bald. So sehr es anfangs meinem Selbstgefühl schmeichelte,
+daß ich nun auch zu Hause ein jemand war, der Beachtung verdiente und
+Ansehen genoß, denn es war ja meine engste Heimat dahier, so wenig wurde
+ich meines Wirkens froh. Ich kam mir vor wie ein verfaulender Baum.
+
+Ich erinnere mich nicht mehr genau, an welchem Tag es war, als ich die
+Majorin Westermark kennen lernte. Ich schließe daraus, daß sie mir
+damals wenig Eindruck gemacht hat. Ich sah sie zum erstenmal bei der
+Frau von Rütten, die eine Freundin meiner Mutter ist, und die, wie mir
+meine Mutter vorsichtig verriet, die löbliche Absicht hatte, mich mit
+ihrer siebzehnjährigen Tochter zu verheiraten. Ich machte mir aber
+nichts aus dem Mädchen, und das ist lediglich mein Fehler, da sie ein
+hübsches und vernünftiges, obschon etwas nüchternes Geschöpf ist. Nach
+allem, was ich bereits über die Majorin gehört, hatte ich mir eine
+junonische Gestalt gedacht und war deshalb überrascht, sie so klein,
+zart und kindhaft zu finden. Ihr Wesen gab in Gesellschaft nichts her,
+nichts von Welt und nichts von Innerem, ihr Lächeln war kühl, in der
+Bewegung der Lippen zeigte sich eine gewisse Naschhaftigkeit; am meisten
+gefielen mir die Augen, die blau, durchsichtig, ausgedehnt und voll
+Perlmutter waren, mit Brauen, schwarz und fein wie zwei Sepiastriche.
+
+Eine solche Stadt wie die, in der ich mich befand, hat alle Späherblicke
+immer auf den Punkt geheftet, wo eine ungewöhnliche Erscheinung
+hervortritt und sich auf ihre besondere Art gebärdet. Ich habe schon
+angedeutet, daß das vielfache Gerede über die Majorin auch zu mir
+geflossen war. »Was sagen Sie zu der Frau? Ach, Sie wissen nicht? Sie
+wissen nicht, was die Spatzen von den Dächern pfeifen?« Nein, ich wußte
+es nicht, ich bezeigte auch kein Interesse dafür. »Sie verstellen sich
+doch wohl. Oder glauben Sie, daß das eine glückliche Ehe ist? Der Mann
+ist zwanzig Jahre älter, Sie begreifen. Die Frau hatte früher einen
+reichen, schlesischen Branntweinbrenner, von dem sie geschieden ist. Sie
+ist schön wie das Laster, und so elegant, daß unsre Damen vor Neid nicht
+schlafen können; echte Pariser Hüte, echte Brüsseler Spitzen, echte
+Pelze, Diamanten wie ein persischer Prinz, und Parfüms, Parfüms sage ich
+Ihnen, überwältigend wie eine Ananasbowle nach einem Jagdritt.« -- »Nun
+ja, der Major ist sicherlich reich.« -- »Nein, die Frau hat Geld, die
+Frau. Der Major ist ein Sonderling. Ich möchte ihm gern meine Augen
+leihen.«
+
+O Bosheit aus dem Winkel, die du Augen verleihen willst, dachte ich mir.
+Aber die üblen Gerüchte waren hartnäckiger als meine Gleichgültigkeit.
+Ich traf eines Tages einen Freund in der Stadt, einen jungen Ingenieur,
+der irgendwo in der Nähe den Bau einer Eisenbahnbrücke leitete. Wir
+waren als Gymnasiasten ein paar Jahre lang unzertrennlich gewesen, und
+es bereitete mir lebhaftes Vergnügen, ihn wiederzusehen. Wir kamen oft
+zusammen, bald in einer Weinstube, bald in seiner oder meiner Wohnung;
+und wie es schon so geht, einmal gerieten wir beim Gespräch auch auf
+Aurora Westermark und die über sie umlaufenden Gerüchte. Mein Freund
+kannte sie nur flüchtig, aber er war einer jener Menschen von
+instinktivem Scharfblick, die in andern Seelen lesen zu können scheinen,
+und deren Urteil sich daher von selber Vertrauen erzwingt.
+
+Deutlich steht mir noch jene Stunde vor Augen und genau ist mir noch
+jedes seiner Worte gegenwärtig, die ich nur mit innerem Unwillen
+anzuhören vermochte. »Diese Frau hat die Gabe, unschuldig zu scheinen
+und Leidenschaften einzuflößen«, sagte er ungefähr. »Wie sie den schwer
+zugänglichen Major umgarnt hat, das ist gewiß ein Kunststück gewesen.
+Ich weiß nicht, ob dir die Umstände bekannt sind; es war während der
+großen Manöver vor zwei Jahren; umschwärmt von den Offizieren eines
+ganzen Stabes, hatte sie sich's offenbar in den Kopf gesetzt, den
+sprödesten und verstocktesten zu gewinnen, denjenigen, für den eine
+Weltdame etwas war wie ein seltenes Schmuckstück, das er sich verschafft
+ohne Freude und Verständnis, nur weil er gerade bei Geld und guter Laune
+ist und weil es von andern gerühmt und begehrt wird. Sie hatte den
+schlechtesten Ruf. Man sagt, daß sie Liebe verkauft hatte, unumwunden
+und unter Vorwänden, um einer Perlenkette willen, um eines Ränkespiels
+willen, um nichts ungenossen vorübergehen zu lassen von den Lockungen
+der Jugend, aus Gefallsucht, aus Sinnlichkeit, aus Langerweile, aus
+Schwäche, aus Lust an der Selbsterniedrigung, aus Vergnügen an einer
+doppelten Existenz in zwei Sphären der bürgerlichen Welt, von denen die
+eine nicht weiß, was in der andern geschieht, so daß die
+Geschicklichkeit, der einen die Kunde aus der andern vorzuenthalten,
+etwas von der Spannung eines Revolverdramas mit sich bringt und die
+sonst leeren Tage mit dem Tumult verschwiegener Betätigung erfüllt. Ich
+bin gewiß,« fuhr mein Freund fort, gegen den ich in diesem Augenblick
+eine nicht zu überwindende Empfindung des Hasses, ja des Abscheus hegte,
+»ich bin gewiß, daß sie's gegenwärtig nicht viel besser treibt. Ich
+glaube nicht, daß sie je von Liebe erfahren hat, sondern nur von
+Aufregungen, Sorgen, abwägenden Interessen, Kränkungen des Stolzes,
+Gefahren der Enthüllung und die Überzeugung von der Nichtswürdigkeit der
+Männer, so wie eben solchen Frauen die Männer sich zeigen müssen.«
+
+»Aber was wäre denn das für ein Leben!« rief ich kopfschüttelnd. »Welche
+Einsamkeit setzt das voraus, welche Kraft, alle diese Dinge in der
+Stille mit sich selber abzumachen!«
+
+Mein Freund zuckte die Achsel. »Es ist das Leben eines Menschen, der auf
+glühenden Kohlen tanzt und sich stellen muß, als ging's über einen
+harmlosen Teppich«, antwortete er. »Wir haben eine Menge solcher
+Equilibristen in der Gesellschaft, und das vertrackte und verlogene
+Dasein, das wir führen, fordert die unruhigen Köpfe geradewegs dazu
+heraus.«
+
+»Gibt es denn irgendwelche faktischen Delikte?« fragte ich.
+
+»Es heißt, daß sie mit jedem hübschen Offizier abenteuert; daß sie sich
+jedem Laffen hingibt, der sich der Mühe der Werbung unterzieht und den
+Preis nicht zu hoch findet, den Preis des Verrats nämlich. Auch sagt
+man, daß sie seit Jahren eine dauernde Beziehung zu einem Berliner
+Fabrikanten unterhält, der außerdem günstige Börsengeschäfte für sie
+vermitteln soll, den sie irgendwie draußen oder in der Stadt trifft und
+der eine unerklärliche Gewalt über sie ausübt, vielleicht die Gewalt
+bedenkenloser Brutalität. Daß der Major darüber in vollständiger
+Ahnungslosigkeit verbleibt, gehört zu unsern sonderbaren, aber nicht
+ungewöhnlichen sozialen Geheimnissen. Alle wissen, er nicht; alle
+raunen, er ist taub. Man schont ihn wahrscheinlich, man schont seine
+Stellung, seine Häuslichkeit, und sie hinwiederum profitiert von der
+Achtung, deren ihr Gatte genießt. Auch macht ihr Auftreten, ihre
+Schönheit, ihre vollendete Haltung die Argwöhnischen vorsichtig, und den
+Mut der Übelredner zunichte. Sie hat ja eine Art zu gehen, zu stehen, zu
+reiten, zu lachen, zu tanzen, die blendend ist, das muß man zugeben. Was
+tut's, wenn bisweilen an den Grenzen des Bezirks ein Flämmchen aufzischt
+und einen Schritt der heimlichen Pfade beleuchtet? Oft sehen Augen,
+denen keine Zunge dient, die zu reden weiß, und ein anderes Mal
+schwatzen Mäuler, wo Augen nichts gesehen haben.«
+
+Ich bekenne, daß mich dieses Gespräch bis in die Nieren erkältete. Dies
+»es heißt« und »man sagt« erfüllte mich mit Mißtrauen gegen den Freund,
+mit einer Art Furcht vor ihm; ich ging ihm von da an für lange Zeit aus
+dem Wege. Seine Ehrlichkeit erschien mir durchaus böswilliger Natur; ich
+bildete mir ein, daß ich einer ritterlichen Pflicht gehorchte, indem ich
+mich in meinem Innern auf die Seite einer wehrlosen Geschmähten schlug.
+Kleinstädtischer Klatsch, sagte ich mir, läßt den reinlich Denkenden
+eher zum Anwalt des Besudelten werden, als daß er die Partei von Feinden
+nimmt, die sich verbergen. Es war ein Selbstbetrug, dem ich mich hingab.
+Die Frau hatte ganz einfach mein Gefallen erweckt, und das wollte ich
+mir verhehlen. Ich traute ihr Schlimmes nicht zu, ich sah ein Kind in
+ihr, verführerisch, am Ende mißleitet, aber nicht verworfen. Ich
+sträubte mich nicht gegen die Freundlichkeit, die der Major alsbald in
+auffälliger Weise gegen mich an den Tag legte. Ich besuchte oft sein
+Haus, und es schien sich ganz von selbst zu geben, daß ich manche
+Stunden mit Aurora allein verbrachte.
+
+Sie gestand mir, daß sie von Anfang an aufs innigste gewünscht habe,
+meine Bekanntschaft zu machen, denn sie habe beim ersten Blick gefühlt,
+daß ich ihr mit Wohlwollen gegenüber getreten sei. Dies mußte ich
+bestätigen, ihre schmeichelhaften Worte über meine Vergangenheit, meine
+Taten, meinen Ruhm usw. lehnte ich höflich ab. Die nichtigen Dinge, von
+denen sie mit mir plauderte, gewannen einen Reiz von Scherzhaftigkeit,
+dann wieder von anmutiger Melancholie. Vertrauen schien sie als
+selbstverständlich zu betrachten und war nicht einmal bedachtsam in
+ihrem Tadel über die Lebensführung anderer. Sie sprach mit einer
+unvergleichlich musikalischen Stimme, weich im Ton, klagend in der
+Färbung, hie und da mit einer Bemerkung voll Witz und Geist. Ihr Zuhören
+war sympathisch durch den Blick eines wißbegierigen Schülers. Sonst war
+sie nicht selten gequält, beunruhigt, verschüchtert, also gar nicht mehr
+Dame. Sie eroberte unbedingt, ich hätte ihr alles geglaubt, und ich
+glaubte auch alles, selbst das Unwahrscheinlichste, wennschon mir ihr
+Wesen manchmal wie Dünensand vorkam; erst denkt man etwas Festes zu
+halten, und wenn man zupackt, verrinnt und verrieselt alles zwischen den
+Fingern.
+
+Im Verkehr mit ihrem Mann sah ich sie von gemessener Liebenswürdigkeit,
+Nachsicht mehr gewährend als beanspruchend, gegen launenhafte
+Bärbeißigkeit sich mit ironischer Duldermine wappnend, wobei ein
+forschender und spöttisch-kühner Blick den Beobachter zum
+Mitverschworenen machte. Der Major erweckte den Eindruck eines
+gutmütigen Mannes; er war untersetzt und korpulent und trotz seiner
+Jahre nur mäßig ergraut; doch pflegte er den Schnurrbart mit einer
+Pomade zu behandeln, die diesem das Ansehen eines frisch lackierten
+Gegenstandes gab. Sein Blick war flackernd wie der eines viel und
+fruchtlos arbeitenden Menschen; in der Tat verhinderte er nur durch
+einen fast überstürzten Eifer im Dienst seine langgefürchtete
+Kaltstellung. Er gehörte zu jenen Offizieren vom alten Schlag, die durch
+Rauheit und martialisches Auftreten an verjährte Verdienste erinnern und
+den Mangel an gegenwärtigen verdecken wollen. Er liebte die Jagd, schöne
+Pferde und Hunde; doch mit diesen Leidenschaften verbarg er nur den
+Groll gegen ein Regime, das ihn zur schimpflichen Rolle eines Mitläufers
+und stummen Bittstellers verurteilte, und er erfüllte seine
+Obliegenheiten wie mit zusammengebissenen Zähnen, war immer in Hast und
+Angst, und, wie alle unsicheren Beamten, von übertriebener Strenge gegen
+Untergebene und übertriebener Devotion gegen Vorgesetzte.
+
+Ich glaube, mit solchem Urteil kein Unrecht an dem Major zu begehen;
+alle diese Umstände waren ja mehr oder weniger öffentliches Geheimnis.
+Ich habe beschlossen wahr zu sein, und so muß auch dieses gesagt werden.
+Es trifft nicht zu, daß ich dem Major ohne Achtung begegnet bin; ich
+hatte anfangs sogar Gefallen an ihm, wie er an mir, erst im Verlauf der
+Begebenheiten wandelte sich meine Gesinnung auf so verderbliche Art.
+
+Ich begleitete Aurora ins Theater, auf die Promenade, ich kam zu ihren
+Teestunden, und so vergingen Wochen, ohne daß ich ein Arg gegen mich
+selber faßte. Wenn ich Gäste bei ihr traf, zeigte sie mir
+unmißverstehlich, daß ihr Gäste zur Last waren und daß ich allein es
+nicht war. Ein solcher Beweis von Freundschaft heischte Dank, und ich
+blieb, nachdem alle sich verabschiedet hatten, auch der Major, der die
+späten Nachmittagsstunden im Kasino verbrachte und mit einem
+Oberleutnant vom Train Schach spielte. Oftmals mußte ich ihr von meinen
+Kriegserlebnissen erzählen, wobei sie atemlos lauschte. Wie sagt doch
+Othello? »Ich sprach von harten Unglücksfällen, manch rührendem Geschick
+zu See und Land, wie ich nur auf ein Haar dem Tod entronnen, von grausen
+Schlünden, öden Wüsteneien, von Klüften, Felsen, himmelhohen Bergen, von
+Kannibalen, die einander fressen. Und dies zu hören, war Desdemona
+innerlich gespannt.« Und als er geendet, lohnte ihn das Fräulein mit
+einer »Welt von Seufzern« und wünschte, sie hätte es nicht vernommen,
+und wünschte doch, Gott hätte aus ihr einen solchen Mann gemacht.
+
+War auch Aurora nicht dermaßen bezaubert, so stellte sie sich doch
+ähnlich und ihre Teilnahme war jedenfalls echt. Auch schrieb sie mir
+Verdienste zu, die ihr trotz aller Selbstverständlichkeit groß und neu
+dünkten, und vor allem erschien ich ihr verläßlich. Verläßlichkeit war
+ihr Ideal, wie wenn ihr das Geschick einen Trumpf im Spiel hätte
+vorgeben können durch die bewunderte Tugend eines andern.
+
+Heute seh' ich dies klar, damals bestrickte mich ihr bedenkenloses
+Anschmiegen. Da ich merkte, daß sie wenig oder nichts las, brachte ich
+Bücher, unter andern schenkte ich ihr die Frithjofssage, ein Gedicht,
+für welches ich begeistert war. Sie gestand mir aber offen, daß Verse
+sie langweilten und daß sie zum Lesen überhaupt keine Geduld hätte; so
+ließ ich es denn sein. Sie wurde jetzt bisweilen karg in der
+Unterhaltung und von unverständlicher Vorsicht. Darin lag etwas
+Verwirrendes, denn ich fühlte mich einer Person gegenüber, die ihrer
+Rede wenig Gewicht beimißt, weil sie Bedeutsames verschweigen muß. Sie
+hatte immer den auffangenden Blick im Auge, der meine Ungeduld erregte.
+Ich fragte, hörte, antwortete und war mit der gleichen Aufmerksamkeit
+beschäftigt, dem Zwitschern eines Vogels oder dem Surren des Windes zu
+lauschen. Was kann der Major mit einem solchen Weib beginnen? dachte ich
+oft verwundert; er ist ein Soldat, aber kein Orchideenzüchter. Himmel,
+wenn ich dies Gesicht beständig um mich wüßte, ich wäre versucht, damit
+zu verfahren, wie die Kinder, die ihre geliebtesten Puppen aufschneiden,
+um herauszubringen, was drinnen ist.
+
+So fing es an, mit Abwehr und Wißbegier fing es an. Und wenn es ihr
+Entschluß war, mein ruhiges Herz in Flammen zu setzen, was bedurfte es
+da noch viel? Eines Abends fragte sie mich unumwunden nach meinen
+bisherigen Herzenserlebnissen und darauf mit Offenheit zu entgegnen, war
+leicht und schwer in einem. Ich hatte nicht viel zu berichten. Schon als
+Primaner hatte ich Verachtung für die Liebeleien gewisser Kommilitonen
+empfunden, und fernerhin war mir jede leidenschaftliche Entäußerung ein
+Greuel gewesen. Ich war freilich kein Kostverächter, kein Joseph; ich
+nahm stets, was man mir bot, aber zu langgesponnenen Verhältnissen
+fehlte mir die Zeit, und an die sogenannten großen Passionen glaubte ich
+nicht. Amüsement, ja; doch durfte es nicht zum Katzenjammer führen;
+alles übrige schien mir Bummelei und Jugendeselei. Ich weiß, es war
+erbärmlich, daß ein Kerl wie ich eigentlich nur von käuflicher Liebe
+wußte, nur von Vergnügen und nichts von Hingabe, nur von Dirnen und
+nichts von Frauen. Aber das passiert heute tausendmal, es ist viel
+häufiger, als man denkt, und gerade diejenigen, die ihre Stirn am
+aufdringlichsten mit dem Heldenlorbeer schmücken, sind, wenn man die
+Sachen bei Licht betrachtet, ebensolche Jämmerlinge. Dagegen lebt
+wahrscheinlich in dem Kopf jedes Frauenzimmers eine Vorstellung von
+Durchschnittspoesie und Schmökerromantik, die ihr unentbehrlich ist wie
+ein Luxuskleid, auch wenn sie selbst dergleichen nie erlebt hat und so
+wenig davon hält wie ein Moslem von der Hostie.
+
+Ich wußte nicht, wie mir geschah, als ich nun plötzlich fand, daß ich
+eine Armut verraten hatte, über die mir bis jetzt kein Skrupel
+aufgestiegen war. Schon atmeten wir in einer verderblichen Luft. Wir
+verständigten uns durch Blicke und Mienen, und die Selbstbeherrschung,
+die wir zu üben wähnten, war nur eine Gaukelei. Ich sagte mir im Anfang
+bisweilen: die Frau ist kalt, oder noch schlimmer, kühl; die Frau
+rechnet, die Frau lauert. Aber da war ihre Sanftmut, ihre zarte Stimme,
+ihr ergebenes, verstörtes, beschwichtigendes Lächeln; da hatte sie eine
+sonderbare, oft wiederkehrende Bewegung der Hände, die darin bestand,
+daß sie die Finger ineinanderflocht, um sie dann wie verzweifelt in den
+Schoß einzusenken. Das riß mich aus allem Gleichmut.
+
+Ihr Wesen blieb mir rätselhaft, bis sie mir eines Tages erzählte, wie
+ihre erste Ehe das Werk habsüchtiger Eltern und Verwandter gewesen sei;
+der Mann ein Trinker, ein Wucherer, ein Lüstling. Sie versicherte mir,
+daß sie im Zusammenleben mit ihm unberührt geblieben sei, und daß
+hauptsächlich deswegen nach drei qualvollen Jahren die Scheidung
+ausgesprochen werden konnte. Sie sprach dann von ihren Reisen, von
+zermarternder Unruhe, vom Wunsch nach Frieden, von ihrem Ekel an Welt
+und Männern, und da lernte sie Westermark kennen; sie dachte an ihm
+einen Beschützer zu finden, sie fühlte eine herzliche Kameradschaft für
+ihn, sie habe sich betören lassen und ihn geheiratet. Als sie nun lange
+schwieg, blickte ich sie fragend an.
+
+Ja, darüber sei Schweigen geboten, sagte sie, darüber, was jetzt kam,
+müsse geschwiegen werden.
+
+Geheimnis also? nicht anrührbares Geheimnis? Auroras Gesicht glich einer
+Uhr, die plötzlich stehen bleibt. Geheimnisse binden, auch wenn sie
+nicht enthüllt werden. Aber mein Inneres war schon zu sehr ergriffen,
+als daß ich aus Delikatesse hätte auf Teilnahme verzichten mögen. Ich
+bat in der dringlichsten Weise um Aufklärung. »Wozu? was soll es
+nützen?« antwortete mir Aurora. »Warum sollte ich Sie in eine
+Ungeheuerlichkeit einweihen, die mich allein schon übermäßig bedrückt
+und lebensuntüchtig macht? Sie würden mir nicht glauben, Sie dürfen mir
+nicht glauben, denn wer bin ich? Ein verlorenes, verachtetes Geschöpf,
+der Gegenstand unsauberer Gespräche am Biertisch, die wehrlose Beute
+aller Nachrichtenjäger der ganzen Stadt, mit meinem Namen in jede
+Spelunke geschleppt, beneidet, bewacht, einsam, unerhört einsam und
+unerhört verraten. Wollt' ich bekennen, was ich in diesem Haus für ein
+Leben zubringe, so würde ich ja vielleicht auch Sie verlieren, der mir
+gutgesinnt ist. Nein, nein, erlassen Sie mir das, gönnen Sie mir die
+harmlosen Stunden mit Ihnen.«
+
+Man sagt gemeinhin, und die Erfahrung macht mich geneigt, dem
+beizupflichten, daß Männer über dreißig, wenn sie zum erstenmal in ihrem
+Leben der Gewalt einer Leidenschaft erliegen, sich in nichts von der
+Unbesonnenheit und Kopflosigkeit der Jünglinge unterscheiden, daß sie im
+Gegenteil noch großmütiger ihr Gefühl, noch bereitwilliger ihren Stolz,
+noch unbedingter ihr Vertrauen verschwenden. Ich habe versucht, das
+Unheil zu bekämpfen, als es da war, ich habe mich noch mit aller Kraft
+gewehrt, als es mich umschlang. Vielleicht hätte ich es bezwingen
+können; vielleicht gab es einen Tag, eine Stunde, wo ich noch Meister
+des Verhängnisses werden konnte, wo ich mit dem Gedanken an ein
+Abschiedswort, dem Vorsatz einer Reise zu der Frau ging. Aber da mochte
+es scheinen, als rede die Frau mit einem andern Ton denn gestern; als
+sei die Hand, die sie mir bot, verwandelt worden. Wenn Früchte reif
+sind, fühlen sie sich gleichsam wärmer an, und so hatte sich etwa ihre
+Hand angefühlt, wie eine reife Frucht.
+
+Einverständnis genug; Erwiderung genug; es braucht nicht mehr als den
+Abglanz der eigenen Sehnsucht in dem geliebten Antlitz und Auge, nicht
+mehr als ein gestammeltes Wort, als einen flehentlichen Blick, und
+Pflicht, Gewissen, Zukunftsfurcht entschwinden für immer in der
+Süßigkeit und Betäubung eines jähen Sicherkennens. Jetzt sind die Tore
+zugeschlossen, und es gibt keine Reise mehr. Ich entsinne mich eines
+Tages, wo ich mit Begierde die Gesellschaft eines Mannes suchte, eines
+Freundes, den außerhalb meines beruflichen Kreises zu finden mir höchst
+erwünscht war. Da traf ich den Ingenieur, von dem ich schon gesprochen,
+durch Zufall auf der Gasse. Er blieb unschlüssig stehen, ich reichte ihm
+die Hand. Ich verzieh ihm alles, was er über Aurora Westermark geäußert
+hatte, noch mehr, ich empfand das Bedürfnis, ihn mit der wunderbaren
+Frau näher bekannt zu machen, und ich war überzeugt, daß er sie mit
+andern Augen ansehen würde. Das Vorhaben war leicht, als Freund Auroras
+durfte ich es wagen, ihn einfach zu einem ihrer Empfangsnachmittage
+mitzunehmen. Ich fing alsbald davon an, er war ziemlich betroffen,
+erwiderte jedoch, wenn ich Wert darauf lege, wolle er mir gern
+willfahren, obwohl seine Zeit ihm die Pflege gesellschaftlicher
+Beziehungen sonst nicht gestatte. Wenn ich mir heute dies Gespräch
+überlege, so muß ich glauben, daß in meinem Benehmen etwas Krankhaftes,
+ja sogar Krankes enthalten sein mußte, denn der junge Mann blickte mich
+bisweilen fast mitleidig von der Seite an und meinte schließlich, es tue
+ihm aufrichtig leid, wenn er mich damals durch seine unüberlegte
+Offenheit verletzt habe. Am nächsten Tag gingen wir zusammen zur
+Majorin; Aurora nahm ihn mit Herzlichkeit auf, und sie schmeichelte ihm
+durch eine gewissermaßen sachliche Hochachtung, die bei Frauen selten
+ist, und die hier am Platze war. Er kam nun bisweilen an Montagen und
+Donnerstagen, blieb aber zumeist auffallend schweigsam, trotzdem ihm
+Auroras Sympathie durchaus nicht verborgen blieb. Einmal gingen wir
+zusammen weg, und ich sagte ganz unvermittelt zu ihm: »Hast du nun dein
+Urteil revidiert? Gibst du nicht zu, daß das ein Geschöpf ist, wie es so
+vollendet nur aus der Meisterhand Gottes hervorgehen kann?« Und als er
+nur mechanisch nickte, fügte ich hinzu: »Ich hoffe, daß du mich nicht
+mißdeutest, und daß du meine Worte so auslegst, daß wir uns auch
+weiterhin gerade in die Augen sehen können.«
+
+»Mehr brauche ich nicht zu wissen«, entgegnete er ernst und anscheinend
+überrascht. Er besuchte von da an das Westermarksche Haus nicht mehr.
+
+Warum ich die Art meines Verhältnisses zu Aurora vor dem Verdacht eines
+Freundes schützen zu müssen glaubte, weiß ich kaum. Ich hatte keinen
+Zweifel an ihrer Ehre und Reinheit. Aber das namen- und gesichtslose
+Hörensagen, unter dem ihr Ruf litt, war eine Qual sondergleichen für
+mich. Ich hätte mich gerne gestellt, aber wie durfte ich dies, wer hätte
+mir das Recht dazu eingeräumt? Ein Blick, ein zweideutiges Lächeln, ein
+Achselzucken, ein irrlichterndes Wort dann und wann, es überlief mich
+kalt, wenn ich dessen nur nachträglich gedachte; ich fand mich beleidigt
+und geschmäht, bald genug bekam ich zu spüren, daß das verleumderische
+Geschwätz auch schon meinen eigenen Namen bespritzte; aus dem Bewußtsein
+meiner Schuldlosigkeit, und, da Aurora sich mir gegenüber noch mit
+keinem Hauch etwas vergeben hatte, zog ich den Schluß, daß all die
+andern Anwürfe und Gerüchte ebenso trugvoll, lügnerisch und boshaft
+seien wie dieses. Traurigkeit und Ingrimm nahmen von mir Besitz, ich
+sonderte mich ab von den Kameraden wo es nur irgend anging, und hatte
+ich vorher schon für unliebenswürdig gegolten, so erklärte man mich
+jetzt für abstoßend hoffärtig, oder mildesten Falls für einen finstern
+Einsiedler. Ja, ich haßte sie, diese still beieinander hockenden
+Aufpasser, Schlimmredner und Giftkocher, diese gutangezogenen Megären
+und unbezahlten Spione, die ihrem Dünkel und ihrem Müßiggang kein
+unterhaltsameres Spiel wußten, als die nie wieder gutzumachende
+Besudelung eines schönen Herzens und edlen Charakters, denn so erschien
+mir Aurora.
+
+Indessen wucherte das Grübeln über die furchtbaren Andeutungen, die sie
+mir in bezug auf ihr eheliches Leben getan, heimlich in mir fort. Ich
+wagte sie nicht mehr daran zu erinnern, ich wollte nicht mehr fragen,
+ich glaubte zartfühlend zu sein, doch meine Seelenruhe kam dabei
+schlecht weg. Tausend Vermutungen erwog ich, bis in die Träume hinein
+verfolgte mich das haltlose Denken, und so geschah es denn doch, daß ich
+einstmals, wir saßen im oberen Gesellschaftszimmer vor der Terrasse
+einander gegenüber, daß ich die Frage stellte, mitten in eine ruhende
+Minute hinein, in der mir zu Sinn war, als hörte ich das Ziehen der
+Wolken am herbstlichen Himmel. Aurora erschauerte; sie sah mich eine
+Weile zornig an, plötzlich stand sie auf, kehrte sich mit dem Gesicht
+gegen das Fenster, und ich gewahrte am Zucken ihrer Schultern, daß sie
+weinte. Während ich ratlos dasaß und meine Taktlosigkeit verwünschte,
+hörte ich die säbelrasselnden, plumpen Schritte des Majors auf der
+Flurtreppe. Aurora wandte sich um, mit erschrockenen Augen starrte sie
+gegen die Türe und flüsterte: »Ich kann ihn jetzt nicht sehen.« Damit
+verließ sie das Zimmer. Der Major trat ein und zeigte ein verwundertes
+Gesicht, als er mich allein sah. Er begrüßte mich mit zusammengekniffenen
+Augen und begann mit mir ruhig über dienstliche Angelegenheiten zu
+sprechen. Meine Nerven waren bis zur Unerträglichkeit gespannt, ich
+hörte kaum, was er sagte, und ich verfolgte seine Schritte und
+Bewegungen mit einem beunruhigten und haßähnlichen Gefühl. Plötzlich
+fragte er mich, wo seine Frau sei. Ich antwortete, sie sei vor wenigen
+Minuten hinausgegangen. Sein Gesicht verdüsterte sich: »Sie macht mir
+viel Kopfzerbrechen mit ihren Launen«, sagte er seufzend, indem er sich
+schwer in einen Sessel fallen ließ. »Ich sollte mich wirklich mehr um
+sie bekümmern,« fuhr er fort, »aber, lieber Treunitz, Sie haben keine
+Ahnung, was für Plackereien ich ausgesetzt bin; es kostet mich
+Überwindung genug, sie nichts merken zu lassen, aber wer kann immer
+heiter sein, wenn's einem an den Kragen geht? So eine Frau will nichts
+als eitel Wonne um sich sehen; ich kann's ihr nicht verdenken, sie ist
+jung. Mag sie sich nur amüsieren, ich lege ihr keine Balken über den
+Weg. Doch wie gesagt, die Launen, die Launen!«
+
+Was er mit den Launen meinte, konnte ich mir nicht enträtseln. Es war
+mir eine Pein, ihn zu hören, andrerseits rührte mich sein Wesen, und er
+erschien mir durchaus nicht als böse. Ich wußte nur unbestimmte
+Redensarten zu erwidern. Meine Situation kam mir ebenso bedrückend wie
+die seine kläglich vor. Ich verabschiedete mich von ihm. Als ich über
+den Korridor schritt, stand Aurora neben der Treppe. Sie winkte mir, ihr
+zu folgen. Ich trat in ein kleines, boudoirähnliches Gemach. Aurora
+blickte mich forschend an. Etwas Trauriges, aber nicht bloß Trauriges,
+sondern auch Wildes, eine Art von Außersichsein in ihren Zügen brachte
+mich vollkommen um den Verstand. Plötzlich umschlangen mich ihre Arme,
+und ich fühlte ihre Lippen auf den meinen. »Geh, geh«, stieß sie dann
+durch die verpreßten Zähne hervor. Ich ging.
+
+Mir brannte Hirn und Herz. Nie mehr über diese Schwelle, rief es in mir.
+Ich scheute mich, den Menschen in die Augen zu blicken. Und doch war ich
+glücklich; ich hatte ihre Schultern gespürt, ihre Arme, ihren Mund. Ich
+begab mich nach Hause, lief wie toll in meinem Zimmer auf und ab, ging
+wieder fort und stand in der Nacht, ich weiß nicht wie lange, vor der
+Villa des Majors, zu den schwarzen Fenstern emporstarrend. Die Stunden
+bis zum andern Nachmittag schlichen qualvoll hin. Als ich zu Aurora kam,
+waren Gäste da. Sie scherzte und plauderte wie gewöhnlich. Dies war mir
+unbegreiflich. Erst um sechs Uhr waren wir allein. Mit rauher Stimme bat
+ich sie um Aufklärung. Ich sagte, daß ich den Zustand des Zweifels und
+der schlimmen Befürchtungen nicht mehr ertragen könne.
+
+»Was wollen Sie von mir?« entgegnete sie hart. Ich blickte sie erstaunt
+an, aber sie senkte nicht die Augen und flammte mich drohend an. Da
+packte ich ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen. Sie ließ mich ruhig
+gewähren, indes sie den Kopf in die andere Hand stützte. »Wenn ich alles
+sagen wollte, wer könnte mir glauben«, murmelte sie vor sich hin, und
+ihr Körper schrumpfte zusammen wie unter der Gewalt eines physischen
+Schmerzes. »Gehen wir ein wenig ins Freie«, schlug sie vor. Wir gingen
+in den Garten. Dort erzählte sie mir alles; während wir über die dunklen
+Wege schritten, schilderte sie mir ihre Ehe. Sie schilderte mir diese
+Ehe als ein Martyrium, das ohne Beispiel war. Sie schilderte den Major
+als einen argwöhnischen, neidischen, boshaften, ohnmächtigen,
+lügenhaften, und gewalttätigen Greis. Sie sagte mir, daß er sie schlüge.
+(O Gott, der Speichel im Munde wurde mir bitter wie Galle.) An ihr räche
+er die Unbill und Zurücksetzung, die er überall zu erleiden wähne. Wo er
+ihre Wünsche erfülle, sei es zum Schein; wenn er sich freundlich stelle,
+sei es zum Schein. Er behandle sie schlimmer als einen Hund. Seit
+sechzehn Monaten lebe sie wie in einem Starrkrampf, und was sie lache
+und rede, wisse sie nicht. Zuerst habe sie geschwiegen aus Furcht vor
+ihm, dann aus Furcht vor der Welt, denn noch einmal als geschiedene Frau
+bodenlos und heimatlos dastehn, das zu ertragen, sei sie nicht fähig,
+lieber wähle sie den langsamen Tod aus Kummer, Zorn und Angst.
+
+Ich glaubte. Man denke nach, ob es für mich eine andere Möglichkeit gab,
+als zu glauben. Es gibt im Ungeheuerlichen einen Punkt, wo der Zweifel
+erstickt, anstatt genährt wird. Man kann der Raserei mißtrauen, man kann
+der Wut oder dem Haß mißtrauen, aber der sanften, schwermütigen und
+verzweifelten Ruhe, mit der mich Aurora zum Mitwisser ihres Geheimnisses
+machte, ist schwer zu mißtrauen. Ich wußte zu wenig von Leidenschaft, zu
+wenig von dieser schrecklichen Narkose des Gemüts. Die Gewohnheit kalter
+Sinnenlust und bezahlter Vergnügungen hatte mich einem Sträfling ähnlich
+gemacht, der die Kette nicht mehr spürt, aber vor Freude verrückt wird,
+wenn man ihm die Freiheit schenkt.
+
+Wie hätte ich ahnen sollen, was in diesem Weibergehirn vor sich ging?
+ahnen sollen, daß Neugier sie zur Verderberin und Verbrecherin machen
+konnte? Neugier, wie weit sie mich zu treiben imstande war! Sie glaubte
+nicht an Männer, sie glaubte nicht an mich. Daß ich in der Schlacht
+gewesen, daß ich Feindesblut und eigenes Blut vergossen hatte, das
+verlockte sie, und sie wollte mich erproben. Sie wollte ihre Macht an
+mir erproben. Sie hatte die unbestimmte Sehnsucht, Urheberin einer Tat
+zu werden, aber sie glaubte nicht an diese Tat, so wenig wie sie an
+Worte, Schwüre, Vorsätze und Empfindungen glaubte. Die unergründliche,
+unermeßliche Leere ihrer Brust verzerrte ihr alles ernste Bestreben,
+Wissen, Wollen, Denken und Vollbringen zu spottwürdigen Schemen. Und so
+wurde meine Ergebenheit zu einem Piedestal für ihren lasterhaften
+Willen, und es war eine unheimliche Begierde in ihr, mich zu entfalten,
+mich gleichsam auseinanderzureißen, um zu sehen, -- was in mir drinnen
+sei. Dieses und sonst nichts.
+
+Das weiß ich jetzt; ich habe es erfahren müssen in einer Stunde, die
+mich aus dem Himmel in die Hölle stürzte, einer Stunde, wie sie
+vielleicht nur wenige Menschen je erlebt haben, und die ich auch um
+keinen Preis noch einmal erleben möchte. Aber wie hätte ich es damals
+spüren oder nur denken sollen? frage ich. Vor mir stand eine Frau, jung
+und unvergleichlich schön, den Sammet rührender Duldung in den Augen,
+und so hingeschmolzen vor meinem Wort und schlechten Trost, daß ein Tier
+weich geworden wäre. Kann man das noch Verstellung oder Heuchelei
+nennen? Ist dies nicht vielmehr eine böse zauberische Kraft, für die es
+noch keinen Namen gibt?
+
+Ich will es nicht versuchen, meinen jammervollen Zustand zu schildern.
+Ich wandelte herum wie ein Vergifteter, auch schmeckte mir kein Bissen
+mehr. Daß ich liebte, war kein Glück mehr für mich, daß ich geliebt
+wurde, spürte ich nur wie im Traum. Wie ich es fertigbrachte, mich
+täglich anzukleiden, zu waschen, zu frühstücken und den Obliegenheiten
+meines Berufs zu genügen, ist mir heute noch ein Rätsel. Offenbar gibt
+es irgendeine Maschine in unserm Innern, welche die alltäglichen
+Pflichten gewohnheitsmäßig erfüllt. Eines Tages war ich bei meiner
+Mutter zu Tisch, und da ich alle Speisen unberührt ließ, stellte sie
+mich plötzlich in ernstem Ton zur Rede. Sie sagte, sie wisse alles; sie
+beschwor mich, von Aurora zu lassen und nannte sie eine gefährliche
+Kokette. Ich packte ihre Hände, wie man die Fäuste eines Gegners packt,
+der zum Schlag ausholt. »Auch du,« rief ich, außer mir vor Wut und
+Enttäuschung, »auch du gehst zu den Verleumdern. Du weißt ja nichts von
+ihr. Ach, wenn du wüßtest, wenn du wüßtest, es soll sich mir nur einer
+stellen! nur einmal Aug' in Auge! Mich dürstet ja danach, sie vor die
+Pistole zu bekommen, die feigen Hunde!« Meine Mutter war erschrocken,
+sie umarmte mich schluchzend und sagte: »Daß du den Appetit verloren
+hast, mein Junge, ist für mich das beste Zeichen, daß deine Leidenschaft
+verderblich und unnatürlich ist.«
+
+So zeigt sich einem jeden die Welt anders; dem einen von der
+Herzensseite, dem andern von der Magenseite. Aber meine Mutter hatte
+Recht. Dennoch vermied ich es in der Folge, sie zu besuchen, und vom
+November bis zum Februar sah ich sie nur zweimal. Auch mit andern
+Menschen sprach ich nicht mehr als das Notdürftigste; ich gab jeden
+Verkehr auf und stellte Aurora meine freie Zeit völlig zur Verfügung.
+Nachdem ich mich lange in einem Zustand der Zerschmetterung befunden
+hatte, begann ich die Unhaltbarkeit der Lage zu spüren, um so mehr, als
+meine finstere Apathie in Aurora sichtlich eine gewisse Ungeduld
+erweckte. Ich sagte zu ihr, ich müsse mich mit dem Major schlagen. Sie
+erwiderte mit der ihr eigenen brennenden und faszinierenden Ruhe: »Wie?
+Du willst dein Leben gegen das seine in die Wagschale werfen? Ein
+Zufall, und er bleibt Sieger, und ich, verlassener als je, bin nicht nur
+auf seine Gnade angewiesen, sondern habe auch noch dich verloren. Bevor
+du mir das antust, schieß' ich mir selber eine Kugel in den Kopf, das
+sollst du wissen.«
+
+Ihre Beredsamkeit war groß. Es ist von jeher meine Schwäche gewesen, daß
+ich gegen beredsame Naturen schnell unterlag. Ich faßte den Plan einer
+Flucht. »Fliehen wir!« schlug ich ihr vor, »ich bin reich, laß uns übers
+Meer fahren und ein neues Leben anfangen.«
+
+Sie schüttelte den Kopf. »Fliehen heißt, mich in den Augen der Welt für
+schuldig und ungetreu bekennen,« sagte sie. »Heutzutage ist die Welt zu
+klein für solche Wagnisse. Wer kann mich zwingen oder mir es als
+nützlich einreden, daß ich wie ein Dieb in der Nacht ein Haus verlassen
+soll, in dem man mit Füßen auf mich getreten ist, in dem man mich
+bespien und besudelt hat? Nein, Treunitz, das kann ein stolzer Mann
+nicht von mir wollen.«
+
+Da stand ich wie ein Schüler. »Was wollen wir also tun?« fragte ich.
+
+»So geben wir uns doch auf!« rief sie trotzig und wie ermüdet. Ich
+schwieg, muß jedoch sehr blaß geworden sein, denn sie sah mich an, erst
+besorgt, dann nachdenklich, düster und kalt. An jenem Tag verstand ich
+den Blick noch nicht. Der nächste Tag war Allerseelen. Ich war gegen
+Abend gekommen, und Aurora bat mich dringend, zu Tisch zu bleiben. Ich
+konnte es ihr nicht verweigern, obwohl mir vor dem Beisammensein mit dem
+Major graute. Ich hatte dienstlich mit ihm nichts zu schaffen; in der
+Stadt sah ich ihn fast nie, von den Veranstaltungen der Offiziere hielt
+ich mich fern; daß ich dennoch sein Haus betrat, dennoch an seiner Tafel
+speiste, fähig war, ihn zu begrüßen, ihm zuzuhören und zu antworten,
+dies alles müßte mich als einen hinterhältigen und niedrigen Charakter
+denunzieren, wenn es nicht durch die Macht, die Aurora über mich
+ausübte, einigermaßen erklärt würde. Ihre Worte hatten eine solche
+Gewalt über mich, daß in meinem Kopf gar keine Überlegung mehr war, wenn
+sie einmal gesprochen hatte. Da ich sie selber dulden sah, glaubte ich
+es unserer Liebe schuldig zu sein, mich ebenfalls zu beherrschen und
+alles zu versuchen, um ihr Los zu erleichtern. Was für Kämpfe und Leiden
+mich dies kostete, davon will ich nicht reden.
+
+Mit dem Augenblick, wo der Major das Zimmer betrat, pochte mir das Herz
+vor Haß, Ingrimm und Verachtung bis in den Schlund hinauf. Ich gewahrte
+ihn nur wie durch Schleier, jede seiner Bewegungen erregte mir Ekel, bei
+jedem seiner Worte zuckte ich zusammen; meine Stimme klang heiser, und
+wer weiß, wozu es gekommen wäre, wenn ich nicht Auroras Blick wie einen
+geisterhaften Bann beständig auf mir ruhen gefühlt hätte. Mitten in
+einem belanglosen Gespräch unterbrach sich der Major, stocherte mit der
+Gabel im Salat, führte ein Blättchen an die Lippen, indem er daran
+leckte, und warf dann Besteck und Serviette mit einem Fluch auf den
+Tisch. »Kreuzmillionenschwerenot,« schrie er, »wie oft soll ich denn
+noch sagen, daß ich den Salat mit Zitrone und nicht mit Essig angemacht
+will! Was haben denn die gottverdammten Frauenzimmer sonst zu denken?
+Bin ich denn der Niemand im Hause, daß man Schindluder mit mir treibt?
+Wahrhaftig, eine Lammsgeduld gehört dazu.«
+
+In diesem rüden Feldwebelton ging's noch eine Weile weiter, bis er
+aufsprang, die Tür hinter sich zudonnerte und hinausstürzte.
+
+Ich war vollkommen perplex. Das Blut stieg mir langsam zu Kopf, und ich
+blickte Aurora schweigend an. Sie saß da und lächelte wie eine Frau, die
+es endlich zur Augenscheinlichkeit gebracht hat, was sie sonst nur
+insgeheim erleidet. »Dies ist ein Affront,« murmelte ich, »ich werde ihn
+zur Rechenschaft ziehen.« Aurora lachte. »Zur Rechenschaft ziehen? Einen
+Unzurechnungsfähigen? Was fällt dir ein!« erwiderte sie herrisch.
+»Abrechnen mit einem Vieh!«
+
+Ich zitterte vor innerem Frost an allen Gliedern. Und wie mich nun
+Aurora so anschaute, mit blitzendem Blick, mit geschlossenen Lidern und
+mit einer unbeweglichen Stirn, da war es mir, als ob mein Herz in
+siedendes Wasser getaucht würde, und, Gott möge mir verzeihen, ich fing
+an, jenen Blick zu verstehen, er ging auf in meiner Brust wie das
+Saatkorn in gedüngtem Boden. Es war mir klar, es war ein unabwendbarer
+Beschluß, daß der Major von meiner Hand sterben müsse. Aurora zu retten,
+war mein einziger wütender Drang, ich fühlte meine Liebe zu ihr so
+ungeheuer, daß ich die wenigen Worte, die alles entschieden, trotz des
+Flüsterns mit einer Festigkeit hervorbrachte, als ob dieses
+Fürchterliche eine alltägliche Angelegenheit sei. Aurora, der aus
+weitoffenen Augen die Tränen über das Gesicht liefen, hörte plötzlich
+zu weinen auf, ihre linke Hand bebte mir entgegen, ich ergriff die Hand
+und bedeckte mein Gesicht damit.
+
+Der Major kam nach einer Viertelstunde zurück und bat, anscheinend sehr
+betreten, um Entschuldigung, die ich meinerseits kalt quittierte.
+»Aurora,« rief er gezwungen scherzend, »komm einmal zu mir.« Sie erhob
+sich sogleich und trat eilig vor ihn hin. Diese Bewegung sklavischer
+Unterwürfigkeit und Angst rührte mich tief. Daß sie wahrscheinlich nur
+für mich berechnet war, ahnte ich ja nicht. Wie Napoleon, wenn er einen
+seiner Günstlinge wieder versöhnen wollte, zupfte der Major seine Gattin
+am Ohrläppchen und lachte. Unter irgendeinem Vorwand verabschiedete ich
+mich alsbald.
+
+Ich war jetzt bei ziemlich kaltem Blut, und während der ganzen Nacht
+überlegte ich meinen Plan. Am nächsten Vormittag um elf Uhr traf ich
+Aurora, wie oft bei schönem Wetter, im Stadtpark. Ich vermochte, mit ihr
+davon zu sprechen. Es fiel mir auf, daß sie dabei fortwährend mit
+niedergeschlagenen Augen lächelte. Dies dünkte mich sehr kurios. Ich
+wußte nicht, war es Unglaube, Befriedigung, Gedankenlosigkeit oder
+irgendeine Träumerei. Der Ausdruck ihrer Züge rief eine dunkle
+Erinnerung in mir hervor. Erst viel später entsann ich mich, daß vor
+Jahren, als ich in Basel war, das Bild der Herzogin vom sogenannten
+Basler Totentanz eine lange nicht verwischbare, fast unheimliche Wirkung
+auf mich ausgeübt hatte. Es war genau dieses süß-friedsame Gesicht, in
+dem etwas Wildes und Kindisches war, eine zerstreute und lustige
+Grausamkeit und ein Lächeln, als ob der Tod nur ein Schreckmittel für
+Schwachköpfe sei.
+
+Nun, was half's; ich war darum nicht weniger verstrickt, der Gedanke
+wurde uns vertraut. Er erweckte kein Schaudern mehr in mir. Er nahm
+Gestalt an, und ich war von ihm besessen. Gleichwohl quälte mich Auroras
+Verhalten. Wenn wir eine Zeitlang ernst über das Vorhaben gesprochen
+hatten, klatschte sie plötzlich in die Hände und lachte, als ob es sich
+um ein Märchen handle, an dem zu sinnen angenehm war, das aber niemals
+in Erfüllung gehen könne. Dergleichen regte mich ungemein auf. Wenn sie
+mir die Perfidien und zahllosen tyrannischen Handlungen ihres Gatten
+klagte, beobachtete sie mit Angst, bisweilen mit einem Gemisch von
+Freude und hungriger Erwartung die geringste meiner Gebärden. Mein
+Geständnis, daß mich ihre Berichte unsinnig folterten, schien sie oft
+beinahe fröhlich zu stimmen, und es bestürzte mich, wenn sie unmittelbar
+nach einem der unheilvollen Gespräche mit dem Vergnügen eines kleinen
+Mädchens einen Hut probieren konnte und sich selber in den Spiegel
+hinein entzückt anlächelte. Ich habe während der ganzen Monate Dezember
+und Januar in keiner Nacht mehr als zwei Stunden Schlaf genossen, und am
+Ende sah ich aus wie ein Schwindsüchtiger.
+
+Dazu die gestohlenen Liebesstunden, in denen meine Leidenschaft nur
+durch versprechungsvolle Küsse Genüge fand. Was Genüge! Ein
+verzweifeltes Aufflackern war es immer wieder, das den Körper ruinierte
+und mir alle Klarheit des Gemüts und Geistes raubte. Aurora gab sich mir
+nicht hin; sie erklärte, das schände sie, sie wolle sich nicht noch mit
+Lug und Trug beladen, sie wolle ihr Gewissen fleckenlos bewahren. Ich
+ehrte diese Gründe, ich konnte nicht wissen, daß es ihr bloß darum zu
+tun war, mein Gefühl ins Maßlose zu steigern. Denn sie, sie hatte ja
+genossen! Sie wollte sich einnisten in der Anbetung eines
+vertrauensseligen Mannes, das verlieh ihr einen Halt, eine letzte Würde
+und weckte vielleicht ihr abgestumpftes Herz zu einer Regung von
+Zärtlichkeit. Das war es, das war das Ganze, und ich Tropf lief in die
+überdeckte Falle und stürzte so tief, daß keine Faser an meinem Leibe
+heil blieb.
+
+Eines Abends um sieben Uhr kam Aurora in meine Wohnung, dicht
+verschleiert. Sie war still und finster, wie ich sie nie gesehen. Sie
+entblößte ihre Brust und zeigte mir einen blutigen Striemen. Ich
+stotterte eine Frage. »Dies ist von ihm«, sagte sie dumpf. Da schlug ich
+besinnungslos mit der Faust um mich und zertrümmerte das Fenster. Mit
+meiner von Glassplittern verwundeten Hand wollte ich sie an mich ziehen,
+aber sie, auf das Blut starrend, wich sehr erschrocken zurück. »Du
+weißt, ich kann kein Blut sehen«, hauchte sie. »Und doch sollst du bald
+Blut sehen«, antwortete ich. »Nein sehen nicht«, versetzte sie abermals
+hauchend. »Ach, wenn das wäre«, fügte sie hinzu und schaute mich glühend
+an, »wenn du das vollbringen könntest, dann könnte ich sterben aus Liebe
+zu dir.«
+
+Daß sie gewagt hatte, zu mir zu kommen, erschütterte mich, da ich in
+dieser Verwegenheit nur eine Handlung des Vertrauens und der Zuneigung
+erblickte. Besorgt um ihren Ruf, holte ich selber einen Wagen; ich
+begleitete sie, und während der Fahrt setzten wir Tag und Stunde der Tat
+fest. Ich sagte »morgen«. Aurora antwortete, morgen sei der große Ball
+im Kasino, da wolle sie noch einmal tanzen. Dieses »noch einmal«
+zerstreute eine unangenehme Verwunderung, die mir der Einwand zunächst
+erregt hatte. Ich sagte also: übermorgen. Sie wünschte auch dieses
+nicht. Sie sagte, am Sonntag sei in Weidenberg Jahrmarkt, ihre Mädchen
+und der Bursche des Majors hätten für den Nachmittag und die Nacht
+Urlaub erbeten, und so könne ich ins Haus kommen ohne Gefahr, einen
+Unberufenen zu wecken. Ich fügte mich, obwohl mir jeder Tag und
+besonders jede Nacht bis dahin zur Ewigkeit werden mußte. An das, was
+nachher kam, dachte ich nicht im geringsten. Vermutlich spürte ich
+schon, daß ich auf eine Zukunft nicht mehr zu rechnen hatte.
+
+Als ich am nächsten Mittag in Gesellschaft des Regimentsadjutanten über
+den Domplatz ging, gewahrten wir einen sehr fetten und auffallend
+elegant gekleideten jungen Menschen, der offenbar fremd in der Stadt
+war. In der Provinz wird der Fremdling, und gar der Großstädter durch
+ein Etwas in Miene und Schritt sofort erkennbar. Ich hatte nur einen
+Blick auf ihn geworfen und fühlte gleich den äußersten Widerwillen gegen
+dies abgelebte, hochmütige und bornierte Gesicht. Der Regimentsadjutant
+zwinkerte mit den Augen und bemerkte spöttisch: »Aha, da ist ja der
+Fabrikant Dotterwachs aus Berlin.«
+
+Mich durchfuhr eine unklare Erinnerung von nicht sympathischer Art, aber
+erst hernach fiel mir ein, daß das vielleicht jene Person sein könne,
+von der mein Freund, der Ingenieur, gesprochen. Als ich am Nachmittag in
+die Westermarksche Villa kam, wurde mir gesagt, die gnädige Frau sei
+nicht zu Hause. In meiner Wohnung angelangt, übergab mir mein Bursche
+einen Brief. Es war ein anonymes Schreiben folgenden Inhalts: »Wenn Sie
+das geheime Absteigequartier der Majorin Westermark kennen lernen
+wollen, so verfügen Sie sich in den dritten Stock des Hauses Nummer 15,
+Schönlandstraße. Eine frühere Kammerjungfer und jetzige Vertraute der
+Majorin ist Kupplerin und Mieterin dortselbst.«
+
+Ich zerriß den Fetzen und heftete nicht zwei Gedanken daran, schon, weil
+mir die Sache zu albern erschien. Leider hatte ich Aurora versprochen,
+auf den Kasinoball zu kommen, wenn auch nur, um sie zu sehen. Ich
+überwand meine Abneigung, die mir in der jetzigen Stimmung derlei
+Festlichkeiten hassenswert machte, schob aber die Stunde möglichst
+hinaus, und so war es bereits recht spät, als ich den Saal betrat.
+Aurora war von einem Kreis junger Leutnants umgeben. Sie war hinreißend
+schön; die Haut von Busen, Hals und Antlitz glänzte wie Silber, darunter
+floß fischhaft das dunkelgrüne Spitzenkleid; sie war heiter, allzu
+heiter; und ich, ich war finster. Ich war einer Ohnmacht nahe, so
+schrecklich empfand ich in diesem Augenblick meine leidenschaftliche
+Liebe. Frau von Rütten, an der ich nicht grußlos vorübergehen konnte,
+saß mit einigen andern Leuten in einer Säulennische. Alle diese Leute
+sahen mich mit seltsamen Blicken an, wenigstens schien es mir so. Ich
+bemerkte darunter auch das siebzehnjährige Kind, mit dem man mich hatte
+verheiraten wollen. Ich glaubte die Augen dieses Mädchens mit einem
+rührenden Gefühl auf mich gerichtet. Ich wandte mich hastig ab und hatte
+gerade noch Zeit, dem Major Westermark aus dem Weg zu gehen, der auf
+mich zukam, lachend und winkend, als ob ich sein bester Freund wäre. Es
+überrieselte mich eiskalt.
+
+Ich stellte mich nun an das untere Ende des Saales und starrte in das
+lichtübergossene Geflimmer der Uniformen und Roben. Die Walzermusik
+stimmte mich traurig, und ich weiß nicht, wie es zuging, aber ich mußte
+beständig an den Mann denken, den ich mittags gesehen, und dessen
+fleischige und gemeine Züge nicht aus meiner Vorstellung schwinden
+wollten. Ich sah ihn essen, ich sah ihn Bier trinken, ich sah ihn
+widerlich lachen und prahlen, und voll Bitterkeit dachte ich mir: das
+ist also der jetzige Deutsche, ein solcher Mann darf den Namen eines
+Deutschen führen; Emporkömmling; dickfelliger, ohrenloser,
+aufgeblasener, herzloser Geselle, dem alles gehört und der nichts
+respektiert; und so sind sie alle, sie haben das Zittern verlernt und
+brauchen wieder einmal die Peitsche des Schicksals. Dabei kannte ich den
+Mann doch gar nicht und verband nur einen Eindruck mit dem Groll über
+eine allgemeine Kalamität, denn ich war in diesen Dingen schon zum
+Schwarzseher geworden und war deshalb auch nicht mehr mit innerer Freude
+Soldat.
+
+Nach dem Kotillon gelang es mir, Aurora für ein kurzes Alleinsein zu
+erobern. In ihrem Wesen war etwas Schmachtendes, das ich nicht lediglich
+der Wirkung des Tanzes zuschreiben mochte. Die Luft zitterte zwischen
+unsern Mündern und unsre Blicke bohrten sich fest ineinander. Trotzdem
+Leute um uns herumstanden, hatte sie die Verwegenheit, mich zu fragen,
+ob es beim Sonntag abend verbleibe, und als ich schweigend und bestürzt
+nickte, lächelte sie mit entblößten Zähnen. Noch lange nachher, als sie
+sich schon von mir entfernt hatte, beobachtete ich, daß ihre Augen
+bisweilen forschend, ja ängstlich auf mir ruhten. Plötzlich ging sie zu
+ihrem Mann, sagte ihm ein paar Worte und verließ den Saal. Der Major,
+der bei Frau von Rütten saß, erhob sich, um ihr zu folgen. Sie kehrte
+noch einmal um, und sie redeten wieder eine Weile miteinander, dann ging
+Aurora. Der Major schien unschlüssig und zeigte ein nachdenkliches
+Gesicht. Da Aurora nicht zurückkam, entschloß ich mich, Frau von Rütten
+zu fragen, ob sie wisse, was geschehen sei. Sie antwortete mir kalt, die
+Majorin habe sich nicht wohl gefühlt und sei nach Hause gefahren; sie
+habe nicht gewünscht, daß der Major sie begleite, weil sie bestimmt
+wiederkommen wollte. Ich wunderte mich und wurde besorgt. Ehe eine
+Viertelstunde verflossen war, hatte ich mich in aller Stille aus dem
+Saal entfernt, nahm außen meinen Mantel und eilte nach der
+Westermarkschen Villa. Daß meine Abwesenheit unter der Ballgesellschaft
+bemerkt und auffällig gefunden werden könne, darüber machte ich mir
+keine Gedanken. Da ich im Souterrain der Villa noch Licht sah, läutete
+ich am Gartentor. Eine Mädchenstimme fragte vom Fenster aus, wer da sei.
+Ich erkundigte mich, ob sich die gnädige Frau noch oben befinde; weil
+der Wagen nicht da war, mußte ich annehmen, daß sie schon zurückgekehrt
+wäre. Das Mädchen erwiderte mir, die gnädige Frau sei auf dem Ball. Sie
+sei aber doch vor kurzem nach Hause gefahren, versetzte ich. Dies wurde
+verneint.
+
+Ich spazierte auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf und ab und
+wartete, bis die Glocke zwölf schlug. Darauf machte ich mich wieder auf
+den Weg und dachte, sie habe am Ende das Kasino gar nicht verlassen. Als
+ich in die Wilhelmstraße einbog, rasselte eine Droschke an mir vorüber
+und blieb etwa zweihundert Schritte weiter stehn, ungefähr in der Mitte
+des Wegs zwischen mir und dem Kasino. Es stieg ein Herr aus, und der
+Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Der Herr kam mir auf demselben
+Trottoir entgegen, und ich erkannte den Fabrikanten aus Berlin. Er trug
+einen Zylinder und rote Handschuhe. Sein fettes Gesicht hatte einen
+angestrengt überlegenden Ausdruck, und seine Lippen waren wie zum
+Pfeifen gespitzt. Niedergeschlagen, ohne recht zu wissen, weshalb,
+wandelte ich noch ziemlich lange Zeit auf den Straßen herum. Als ich
+dann wieder den Ballsaal betrat, erfuhr ich, daß Westermarks schon nach
+Hause gefahren seien. Dies beschwichtigte mich einigermaßen.
+
+Als ich am folgenden Nachmittag zu Aurora kam, fand ich sie lesend. Sie
+hatte unter alten Sachen gekramt und ein Stammbuch aus ihrer Mädchenzeit
+entdeckt. Ich beugte mich über sie und sah, daß ihre Blicke auf einen
+Vers gerichtet waren, der in großväterischen Schriftzügen ein vergilbtes
+Blatt bedeckte. Er lautete:
+
+ Mit einer Blume zu spielen, ist dir erlaubt,
+ und sie zu pflücken.
+ Mit einem Herzen, das du geraubt,
+ sollst du nicht tücken.
+ Vergiß nicht, o Mann, o Weib,
+ Herz, das sich schenkt, ist Gottes Leib.
+
+»Ein hübscher Spruch«, sagte ich. Aurora schaute mich geistesabwesend
+an. Sie ergriff meine Hand und hielt sie fest. Ihre Finger waren heiß.
+Ihr Wesen war so gemsenhaft scheu und so bedrängt, daß ich den
+Augenblick sehnlich herbeiwünschte, wo ich ihr zurufen konnte: du bist
+erlöst. Sie hatte viel Gesichter und jeden Tag zeigte sich mir ein
+neues. Hätte sie nur ein einziges Gesicht besessen, so hätte ich
+vielleicht ergründen können, was in ihr vorging; aber von der
+hinschmelzenden Schwermut bis zur Trunkenheit des Vergnügens alle
+Verwandlungen mitzuerleben, hatte ich kein Talent. Ich hätte lernen
+müssen zu sehen, bevor ich sie liebte.
+
+Endlich brachte ich es über mich, sie zu fragen, wo sie gestern während
+des Balles gewesen sei. Ihr Gesicht verfinsterte sich erschreckend.
+»Bedeutet dies Mißtrauen?« flüsterte sie langsam. Ich schüttelte den
+Kopf. »Hast du denn gar keine Geheimnisse?« fragte sie in derselben
+düstern Weise. »Gar keine«, antwortete ich. »Aber ich,« fuhr sie fort,
+»ich habe Geheimnisse, und auch die sollst du lieben. Bin ich nicht mit
+meinem ganzen Dasein so und soviel tausend Zuschauern offenbar? Wenn ich
+kein Geheimnis hätte, müßte ich sterben. Übrigens magst du wissen,«
+fügte sie hinzu, »daß gegenwärtig ein ehemaliger Freund von mir in der
+Stadt weilt, ein Mensch, dem ich einst viel zu verdanken hatte, der aber
+meine Dankbarkeit jetzt ausbeutet. An Bedrückern hat es mir nie gefehlt.
+Aber von alledem sprechen wir ein andermal.« »Ein andermal?« versetzte
+ich mit stockender Stimme. »Ja, ein andermal«, bekräftigte sie mutig
+oder auch gedankenlos. Sie näherte sich mir, legte ihre Hände auf meine
+Wangen und flüsterte: »Ach, wir werden viel beieinander sein müssen,
+damit ich dir alles, alles sagen kann.« So verstand sie es, mich zu
+beunruhigen und mich sicher zu machen mit ein und derselben Rede.
+
+Als es zu dunkeln begann, gingen wir gegen den Fluß hinaus spazieren. Es
+war dies ein einsamer Weg, wo selten jemand zu sehen war. Da wir uns am
+folgenden Tag nicht sehen wollten, verabredeten wir alle Einzelheiten
+des mörderischen Vorhabens. Aurora gab mir den Schlüssel zur
+Gartenpforte. Der Hund, der während der Nacht im Garten frei war,
+brauchte keine Sorge für mich zu sein, denn das Tier kannte mich, die
+beiden Jagdhunde wurden nachts in den Verschlag neben den Keller
+gesperrt. Den Hausschlüssel könne sie mir nicht geben, sagte Aurora, es
+sei nur ein einziger vorhanden, und den habe ihr Mann. Sie wollte an der
+Rückseite der Villa das Flurfenster offen lassen, dort sollte ich
+einsteigen und mich der Stiefel entledigen, bevor ich ins Schlafzimmer
+des Majors ging, das er unversperrt zu lassen pflegte. Daß sie keinen
+Hausschlüssel besaß, war eine Lüge, davon konnte ich mich selbst
+überzeugen, ehe zweimal vierundzwanzig Stunden vergingen. Den Grund
+dieser Lüge vermag ich allerdings auch jetzt noch nicht einzusehen.
+Vielleicht wollte sie die Vorbereitungen abenteuerlicher machen, oder,
+was wahrscheinlicher ist, sich vor Überraschungen sicherstellen. Dies
+schlug fehl durch meine aufrichtige Entschlossenheit.
+
+Ich gestehe, daß mich schauderte. Aber ich war ja schon verdammt durch
+den Willen. Die Ausübung war nur noch eine mechanische Folge für mich.
+Aurora verwunderte mich dann und wann durch eine Miene des Staunens und
+eine mir unerklärliche, neugierige Spannung. Während des Rückwegs jedoch
+blieb sie bei einer Weide stehn, strich mit ihren Händen den Schnee von
+einem Ast und warf sich plötzlich, erst lachend, dann weinend an meine
+Schulter.
+
+In welcher Verfassung ich den nächsten und den übernächsten Tag
+verbrachte, ist zu beschreiben unmöglich. Wozu sollte ich auch dabei
+verweilen. Erst im Gefängnis habe ich erfahren, daß der Major gerade an
+jenem Sonntag sein Geburtsfest feierte und daß ihn Aurora mit einer
+neuen Jagdflinte, einem neuen Portefeuille und einem Paar von ihr selbst
+gestickter Pantoffeln beschenkte. Gleichfalls habe ich erfahren, daß sie
+ihm, wie das Stubenmädchen aussagte, schon am Morgen die Erlaubnis
+abschmeichelte, den Abend außer Haus verbringen zu dürfen, bei einer
+Freundin, die aus Stettin gekommen sei. Um zwei Uhr nachmittags schickte
+sie den Burschen des Majors mit einem Brief in meine Wohnung. In diesem
+Brief standen nur die Worte: »Aufschieben. Gründe mündlich.« Ich bekam
+aber den Brief nicht mehr in die Hand, und das war ein Unglück. Ich war
+um zwölf Uhr zum letztenmal in meinem Zimmer gewesen, hatte Zivilkleider
+angelegt, den Revolver zu mir gesteckt und war über Land gegangen. Ich
+hatte mir vorgenommen, nicht mehr nach Hause zurückzukehren, denn mir
+graute vor den vier Wänden. Dies war, wie gesagt, ein Unglück.
+
+Die schrecklichste Unruhe trieb mich draußen über Landstraßen, durch
+Wiesen, Äcker und Wälder. Ich war todmüde, als ich spät abends in die
+Stadt zurückkam, aber mein Kopf war klar. Um dreiviertel zwölf stand ich
+vor dem Gartentor der Villa. Im Zimmer des Majors brannte kein Licht
+mehr. Ich wußte, daß er sich täglich um elf Uhr zur Ruhe begab, denn des
+Morgens war er der erste Offizier in der Kaserne. Ich sperrte die
+Gartentür auf, und als ich nach der Rückseite des Hauses ging, folgte
+mir der große Bernhardinerhund mit freundlichem Wedeln seines Schweifes.
+Als ich das bezeichnete Fenster, entgegen der mit Aurora getroffenen
+Verabredung, fest zugeschlossen fand, stutzte ich. Eine Weile war ich
+ratlos. Ich zog aus dem Umstand nicht den vernünftigen Schluß, den ich
+hätte ziehen sollen. Ich beschloß zu tun, was die Diebe und Einbrecher
+tun. Mit der pelzbehandschuhten Hand preßte ich so lange an das Glas,
+bis es sprang. Die Jagdhunde im Verschlag fingen an zu bellen, da sich
+aber sonst nichts regte, entfernte ich mit Bedachtsamkeit die Scherben,
+öffnete den Innenriegel und stieg ein. Ich hatte Gummisohlen an den
+Stiefeln und stieg unter dem fortwährenden Gekläff der Hunde die Treppe
+hinan bis zum Schlafzimmer des Majors, in das ich ohne zu zögern
+eintrat. Es war eine ziemlich stürmische Mondscheinnacht, und obgleich
+der Mond häufig durch Wolken verdeckt wurde, fiel doch durch das
+unverhängte Fenster Licht genug, daß ich den Major sehen konnte. Er
+hatte eine Mütze auf dem Kopf und schnarchte laut. Er erschien mir sehr
+dick. Dicke Menschen waren mir von jeher zuwider, und in diesem
+Augenblick empfand ich nur die rein tierische Abneigung gegen den Mann.
+Als ich neben das Bett trat, gewahrte ich auf dem Nachtkästchen ein
+Buch, und ich konnte im Mondlicht ohne Mühe den Titel auf dem bunten
+Umschlag lesen. Es waren »Lederstrumpfs Erzählungen«. Einfältig und
+lächerlich kam es mir vor, daß ein Soldat in den Jahren des Majors
+solches Zeug zur Abendlektüre wählte; aber diese Betrachtung ließ mich
+nur um so mehr spüren, wie schändlich es sei, einen Mann im Schlafe zu
+töten. Einer derartigen Regung fühlte ich mich nicht gewachsen, ich
+legte meine linke Hand auf die Schulter des Majors, in der rechten hielt
+ich den Revolver. Der Major wachte sofort auf und sah mich stier an.
+»Nehmen Sie einen Revolver,« sagte ich kalt, »wir müssen uns auf der
+Stelle schießen.« Seine Augen rollten furchtsam im Kreis, und es war,
+als verstehe er mich nicht. Ich wiederholte meine Worte. Er fing an zu
+murmeln; ich schnitt ihm die Rede ab und wiederholte meine Worte. Er
+schüttelte sich ein wenig und sprach jetzt deutlich, ich hörte nichts
+und wiederholte abermals meine Worte. Plötzlich sprang er auf, die
+andere Seite des Bettes war ebenfalls wandlos, er taumelte aus dem Bett
+und schrie mit heiserer Stimme um Hilfe.
+
+Da schoß ich. Ich schoß zweimal. Er streckte gleich darauf die Arme in
+die Luft und stürzte zu Boden. Ich näherte mich ihm und sah, daß er tot
+war. Es rann mir eisig durch alle Glieder. Ich verließ das Zimmer und
+ging über den Korridor hinüber zu Auroras Schlafgemach. Sie mußte die
+Schüsse gehört haben. Was jetzt? fuhr es mir durch den Kopf; das
+beständige Geheul der Hunde machte mich rasend. Ich hatte mir das
+Nachher ganz und gar nicht vorgestellt, aber daß ich mich nun
+gemütsruhig entfernte, um zu warten, bis am Morgen die Untat, als von
+einem Unbekannten verübt, entdeckt wurde, das ging nicht an. Ich fühlte,
+daß ich sterben müsse, und es entstand in mir der Wunsch, daß Aurora mit
+mir sterben möge. Wie ward mir aber, als ich Auroras Zimmer leer fand
+und ihr Bett unberührt! Ich schritt der Reihe nach durch alle Zimmer des
+Stockwerks, und die wohlbekannten Möbel und Bilder blickten mich an, wie
+lebendige Dinge. Indes ich wie ein Gespenst dort herumirrte, vernahm ich
+das Rollen eines Wagens auf der Straße. Ich stand gerade wieder auf dem
+Korridor, welcher auf eine Tür zulief, die gegen einen kleinen
+Gassenbalkon oder Vorbau führte. Diese Tür öffnend, trat ich hinaus und
+kam eben recht, als der Wagen vor der Gartenpforte hielt. Durch die
+kahlen Baumzweige hindurch konnte ich sehen, daß Aurora ausstieg. Ich
+erblickte aber noch jemand im Wagen, ein Gesicht erschien am Fenster,
+das ich wohl erkannte. Aurora blickte flüchtig am Haus empor, aber nicht
+dorthin, wo ich stand, sondern gegen die Seite, wo des Majors Zimmer
+war. Darauf beugte sie sich noch einmal in den Wagen, ich sah einen
+roten Handschuh auf ihrem Arm und ich hörte sie flüstern und lachen.
+Gott! ich hatte kaum mehr die Kraft zu stehen, ich spürte, daß mich die
+Blässe überströmte wie Sand. Treunitz! Treunitz! schrie es in mir, du
+hast verspielt.
+
+Aurora war inzwischen ins Haus gegangen, den Schlüssel hatte ich in
+ihrer Hand blinken gesehen, ihre Schuhe schlürften auf den Steinfliesen
+im untern Flur, dann knarrte eine Tür, dann wieder eine. Ich ging in den
+Flur, blieb aber in der Ecke stehen. Aurora kam mit den beiden
+Jagdhunden die Stiege herauf. Sie hielt die Tiere, die sich wie toll
+gebärdeten, fest an der Leine. Wahrscheinlich hatte das unaufhörliche
+Gebell Furcht in ihr erweckt, und sie hatte den Verschlag geöffnet, um
+die Hunde mitzunehmen. Sie gewahrte mich nicht, sie ging in ihr Zimmer.
+Ich hörte, wie sie mit beinahe wilden Lauten die Hunde zu bändigen
+suchte, was ihr jedoch nicht gelang. Ich kehrte unterdes zum Zimmer des
+Majors zurück, blieb aber auf der Schwelle stehen. Jetzt trat Aurora mit
+der Kerze auf den Flur, sie hatte noch den Hut auf, der lange Schleier
+hing zu beiden Seiten herunter wie zwei blaue Fahnen. Die Hunde, der
+Leine entledigt, stürzten an mir vorüber in das Zimmer des Majors. Sie
+blieben an der Leiche stehen und verbellten den toten Mann wie ein im
+Feuer verendetes Stück. Aber auf einmal wurden sie alle beide still und
+winselten nur noch. Aurora schaute mit kaltem Blick in den Raum, dann
+mit demselben kalten Blick auf mich und fragte mit dem seltsamsten
+Gleichmut: »Was hast du denn da gemacht?« Und als ich schwieg, fuhr sie
+mit genau derselben matten und unbewegten Stimme fort: »Er ist wohl
+tot?« Und als ich abermals schwieg, begann sie wieder: »Warum hast du
+denn das getan?«
+
+Im ersten Augenblick glaubte ich den Verstand verloren zu haben. Ich
+konnte kein Wort aus meiner Kehle pressen, meine Zähne rieben sich
+hörbar aufeinander, und ich mußte das unbegreifliche Weib nur immerfort
+anstarren. Sie blickte sich noch einmal um, etwa wie wenn man in einem
+Museum Bilder anschaut, dann pfiff sie den Hunden und ging. Die Hunde
+folgten nicht, sie hörten nicht auf zu winseln. Da entfernte sie sich
+allein. Sie ging in ihr Zimmer. Ich blieb wie versteinert auf meinem
+Platze, die beiden Tiere zu sehen und zu hören, war mir plötzlich das
+hellste Grauen. Ich fing an zu zittern und wußte nicht, woran ich denken
+sollte. Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit verflossen war, möglich eine
+halbe Stunde, möglich eine ganze, als ich mich entschloß, in Auroras
+Zimmer zu gehen. Die Türe war unversperrt. Aurora war im Bett, die
+brennende Kerze stand noch auf dem Nachttisch. Im Zimmer selbst war die
+größte Unordnung, Kleider und Wäschestücke lagen umher, eine kleine
+Reisetasche stand, wie zum Gepacktwerden, offen auf einem Stuhl. Ich
+blieb am untern Bettpfosten stehn und fragte Aurora, ob sie es denn
+nicht gewollt habe. Aus den Kissen heraus antwortete sie: »Laß mich
+jetzt schlafen.« »Um Gotteswillen!« flüsterte ich. Da erhob sie den Kopf
+und fragte kalt, ob ich das Billett nicht erhalten habe. »Was für ein
+Billett?« fragte ich. Sie sah mich unwillig an, lachte plötzlich und
+sagte fast verächtlich und als ob ich ihr völlig fremd sei: »Gehen Sie
+hinaus und lassen Sie mich schlafen. Es schickt sich nicht, daß Sie bei
+meinem Bette sind.« Mit diesen Worten blies sie die Kerze aus, und ich
+hörte sie wieder leise ins Kissen lachen.
+
+Ich begriff es nicht. Ich hätte begriffen, wenn sie zornig, wenn sie
+wütend, wenn sie verzweifelt gewesen wäre, ich hätte alles begriffen,
+aber dies begriff ich nicht. Mir war es, als ob aus einer schönen
+Verkleidung ein Unhold hervorgetreten wäre, ein bestialisches Gebilde,
+ein grinsendes Affenwesen, wie es dermaßen furchtbar die Welt noch nicht
+erblickt. Ich tastete mich hinaus, das Entsetzen lag mir in allen
+Gliedern. Auf dieselbe Weise, wie ich gekommen war, mußte ich auch das
+Haus verlassen. Nachdem ich das Gartentor aufgesperrt und hinter mir
+zugeklappt hatte, warf ich den Schlüssel über den Zaun zurück. Es war
+ein Uhr, als ich nach Hause kam. Auf dem Tisch lag Auroras Brief. Ich
+öffnete ihn nicht. Es war mir alles zum Ekel und alles rätselhaft. Ich
+legte mich erschöpft aufs Bett und schlief bis sieben Uhr. Als mein
+Bursche kam, beauftragte ich ihn, eine Droschke zu holen, und zog
+unterdes die Uniform an. Ich fuhr in die Kaserne und wartete in der
+Kanzlei auf den Obersten. Er erschien erst gegen neun Uhr; er war bleich
+und fragte mich, ob ich schon wisse. Die Ermordung des Majors war
+bereits in der Stadt bekannt. Ich bat ihn um ein Wort unter vier Augen.
+Mein Geständnis machte seinem wohlwollenden und gegen mich stets
+vertraulichen Wesen ein schnelles Ende. Ich mußte den Degen abliefern
+und wurde sogleich inhaftiert. Dies alles war von keinem Belang mehr für
+mich. Ich wurde gefragt, ob ein Zweikampf beabsichtigt gewesen sei. Ich
+verneinte, weiß aber kaum, warum. Ich hätte meine Verteidigung darauf
+bauen können, ich tat es nicht. Ich hätte ja dem Major eine zweite Waffe
+in die Hand drücken können, bevor ich das Haus verließ. Ich tat es
+nicht, weil es mir gleichgültig war. Ich erfuhr von der Verhaftung
+Auroras, von dem Erstaunen und dem Schrecken, den meine Tat überall
+erregte, und auch dieses war mir gleichgültig. Am andern Morgen besuchte
+mich der Oberst, fragte, ob ich vor dem Transport ins Militärgefängnis
+noch etwas zu ordnen hätte, legte ein Terzerol auf den Tisch und stellte
+sich ans Fenster. Ich tat nicht, was er erwartete. Er entfernte sich
+ohne Gruß. Die Kameraden glaubten, daß ich aus Feigheit unterlassen
+habe, ein Ende zu machen, aber dem ist nicht so. Ich habe nichts vom
+Feigling in mir. Ich war bloß regungslos in meinem Innern. Ich war ganz
+wie aus Blei. Ich grübelte beständig ins Finstere hinein. Erst mit dem
+Verlauf vieler Tage kam ich wieder zur Besinnung. Ich fing an, meine
+Beichte dem Papier anzuvertrauen. Ich hinterlasse sie der geringen Zahl
+meiner Freunde. Es ist mir nun klar, daß mich die Menschen für schuldig
+halten und daß ich zu sterben die Pflicht habe. Ich selbst, ich kann
+nicht sagen, ob ich mich schuldig fühle oder nicht. Ich kann es nicht
+sagen. Aurora hat es ja gewollt. Um meiner Mutter willen bitte ich um
+ein anständiges Begräbnis.
+
+Und nun geschehe, was geschehen muß.
+
+
+
+
+Hilperich
+
+
+ Ein Schiffer fährt den dunklen Strom
+ Hinunter ohn Bedacht.
+ Die Lüfte ruhn, das Wasser schweigt,
+ Und mählig wird es Nacht.
+
+
+Kanzlist Johann Querschneider zu Nürnberg, ein seltsamer Kauz, ein
+Hungerleider doch nach Diogenes' Art, erzählt:
+
+Vierundzwanzig Jahre sind seit meines Vaters Tod verflossen. Ich bin ein
+uneheliches Kind und führe den Namen meiner Mutter. Bis zu meinem
+zweiundzwanzigsten Jahr wußte ich von meinem Vater nichts, nicht einmal
+ob er lebte. Ich hatte mich nicht sonderlich dafür interessiert; Gott
+weiß aus welchem Grund ich stets darüber hinweg dachte. Meine Mutter
+verfuhr in diesem Punkt sehr kategorisch. Wenn ich fragte, so lachte sie
+mir ins Gesicht. Ich zerbrach mir nicht den Kopf, sondern lebte so hin,
+nicht schlechter und nicht besser als andere; Geld hatten wir wenig,
+litten aber keinen Mangel. Meine Mutter bezog irgendwoher eine kleine
+Pension, besorgte Nähereien für einige Bürgersfrauen im Bezirk, und ich
+selbst war beim Amtsgericht als Schreiber angestellt.
+
+Ich lebte also und beschäftigte mich nach meiner Art. Bis zu meinem
+zweiundzwanzigsten Jahr wie gesagt. Da ereignete es sich eines Morgens
+im Frühling, ich ging gerade zum Amt, daß ich im düsteren Korridor
+unseres uralten Gerichtsgebäudes ein junges Mädchen stehen sah, welches
+forschend und unruhig den langen Gang bald hinauf, bald hinunter
+blickte. Ich trat zu ihr hin und fragte unverhohlen nach ihrem Begehren.
+Sie antwortete etwas in italienischer Sprache, und da ich sie nicht
+verstand, schüttelte ich den Kopf und ging langsam meiner Wege. Das ist
+ein teuflisches Frauenzimmer, sagte ich mir, denn ich hatte im Leben
+Schöneres nicht gesehen. Voller Gedanken kam ich in die Amtsstube und
+setzte mich an meinen Tisch. Drei Personen von den Parteien waren schon
+anwesend. Der Diener schrie in den Flur hinaus: »Bianca Spinola!« und
+das schöne Mädchen trat ein.
+
+Die Verhandlung betraf einen schwierigen und absonderlichen Fall. Der
+alte Rat Hilperich (ein Mann, den jedes Kind auf der Straße kannte, und
+dessen abenteuerliche Vergangenheit den Gegenstand vieler Erzählungen
+bildete) war auf den Einfall gekommen, eines seiner unehelichen Kinder,
+ein junges Mädchen aus dem Trentino, an einen Bankbeamten zu
+verheiraten. Alles war schon im besten Zug gewesen, die jungen Leute
+selbst im Einvernehmen, als plötzlich die Mutter des Beamten mit Zeter
+und Mordio erschien: der junge Ehekandidat sei gleichfalls ein Kind
+Hilperichs. Was der alte Herr vorerst gründlich bestritt. So kam die
+Sache vors Gericht und bildete lange Zeit das Gelächter der amtlichen
+Personen und der ganzen Stadt. Mit Neugierde sah ich den alten Mann an,
+der nun vor dem Richter erschienen war. Sicherlich zählte er mehr denn
+siebzig Jahre, obwohl seine blauen Augen strahlend und lebhaft waren.
+Seine hagere und etwas gebogene Gestalt hatte etwas Majestätisches, und
+dieser Eindruck wurde verstärkt durch das Trotzige, Verbissene,
+Verächtliche seines Gesichtes. Wenn unter den zusammengezogenen Brauen
+die Augen verschwanden und die verkniffenen, schmalen Lippen sich hinter
+dem weißen Bart wie hinter dünnem Buschwerk versteckten, mochte man wohl
+Furcht empfinden, und das rote Gesicht, das vom Alter weniger versengt
+schien als von den Leidenschaften, konnte man nicht leicht vergessen.
+Das ist also der alte Hilperich, dachte ich mir und mußte gleichzeitig
+lächeln, weil ich sah, daß die Sonne auf die schwarze Kappe und den
+schwarzen Bart des Richters ein goldenes Emblem gemalt hatte. Das alles
+sehe ich noch deutlich. Auch den hübschen und verschwiegen aussehenden
+jungen Mann, den Bankbeamten; er hatte eine Narbe mitten auf der Stirn.
+Dann seine Mutter, eine sehr dicke Frau, welche fortwährend
+Schokoladestückchen aus der Tasche zog, wodurch aber die Redekraft ihrer
+Zunge keineswegs verringert wurde. Dann das junge Mädchen, aber von
+diesem will ich jetzt nicht reden. Der Richter wiegte den Kopf, fragte
+dies und jenes, und seine Klugheit war bald erschöpft.
+
+Ich weiß nicht mehr, wie ich daheim beim Mittagessen die Sprache auf den
+alten Hilperich brachte. Ich erzählte die ganze Geschichte, die mir sehr
+belustigend erschien. Meine Mutter aber verlor sofort ihr munteres
+Wesen, wurde nachdenklich und entfernte sich vom Tisch. Der Zufall fügte
+es -- ich bin alt genug geworden, um das Wort Zufall nicht ohne ein
+Gefühl von Andacht hinzuschreiben -- daß ich an demselben Tage der jungen
+Trentinerin wieder begegnete. Wir trafen uns nämlich beim Krämer, wo sie
+für ein Gewürz, das sie kaufen wollte, den deutschen Ausdruck nicht
+wußte. Ich machte nun den Dolmetsch, und zwar auf die komischste Weise
+der Welt, denn ich verstand ja selber nichts von der fremden Sprache.
+Ich schleppte alles herbei, was in dem Laden zu finden war, und stapelte
+es vor der schönen Dame auf, wie man einem fremden Monarchen etwa die
+Reichtümer eines Magazins zeigt. Es gab ein großes Gelächter, und der
+Krämer selbst, der mein guter Bekannter war, fand sich bei dem Spaß am
+besten amüsiert.
+
+Da die junge Bianca, wie ich mit Mühe erfuhr, in der Nähe wohnte,
+begleitete ich sie nach Hause, und es verursachte uns weiterhin großes
+Vergnügen, uns zu verständigen. Unsere Mißverständnisse waren so heiter,
+daß eins das andere übertraf und wir gewiß mehr davon hatten, als von
+einer regelrechten Unterhaltung. Ich sah, daß sie ein Mädchen aus dem
+Volk war, und daß es nicht schwer fiel, sie heiter zu stimmen und ihr zu
+gefallen. Ja, ich gefiel ihr, und meine drollige Zeichensprache, mein
+Murmeln und Kauderwelsch trieben Tränen des Lachens in ihre schönen
+Augen.
+
+Überflüssig, von all den Einzelheiten zu erzählen; nicht lange darauf
+konnte ich Bianca mit meiner Mutter bekanntmachen. Meine Mutter
+erinnerte sich sofort daran, was ich ihr von jener Verhandlung erzählt
+hatte. Sie führte mich beiseite und fragte mich sehr ernst, ob das jene
+Bianca Spinola sei. Mein unbefangenes Ja machte sie noch ernster und
+feierlicher, so daß ich besorgt zu werden anfing. Aber ich wußte nicht,
+was ich daraus machen sollte. Am folgenden Morgen, es war ein Sonntag,
+gebot sie mir, mich sorgfältiger als sonst anzukleiden, denn ich war
+immer ein wenig nachlässig darin. Sie nahm mich also wie einen
+Schuljungen mit sich und führte mich zu einem alten Haus in der
+Pfannenschmiedsgasse. Wir stiegen zwei knarrende Treppen empor, und
+meine Mutter zog die Klingel. An der Art ihrer Gebärde sah ich, daß ihr
+Gemüt heftig bewegt war, und ich fragte sie darum. Aber sie gab mir
+keine Antwort. Mein Erstaunen wuchs, als ich das Porzellanschildchen an
+dem gelben, staubigen Gitter sah, welches den Korridor von der Stiege
+trennte. Hilperich las ich; aber ehe ich meine Mutter von neuem fragen
+konnte, erschien eine Bedienerin. Meine Mutter zog einen Brief aus der
+Tasche und sagte, sie wolle auf Antwort warten. Die Frau führte uns in
+ein großes, leeres Zimmer, welches nichts als einen Spiegel und ein
+paar Stühle enthielt. Vor dem Spiegel stand ein dünner Mann mit einer
+Glatze und richtete sich eine rote Krawatte. Unser Eintreten störte ihn
+nicht im mindesten; ich war erstaunt, denn nie hatte ich ein so
+verhungertes, grämliches und furchtsames Gesicht gesehen.
+
+Die Bedienerin kam alsbald zurück und bat meine Mutter, ihr zu folgen.
+Wieder verging eine Weile, während ich saß und lauerte und mir den Kopf
+zerbrach über das, was vorging. Der dünne Mann stelzte komisch vor mir
+auf und ab, murmelte und schielte mich von der Seite an, so daß ich
+lachen mußte. Endlich öffnete sich die Türe, der alte Rat kam heraus,
+faßte mich schnell ins Auge, schritt auf mich zu, nahm meinen Kopf
+zwischen seine beiden Hände, verkniff seine Lippen streng, nickte und
+küßte mich auf die Stirn. Im Rahmen der Tür stand meine Mutter und sagte
+mit ganz verweintem Gesicht: Johann, das ist dein Vater. Immer
+sonderbarer wurde mir zumut, und das Sonderbarste war mir wohl in diesem
+Augenblick, daß mein Freund mit der roten Krawatte ganz ruhig weiter
+auf- und abstelzte, als ob er daran gar nichts Auffälliges fände oder es
+längst vorausgesehen hätte. Es ist wahr, das Wort Vater machte in diesem
+Augenblick keinen Eindruck auf mich, aber wer will mir das verübeln? Ich
+erinnere mich, daß ich für meine Mutter ein unbestimmtes Mitleid empfand
+und daß ich mich im übrigen weit weg wünschte. Auch war ich erstaunt und
+verlegen und wurde es immer mehr, so daß mir der Schweiß auf die Stirne
+trat.
+
+Ich erinnere mich, daß meine Mutter und der alte Mann einander noch
+lange Zeit gegenübersaßen und über die Vergangenheit plauderten. Der Rat
+Hilperich, den ich nicht einmal in Gedanken Vater zu nennen wagte, blieb
+dabei gelassen, ja sogar ein wenig spöttisch. Es fiel mir auf, daß die
+fernliegendsten und vergessensten Dinge ihm so nahe schienen wie die
+Gegenwart. Er sprach nicht wie ein alter Mann und nicht wie ein junger
+Mann, sondern als ob er ein Gebieter über die Zeit und über die Jahre
+wäre, und als ob es für ihn kein Verschwinden gäbe. Das ist mir freilich
+jetzt viel deutlicher als damals; denn ich habe ja erst durch ihn
+gelernt, was menschlich ist, abzuwägen.
+
+Die Rede kam auch auf mich, auf meinen Beruf und meine Beschäftigung.
+Die Mutter rühmte meine Fähigkeiten; ihre Augen glänzten dabei, als ob
+sie von etwas Großem spräche, und ich mußte lachen. Das schien meinem
+Vater zu gefallen. Er nahm meine Hand, tätschelte sie ein wenig und sah
+mich halb liebevoll an und halb wie einen seltsamen Zwerg. Plötzlich
+aber sprang er auf und kreischte mit einer zerbrochenen, gehässigen
+Stimme: Mittelmann, scheren Sie sich zum Teufel! Und der schweigsame
+Spaziergänger machte sich wie ein armer Hund auf die Beine. Mein Vater
+lachte uns triumphierend an und wandte sich dann unvermittelt zu mir. Er
+habe viele Schreibereien, sagte er, und brauche einen, dem er sein
+ganzes Vertrauen schenken könne. Er glaube, daß ich nicht auf den Kopf
+gefallen sei, denn ich sei ja von seinem Blut. Wenn es mir recht sei,
+möge ich täglich zwei Stunden zu ihm kommen; es wäre nicht umsonst, und
+meine Stelle beim Amt könne ich ja behalten. Ich erklärte mich bereit,
+und meine Mutter fing sogleich vor Freude wieder zu weinen an. So
+entließ er uns.
+
+Am andern Morgen brachte ein Dienstmann ein herrliches Geschenk für
+meine Mutter, eine Stehlampe, deren gläserne Kugel von zwei nackten
+Frauen getragen wurde. Das war ein zarter Beweis für die Gesinnungen
+meines Vaters, und mit Genugtuung trat ich den Weg zu seinem Hause an.
+Ich war so in Nachdenken verloren, daß ich beinahe überfahren worden
+wäre. Beständig sah ich mich an einem Wendepunkt meines Schicksals, das
+sich glänzend vor mir aufrollte.
+
+Ich fand meinen Vater in seinem Wohnzimmer. Er war in Unterhosen,
+betrachtete mich komödiantisch forschend, mit seinem gewohnheitsmäßigen,
+halb grinsenden Lächeln, doch mit ernst blitzenden Augen. Man hatte ihm
+gegenüber das Gefühl, daß man stets scharf beobachtet war, und daß
+nichts seiner Beobachtung entging. Alles an ihm war voll Leben und
+Lebendigkeit trotz seiner schlottrigen, mageren, baufälligen Gestalt.
+Das Zimmer war vernachlässigt und unordentlich. Keine Bilder schmückten
+die Wände. Neben dem Bett hing ein riesenhaftes Löschblatt, vom Gebrauch
+schwarz marmoriert, und auf dem Boden stand ein Schreibedeckel neben
+einem eisernen Tintenfaß, denn mein Vater pflegte im Bett zu schreiben.
+Wäschestücke, Briefe und Schachteln lagen umher; auf einer gelben
+Kommode pendelten zwei Uhren, von denen die eine Mitternacht oder
+Mittag, die andere fünf Uhr wies.
+
+Mein Vater hieß mich sogleich vor dem Schreibtisch Platz nehmen und
+diktierte mir eine ziemlich unverständliche Abhandlung, welche, wenn ich
+mich recht entsinne, Kultur und Mode hieß. Später erfuhr ich, daß er
+dergleichen viel schrieb, und manches, was mir recht überflüssig vorkam.
+Er tat es für Geld. Das war mir im Anfang unerklärlich, denn ich wußte
+nicht nur, daß er ein schönes Privatvermögen besaß, sondern auch, daß er
+das Geld verstreute, als ob es Kleie wäre. Er besah es nicht, sondern
+gab hin, nach allen Seiten. Dabei lebte er selbst in strenger
+Einfachheit, war genügsam wie ein Bauer, stand mit der Sonne auf, im
+Winter und im Sommer. Bald, bald erfuhr ich, wohin das viele Geld
+wanderte. Aber darüber laßt mich vorerst nicht reden. Damals verwirrte
+es meinen Sinn wie vieles andere Neue, und heute noch, in der
+Erinnerung, bewegt es mich sehr. Einmal, während ich bei ihm schrieb --
+es war immer noch über Mode und Kultur, denn das ging von Adams Zeiten
+an -- kam ein Brief mit der Post. Mein Vater las ihn, und sein Gesicht
+zeigte dabei Zorn und Haß. Da! herrschte er mich an und warf das
+zusammengefaltete Papier vor mich hin. Ich schlug es auseinander und
+überflog ein Schreiben voller Vorstellungen und Vorwürfe; Religion
+bildete die Quelle der Beredsamkeit, so daß bisweilen der Ton etwas
+Prophetisches und Salbungsvolles hatte. Zum Schluß wurde der verderbte
+Greis flehentlich gebeten, in den Schoß der Kirche zurückzukehren.
+
+Ich hatte von der geschiedenen Ehe meines Vaters munkeln hören. Dieser
+Brief war von seiner Frau. Sie verdummt in den Händen der Pfaffen, sagte
+der Alte bitterböse zu mir; aber zugleich nahm ich einen traurigen
+Ausdruck in seinem Gesicht wahr, der mir naheging. Er schickte mich an
+diesem Tag fort. Als ich am folgenden Tag wiederkam, schenkte er mir
+eine wunderschöne, goldene Uhr -- für meine Dienste, wie er sich
+ausdrückte, hieß mich jedoch abermals gehen. Als ich durch den Korridor
+schritt, sah ich ein Mädchen von nicht mehr als fünfzehn Jahren, die
+voll Unbefangenheit in Blick und Miene an mir vorüberging, in die
+Wohnung meines Vaters. Sie war sehr elegant gekleidet, doch hatte man
+gleich den Eindruck, daß dies etwas Selbstverständliches an ihr war. Ich
+schaute ihr neugierig, fast freudig nach, und die Freude an meinem
+Geschenk ließ mich ihre flüchtige Erscheinung doch nicht vergessen.
+
+Als ich nach Hause kam, traf ich zu meinem Erstaunen Bianca Spinola bei
+uns. Sie war auf Geheiß meines Vaters gekommen, wie ich hörte; sie solle
+nur mit uns Umgang suchen, hatte er gesagt. Ich lachte und erwiderte,
+daß es wie in einer türkischen Familie sei, aber im Grunde fand ich
+etwas Wohliges und Geheimnisvolles in der neuen Verwandtschaft von
+fernher. Bianca Spinola sprach schon viel besser deutsch; ihr
+Radebrechen entzückte meine Mutter. Ich selbst fühlte mich gehobener
+durch ihre Gegenwart, doch ohne die frühere Bewegtheit; auch war mein
+Kopf voll von Gedanken. Ich zeigte meine prächtige Uhr, die eitel
+Bewunderung weckte, und wir waren herzhaft vergnügt den ganzen Abend
+über.
+
+Ich weiß nicht mehr recht, ob es der darauffolgende Tag war, an dem ich
+von Mittag bis zum Abend bei meinem Vater Briefe schrieb. Ich erinnere
+mich nur, daß es draußen stürmte und regnete und gewitterte. Mein Vater
+saß an der Seite des Tisches und diktierte. Er schien eine große
+Vermögensordnung im Sinn zu haben, denn in allen Briefen war davon die
+Rede; auch zeigte die ganze Art meines Vaters wohlerwogene Entschlüsse.
+Meines Vaters ... An diesem Tag wurde mein Gehirn aufgeweckt, und ich
+sah mich nur als ein Körnchen unter vielen. Ich sah einen wahren
+Stammvater vor mir, dessen langes Leben, ein Leben, welches er noch
+nicht fühlte, in der Erzeugung von Kindern verflossen war. Freilich
+damals war es mir nur wie ein Schauer; heute verstehe ich. Jeder Brief
+war entweder an einen Sohn oder an eine Tochter oder an eine frühere
+Geliebte gerichtet, die jetzt alterte und arm war, und der er ein
+Scherflein zukommen ließ. Hier gab er Ratschläge und ermunterte, dort
+setzte es eine Strafpredigt; im Norden und im Süden, so schien es, hatte
+seine Jugend die gleichen Erfolge aufzuweisen gehabt, und in der Heimat
+selbst erblühte kräftig der junge Nachwuchs aus seinem Blut. Manchmal
+hatten mir Leute gesagt, daß Fürstinnen und Prinzessinnen von Liebe zu
+ihm geplagt worden seien, ja, daß eine gewisse Herzogin, nun schon bei
+hohen Jahren, oftmals ein Plauderstündchen beim alten Hilperich einhole.
+Das hatte man mir erzählt, und ich leugne nicht, daß ich dazu ein
+ungläubiges Gesicht aufgesetzt hatte. Jetzt wurde mir die Zeit zur
+Lehrerin, und ich verlachte meine eigene Zweifelsucht. Ich erfuhr
+freilich im Lauf der Zeit, daß mein Vater einst eine große Rolle
+gespielt habe. Der Hof und das Volk hätten gleichermaßen Vertrauen in
+ihn gesetzt; jener hätte seinen Kopf, dieses sein Herz zu würdigen
+gewußt, und beide seien auf ihre Rechnung gekommen. Im Revolutionsjahr
+soll er der Regierung wichtige Dienste geleistet haben, und man sagte,
+daß er auf die Neugestaltung unseres Strafgesetzes den größten Einfluß
+ausgeübt hätte. Ich erwähne alles dies mit Ängstlichkeit, denn ich kann
+nicht dafür bürgen. Aber zwei Umstände will ich noch anmerken, die für
+meine Augen ein Licht über meines Vaters Leben verbreiteten. Einmal
+zeigte er mir ein Ölgemälde, das ihn selbst in seinen jungen Jahren
+darstellte. Man konnte nichts Liebenswürdigeres sehen! Um die Stirne
+glitten braune Locken, die Augen blickten freundlich träumend, und das
+griechisch runde Kinn war fest wie ein junger Apfel. Der Maler mochte
+phantasiert haben, aber sicherlich hatte ihm das Entzücken über das
+lebendige Antlitz die Arbeit verschönt. Ich dachte mir damals, so muß
+man aussehen, um der Welt mehr zu sein, als sie uns ist. Oder vielleicht
+denk ich dies heute, denn damals war ich jung.
+
+Das zweite ist dies. Vor etwa zehn Jahren lernte ich einen alten Mann
+kennen, der mir von meinem Vater erzählte, und zwar in einem Ton wie von
+eigenen Heldentaten. Dieser Mann hatte meinen Vater als Fünfzigjährigen
+noch gekannt und behauptete, daß seine Anmut, sein weltmännisches
+Betragen, sein Witz und seine Güte einen eigenen Ruhm genossen hätten.
+Mein Erzähler berichtete tausend Einzelheiten mit einfältigem, aber
+rührendem Eifer. Nicht das jüngste Fräulein habe ihm zu widerstehen
+vermocht, dem Graubart, sagte der Schelm und lachte wie ein gackerndes
+Hühnchen. Schon damals sei die Zahl seiner Kinder zum Gegenstand vieler
+Witze geworden, und als er sich um diese Zeit verheiratete, hatte man in
+der Stadt gesagt, nun sei der Sultan zur Galeere verurteilt. Aber
+Hilperich war weiterhin auch Sultan geblieben, so meinte mein
+humoristischer Mann und fügte hinzu: wer ihn kannte, vermochte durchaus
+nicht an seinen Tod zu glauben. Etwas Starkes, Über den Tod-Starkes sei
+in ihm gewesen.
+
+Die Briefe, die mir mein Vater diktierte, mochten für einen Unvertrauten
+etwas Geheimnisvolles, sogar Wahnsinniges haben. Denn wer sollte denken,
+daß ein und derselbe Mann Söhne, Töchter, Frauen in allen Richtungen der
+Windrose besitze? Mich selbst zwang damals etwas Seltsames zu
+ungeprüfter Hinnahme. Ihr müßtet gesehen haben, wie mein Vater jedem
+einzelnen Brief gegenüber ein besonderer Mann wurde! Bei dem einen wurde
+sein Gesicht hämisch und verdrossen; bei dem andern leuchtete es
+erinnerungsvoll; jetzt war er karg und spröde, später von zärtlicher
+Geschwätzigkeit; hier verurteilte ihn ein kluger Ratschlag zu langem
+Nachdenken, dort war er zornig wie eine alte Katze, schlug vor Zorn auf
+den Tisch, fletschte die Zähne, und ich, ich wußte keinen Grund, sah
+ein Stück Vergangenheit wie in den Scherben eines Spiegels. Aber
+zugleich muteten mich all die Gesichter vertraut an, denen ich mich
+schreiberhaft zugewandt hatte. Ich trug etwas nach Hause, was ich vordem
+nicht besessen hatte; wer kann dafür Worte finden? Kummer und Freude sah
+ich fließen in der weiten Gasse der Zeit. Mein Vater, ein fleißiger
+Angler, angelte sein Teil heraus. Was er nach Haus trug, war sein, wie
+meins, was ich.
+
+Jetzt muß ich aber etwas Neues erzählen, denn viel Verwirrendes drängt
+sich vor mir. Damit ich jedoch nicht vergesse, will ich erwähnen, daß
+ich an jenem Abend vor meines Vaters Haus den Mittelmann traf (den
+dünnen Mann mit der roten Krawatte) der mir eine Viertelstunde lang
+Unsinn vorschwatzte. Er tat so, als sei er wohl Hilperichs Kind, doch
+enthalte man ihm dies Recht vor. Darüber schwatzte der Arme wie ein
+Besessener; später erzählte mir mein Vater, daß dies Mittelmanns fixe
+Idee sei, mit der er seit Jahren durch alle Kneipen hausieren gehe. Oder
+glaubst du, daß einer, den ich gemacht, so aussieht? fuhr mich mein
+Vater grob an, stieß mich mit dem Zeigefinger vor die Stirn, lachte aber
+sogleich in seiner keuchenden Weise.
+
+Es war an einem Oktoberabend, kaum eine Woche nach jenem Brieftag, und
+ich hatte meine Arbeit eben beendigt, da kam jenes junge Mädchen zur Tür
+herein, welches mir damals an der Treppe begegnet war. Mit allen Zeichen
+der Bestürzung und Eile ging sie auf meinen Vater zu und flüsterte
+etwas. Der alte Mann warf den Kopf zurück und blickte mit einem
+drohenden Ausdruck ins Leere. Darauf schielte er mich boshaft und
+finster von der Seite an und befahl mir durch eine Gebärde, zu gehen.
+Bevor ich aber noch meinen Hut ergriffen, hatte mein Vater eine der
+Türen geöffnet, die aus seinem verwahrlosten Schlafgemach in ein mir
+bisher unbekanntes Zimmer führte. Dorthin sah ich nun die beiden gehen,
+und mein Blick erhaschte zugleich gierig den fremden Raum, den mein
+Vater nie betreten hatte, während ich zugegen war. Ich gewahrte nun ein
+kleines Boudoir, das meinen unverwöhnten Augen einen fürstlichen Prunk
+zeigte. Aber es schien mir zugleich wohnlich und warm drinnen, und als
+ich auf der Straße war, empfand ich eine Begierde nach diesem Gemach wie
+nach einem verbotenen, verzauberten Garten.
+
+Die kurze Szene, kaum der Rede wert für einen Unbeteiligten, hatte
+trotzdem tiefen Eindruck auf mich gemacht. Zu Hause fand ich Bianca
+Spinola, welche zum Essen blieb und den ganzen Abend bei uns verbrachte;
+meine Mutter war bei trefflicher Laune; ich blieb schweigsam und
+nachdenklich. Ich mußte fortwährend an das junge Fräulein denken, und
+das nicht vielleicht mit den Gedanken von Mann zu Weib. Es war so, daß
+sie vor meinem inneren Auge nicht entwich und ich mich quälte, zu
+ergründen, was mir an ihr, seltsam genug, ein für alle mal unergründlich
+schien. Noch jetzt, wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihren
+graziösen, müden Gang. (Sie ging, als ob sie wüßte: so wie ich muß man
+gehen, aber wer wird darauf achten?) Ihre Verachtung der Welt schien
+groß, aber kindlich. Sie hatte etwas Bemitleidenswertes und zugleich
+Damenhaftes, etwas Wiegendes und Achtloses. Ihre Augen, voll Trauer und
+Ironie, zeigten zwei reine Augensterne wie schöne braune Perlen in
+gefrorener Milch.
+
+So schwebt sie mir vor, und was ich weiterhin erfuhr, erhorchte und
+herausspionierte, will ich hier gleich sagen. Nicht nur als neugieriger
+Tor wollte ich wissen, sondern was meinen Vater anging, ich nahm es
+immer stärker wahr, betraf mich tief. Um seiner würdig zu werden, hatte
+ich mich in den letzten Monaten mit einem bunten Studieren abgegeben.
+Auf eigne Faust lernte ich fremde Sprachen, trieb allerlei Wissenschaft,
+ohne Plan und Kraft, aber mit mehr Erfolg, als man bei einem Menschen
+wie mir vermuten sollte. Doch die größte Ausdauer zeigte ich bei der
+Erforschung des Verhältnisses zwischen meinem Vater und Henriette, eben
+jenem Mädchen, das ich bei ihm und vorher schon im Korridor gesehen
+hatte. Den leisen Andeutungen entnahm ich Wissenswertes; Ohr und Auge
+waren geschärft und einmal, gleichsam als Belohnung kam es zwischen mir
+und meinem Vater zu einer wirklichen Plauderstunde. Er hatte Zutrauen zu
+mir gefaßt; das wußte ich, oder ich weiß es jetzt; denn damals gab ich
+mir nicht Rechenschaft über die Dinge, sondern nahm sie nur mit Glut in
+mich auf.
+
+Eine flüchtige Leidenschaft hatte die Ehe meines Vaters geknüpft. Den
+damals schon Sechsundfünfzigjährigen hatte eine kühle und elegante Dame
+rasch entflammt. Doch bald bröckelte aller Schmuck von jener Frau ab wie
+von einer schlecht getünchten Wand. Sie war zäh in ihrem Dünkel und
+besaß eine unverwüstliche Einfalt. Ein bösartiges Schaf und doch wollte
+sie herrschen, sagte mein Vater unverhohlen von ihr. Er selbst war für
+die Ehe wie Feuer für Stroh; nach drei Jahren führten die
+Unverträglichkeiten zum Bruch, und die Frau ergab sich den Pfaffen. Mein
+Vater führte sein Leben weiter, ungestümer noch, als ob ihn der Ehekampf
+erregt hätte, aber eines war, das ihn sogar der Frau verpflichtete:
+Henriette. Er liebte diese Tochter mit der ganzen unbeschreiblichen
+Gewalt seines Temperamentes, und wenn ich es recht bedenke, war es etwa
+so, daß man sein Gefühl für Henriette und das für seine übrigen Kinder
+in die zwei Schalen einer Wage legen konnte, und jenes einzige wäre
+schwerer gewesen als die andern alle. Auch mich liebte der Alte, auch
+den blonden Ingenieur, den ich kannte, auch die drei Töchter aus Prag,
+wie er sie hieß, auch den überseeischen Kapitän oder den hübschen
+lebhaften Studenten, der einer Frühlingsliebe am Meer entstammte, aber
+wir alle waren gegen Henriette wie blasse Sterne gegen den Mond. Wie
+wunderlich, daß aus der einzigen Verbindung, die sich in Alltäglichkeit
+und Haß verlor, sein Liebstes kam.
+
+Da er ihre Erziehung nur bis zum dritten Lebensjahr überwachen konnte
+und das Kind der Frau verbleiben mußte, hatte in der ersten
+Trennungszeit seine väterliche Sorge alle andern Interessen vertilgt. Er
+konnte nicht täglich das Haus einer Verabscheuten betreten, welche
+ihrerseits das nicht sehr geliebte Kind dem Wüstling, wie sie seinen
+Vater nannte, entfremden wollte. Der Vater bestach die Dienstboten, ja
+er wußte es durchzusetzen, daß eine ihm ergebene Person das Mädchen
+völlig in ihre Obhut bekam. Diese würdige Frau Jakobea führte Tag für
+Tag Henriette in die Wohnung ihres Vaters.
+
+Tag für Tag also, seit zwölf Jahren, hatte mein Vater eine paradiesische
+Stunde in dem kleinen Gemach, das nur für ihn und Henriette war, und
+welches gemütlich und heimlich auszustatten er nicht müde wurde. Kein
+Kunstgegenstand war ihm zu teuer, um dieses oder jenes Eck zu schmücken,
+und mit Geschmack und Phantasie begabt, gestaltete er diesen Raum zu
+einem Werk gleich einem Künstler, der aus Sehnsucht nach Vollkommenheit
+seine letzte Arbeit bis ans Grab schleppt. In den Kinderjahren
+Henriettes spielte der alte Mann mit ihr und vergaß Zeit, Arbeit und
+Vergnügen darüber. Das frühkluge Mädchen fand selbst dem Spiel gegenüber
+eine Überlegenheit, welche komisch und reizvoll wirkte. Wenn auch nichts
+Starkes in ihr war, so doch etwas Sanftes, im Sanften Tüchtiges (da sie
+doch wußte, wie angenehm es war, sanft zu sein). Indem sie das Spiel
+beiseite schob, spielte sie, aber schon frühe wußte sie aus Klugheit für
+Ernstes ernst zu bleiben. Ihr Vater wollte sie aus den Reihen des
+Geschlechts erheben, wollte sie gleichsam mit Weisheit und Voraussicht
+kränzen, eben mehr zu Schmuck als zu Nutzen. Er selbst, in allen Künsten
+der Verführung Meister, wollte sie vielleicht auch gegen einen jüngeren
+Hilperich schützen. Ich erfuhr späterhin, daß er schon in ihrem zehnten
+Jahr den Storch aus ihrer Phantasie vertrieb, daß er ihr langsam, mit
+Nachdruck und Würde das Menschlichste nahe brachte. Nichts Verschleiertes
+also gab es mehr; er gedachte sie zu ehren durch Vertrauen und zu
+beruhigen durch Wissen. Schon mit dreizehn Jahren kam Henriette allein,
+und schwer ist es zu sagen, was _sie_ im tiefen Grund des Herzens zum
+Vater trieb. Er saß stets lange vor ihrem Kommen im Henriettenzimmer und
+wartete wie auf eine Geliebte. Sie kam, erregt durch die Heimlichkeit
+ihres Besuches (ach, das hatte mein Vater nicht ermessen!), lächelte,
+plauderte, fragte und urteilte, war plötzlich müde und verstimmt,
+kopfhängerisch und von entzückendem Pessimismus. So wuchs sie heran und
+teilte sich zwischen dem Haus des Vaters und der Mutter. Ihr ganzes
+Wesen wurde so entzwei geschnitten.
+
+Das Ende des Jahres nahte heran. Zu Weihnachten schenkte mir mein Vater
+einen wundervollen spanischen Mantel, den er einst in Sevilla gekauft.
+Er war mit roter Seide gefüttert und aus dem kostbarsten schwarzen Tuch
+gefertigt, das ich je gesehen; wenn man ihn auf die Erde breitete, war
+er so groß wie ein Zeltdach. Als ich mit diesem Geschenk freudestrahlend
+durch das Vorzimmer ging, stürzte Mittelmann auf mich los, der noch
+immer irgendwo da herumlungerte. Mit kreideweißem Gesicht stellte er
+atemlose Fragen an mich, ob er etwas geschenkt bekomme, was es sei und
+wie es aussehe. Ich war sehr unfreundlich gegen ihn, aber ich hätte es
+vielleicht nicht sein sollen. Der arme Mensch war immer hungrig und
+machte der alten Bedienerin den Hof, um ein paar Bissen zu ergattern.
+Dabei ging er mit seinen Sohnesansprüchen an Hilperich umher wie mit
+einem sicheren Kapital, und was ihn in seinem Glauben so befestigte, war
+nur das Gewäsch eines Anverwandten, der einst im Hilperichschen Hause
+Aufwärter gewesen war.
+
+Mein Vater ging in diesen Tagen mit einer festlichen geheimnisvollen
+Miene herum. Er diktierte mir einen Aufsatz, der den merkwürdigen Titel
+führte: »Die Erziehung zur Liebe«, und von dem ich nicht das mindeste
+verstand. Zwei Tage vor Neujahr wurden wir fertig. Es war schon dunkel,
+mein Vater stand lange Zeit am Fenster und blickte auf die schneeblaue
+Straße. Plötzlich wandte er sich heftig um und fragte scharf: Na, willst
+du kommen? Ich wußte nicht, was er meinte, und blieb still. Er stampfte
+zornig auf den Boden, lachte verächtlich, doch bald wurde er sanft und
+streichelte mir die Wangen. Ich hatte dabei meist ein schüchternes, fast
+furchtsames Gefühl; denn wenn er liebevoll tat, war er oft gefährlich.
+Doch erklärte er mir kichernd, daß es am Sylvesterabend »etwas gäbe«,
+und damit mußte ich zufrieden sein.
+
+Am folgenden Abend zog ich meine besten Kleider an und war voll
+Erwartung. Jedenfalls ist Henriette da, dachte ich mir; denn ich wußte,
+daß ihre Mutter sich seit Wochen in einem Kloster aufhielt und das junge
+Mädchen die ohnehin gewohnte Freiheit so in noch höherem Maße genoß. Ich
+sah in Henriette durchaus keine Schwester, eher eine ganz Fremde, aber
+liebe Fremde.
+
+Als ich hinkam, war Henriette schon da, auch eine alte, vornehme Dame
+mit glatten, silberweißen Haaren, die in einem Lehnstuhl saß und mich
+spöttisch anlächelte. Mein Vater schalt mich, weil ich zu spät gekommen.
+Ich schämte mich, denn ich hatte es für sehr vornehm gehalten. Stolz und
+vornehm war ich mit meinem spanischen Mantel durch die Straßen
+geschritten.
+
+Wir saßen im Henriettenzimmer, und ich wagte mich kaum zu bewegen, so
+sehr gefiel mir alles, was ich erblickte. Herrliche Teller und Gläser
+schmückten den weißen Tisch; von der Decke hing ein zwölfarmiger
+Leuchter herab, ganz von Gold, wenigstens schien es mir so. Die Fenster
+waren mit dunkelblauem Stoff verhängt, und an den Wänden hingen die
+schönsten Bilder. Henriette trug ein einfaches, blaues Kleid, und ihr
+Gesicht hatte etwas Geplagtes. Sie sprach wenig, aber immer sehr betont
+und aufmerksam, und die alte Dame, deren schwarzseidenes Kleid beständig
+knisterte, weil sie so belebt war, schien voller Liebe gegen sie. Ich
+glaube, daß sie eine sehr vornehme Person war; weder damals noch später
+erfuhr ich ihren Namen. Aber was sie auch sein mochte, ihr gewinnendes
+Wesen ließ mir jedes heimliche Forschen frevelhaft erscheinen. Sie duzte
+meinen Vater, wie er sie, und eine lange Vertraulichkeit, viel
+Zusammenerleben mußten es sein, die einen so herzlichen Ton geschaffen
+hatten, wie er unter ihnen bestand.
+
+Während des Essens erhob sich mein Vater zu einem Trinkspruch. Ich
+erinnere mich heute nicht mehr an seine Worte. Damals schien es mir
+hinreißend, ihn so zu hören, und mein Blick, der auf ihn gerichtet war,
+zitterte förmlich. Er sprach zu uns von seinem Leben, von dem was
+untergeht und was bleibt, Erinnerungen, die wie Schiffe am Horizont
+vorbeizogen, -- und eines ist mir unvergeßlich. Er sagte: Wenn ich einmal
+alt sein werde ... Er war im Oktober dreiundsiebzig geworden. Er dachte
+so wenig an den Tod wie ein Knabe.
+
+Als er geendet hatte, stand Henriette auf, beugte sich zu ihm und küßte
+ihn auf die Nasenspitze. Das war ihre Art etwas Scherzhaftes mußte dabei
+sein. Die alte Dame klatschte in die Hände. Mit einem kindlichen, fast
+mädchenhaften Lachen ergriff sie das Glas und sagte, indem ihre Augen
+tief und warm strahlten: Mein unsterblicher Hilperich soll leben. Wer
+sie und Henriette zusammen sah, den mochten wohl sonderbare Gedanken
+über Jugend und Alter gefangen nehmen.
+
+Mein Vater wurde immer aufgeräumter. Er stieß mich in die Seite, drohte
+mir mit Prügeln, wenn ich fortführe, so schweigsam zu sein. Henriette
+antwortete etwas zu meiner Entschuldigung, was mir sehr verständig
+vorkam. Überhaupt fand ich ihren Verstand immer bewundernswerter. Über
+alles ringsumher schien sie sich spielerisch klar zu werden. Dennoch sah
+ich Unruhe in ihren Augen.
+
+Wie lang ist es eigentlich her, daß wir uns schon kennen? fragte die
+alte Dame in träumerischer Erinnerung.
+
+Mein Vater wiegte den Kopf. Lange, lange, erwiderte er und tat einen
+tiefen Schluck aus dem Glase.
+
+Ich glaube, es war an dem Tage, da Goethe starb, fuhr sie fort und
+lächelte. Mich durchzuckte es wunderbar, und ihr Seufzen kam mir
+lieblich vor, womit sie weiterredete, (indem sie einen Blick auf
+Henriette heftete): So blühen die Jungen auf und werden den Alten teuer.
+Was wirst du tun, wenn Henriette heiratet? fragte sie und blinzelte
+dabei schalkhaft.
+
+Sie heiratet nicht, entgegnete der Greis kurz. Oder nicht sobald, fügte
+er hinzu, indem er das Ohr bis auf die Schulter senkte; heiraten ist ein
+Unfug.
+
+Gut. Sie ist ja auch noch jung. Aber schließlich, Weib ist Weib. Nicht
+wahr? Die alte Dame zeigte ihre weißen Zähne und ließ den Blick naiv
+fragend von einem zum andern gehen. Dann lachte sie und fuhr heiter
+fort: Alle schreien wir: nie, und auf einmal sagen wir ganz leise Ja.
+Gut, Heirat hin oder her, aber -- ihr Blick wurde plötzlich versonnen --
+nimm an, man verführt sie dir. Wie? Nun ja, das ist schon dagewesen. Du,
+der Freidenkende, was wirst du tun?
+
+Henriette lachte mit gesenkten Augen kurz vor sich hin. Mein Vater kniff
+die Lippen zusammen und erwiderte mit einem unbestimmt jovialen Ausdruck
+und mit weinglänzenden Augen: Das ist plausibel; ich sag ihr: Gehe hin,
+was du verdienst ist dein Gewinn. Nachdem er dies gesagt hatte, stand er
+so heftig auf, daß der Stuhl hinter ihm zur Erde fiel, schlug mit der
+Faust auf den Tisch und brüllte oder kreischte: Ich würde sie zum
+Fenster hinunter werfen.
+
+Henriette erhob sich, gänzlich blaß, ging zum Kamin und hielt wie
+frierend die Hände dagegen. Mein Vater folgte ihr, klopfte mit der
+flachen Hand auf ihren Rücken, lachte, setzte sich und nahm sie auf sein
+Knie. Sie hielt aber die Augen geschlossen.
+
+Da die Glocken zu läuten anfingen, erhob sich auch die alte Dame vom
+Tisch, öffnete ein Fenster, so daß man nun die Glockenschläge dröhnend
+und deutlich von allen Seiten vernahm. Der kalte Winter dampfte herein,
+und Leute schrien auf der Gasse. Die alte Dame blickte andächtig gegen
+den Himmel, und ich blieb sitzen wie ein Vergessener.
+
+Noch im Traum in der Nacht sah ich die wohlwollende alte Dame, die
+vielleicht gegen keinen Menschen Böses hegte; meinen Vater, von
+Lebenskraft und -Größe erfüllt wie einen Gott des Altertums; Henriette,
+unentschieden, graziös und fatalistisch kühl. Es war mir einen
+Augenblick im Traum, sonderbar, als übe sie nur Nachsicht mit meinem
+Vater, ihrem Vater, beuge sich dennoch gütig unter seiner Liebe.
+
+Den Neujahrstag verbrachte ich mit der Mutter, und als ich am nächsten
+Tag zu meinem Vater kam, fand ich ihn unruhig und finster. Er begrüßte
+mich kaum, sagte, es sei nichts los heute. Ohne Arges zu denken, ging
+ich wieder. Am nächsten Tag erklärte mir die Bedienerin, der Herr Rat
+sei nach Z. gegangen. Mich erstaunte das; er konnte dort nur das Kloster
+besuchen, in welchem seine Frau war. Vor dem Hause lungerte Mittelmann
+herum. Ohne weiteres erklärte er mir in seiner singenden, hastigen
+Redeweise, daß Henriette verschwunden sei. Der einzelnen Ausdrücke
+erinnere ich mich nicht mehr, die das dünne Männlein gebrauchte, aber
+mir wurde der Kopf heiß.
+
+Den Tag darauf war ich nicht wenig überrascht, meinen Vater und
+Mittelmann miteinander Schach spielen zu sehen. Ich wagte nicht zu
+reden, nicht zu fragen, setzte mich und sah zu. Das Gesicht meines
+Vaters war verändert wie ein laubreicher Baum nach einer Orkannacht.
+Aber mit ruhiger Hand schob er die Figuren, ohne den Blick vom Brett zu
+erheben. Seine weißen Wimpern schienen schwer. Er verlor die Partie;
+Mittelmann grinste entzückt, als ihm mein Vater verächtlich einen Gulden
+hinwarf, und ohne von meiner Anwesenheit Notiz zu nehmen, begannen sie
+eine neue Partie. Plötzlich aber stieß mein Vater das Tischchen mit dem
+Fuße um, und von dem Getöse erschreckt, flüchtete Mittelmann in eine
+Ecke. Mit schweren Schritten ging mein Vater auf und ab, dann ergriff er
+nacheinander die Stehuhr, die Lampe, eine Wasserkaraffe, den
+Handspiegel und seine Waschschüssel und warf sie mit voller Wucht gegen
+die Dielen. Sein Gesicht war blau, die Adern an der Stirn und an den
+Händen wie Stricke geschwollen; so ging er auf mich Zitternden zu,
+packte mich beim Kragen, schüttelte mich mit riesiger Kraft wie eine
+Puppe und schrie hohl krächzend: Wo ist sie? Wer hat sie verführt? Wo
+ist sie? Schaff sie mir her, Lumpenhund! Dann ließ er ab von mir,
+öffnete das Fenster, wie um Luft zu schöpfen, und stieß einen langen,
+tiefen Seufzer aus, der wie das Geheul eines Hundes klang. Die
+Bedienerin war aus der Küche gekommen und betrachtete schweigend und
+erschrocken das Bild der Verwüstung.
+
+Wie ich heim kam, wie ich die Nacht verbrachte, was in meinen Gedanken
+vorging, das weiß ich nicht mehr. Ich säumte nicht, am folgenden Tag
+wieder zu meinem Vater zu gehen; wie gestern fand ich ihn mit Mittelmann
+Schach spielend. Wie gestern beachtete er mich nicht, und ich sah
+geduldig zu. Der Abend kam, und es geschah nichts. Fast wäre ich froh
+gewesen um einen Ausbruch seines Zorns. Aber er saß still und in sich
+gekehrt. Alle Tage ging ich hin, wartete, trauerte. Immer fand ich ihn
+mit Mittelmann beim Schach und hie und da beim Domino. Zu arbeiten gab
+es nichts für mich; ich haßte und verwünschte das Schachspiel und das
+andere Spiel, verwünschte Mittelmann in meinem Herzen. Was mein Vater
+auch sagen mochte, Mittelmann wiederholte es wie ein lästiges Echo, auch
+wenn es eine Beschimpfung war, die ihm selbst galt. Seine Körperhaltung
+zeigte die tiefste Unterwürfigkeit, aber zugleich die Unruhe eines
+Kobolds. Wenn eine Partie für ihn schlecht stand, hüpfte er auf seinem
+Sitz, wiegte sich aufgeregt hin und her, steckte die dünnen Fingerchen
+in den Mund, murmelte sinnlose Worte, fuhr förmlich wehklagend mit der
+Hand über die Stirn, und wenn er keine Rettung mehr sah, zeigte sein
+Gesicht einen Ausdruck geisterhafter Frechheit. Dies schien meinem Vater
+zu behagen und ihn zu erwärmen.
+
+Die Ungeduld, zu wissen, verzehrte mich. Ich dachte mich an Mittelmann
+zu halten, der doch beständig um meinen Vater war. Ich hatte erfahren,
+daß er ein Zeitungsreporter war, und glaubte, einen guten Spion an ihm
+zu haben. Ich nahm ihn mit in ein Wirtshaus und ließ ihm Speisen, Wein
+und Bier vorsetzen. Zwei Stunden hindurch aß er, ohne daß in seinem
+Munde Raum für ein überflüssiges Wort verblieb. Mich erbarmte seiner,
+wie er mit vollen Backen stammelte oder glückselig auf die heißen
+Kartoffeln blies. Ich ließ es also dabei bewendet sein und begriff, daß
+Mittelmann meinem Vater nichts anderes war, denn ein Haustier, ein
+folgsamer Hund, der sprechende Hund. Er brauchte ihn nur, um für sein
+düsteres Schweigen ein Ohr zu haben.
+
+Henriette war fort; sie hatte sich einem an den Hals geworfen, und war
+Gott weiß wohin gegangen, ohne Wort noch Zeichen. Mehr wußte ich nicht
+und konnte nichts sonst erfahren. Für meinen Vater war ich wie Luft.
+Warum, das weiß ich selber nicht. Oft stieg es mir bitter auf: hat er
+ihr das Blut vererbt, so vielleicht auch die Tat; aber es zu sagen,
+hütete ich mich wohl.
+
+An einem wunderschönen, sonnigen Nachmittag kam ich hin und fand Bianca
+Spinola in seiner Schlafstube. Das Henriettenzimmer war zugeschlossen,
+war seit dem Neujahrstag nicht mehr betreten worden. Ja, sogar die
+leeren Teller und Flaschen standen noch auf dem Tisch, wie mir Bianca
+später erzählte. Die Bedienerin war am Feiertag über Land gefahren, und
+schon am Abend war das Unheil geahnt und mein Vater hatte die Türen
+versperrt.
+
+Bianca war also da. Mein Vater lag auf seinem mageren Bett, und sie saß
+am Fußende und hielt ein Buch in den Händen, aus welchem sie Verse ihrer
+Heimatsprache vorlas. Mein Vater sah mich fremd und unwillig an, schloß
+aber gleich wieder die Augen, um weiter zu lauschen. Nie habe ich ein
+schöneres Bild gesehen; das schlanke heitere Mädchen mit den
+tintenschwarzen Haaren und den regungslos hingestreckten Greis und die
+helle Februarsonne im Zimmer und dazu wie Musik die italienischen Worte.
+Ich entfernte mich auf Zehen. In dem kühlen Vorzimmer schlief auf einem
+Stuhl fahl und zusammengesunken der wunderliche Mittelmann.
+
+Am Abend erzählte mir Bianca etwas Schreckliches. Ihrem welschen Gerede
+entnahm ich nur, daß mein Vater jetzt herumging und sich vor dem Sterben
+fürchtete. Er! Sie habe ihn beobachtet, sagte Bianca, auch habe er
+gesprochen. Die Phantasie des jungen Mädchens war wie durch Gespenster
+erschüttert. Ich glaubte ihr nicht. Meine Mutter lachte sogar darüber.
+
+Mit bangem Sinn trat ich das nächste Mal den mir so vertrauten Weg in
+die alte Gasse an. Mein Vater war allein. Er saß am Fenster und starrte
+vor sich hin. Mit schüchternen Worten suchte ich ihn zu einem
+Spaziergang zu bewegen. Er verzog die Lippen verächtlich und erwiderte
+nichts. Ich begriff meinen Vater, begriff seine Einsamkeit. Als es
+dunkelte, wollte ich gehen; jedoch er hielt mich zurück mit einem
+Gebaren, das ich noch nicht an ihm bemerkt hatte. Er wurde sanft, seine
+Stimme klang weich und wie zerbrochen; er bat mich, die Lampe
+anzuzünden, und als dies geschehen war, wurde er sichtlich ruhiger. Er
+sagte, er wollte nicht mehr diktieren, ihm sei das zu mühsam, er wollte
+sich überhaupt um all die Geschichten nicht mehr kümmern. Zum erstenmal
+wagte ich es, von Henriette zu sprechen. Er sah mich groß an und
+schüttelte den Kopf. Das Frauenzimmer hat jetzt mehr Pläsier von der
+Welt als von mir, sagte er und kicherte zynisch vor sich hin. Ich wußte
+keine Antwort, verbarg meine Überraschung. Wieder wollte ich aufbrechen,
+denn ich fürchtete ihn zu stören. Er nahm meine Hand zwischen seine
+beiden, hielt sie fest und sagte, ich sollte warten, bis er im Bette
+sei. Dann nahm er eine Kerze, öffnete die Tür zu dem großen Zimmer,
+leuchtete hinein, ging mit schlürfenden Schritten dem Licht förmlich
+nach, spähte in alle Ecken, spähte auch in den Flur hinaus, wobei er
+kurz auflachte, wie um irgend einen Lauerer aufzustören, und ich saß da,
+schaudernd und von neuem begreifend.
+
+Man darf es nicht wagen, sagte er zurückkommend und schielte mich von
+der Seite an. Man ist nirgends sicher. Wenn du die Treppe hinuntergehst,
+kannst du dir das Genick brechen, mein Söhnchen. Überall wartet etwas
+auf dich, und was du verlachst, kann dein Verderben sein.
+
+Er entkleidete sich mit Hast, warf sich auf das Bett und seufzte. Jetzt
+kannst du gehen, brummte er mürrisch, aber sieh zu, daß das Schloß
+einklappt.
+
+Ich ging. Es war schon späte Nacht. Ich irrte herum und kam bis in die
+Vorstädte.
+
+In den nächsten acht Tagen suchte ich meinen Vater nicht mehr auf. Eine
+neue Stellung, die ich erlangt hatte, nahm mich sehr in Anspruch. Aber
+während dieser Zeit wurde mein Geist so von Unruhe gepeinigt, daß ich
+für die Arbeit ganz abgestumpft wurde. Dennoch hielt mich etwas Schweres
+ab, zu ihm zu gehen. Ich war feig, ja, ich fürchtete mich vor seiner
+Furcht. Es war der letzte Sonntag im Februar, als ich mich meiner
+Pflicht erinnerte. Still war ich herumgegangen und hatte niemandem etwas
+davon gesagt; und auch das quälte mein Gewissen, als hätte die Welt
+helfen können.
+
+Es regnete an diesem Tag. Obgleich so viele Jahre verflossen sind,
+erinnere ich mich, daß vor meines Vaters Haus ein Betrunkener lag, und
+daß dies einen fatalen Eindruck auf mich machte; besonders das matte,
+gedunsene, gleichgültige Gesicht des Mannes und seine halboffenen Augen.
+Johlende Kinder sprangen um ihn herum.
+
+Oben öffnete mir die Bedienerin. Wieder fand ich meinen Vater allein,
+und zwar in dem großen, leeren Zimmer. Er saß neben dem Spiegel, vor dem
+kleinen, runden Schachtisch. Er hatte mich nicht bemerkt, meine Schritte
+nicht gehört. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt und war anscheinend
+in tiefes Sinnen verloren. Kein Laut störte die Ruhe; nichts Belebtes
+machte die Einsamkeit vergessen. Es sah aus, als ob er seit vielen
+Stunden so sitze, mit etwas Unerklärlichem beschäftigt. Endlich wagte
+ich es, laut den Tagesgruß zu rufen, und er hob langsam den Kopf. Er
+besann sich, nickte; ich trat näher, und er gab mir die Hand wie er in
+guten Stimmungen zu tun pflegte, fest, mit festem Druck. Aber sein
+Aussehen war verstört.
+
+Ich denke über die Toten nach, die hinter mir liegen, sagte er. Ich
+schaue zurück, und jedes Jahr ist ein Zaunpfahl, an dem eine Leiche
+hängt.
+
+Es ist das allgemeine Los, Vater, entgegnete ich beengt.
+
+Sein Gesicht verzerrte sich wie vor einer Flamme. Allgemeine Los? Warum?
+Warum? Antworte, du Zeisig? Warum fühl ich dabei? Warum? Warum weiß ich
+davon? Warum erst alles und dann nichts? He? Warum? Er stand auf und sah
+mich gebieterisch an.
+
+Gott will es, flüsterte ich.
+
+Gott? Wer ist Gott? Was kann Gott wollen, was nicht ich will? Muß ich
+sterben, weil ein Gott will, den ich nicht kenne? Ich glaube nicht an
+den Tod. Oder wie? Wer könnte mich von meinem eigenen Tod überzeugen? Er
+blickte gegen das regennasse Fenster und gegen den Himmel; sein Hals war
+dunkelrot gefärbt, und die rechte Hand war geballt. Und doch, was ist zu
+tun? fuhr er nun mit feierlicher Stimme fort, ohne seine Stellung zu
+verändern. Es nützt nichts, daß ich leben will, leben, leben. Es nützt
+nichts, daß ich weiß, auch ihr werdet tot sein, wenn ich's bin. Es nützt
+nichts. Wenn's auch nur noch zehn Jahre sind, was sind zehn Jahre für
+mich?
+
+Ich erinnere mich, daß ich etwas sagte von unserer Liebe für ihn. Aber
+er schwieg und hörte nicht. Langsam wanderte er auf und ab, die Hände
+auf dem Rücken und wiederholte noch einmal vor sich hin: was sind zehn
+Jahre für mich? Mir standen plötzlich die hellen Tränen in den Augen,
+und voll Betrübnis schlich ich davon. Immerfort glaubte ich ihn zu
+hören, den anklägerischen Ton seiner Stimme, den Trotz seiner Worte;
+immer sah ich ihn einsam in seiner leeren Stube gehen und konnte nicht
+die Inbrunst und das Furchtbare seiner Augen vergessen, als er ausrief:
+Was kann Gott wollen, das nicht ich will? Raum und Zeit verachtend,
+stand er im Mittelpunkt des Weltalls, allein, aufrührerischen Geistes,
+ein aufrührerischer Fährmann, die abendliche Flut des Lebens befahrend.
+Die Jahre konnten ihm nichts sein, denn seine Seele hatte stets den
+Augenblick besessen -- und nun verloren.
+
+Den nächsten Tag verbrachte ich mit meinen Angelegenheiten. In der
+Nacht, die folgte, fand ich keinen Schlaf. Die Luft schien mir schwül,
+und kaum daß es Morgen geworden, trieb es mich nach der Wohnung meines
+Vaters. Als ich in sein Schlafzimmer trat, sah ich ihn ruhig auf dem
+Bett liegen, und daneben hockte Mittelmann, das Schachbrett vor sich,
+anscheinend stumpfsinnig in ein Problem vertieft. Mich wunderte das so
+früh am Tag. Mittelmann gewahrte mich und sagte scheu: Ich war die ganze
+Nacht hier, es war um zwölf Uhr, solange spielten wir. In dieser
+Stellung brachen wir ab. Sehr interessante Stellung, sehen Sie nur.
+
+Geschwätzig redete er weiter. Ich blickte unbeweglich auf die
+geschlossenen Augen des Greises. Sein Gesicht zeigte denselben Ausdruck
+des Trotzes, wie vor zwei Tagen.
+
+Die Fenster waren geöffnet, und die Sonne strahlte herein. Ich wurde so
+traurig wie nie zuvor; und doch war es mir, als hätte ich meinen Vater
+schon tot hingestreckt gesehen damals, als Bianca ihm vorlas.
+
+Am nächsten Tag begrub man ihn. Den armen Mittelmann führte ich darnach
+in ein Wirtshaus und gab ihm satt zu essen.
+
+
+
+
+ * * * * *
+
+Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane
+
+Dritte Reihe
+
+ 1. Bd. Th. Fontane, Irrungen Wirrungen
+ 2. Bd. Björnstjerne Björnson, Mary
+ 3. Bd. Gabriele Reuter, Frauenseelen
+ 4. Bd. Laurids Bruun, Van Zantens Insel der Verheißung
+ 5. Bd. Sophie Hoechstetter, Passion
+ 6. Bd. Knut Hamsun, Redakteur Lynge
+ 7. Bd. Hermann Bahr, Theater
+ 8. Bd. Gustaf af Geijerstam, Pastor Hallin
+ 9. Bd. Bernhard Kellermann, Yester und Li
+10. Bd. Felix Hollaender, Das letzte Glück
+11. Bd. Jonas Lie, Auf Irrwegen
+12. Bd. J. Wassermann, Der niegeküßte Mund
+
+Jeden Monat erscheint ein Band
+
+ * * * * *
+
+Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane
+
+Bisher erschienen unter anderen:
+
+Gabriele d'Annunzio: Lust I/II
+Hermann Bahr: Theater
+Herman Bang: Am Wege
+Björnstjerne Björnson: Mary
+Laurids Bruun: Van Zantens glückliche Zeit
+Theodor Fontane: L'Adultera
+Gustaf af Geijerstam: Thora
+Knut Hamsun: Redakteur Lynge
+Hermann Hesse: Unterm Rad
+Felix Holländer: Das letzte Glück
+Bernhard Kellermann: Yester und Li
+E. von Keyserling: Beate und Mareile
+Jonas Lie: Eine Ehe
+Peter Nansen: Julies Tagebuch
+Thomas Mann: Der kleine Herr Friedemann
+Gabriele Reuter: Liselotte von Reckling
+Jakob Schaffner: Die Erlhöferin
+Emil Strauß: Der Engelwirt
+
+ * * * * *
+
+Werke von Jakob Wassermann
+bei S. Fischer, Verlag, Berlin
+
+
+Die Juden von Zirndorf.
+Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Vierte Auflage. Geheftet 4 Mark,
+in Leinen 5 Mark, in Leder 6 Mark 50 Pfg.
+
+Kaum je hat ein jüdischer Poet seinen Glaubensgenossen, und über das
+Judentum der Gegenwart überhaupt schärfere, und zutreffendere Dinge
+gesagt als Wassermann in diesem Buche. Die besten Eigenschaften des
+jüdischen Volkes erscheinen in ihm selbst verkörpert, vor allem der
+kritisch-skeptische Sinn, der auch sich selbst nicht schont. Mit diesem
+verbindet sich auch bei Wassermann eine starke, jedoch mehr mystisch als
+sinnlich glühende Phantasie, der namentlich in dem phantastischen
+»Vorspiel« des Romans eine glänzende poetische Leistung gelungen ist.
+Dieses Vorspiel bildet den Grundakkord zu der in unseren Tagen
+spielenden Geschichte der »Juden von Zirndorf«, in denen ein begabter
+Jüngling Agathon, der das edelste Judentum verkörpert, die von einem
+brutalen Christen erduldete Schmach durch einen Mord an seinem Peiniger
+rächt.
+ (Neue Zürcher Zeitung)
+
+
+Die Geschichte der jungen Renate Fuchs.
+Elfte Auflage. Geheftet 6 Mark, in Leinen 7 Mark 50 Pfg.
+
+Jedes große, befreiende Buch muß ein Buch der Erlösung und der
+Wiedergeburt sein. Dies ist ein Buch von der Erlösung der Frauen, »die
+alten sinnlichen Vorurteilen zu mißtrauen beginnen, die ihr Schicksal,
+ihr Frauenschicksal erleben und nicht länger leibeigen sein wollen«. --
+Seit dem »Grünen Heinrich« Kellers ist in deutscher Sprache kein so
+interessanter und tiefsinniger Roman erschienen.
+ (Die Zukunft)
+
+
+Der Moloch.
+Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Vierte Auflage. Geheftet 4 Mark,
+in Leinen 5 Mark, in Leder 6 Mark 50 Pfg.
+
+Ein bedeutendes Werk! Bedeutend durch die ernste Idee, die ihm zugrunde
+liegt, bedeutend durch die psychologische und gestaltende Kunst, mit der
+Wassermann jene Idee zu einem groß und breit angelegten, lebensvollen
+Gemälde gestaltet hat!... Der Verfasser hat dieses psychologische
+Problem in der Tat auch vollständig, seinem Wesen entsprechend,
+psychologisch behandelt, und zwar in geradezu bewundernswerter Weise.
+Mag das Weltbild, das Wassermann hier entwirft, ein einseitiges sein,
+mögen einzelne weniger interessierende Seiten seines Bildes gar zu breit
+aufgeführt, mag selbst die ihm zugrunde liegende Idee nicht unbedingt
+anzuerkennen sein und das Poetische etwas zu kurz kommen --, so viel
+bleibt gewiß, daß das umfangreiche Werk von Anfang bis zum Ende eine
+Stimmung ausströmt, die unwiderstehlich fesselt und mit der Macht fast
+eines Erlebnisses wirkt.
+ (Berner Bund)
+
+
+Der niegeküßte Mund -- Hilperich.
+Novellistische Studien. Geheftet 2 Mark, in Leinen 3 Mark.
+
+In diesen Novellen hat die Wassermannsche Erzählungskunst eine mehr als
+respektable Höhe erreicht. Es sind belletristische Kunstwerke von einer
+so feinen und sicheren Arbeit, wie wir ihrer in der heutigen deutschen
+Literatur nicht viele besitzen. Was sie vornehmlich auszeichnet, ist
+ihre gute Haltung im Sinne der epischen Kleinkunst. Wie hier alles in
+den Verhältnissen abgewogen ist, wie anmutig und doch streng die Linie
+fließt, wie der Zierat sich verteilt, Licht und Schatten sich verhalten,
+Ausführung und Andeutung zueinander stehen -- alles das verrät einen in
+Deutschland sehr seltenen Kunstverstand und ungemein viel Talent.
+ (Die Zeit, Wien)
+
+
+Alexander in Babylon.
+Roman. Dritte Auflage. Geheftet 3 Mark 50 Pfg., in Leinen 4 Mark 50 Pfg.,
+in Leder 6 Mark.
+
+Nichts als der reale Gang der geschichtlichen Ereignisse von Alexanders
+Rückkehr aus Indien bis zu seinem vorzeitigen Tode wird uns erzählt,
+dies freilich in farbigreicher kulturhistorischer Ausmalung und mit
+ebenso kühner als intensiver Psychologie. So ist dieses Buch weit mehr
+ein Prosaepos als ein Roman, und es bietet weit mehr eine faszinierende
+Ausdeutung der Geschichte als etwa eine Spannungserzeugung durch
+pragmatische Verwicklungen. Auf jeden Fall aber ist es ein Kunstwerk,
+sowohl durch die Geschlossenheit seiner Komposition wie durch seine kaum
+genug zu preisende sprachliche Behandlung. Es gehört zu unsern schönsten
+deutschen Prosabüchern. Manche Kapitel verdienten in den Schulen gelesen
+zu werden. Auf solche Weise wird Geschichte lebendig gemacht und
+beseelt.
+ (Neue Freie Presse, Wien)
+
+
+Die Schwestern.
+Drei Novellen. Dritte Auflage. Geheftet 2 Mark, in Halbleder 3 Mark,
+in Leder 4 Mark.
+
+Der Vortrag dieser Geschichten ist stilistisch meisterhaft, in der
+Schilderung des Tatsächlichen von der Einfachheit der altitalienischen
+Novellen, dabei hin und wieder blitzend von seltsam geschliffenen
+Wortprägungen spezifisch Wassermannscher Art. Nur einem kabbalistischen
+Grübelsinn, einer so heißen Phantasie wie der dieses deutschen
+Orientalen konnte es gelingen, die Verrücktheiten der kastilischen
+Isabella so tief poetisch märchenhaft zu durchleuchten und aus den zwei
+phantastisch konstruierten Kriminalfällen das Rauschen geheimnisvoller
+seelischer Unterströmungen so hervortönen zu lassen.
+ (Literarisches Echo)
+
+
+Die Masken Erwin Reiners.
+Roman. Siebente Auflage. Geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark.
+
+Dieser Roman wird einmal in der Entwicklungsgeschichte der modernen
+Literatur eine wichtige Rolle spielen. Man wird ihn als einen alles
+Wesentliche zusammenfassenden und reflektierenden Spiegel des zügellosen
+Individualitätsstrebens betrachten, das doch das entscheidende Merkmal
+unserer modernen Romanliteratur bleibt, von ihm zugleich aber eine
+Wendung zum realen Leben datieren. Es sind einige Kapitel in dem Roman,
+die wie das Morgenrot einer neuen Klassik anmuten.
+ (Westermanns Monatshefte)
+
+
+Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
+
+
+
+
+[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
+Grundlage der 1911 in der Reihe »Fischers Bibliothek zeitgenössischer
+Romane« erschienenen Ausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält
+eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen
+Korrekturen. Soweit möglich, wurden die Korrekturen der typographischen
+Fehler anhand der Erstausgabe im Albert Langen Verlag, München, 1903
+überprüft (Der niegeküßte Mund und Hilperich). Die Verlagswerbung wurde
+am Ende des Buchs gesammelt.
+
+p 011: Komma ergänzt: glänzenden, gefährlichen
+p 013: Freundes empor, der ihm um zwei Kopflängen -> ihn
+p 017: Drittel Kapitel -> Drittes
+p 037: erwiderte der Lerhre -> Lehrer
+p 053: dagegewesen -> dagewesen
+p 071: Dinkeslbühler -> Dinkelsbühler
+p 071: Der Lehrer entgegenete nichts darauf. -> entgegnete
+p 103: Zustand des Zweifelsund -> Zweifels und
+p 140: Punkt ergänzt: Scherben eines Spiegels.
+p 157: Gustav af Geijerstam -> Gustaf ]
+
+
+
+[Transcriber's Note: This ebook has been prepared from the edition
+published in 1911 as part of the series "Fischers Bibliothek
+zeitgenössischer Romane". The table below lists all corrections applied
+to the original text. Where available, the corrections have been
+cross-checked with the first print of "Der niegeküßte Mund" and
+"Hilperich" published at Albert Langen Verlag, München, 1903. The
+publisher's advertisements have been collected at the end of the book.
+
+p 011: added comma: glänzenden, gefährlichen
+p 013: Freundes empor, der ihm um zwei Kopflängen -> ihn
+p 017: Drittel Kapitel -> Drittes
+p 037: erwiderte der Lerhre -> Lehrer
+p 053: dagegewesen -> dagewesen
+p 071: Dinkeslbühler -> Dinkelsbühler
+p 071: Der Lehrer entgegenete nichts darauf. -> entgegnete
+p 103: Zustand des Zweifelsund -> Zweifels und
+p 140: added period: Scherben eines Spiegels.
+p 157: Gustav af Geijerstam -> Gustaf ]
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Der niegeküßte Mund, by Jakob Wassermann
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER NIEGEKÜßTE MUND ***
+
+***** This file should be named 17143-8.txt or 17143-8.zip *****
+This and all associated files of various formats will be found in:
+ https://www.gutenberg.org/1/7/1/4/17143/
+
+Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders
+Europe at at http://dp.rastko.net
+
+
+Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.
+
+Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
+permission and without paying copyright royalties. Special rules,
+set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
+copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
+protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project
+Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
+charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you
+do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
+rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose
+such as creation of derivative works, reports, performances and
+research. They may be modified and printed and given away--you may do
+practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
+subject to the trademark license, especially commercial
+redistribution.
+
+
+
+*** START: FULL LICENSE ***
+
+THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
+PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK
+
+To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
+distribution of electronic works, by using or distributing this work
+(or any other work associated in any way with the phrase "Project
+Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project
+Gutenberg-tm License (available with this file or online at
+https://gutenberg.org/license).
+
+
+Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm
+electronic works
+
+1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
+electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
+and accept all the terms of this license and intellectual property
+(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
+the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy
+all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession.
+If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project
+Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
+terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or
+entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.
+
+1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
+used on or associated in any way with an electronic work by people who
+agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
+things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
+even without complying with the full terms of this agreement. See
+paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
+individual work is in the public domain in the United States and you are
+located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
+copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
+works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
+are removed. Of course, we hope that you will support the Project
+Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
+freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of
+this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with
+the work. You can easily comply with the terms of this agreement by
+keeping this work in the same format with its attached full Project
+Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.
+
+1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
+what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in
+a constant state of change. If you are outside the United States, check
+the laws of your country in addition to the terms of this agreement
+before downloading, copying, displaying, performing, distributing or
+creating derivative works based on this work or any other Project
+Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning
+the copyright status of any work in any country outside the United
+States.
+
+1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:
+
+1.E.1. The following sentence, with active links to, or other immediate
+access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently
+whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the
+phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project
+Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed,
+copied or distributed:
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived
+from the public domain (does not contain a notice indicating that it is
+posted with permission of the copyright holder), the work can be copied
+and distributed to anyone in the United States without paying any fees
+or charges. If you are redistributing or providing access to a work
+with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the
+work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1
+through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
+Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or
+1.E.9.
+
+1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
+with the permission of the copyright holder, your use and distribution
+must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
+terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked
+to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
+permission of the copyright holder found at the beginning of this work.
+
+1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
+License terms from this work, or any files containing a part of this
+work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
+
+1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
+electronic work, or any part of this electronic work, without
+prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
+active links or immediate access to the full terms of the Project
+Gutenberg-tm License.
+
+1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
+compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
+word processing or hypertext form. However, if you provide access to or
+distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than
+"Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version
+posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org),
+you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
+copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
+request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
+form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
+License as specified in paragraph 1.E.1.
+
+1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
+performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
+unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.
+
+1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
+access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
+that
+
+- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
+ the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
+ you already use to calculate your applicable taxes. The fee is
+ owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
+ has agreed to donate royalties under this paragraph to the
+ Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments
+ must be paid within 60 days following each date on which you
+ prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
+ returns. Royalty payments should be clearly marked as such and
+ sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
+ address specified in Section 4, "Information about donations to
+ the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
+
+- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
+ you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
+ does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
+ License. You must require such a user to return or
+ destroy all copies of the works possessed in a physical medium
+ and discontinue all use of and all access to other copies of
+ Project Gutenberg-tm works.
+
+- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
+ money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
+ electronic work is discovered and reported to you within 90 days
+ of receipt of the work.
+
+- You comply with all other terms of this agreement for free
+ distribution of Project Gutenberg-tm works.
+
+1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
+electronic work or group of works on different terms than are set
+forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
+both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
+Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the
+Foundation as set forth in Section 3 below.
+
+1.F.
+
+1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
+effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
+public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
+collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
+works, and the medium on which they may be stored, may contain
+"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
+corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
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+PROVIDED IN PARAGRAPH F3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
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+INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
+DAMAGE.
+
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+defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
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+received the work on a physical medium, you must return the medium with
+your written explanation. The person or entity that provided you with
+the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
+refund. If you received the work electronically, the person or entity
+providing it to you may choose to give you a second opportunity to
+receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
+is also defective, you may demand a refund in writing without further
+opportunities to fix the problem.
+
+1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
+WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
+
+1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
+warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
+If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
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+interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
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+harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
+that arise directly or indirectly from any of the following which you do
+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
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+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
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+The Project Gutenberg EBook of Der niegeküßte Mund, by Jakob Wassermann
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+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
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+Title: Der niegeküßte Mund
+ Drei Erzählungen
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+Author: Jakob Wassermann
+
+Release Date: November 23, 2005 [EBook #17143]
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+Language: German
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+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER NIEGEKÜßTE MUND ***
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+Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders
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+<h1>Der niegek&uuml;&szlig;te Mund</h1>
+
+<h3>Drei Erz&auml;hlungen von</h3>
+
+<h2>Jakob Wassermann</h2>
+
+
+<h5>S. Fischer, Verlag, Berlin</h5>
+
+<p><a class="page" name="Page_4" id="Page_4" title="4"></a></p>
+<p class="copyright">Alle Rechte vorbehalten.</p>
+</div>
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+<p><a class="page" name="Page_5" id="Page_5" title="5"></a></p>
+<table class="toc">
+<caption>Inhalt</caption>
+<tr><td><a href="#Der_niegekuesste_Mund">Der niegek&uuml;&szlig;te Mund</a></td>
+<td align="right">7</td></tr>
+<tr><td><a href="#Treunitz_und_Aurora">Treunitz und Aurora</a></td>
+<td align="right">81</td></tr>
+<tr><td><a href="#Hilperich">Hilperich</a></td>
+<td align="right">127</td></tr>
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+<hr style="width: 65%;" />
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+<p><a class="page" name="Page_7" id="Page_7" title="7"></a></p>
+
+
+<h2><a name="Der_niegekuesste_Mund" id="Der_niegekuesste_Mund"></a>Der niegek&uuml;&szlig;te Mund</h2>
+<!-- <p><a class="page" name="Page_8" id="Page_8" title="8"></a>[Blank Page]</p> -->
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_9" id="Page_9" title="9"></a></p>
+<h3>Erstes Kapitel</h3>
+
+
+<p class="newsubsection">Schon von ferne sieht man den gelben, alten, f&uuml;nfeckigen
+Turm mit seinem dunklen Ziegeldach, das einer Nachthaube
+gleicht. Er schlie&szlig;t eine breite, stille Stra&szlig;e mit seltsam
+regelm&auml;&szlig;igen H&auml;usern ab, die sich wie Zierrat ausnehmen. Mit
+seinem Torbogen scheint er auf den gebrechlichen Schultern
+zweier H&auml;user zu stehen; das eine ist die Wirtschaft zum lustigen
+Pfeifer, das andere geh&ouml;rt dem Doktor Maspero. Die Stra&szlig;e
+setzt sich verengert bis zum Marktplatz fort, welcher den Eindruck
+eines st&auml;dtischen Mittelpunkts macht. Viele ruhige Gassen
+und G&auml;&szlig;chen zweigen von da ab: zum Schie&szlig;anger, zur Altm&uuml;hlbr&uuml;cke,
+zur Kirche, und ein ganz schmaler Gang zwischen
+der Apotheke und dem Bezirksamt zur j&uuml;dischen Synagoge,
+einem lustigen Bau aus rotem Backstein, gekr&ouml;nt von zwei dickb&auml;uchigen
+Kuppeln. Ringsherum zieht sich ein weitl&auml;ufiger
+Obstgarten, der den Tempelvorhof gegen die Stra&szlig;e frei l&auml;&szlig;t.
+Aber diese Stra&szlig;e hat nur noch ein einziges Stirngeb&auml;ude,
+eingeklemmt zwischen uraltem H&auml;userger&uuml;mpel, doch nicht minder
+alt und nicht minder bauf&auml;llig: das Schulhaus. Sechsundsechzig
+Kinder, Knaben und M&auml;dchen, werden hier t&auml;glich von
+Herrn Philipp Unruh in die Geheimnisse des Alphabets und
+der Arithmetik eingef&uuml;hrt.</p>
+
+<p>Es gibt Namen und Namen. Manche sind ihrem Besitzer
+wie aus dem Wesen geschnitten, manche passen zu ihm wie
+etwa die Synagoge zum Obstgarten. Ein solcher Obstgarten,
+um den Vergleich m&uuml;de zu machen, war der Name jenes Lehrers.
+Er selbst und der Kreis seines Daseins waren voller Ruhe. Die
+kleine Stadt lag unter dem Horizont der Ereignisse. Die Leute
+von Gunzenhausen verrichteten ihre Gesch&auml;fte bei Tage und
+<a class="page" name="Page_10" id="Page_10" title="10"></a>schliefen in der Nacht und von eisernen Gesetzen wurden die
+Stunden geregelt. Uhren und Kalender hatten nur einen &auml;u&szlig;erlichen
+Wert. Die Glocke schlug, aber was sie schlug, brauchte an
+keines H&ouml;rers Ohr zu t&ouml;nen. Die Zeit ging, wie sie seit Ewigkeiten
+gegangen war, aber wohin sie ging, gab keinem Verstand
+ein R&auml;tsel. Nur die Eisenbahnz&uuml;ge, die das friedliche Altm&uuml;hltal
+hinab- und hinaufrollten, brachten einen Duft von Welt
+mit, von Geschehnissen, vom Wandel der Dinge, von den
+traurigen und heiteren Spielen, die in den L&auml;ndern vor sich
+gehen, welche eingespannt liegen zwischen den Ozeanen.</p>
+
+<p>Philipp Unruh war also ein Ruhiger mit den Ruhigen. Er
+war auch kein Philippos, kein Pferdefreund, sondern eher der
+beschaulich schreitenden Katze zugeneigt. In seinem Amt war
+er weder r&uuml;hmenswert, noch gab er zu tadeln Grund. Seit
+einem Dezenium rollte das Jahrwerk ab ohne sein Hinzutun.
+Es glitt ihm vor den H&auml;nden vorbei, &auml;hnlich wie bei geschickten
+Arbeitern, die ohne Augen, ohne Licht vollbringen k&ouml;nnten, was
+Zwang und Gewohnheit sie gelehrt. Der Tag zerfiel in Stunden;
+einzelne Stunden bedeuteten F&auml;cher, und jedes Fach war ein
+H&auml;uflein Eingelerntes, bereit, in ein Schock mehr oder minder
+williger Gehirne gestopft zu werden. Diese kleine Maschinensammlung
+um Philipp Unruh war seine Schule, in welcher er
+gleichm&uuml;tig herumschritt und hantierte und mit Wohlwollen
+und k&uuml;hler Befriedigung dem ordnungsm&auml;&szlig;igen Verlauf der
+Dinge anwohnte.</p>
+
+<p>Derselbe Mann, der weder alt noch jung, weder lustig noch
+traurig, weder lebendig noch tot war, hatte eine Liebhaberei,
+welche fast mehr als diesen Namen verdiente, weil sie den eigentlichen
+Zirkel seines Wesens &uuml;berschritt. In seiner dumpfen
+Kammer, aus der der hellste Sommertag die D&auml;mmerung
+<a class="page" name="Page_11" id="Page_11" title="11"></a>nicht vertreiben konnte, weil rings D&auml;cher und Galerien ihr
+den Himmel nahmen, gab es eine lange Reihe von Folianten:
+Chronika und Memoria und ernsthafte Darstellungen, die Geschichte
+aller Zeiten und V&ouml;lker enthaltend. Darin las und
+gr&uuml;belte, studierte und spekulierte Philipp Unruh seit Jahr
+und Tag. War gleich gelehrter Eifer im Spiel, &#8211; etwas wie
+Abenteuergel&uuml;st war sicher auch dabei. Und wohl noch eines.
+W&auml;hrend um ihn die Zeit starr lag gleich einem gefrorenen
+See, erblickte er durch seine B&uuml;cher ein aufgew&uuml;hltes Meer
+von Leben. F&uuml;r ihn war die Gegenwart nur der Schatten,
+das lautlose Widerspiel der bunten, gl&auml;nzenden, gef&auml;hrlichen
+und anziehenden Vergangenheit. Seine Stube, das zufriedene
+St&auml;dtchen, das stille fr&auml;nkische Land, das war die
+Gegenwart. Die Vergangenheit war Europa, Asien, &Auml;gypten,
+waren m&ouml;rderische Schlachten, strahlende Revolutionen,
+versinkende Reiche. Hier war der Doktor, der Apotheker, der
+B&uuml;rgermeister, der Schulrat. Dort war eine Gesellschaft von
+K&ouml;nigen, genialen Feldherrn, erhabenen Verbrechern, blutgierigen
+Emp&ouml;rern, ruhmvollen M&auml;rtyrern und unerschrockenen
+Entdeckern. Es gab gl&auml;nzende K&uuml;nstler, Propheten, falsche Herz&ouml;ge,
+aufopfernde B&uuml;rger, heroische Weiber, Vaterlandshelden
+und m&auml;rchenhafte St&auml;dte. Und solchem Reichtum gegen&uuml;ber,
+der unersch&ouml;pflich vor ihm lag, der seine Sinne entz&uuml;ndete,
+seinen Geist bewegte, seine Tr&auml;ume mit unvergleichlichen Gestalten
+bev&ouml;lkerte, sollte ihm der matte Tag noch etwas bedeuten?
+Er ahnte das Schicksal, das seine Hand von Jahrtausend zu
+Jahrtausend spannt, das die Kleinen vernichtet, um die Gro&szlig;en
+zu erhalten; das ganze L&auml;nder verbrennt, um die Asche zum
+M&ouml;rtel f&uuml;r das H&auml;uschen eines Heilands zu verwenden, das
+jedes Ereignis menschlichem Ma&szlig; entr&uuml;ckt, jeden Zufall zur
+<a class="page" name="Page_12" id="Page_12" title="12"></a>Bestimmung wandelt. Deshalb hatte sich unter seinem r&ouml;tlichen,
+buschigen Schnurrbart jenes L&auml;cheln eingenistet, das ebenso
+kindlich war, wie es f&uuml;r weise gelten konnte. Deshalb hatte er
+kein Verst&auml;ndnis f&uuml;r die kleine Spottsucht des Doktor Maspero
+und keine Teilnahme f&uuml;r den Kummer der Frau S&uuml;&szlig;milch,
+deren T&ouml;chterchen dem ABC feindlich gegen&uuml;ber stand. Der
+Herr Adjutant (man nannte ihn so, obwohl niemand sich erinnern
+konnte, ihn jemals in einer Uniform gesehen zu haben)
+sagte, der Unruh z&auml;hle seine f&uuml;nfunddrei&szlig;ig Jahre doppelt. Und
+da er es zu Frau Federlein sagte, welche die Frau des Nachtw&auml;chters
+war, erfuhren es alle Leute, die in der Abgeschlossenheit
+des Lehrers etwas Verd&auml;chtiges und Geheimnisvolles sahen.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_13" id="Page_13" title="13"></a></p>
+<h3>Zweites Kapitel</h3>
+
+
+<p class="newsubsection">Wie heute hatte Doktor Maspero fast t&auml;glich einen Begleiter,
+der die n&auml;chtliche Heimkehr vom Wirtshaus verk&uuml;rzte. Er
+plauderte in seiner finster-sp&ouml;ttischen Manier mit dem Baron,
+der die Apotheke besa&szlig;. Es gab manchmal ausgedehnte und
+tiefsinnige Gespr&auml;che in der Nacht, wenn das Kartenspiel beendet
+war. Der Doktor war ein Mann, klein wie ein Zwerg,
+hager wie ein Knabe, hatte auch die Bewegungen eines Knaben,
+sprach &uuml;berlaut und meist grimmig, auch wenn er witzig war.
+Sein b&auml;rbei&szlig;iges Wesen glich einer Schutzwaffe gegen die l&auml;nger
+gewachsenen Menschen.</p>
+
+<p>Lispelnd und vision&auml;r erz&auml;hlte der Baron von seinem neuen
+Provisor. Das Lispelnde und Vision&auml;re war ihm stets eigen.
+Seine Art erinnerte an frische Butter, so reinlich, mild und
+appetitlich war er. Er war den sch&ouml;nen K&uuml;nsten ergeben und
+verdankte dieser Neigung das Zerflossene und Selbstgef&auml;llige
+seiner Natur. Immer ging er durch die Stra&szlig;en wie jemand,
+der sagen will: Seht, welch ein Tr&auml;umer bin ich.</p>
+
+<p>Der Doktor dr&uuml;ckte seine Verwunderung aus, da&szlig; er den
+neuen Provisor, der doch schon vier Wochen hier sei, noch nicht
+gesehen habe, und fragte nach dem Namen.</p>
+
+<p>&raquo;Apollonius Siebengeist,&laquo; erwiderte der Baron, und seine
+Blicke waren verloren ins schwarze Firmament gerichtet.</p>
+
+<p>&raquo;Einstampfen lassen! Einstampfen lassen! So hei&szlig;t man
+nicht,&laquo; kreischte der Doktor mit unbegr&uuml;ndeter Wut und lauschte
+auf den Beifall seines Freundes empor, der ihn um zwei Kopfl&auml;ngen
+&uuml;berragte. Auch er war nicht ohne Beziehung zum
+geistigen Leben der Nation. Sein ungest&uuml;mer Witz war eine
+Frucht der Bildung. Sein Ideal unter den B&uuml;cherschreibern
+<a class="page" name="Page_14" id="Page_14" title="14"></a>war jener Saphir, der einst nach des Doktors Ansicht die Welt
+aus ihren Fugen ger&uuml;ttelt.</p>
+
+<p>Der Baron entgegnete langsam und bedeutungsvoll, da&szlig;
+Siebengeist aus einer guten Familie sei, jedoch sei sein Gehirn
+nicht in geh&ouml;riger Ordnung. Er habe etwas Koboldartiges an
+sich, etwas Sozialdemokratisches. Darauf antwortete der Doktor,
+indem er mit zwei Fingern seine Nasenspitze kniff, der Apotheker
+m&ouml;ge ihm doch ein P&uuml;lverchen zur Beruhigung zubereiten, eine
+staatserhaltende Mixtur.</p>
+
+<p>&raquo;Rizinus&ouml;l!&laquo; platzte der Baron heraus und brach &uuml;ber diesen
+unerwarteten Geistesblitz in solch br&uuml;llendes Hoho-Gel&auml;chter
+aus, da&szlig; der Nachtw&auml;chter Federlein an der Marktecke erschrocken
+stehen blieb. Geringsch&auml;tzig verzog der Doktor den
+Mund, w&auml;hrend der sanfte Apotheker noch lange nicht zur Ruhe
+kommen konnte. Und w&auml;hrend sie ihren Weg durch die au&szlig;erordentlich
+stille Nacht fortsetzten, sprach man noch von den
+Theatervorstellungen, welche f&uuml;r die n&auml;chsten Tage angek&uuml;ndigt
+waren, denn eine Wandertruppe wollte im fr&auml;nkischen Hof ihr
+Lager aufschlagen. Der Doktor war vom Redakteur des Tageblatts
+als Kritiker gewonnen worden, und der Baron hatte die
+Absicht, dem Direktor ein Vorspiel in Versen zu schreiben.</p>
+
+<p>Beim Schulhaus winkte der Doktor leutselig zum dunkeln
+Fenster hinauf, aus dem der Lehrer auf die Stra&szlig;e sah. Die
+Glocke schlug eben elf Uhr. Der Doktor fragte empor, ob Philipp
+Unruh morgen zur Auktion kommen werde. &raquo;Es soll auch
+B&uuml;cher geben,&laquo; f&uuml;gte er mit &uuml;berlegenem Spott hinzu. Die
+beiden M&auml;nner w&uuml;nschten gute Nacht und waren bald in der
+Finsternis verschwunden.</p>
+
+<p>Der Lehrer wu&szlig;te, da&szlig; es B&uuml;cher bei der Versteigerung
+geben w&uuml;rde. Der j&uuml;dische Kantor war gestorben, ohne An<a class="page" name="Page_15" id="Page_15" title="15"></a>geh&ouml;rige
+zu hinterlassen, und dessen Habseligkeiten kamen
+unter den Hammer. Insbesondere wu&szlig;te Unruh um eine alte
+Ansbacher Chronik, die der Kantor nie hatte verkaufen noch
+verleihen wollen. Daran erinnert, freute er sich jetzt, verga&szlig; die
+tr&uuml;ben Gedanken, die ihn beherrscht, musterte l&auml;chelnd den schwarzen
+Vorbau der Synagoge, schaute stra&szlig;auf, stra&szlig;unter, ruhegewohnt,
+friedesicher und achtete der K&auml;lte nicht. Schnee fiel,
+flaumig anzusehen, aufglitzernd im Licht einer einzigen Laterne.
+Indes, jene allzuschnell vertriebenen Gedanken kehrten zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>Er hatte etwas Seltsames gelesen. Unl&auml;ngst war er bei
+seinem Schwager, einem Schwestermann in Teilheim, gewesen.
+Das ist ein &Ouml;rtchen in der N&auml;he Hesselbergs und mitten im sogenannten
+Hahnenkamm. Der Freund besa&szlig; eine Kr&auml;merei, und
+beim Herumst&ouml;bern in Kisten und Kasten, wie es Philipp Unruhs
+Besuch mit sich brachte, fand sich ein vergessener Schm&ouml;ker vor, benagt
+von Motten und M&auml;usen, um alles Ansehen gebracht durch
+Liegen und Staub. Der Kr&auml;mer hatte schmunzelnd den Fund verschenkt,
+welcher die Aufzeichnungen einer Marquise Bourguignon
+enthielt, von einem Kammerherrn, Exzellenz, beh&auml;big und schn&ouml;rkelhaft
+in das Deutsch des achtzehnten Jahrhunderts &uuml;bertragen.</p>
+
+<p>Nun sitzt da weltfern und lebensfremd ein Schulmeisterlein
+in seiner engen Kammer und vertieft sich dumpfen und erschrockenen
+Sinnes in die frivolen Erinnerungen der Hofdame.
+Ein goldgieriger R&auml;uber steigt durchs Fenster, aber das Fr&auml;ulein,
+fast noch ein Kind, gibt gutlaunig Edleres hin. Der w&uuml;rdige
+Pater im Beichtstuhl zeigt sich nachsichtig gegen S&uuml;nden, an
+deren Begehung er teilnehmen darf. Auf der Treppe k&uuml;&szlig;t die
+reizende Marquise ihrem Geliebten das Herz aus dem Leibe,
+w&auml;hrend zehn Stufen h&ouml;her der arme Gatte nach der Lampe
+ruft. M&ouml;nch und Nonne, F&uuml;rst und Lakai, Bauer und Soldat,
+<a class="page" name="Page_16" id="Page_16" title="16"></a>Kavalier und B&uuml;rgerin nehmen teil am &uuml;berm&uuml;tigen Tanz der
+Liebe, ja die Dinge der unbelebten Welt sind ergriffen vom heiteren
+Taumel, der Himmel wiederhallt vom frohsinnigen Gel&auml;chter,
+und die grazi&ouml;sen Geister der Galanterie werfen jauchzend
+bunte T&uuml;cher &uuml;ber Gr&auml;ber und Schlachtfelder. Was Gesetze, Philosophen,
+Zukunft, Religion! Kein Schauer der Ewigkeit f&uuml;r diese
+l&auml;chelnde Bacchantin und ihre Liebesk&uuml;nste.</p>
+
+<p>Es sind ja l&auml;ngstvergangene Zeiten, dachte schlie&szlig;lich Philipp
+Unruh furchtsam. Das ist damals so gewesen, durfte damals
+so sein, denn es war eine Zeit der Barbarei, eine wilde, sittenlose
+Zeit. Heute ist die Welt still geworden; nichts ist mehr zu
+erblicken von solch &uuml;bertriebenem Abenteuerzeug. Ein jeder
+Mann geht wacker dem Gesch&auml;fte nach, ein jedes Weib wohnt
+z&uuml;chtig in seinem Hause, und es regiert die Ordnung. T&ouml;richte
+Leidenschaften der Vergangenheit mit eurem &Uuml;berschwang und
+eurer Gef&auml;hrlichkeit, dachte der Lehrer mitleidig und war zufrieden
+damit, einem besseren Jahrhundert anzugeh&ouml;ren.</p>
+
+<p>Daneben war aber etwas Unbestimmtes und Hinterlistiges,
+das ihn qu&auml;lte. Bei all dem Herumdenken suchte er sich heimlich
+zu beschwindeln, und das wu&szlig;te er. Exzellenz Kammerherr
+hatte sich da eine teuflische Sache ausgesucht f&uuml;r seine lahme
+Feder. Mit b&ouml;ser Z&auml;higkeit kamen und gingen Bilder, und
+Philipp Unruh schaute sie an mit wildfremden Gef&uuml;hlen. Er,
+der alle Dinge &uuml;ber sich ergehen und herabsinken lie&szlig; wie Schnee,
+f&uuml;hlte pl&ouml;tzlich etwas wie Lebenslast und -besinnung.</p>
+
+<p>Endlich schien es ihm genug des Tr&auml;umens. Er schlo&szlig; das
+Fenster, ging noch eine Weile zwischen den leeren Schulb&auml;nken
+auf und ab, trotz der Dunkelheit sicher den Weg findend und
+suchte dann seine Studier- und Schlafstube auf, um sich zur
+Ruhe zu begeben.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_17" id="Page_17" title="17"></a></p>
+<h3>Drittes Kapitel</h3>
+
+
+<p class="newsubsection">Ziemlich viele Menschen waren in der Kantorwohnung versammelt,
+Ortsw&uuml;rdentr&auml;ger und andere Leute. Es gab
+auch solche, die nur gekommen waren, um f&uuml;r eine Stunde der
+Winterk&auml;lte zu entrinnen. Der Auktionator war ein dicker
+Mann mit einer milit&auml;rischen Fistelstimme. Bei den billigen
+Gegenst&auml;nden wurde er herablassend, fast gn&auml;dig, und sein
+W&uuml;rdegef&uuml;hl stieg um so mehr, je geringer sich die Kauflust
+erwies. Doktor Maspero erstand einen Schreibtisch, der B&uuml;rgermeister
+ein Dutzend leere Flaschen, der Tr&ouml;dler Most die Gebetb&uuml;cher,
+das &raquo;Kasino&laquo; einen Teppich.</p>
+
+<p>&raquo;Eine Chronik!&laquo; rief der Auktionator finster.</p>
+
+<p>&raquo;Eine Chronik f&uuml;r Unruh!&laquo; witzelte der Doktor.</p>
+
+<p>&raquo;Eine Chronik der Markgrafschaft Ansbach,&laquo; sagte der Auktionator
+streng, wartete, bis das Gel&auml;chter zu Ende war und
+f&uuml;gte ver&auml;chtlich hinzu: &raquo;Zwei Mark zum ersten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Drei Mark,&laquo; murmelte Philipp Unruh sch&uuml;chtern. Einige
+kehrten sich l&auml;chelnd um, denn er stand an der R&uuml;ckwand des
+Raums. Die Gesch&auml;ftigkeit hier hatte ihn aus irgend einem
+Grund betr&uuml;bt gemacht. Alle Gegenst&auml;nde, die unter den Hammer
+kamen, hatten einen Schein von Pers&ouml;nlichem, von Zusammengeh&ouml;rigkeit,
+sahen aus wie Glieder einer Familie, die
+in die Welt verstreut werden sollten. Etwas wie Todestrauer
+lag &uuml;ber ihnen, besonders &uuml;ber dem schwarzen Ledersofa im
+Winkel. Es war, als s&auml;&szlig;e der alte Kantor unsichtbar darin
+und betrachte mit m&uuml;rrischem Gesicht die entr&uuml;ckte, kunterbunte
+Welt.</p>
+
+<p>Die Fistelstimme rief mit beleidigtem Ausdruck den Taler
+zum zweitenmal ab.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_18" id="Page_18" title="18"></a>&raquo;F&uuml;nf Mark,&laquo; sagte jemand, der eben eingetreten war. Alle
+drehten sich um, und die Mienen wurden zur&uuml;ckhaltend und
+unzufrieden, als man den neuen Provisor sah.</p>
+
+<p>Philipp Unruh erbebte. Er blickte nach Apollonius Siebengeist
+und dachte erbittert: der reine Adonis. Warum er gerade
+diese Bezeichnung w&auml;hlte, und warum es in einer geh&auml;ssigen
+Bedeutung geschah, blieb ihm r&auml;tselhaft. Der Auktionator nahm
+das h&ouml;here Angebot mit erwachendem Interesse zur Kenntnis.</p>
+
+<p>&raquo;Zwei Taler&laquo;, erwiderte der Lehrer mit d&uuml;nner und unsicherer
+Stimme. Die Leute wurden neugierig, dr&auml;ngten sich
+zusammen und sahen zu, als ob ein Hahnenkampf vor sich ginge.
+Der Lehrer sch&auml;mte sich wie jemand, der auf irgend eine Weise
+Interesse erregt, ohne es rechtfertigen zu k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>&raquo;Drei Taler,&laquo; sagte Siebengeist mit kaltem L&auml;cheln. Er
+stand an den Pfosten gelehnt, beide H&auml;nde in den Taschen seines
+Pelzmantels, in der nachl&auml;ssigen Haltung eines Mannes von
+Welt. In Philipp Unruh erwachte ein tr&uuml;ber Zorn. Doch wie
+alle schwachen Menschen, die sich beleidigt oder &uuml;bervorteilt
+sehen, hatte er den Wunsch, dem Gegner sein Anrecht logisch
+und herzlich zu beweisen. Er hatte die dunkle Empfindung, als
+m&uuml;sse er hingehen und dem Manne sagen, wie viel ihm der
+Besitz der Chronik wert sei, und wie er sich darauf gefreut habe,
+sie erwerben zu k&ouml;nnen. Besonders den Umstand seiner Freude
+und Erwartung wollte er betonen. Indessen ha&szlig;te und verachtete
+er gleichzeitig den fremden Eindringling, und in einer
+Aufwallung dieser Gef&uuml;hle bot er zehn Mark. Der Doktor
+machte ein faunisch entz&uuml;cktes Gesicht und eine triumphierende
+Geb&auml;rde, der Auktionator nickte beif&auml;llig und schnupfte ger&auml;uschvoll
+aus einer braunen Papierd&uuml;te. Jedoch andere Gesichter
+sah der Lehrer auf sich gerichtet, deren pr&uuml;fender Hohn ihn er<a class="page" name="Page_19" id="Page_19" title="19"></a>schreckte,
+und als der Provisor nachl&auml;ssig noch weiter steigerte,
+verlie&szlig; er schweren Schrittes den Raum mit den Gef&uuml;hlen eines
+Menschen, &uuml;ber den ein falscher Urteilsspruch ergangen ist.</p>
+
+<p>Ein tr&uuml;ber Wintertag war es; alle Scheiben waren mit Eisblumen
+bedeckt. Der Schnee lag hoch und rein und blendete
+die Augen des Lehrers. Auf einem Zaun, dessen Pf&auml;hle wei&szlig;e,
+runde Kappen trugen, sa&szlig;en drei Spatzen und zwinkerten bek&uuml;mmert
+den Vor&uuml;bergehenden an. Aus dem Schulhaus drang
+ein bet&auml;ubender L&auml;rm. Unter seiner Ladent&uuml;re stand der
+B&auml;cker und schaute sp&ouml;ttisch lachend hinauf. Kunigunde, die
+Wirtschafterin, begegnete ihm auf der Stiege und kicherte dumm
+vor sich hin. Er l&auml;chelte pl&ouml;tzlich freundlich, als ob er mit jemand
+eine liebensw&uuml;rdige Unterhaltung f&uuml;hrte, doch schien es ihm
+unzuvorkommend und bedr&uuml;ckend, da&szlig; dieser Jemand bildlos im
+Raum verblieb.</p>
+
+<p>Das Schulzimmer war zum Schlachtfeld geworden. Kriegsgeheul
+ert&ouml;nte, und Gegenst&auml;nde flogen durch die Luft, die
+einst einer andern Bestimmung geweiht waren. Die schwarze
+Tafel, in eine Generalstabskarte verwandelt, war mit Hieroglyphen
+bedeckt. Die Reiterei hatte sich des ganzen Globus
+bem&auml;chtigt, und ein d&auml;monisch kleiner Knabe sa&szlig; auf dem Nordpol
+und fuchtelte mit beiden Armen. Einige Amazonen hatten
+die Gegend des Katheders besetzt und sangen Kampfges&auml;nge.
+Der Lehrer blieb auf der Schwelle stehen, sch&ouml;pfte Atem und
+schrie eine f&uuml;rchterliche Drohung in den Raum. Sechsundsechzig
+Paar Augen blickten ihn best&uuml;rzt und schuldbewu&szlig;t an. Alle
+Kinder setzten sich mit gesch&auml;ftsm&auml;&szlig;iger K&uuml;hle auf ihre Pl&auml;tze.
+Sie erwarteten eine unheilvolle Untersuchung. Der Kleine vom
+Nordpol hatte sich beim Herunterspringen die Hosen an der
+Erdachse zerrissen und sa&szlig; leichenbla&szlig; da. Indes begann der
+<a class="page" name="Page_20" id="Page_20" title="20"></a>Lehrer zu diktieren: Der Hamster und der Igel; eine Geschichte,
+worin die H&auml;&szlig;lichkeit des Geizes eine gro&szlig;e Rolle spielte. Die
+Entt&auml;uschung der Kinder war gro&szlig;. Sie h&auml;tten die gleichg&uuml;ltige
+Hamstergeschichte gern entbehrt gegen das aufregende Proze&szlig;verfahren,
+das einer Vormittagsschlacht sonst zu folgen pflegte.
+Immerhin ereignete sich noch etwas sehr Merkw&uuml;rdiges, was
+den Fortgang des einschl&auml;fernden Diktats angenehm unterbrach.
+Die T&uuml;r wurde heftig aufgerissen, und Apollonius Siebengeist
+trat herein. Er hatte ein dickes Buch unter dem Arm, schritt
+gerade auf das Pult zu, legte den Folianten nieder und sagte
+zu Philipp Unruh mit emporgezogenen Brauen: &raquo;Ich bringe
+Ihnen Ihre Chronik. Ich wollte Ihnen damit ein Geschenk
+machen. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen einzuwenden.&laquo;
+Er gr&uuml;&szlig;te mit &uuml;bertriebener Unbefangenheit, doch mit sch&uuml;chternem
+Blick und ging.</p>
+
+<p>Einige Kinder lachten; das br&uuml;nette Fr&auml;ulein S&uuml;&szlig;milch
+auf der dritten Bank fand sich am meisten erlustigt. Sie war
+blutrot im Gesicht und konnte kaum aufh&ouml;ren, in ihre Sch&uuml;rze
+hineinzulachen. Philipp Unruh war verwirrt und besch&auml;mt.
+Mit der schablonenhaften Strenge, die ein wichtiges Erziehungsmittel
+war, befahl er Ruhe und stellte sich an das Fenster. Es
+ist etwas Sch&ouml;nes um den Winter, dachte er mit jener W&auml;rme
+im Innern, welche k&uuml;hne Hoffnungen erzeugt. Drau&szlig;en mag
+es st&uuml;rmen, ich stehe da, um zuzuschauen. Schlaf und Frieden
+ist alles. Wie sch&ouml;n, wenn es d&auml;mmert und ich durch den Schnee
+wandere, den bl&auml;ulichen Schnee, und kein Laut dringt aus der
+Erde.</p>
+
+<p>Mit liebevoller Sorgfalt legte er die Chronik in die Pultschublade,
+und bald darauf schlug es elf Uhr. Die Sechsundsechzig
+st&uuml;rmten davon, und der Lehrer r&uuml;stete sich zu einem
+<a class="page" name="Page_21" id="Page_21" title="21"></a>Spaziergang. An der Ecke bei dem Kasino stand Apollonius
+Siebengeist und plauderte mit einem Mann, der einen gro&szlig;en
+roten Zettel an das Hauseck klebte. Philipp Unruh gr&uuml;&szlig;te und
+war sichtlich bem&uuml;ht, etwas Weitl&auml;ufiges und Kameradschaftliches
+in seinen Gru&szlig; zu legen.</p>
+
+<p>&raquo;Wir werden jetzt Gro&szlig;stadt,&laquo; sagte Siebengeist lebhaft, &raquo;bekommen
+ein Theater. Und was f&uuml;r ein ungew&ouml;hnliches St&uuml;ck
+sie da ank&uuml;ndigen!&laquo;</p>
+
+<p>Der Lehrer tat &uuml;berrascht, obwohl er in der Zeitung davon
+gelesen hatte. Er hauchte in seinen Schnurrbart, der ein wenig
+steifgefroren war, und rieb die H&auml;nde.</p>
+
+<p>&raquo;Sagen Sie, lieber Onkel,&laquo; wandte sich Siebengeist an den
+Zettelmann, &raquo;habt ihr denn h&uuml;bsche Schauspielerinnen?&laquo;</p>
+
+<p>Der Zettelmann machte eine gro&szlig;artige Physiognomie. &raquo;Bei
+mir ist die Bl&uuml;te unseres Standes engagiert&laquo;, entgegnete er
+kurz und majest&auml;tisch.</p>
+
+<p>&raquo;Aber Onkelchen, sind Sie denn der Direktor?&laquo; rief Siebengeist
+erstaunt.</p>
+
+<p>Der Schauspieler best&auml;tigte es. &raquo;Mein Name ist Schmalich&laquo;,
+sagte er mit dem Stirnrunzeln eines ber&uuml;hmten Mannes.</p>
+
+<p>Scheinbar interessiert besah sich Philipp Unruh den angeklebten
+Zettel. &raquo;Melchior oder die Leiden des Alters&laquo;, hie&szlig;
+das St&uuml;ck, ein Lebensbild in zehn Abteilungen. Einige Leute
+waren stehengeblieben und starrten neugierig auf das rote
+Papier. Der Direktor nahm seinen Kleistertopf und entfernte
+sich mit feierlichem Gru&szlig;. Auch der Lehrer wandte sich zum
+Gehen und war kaum einige Schritte weit, als er Siebengeist
+an seiner Seite sah. Der Provisor begann zu reden, als ob es
+ihm nur um Worte zu tun sei. Er schimpfte &uuml;ber das Nest, in
+das ihn ein unwirsches Geschick verschlagen habe; er machte
+<a class="page" name="Page_22" id="Page_22" title="22"></a>sich &uuml;ber Himmel und Erde lustig, und etwas Knisterndes,
+Sprudelndes, Glattes war an ihm. Viele Zuckungen gingen
+&uuml;ber sein Gesicht. Seine Augen hafteten an vielen Punkten
+zugleich. Dem Lehrer ward es unbehaglich wie neben einer
+gef&auml;hrlichen Maschine. Siebengeist aber schlug einen weiten
+Spaziergang vor, da ja heute Mittwoch sei. &raquo;Der ganze Nachmittag
+liegt vor Ihnen&laquo;, sagte er. &raquo;Gehen wir ein wenig
+hinaus in den Schnee.&laquo;</p>
+
+<p>Philipp Unruh wagte nicht, nein zu sagen. Er war &uuml;berhaupt
+weder ein Nein- noch ein Ja-Sager, und hier fand er
+sich verpflichtet, W&uuml;nsche zu erf&uuml;llen. Siebengeist redete weiter,
+besp&ouml;ttelte die B&uuml;chersucht des Lehrers und sprach im allgemeinen
+vernichtend &uuml;ber das Gelehrtentum. &raquo;Was wollen Sie
+denn mit Ihren Namen und Zahlen, Onkelchen? Erkl&auml;ren Sie
+sich doch. Die Geschichte? So? Die Geschichte ist ein altes
+Weib. Alles, was war, ist wertlos. Jener Kom&ouml;diant und sein
+Theater ist jetzt wichtiger als alle Moses, Marc-Aurel, Robespierre
+und Lasalle. Der Unterrock meiner Geliebten wiegt das
+ganze babylonische Reich auf. Freilich, tausend Jahre sind euch
+nichts, denn auch die Stunden sind euch nichts.&laquo;</p>
+
+<p>Der Lehrer blickte ver&auml;ngstigt auf seinen Weg. Nichts Erschreckenderes
+f&uuml;r ihn als diese Reden, deren Sinn ihm vor&uuml;berglitt
+wie Wasser. Das Heftige, Sprunghafte, dabei Lachende
+und K&uuml;hne im Wesen seines Begleiters machte ihn sch&uuml;lerhaft
+verzagt. Eine Weile schwieg Siebengeist und pfiff nur vor sich
+hin. Wei&szlig; und still dehnten sich die ebenen Felder. Unbestimmte
+Laute kamen aus Fernen, die vom Nebel verh&uuml;llt waren.
+Im glatten Schnee waren zahllose Hasenf&auml;hrten und Kr&auml;henf&uuml;&szlig;e
+sichtbar, am Waldrand trippelte eine Rebh&uuml;hnerschar mit
+schwachen, seufzenden Schreien. In der Luft war ein Sieden
+<a class="page" name="Page_23" id="Page_23" title="23"></a>und Sausen, hervorgebracht durch das merkw&uuml;rdige, schwere
+Schweigen ringsumher.</p>
+
+<p>&raquo;Sind Sie verheiratet?&laquo; fragte Siebengeist wie ein Untersuchungsrichter.
+&raquo;Nein? Sind Sie verliebt?&laquo;</p>
+
+<p>Der Lehrer wurde bla&szlig; und sch&uuml;ttelte unwillig den Kopf.
+Siebengeist lachte hell wie ein Kind. &raquo;Waren Sie je verliebt?
+Wissen Sie, Onkelchen, man k&ouml;nnte Sie geradezu f&uuml;r einen
+Eunuchen halten, wenn man nicht w&uuml;&szlig;te, da&szlig; Sie ein deutscher
+B&uuml;cherwurm sind. Sie verachten nat&uuml;rlich die Liebe, sofern
+sie nicht auf dem Papier verewigt ist. Haben Sie mal von einer
+gewissen Ninon de l&#8217;Enclos geh&ouml;rt? Ein wundersames Frauenzimmer.
+Sie hat ganze Generationen mit Liebe beschenkt. Ich
+war damals ein Gascognischer Prinz und in mancher Nacht
+k&uuml;&szlig;te ich die unsterblichen Lippen. Seitdem ist die Welt bitter
+geworden. Onkelchen, was heutzutage sich Weib nennt, ist wert,
+eingesalzen zu werden. Ich habe keines kennen gelernt, in dem
+nicht die dumme Gans oder die Xantippe steckt. Sie sind schlecht,
+eitel, feig, anma&szlig;end, sitzen stets auf dem Galanteriest&uuml;hlchen
+und sind mit Leidenschaft der L&uuml;ge ergeben. Dagegen liest man
+in den Kunstb&uuml;chern von den erlauchtesten Idealgestalten. Davor
+warne ich Sie, Onkelchen. Durch diese Literatur geht ein
+Ri&szlig;. Sehn Sie doch nur, ein Mann wie ich, Prinz von Gebl&uuml;t,
+sitzt auf dem Trockenen und wei&szlig; nichts anzufangen mit seinen
+Gef&uuml;hlen, geht sehns&uuml;chtig in der Welt umher und gafft sich die
+Augen aus nach dem Bild der Liebe. Nun, ich gebe mir noch
+eine kurze Frist, dann w&auml;hle ich ein angenehmes und schmerzloses
+Gift.&laquo; Er lachte wieder fein kindliches Lachen.</p>
+
+<p>Der Lehrer wischte sich den Schwei&szlig; von der Stirn. Es ist
+ein Traum, dachte er zweifelnd und betr&uuml;bt und sah auf das
+Bahngeleise hin&uuml;ber, auf dem ein Schnellzug einherraste. Er
+<a class="page" name="Page_24" id="Page_24" title="24"></a>freute sich auf seine Abendstunden, auf seine Chronik, auf seine
+stille Abgeschiedenheit. Indessen forderte ihn der Provisor auf,
+mit ihm in einem Wirtshaus in Altenmuhr zu essen, und noch
+viel weniger als fr&uuml;her wagte er es abzuschlagen. Doch Siebengeist
+wurde merkw&uuml;rdig schweigsam, ballte nur hier und da
+Schnee zusammen und warf ihn auf die Baumkronen, da&szlig; es
+knisterte. Dann lachte er und freute sich.</p>
+
+<p>In der niedrigen, hei&szlig;en Wirtsstube sa&szlig;en Fuhrleute beim
+Bier. Siebengeist ber&uuml;hrte kaum die Speisen. Er stocherte
+nachdenklich in seinen wei&szlig;en Z&auml;hnen, w&auml;hrend der Lehrer
+t&uuml;chtig zugriff. &raquo;Gelehrsamkeit st&auml;rkt den Magen&laquo;, bemerkte
+Siebengeist sarkastisch. &raquo;Wissen Sie, was mir eingefallen ist?
+Ich forme mir eine Jungfrau aus Schnee: sch&ouml;n, rein und klug.
+Ich gebe ihr das Herz eines treuen Hundes und die Augen einer
+edlen H&auml;&szlig;lichen, die in Verborgenheit lebte. Das Ganze belebt,
+w&auml;re ein Wunder an Vollkommenheit.&laquo;</p>
+
+<p>Philipp Unruh dachte: wenn dieser Mann Apotheker ist,
+werden die Kranken seltsame Mixturen erhalten. Sein ordnungsliebendes
+Gem&uuml;t begann sich zu emp&ouml;ren. Er betrachtete den
+Provisor scharf von der Seite und mu&szlig;te sich gestehen, da&szlig; er
+ein sch&ouml;nes Gesicht habe, ein intelligentes Auge, einen weichen,
+schw&auml;rmerischen Mund.</p>
+
+<p>Auf dem Heimweg stockte jedes Gespr&auml;ch. Die Ruhe der
+Natur war ein Befehl zur Ruhe f&uuml;r die Wanderer. Schon begann
+das beschneite Gel&auml;nde bl&auml;ulich zu schimmern. Wie
+schw&auml;rzliche Gestalten standen die B&auml;ume da, streckten die &Auml;ste
+verzweifelt gegen den Himmel. Philipp Unruh empfand seinen
+Begleiter wie eine schwere B&uuml;rde. Er vermochte nicht zu &uuml;berlegen
+und nicht zu denken in seiner Gegenwart. Unsichere
+Schuldgef&uuml;hle bel&auml;stigten ihn.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_25" id="Page_25" title="25"></a>Als sie den Marktplatz des St&auml;dtchens entlang schritten, begegnete
+ihnen der Baron Apotheker und lud sie ein, den Nachmittagskaffee
+in seinem Hause zu nehmen. &raquo;Meine Frau wird
+sich freuen&laquo;, sagte er s&uuml;&szlig;lich und in einem Ton, als spr&auml;che er
+von einer majest&auml;tischen Person. Siebengeist nickte zerstreut
+und nahm des Lehrers Arm, der versch&uuml;chtert und abwartend
+der Einladung folgte.</p>
+
+<p>Es war ein uraltes Haus mit vielen Ecken und Winkeln,
+breiten, finstern Stiegen, geheimnisvollen T&uuml;ren und knarrenden
+Dielen, worin die Apotheke war. Es stammte noch aus der
+Markgrafenzeit und teilte jedem seiner Bewohner etwas von
+seinem verschlossenen, d&uuml;stern, eckigen und altmodischen Wesen
+mit. Aus der Tiefe des Flurs kam die Baronin und rief den Provisor
+zu sich hin. Philipp Unruh und der Apotheker gingen
+daher voran, doch da es schon finster war, bat der Baron seinen
+Gast, stehenzubleiben und eilte voraus, um ein Licht zu bringen.
+Der Lehrer lehnte sich aufseufzend an die breite, gotische
+Br&uuml;stung und h&ouml;rte Stimmengefl&uuml;ster auf der Stiege, das alsbald
+wieder verstummte. In diesem Augenblick kam der Baron
+mit der Lampe den Korridor entlang, und ein Lichtstrahl erhellte
+das ganze Treppenhaus. Da sah Philipp Unruh, wie
+sich zwei umschlungen hielten und k&uuml;&szlig;ten. Die Frau hing am
+Halse Siebengeists mit geschlossenen Augen. Er aber hatte die
+Augen offen, und es war, als s&auml;he er weit &uuml;ber sie hinweg, in
+eine weite Ferne, und sein Blick war d&uuml;ster und starr. Das
+dauerte im Schein des Lichts keine Sekunde, aber der Lehrer
+glaubte, Zeuge eines grauenvollen Verbrechens gewesen zu sein.
+Als er dem Apotheker folgte, trugen ihn die F&uuml;&szlig;e kaum, und
+seine Z&auml;hne schlugen heftig aufeinander. Der Baron drehte sich
+um und lachte in seiner Hohomanier. &raquo;Armer Teufel,&laquo; sagte
+<a class="page" name="Page_26" id="Page_26" title="26"></a>er, &raquo;klapperkalt ist ihm.&laquo; Und er br&uuml;llte in die K&uuml;che, da&szlig; es
+von allen Mauern widerhallte: &raquo;Johanna, hei&szlig;es Wasser zum
+Grog!&laquo; Gleich darauf begann er wieder zu lispeln und lispelte
+von der Poesie des Winters, w&auml;hrend das andere Paar scheinbar
+harmlos plaudernd die Stube betrat.</p>
+
+<p>Gem&uuml;tliche W&auml;rme herrschte in dem gro&szlig;en Zimmer, dessen
+Decke gew&ouml;lbt war wie in einer Kapelle. Der Ofen f&uuml;r sich
+war ein kleines Haus. Der Baron las seinen Prolog f&uuml;r das
+Theater vor, wobei Siebengeist ergeben in seine Tasse blickte.
+Offenbar waren die G&auml;ste nur dieser Dichtung wegen herbeigeschleppt
+worden, denn der Baron las mit der studierten und
+zugleich naiven Wichtigkeit des Dilettanten, der sich &auml;ngstlich
+vorbereitet hat. Es kamen da viele Reime vor, und manche
+Gedanken, die eines Barons au&szlig;erordentlich w&uuml;rdig waren, um
+wieviel mehr eines Apothekers. Die Hippogryphen waren zu
+diesem Ritt kostbar gesattelt worden, und vom gro&szlig;en Stall
+der Metaphern war, was Beine hatte, mitgelaufen. Zeit und
+Ewigkeit, Vaterland und Wissenschaft, Kunst und Natur waren,
+mit Traratrompetlein bewaffnet, auf einen erbaulichen Kothurn
+gestiegen und grinsten zum Vergn&uuml;gen aller Mitb&uuml;rger aufgeregt
+herab. Des Dichters Stirn war in Schwei&szlig; gebadet und
+sein blonder, zierlicher Schnurrbart zitterte rhythmisch mit.</p>
+
+<p>Zu anderer Zeit h&auml;tte Philipp Unruh hohes Gefallen an
+der Produktion gefunden. Aber der gem&uuml;tliche Raum schien
+jetzt von schw&uuml;len Mysterien erf&uuml;llt. Er sah Siebengeist gequ&auml;lt
+und gr&uuml;belnd sitzen und wagte es endlich, auch die junge Frau
+anzuschauen. &Uuml;berrascht und erschreckt senkte er den Blick nieder.
+Die schwarzen Augen der Baronin waren begeistert auf die
+Lippen ihres Mannes gerichtet, und sie l&auml;chelte begeistert.
+Zorn und Scham erwachten in dem Lehrer. Er atmete in
+<a class="page" name="Page_27" id="Page_27" title="27"></a>L&uuml;genluft, aber eine ihm bisher unbekannte Empfindung sinnlicher
+Neugier ergriff ihn. Als der Apotheker geendet hatte,
+lief die Frau begl&uuml;ckt auf ihn zu, umarmte und k&uuml;&szlig;te ihn st&uuml;rmisch.
+Dem Lehrer graute. Gef&auml;hrlich, t&uuml;ckisch und verschlagen zeigte
+sich ihm das Weib, und er sah dem Provisor ins Gesicht, der mit
+einem dummen L&auml;cheln gegen das Fenster blickte.</p>
+
+<p>Auf einmal schrie jemand auf der Gasse laut und vernehmlich
+Feuer, und gleichzeitig ert&ouml;nte die Sturmglocke. Siebengeist
+&ouml;ffnete das Fenster und fragte hinunter. Es brenne beim alten
+Schulhaus, hie&szlig; es. Philipp Unruh st&uuml;rzte davon, nur vom
+Gedanken an seine B&uuml;cher erf&uuml;llt.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_28" id="Page_28" title="28"></a></p>
+<h3>Viertes Kapitel</h3>
+
+
+<p class="newsubsection">Eine der Galerien, morsches, altersschwaches Zeug, stand
+lichterloh in Brand. Es sah unheilvoll aus, denn was da
+an H&auml;userger&uuml;mpel beisammenstand, war sehr empf&auml;nglich
+f&uuml;r das Feuer. Die Flammen erf&uuml;llten den Hof, schlugen &uuml;ber
+das Dach des Schulhauses, und es gab ein Schock von Kindern,
+welches mit verbrecherischer Spannung darauf wartete, da&szlig;
+jenes verha&szlig;te Geb&auml;ude zur Stunde vom Erdboden verschwinden
+w&uuml;rde. Diejenigen Leute aber, denen es gleichg&uuml;ltig sein durfte,
+ob es Schulferien gab oder nicht, zeigten sich aufgeregt,
+und die Turmglocke, die solche Gelegenheiten gern ergriff, um
+einen prahlerischen L&auml;rm zu erzielen, vermehrte die Angst der
+Gem&uuml;ter. Ihre kurzen Schl&auml;ge glichen dem Pochen eines
+schreckenerf&uuml;llten Herzens. Es r&uuml;ckte die Feuerwehr an mit
+mutigen Messinghelmen und verzagten Gesichtern und diese
+guten Menschen ver&uuml;bten nun ihrerseits wieder solchen Skandal
+mit Trompeten und Kommandieren und einem rasselnden
+Spritzenwagen und himmelhohen Leitern, da&szlig; der Tumult
+gr&ouml;&szlig;er wurde als die Gefahr. Statt zu handeln und sich unterzuordnen,
+machte sich jeder auf besondere Weise wichtig und
+benahm sich als eine verdienstvolle Autorit&auml;t in Gummischl&auml;uchen
+oder im Wassertragen oder im Klettern und Fensterzertr&uuml;mmern.</p>
+
+<p>Philipp Unruh st&uuml;rmte in die K&uuml;che, nahm eine gro&szlig;e
+Kohlenkiste, die er in seine Studierstube schleifte und warf dort
+mit erstaunlicher Handfertigkeit seine B&uuml;cher hinein. Unheimlich
+sah es aus, wie er von den d&uuml;sterroten Flammen beleuchtet
+in atemloser Gesch&auml;ftigkeit die schwarze Kiste mit den alten
+Folianten f&uuml;llte. Mit einer Kraft, die er als Zuschauer verwundert
+beobachtet h&auml;tte, zerrte er den schweren Kasten zur
+<a class="page" name="Page_29" id="Page_29" title="29"></a>Stiege, lie&szlig; ihn unter gro&szlig;em Gepolter herabgleiten, und erst
+unten fanden sich zwei M&auml;nner, die ihm halfen, seinen Schatz
+auf die Stra&szlig;e zu tragen. Zwischen zwei Schneehaufen blieb
+die Kiste stehen. Erleichtert betrat der Lehrer wieder das Haus,
+um wenn es n&ouml;tig war, auch die &uuml;brigen Habseligkeiten zu
+bergen. Die Wirtschafterin lief heulend im Flur herum. Da
+niemand noch an Gefahr f&uuml;r das Schulhaus dachte, klomm
+Unruh allein empor, sah sich um, fand es merkw&uuml;rdig still,
+h&ouml;rte nur das Geprassel des Feuers und das Zischen der Wasserstrahlen.
+Schr&auml;nke und W&auml;nde waren blutigrot; die Fensterscheiben
+zitterten vor Hitze, doch mit jedem Augenblick verminderte
+sich die Gefahr. Die Holzgalerie brannte ab wie Papier
+und die Steinmauer wurde schwarz von Ru&szlig;. Im Hofe stand
+die Feuerwehr, eine Schar von Todesver&auml;chtern.</p>
+
+<p>Philipp Unruh trat wieder auf die Stra&szlig;e. Er winkte den
+Gemeindediener herbei, da&szlig; er ihm helfe, die Kiste zur&uuml;ckzutragen.
+Allein die Kiste war verschwunden. Der Raum zwischen
+den beiden Schneehaufen war leer. In den weichen Schnee
+war ein tiefes Rechteck eingedr&uuml;ckt, sonst war nichts zu sehen.
+&raquo;Wo sind denn die B&uuml;cher?&laquo; fragte der Lehrer mechanisch, und
+blickte sich befremdet um. &raquo;Gutmann, wo ist meine Kiste?&laquo;
+schrie er einen vor&uuml;bergehenden Feuerwehrmann an, und sein
+Gesicht verzerrte sich. Gutmann zuckte besch&auml;ftigt die Achseln.
+Der Gemeindediener versuchte zu tr&ouml;sten und &ouml;ffnete nachdenklich
+sein Schnapsfl&auml;schchen. Einen um den andern rief der
+Lehrer an, aber keiner wu&szlig;te etwas. Eine Gruppe sammelte
+sich, die Ratschl&auml;ge gab und Meinungen austauschte. Der Polizist
+Gr&uuml;nhut stellte sich ein und schrieb Notizen in ein verschmiertes
+Buch. Der Lehrer hatte zuerst gejammert, jedem
+geklagt, einige um Beistand gebeten; jetzt wurde er still. Die
+<a class="page" name="Page_30" id="Page_30" title="30"></a>Gewi&szlig;heit, da&szlig; man ihm seinen teuersten Besitz entwendet habe,
+begann als etwas Ungeheures auf ihm zu lasten. Er f&uuml;hlte sich
+vom Himmel selbst verwundet; beleidigt und verwundet in
+seinem innersten Wesen. Die Ungerechtigkeit, unter der er so
+zu leiden hatte, erstickte seine &Uuml;berlegungen, raubte jedes Ma&szlig;,
+jede Berechnung f&uuml;r das, was ihm zugesto&szlig;en. Hier lag ein
+Verbrechen vor, unerh&ouml;rt und frevelhaft. Wer durfte einen
+armen Friedlichen auf solche Art zu Schaden bringen? Er war
+ein Lehrer, nichts weiter, und verrichtete ehrlich sein Gesch&auml;ft.
+Er war vor andern um nichts bevorzugt. Oder wurde es so
+bitter ger&auml;cht, da&szlig; er dem harten Brot des Berufs etwas Wohlgeschmack
+und S&uuml;&szlig;igkeit hinzugef&uuml;gt?</p>
+
+<p>Breit und mit W&uuml;rde angestopft, kam der Herr Wachtmeister
+des Wegs. Er versprach leutselig, sich der Sache anzunehmen.
+&raquo;Wacker,&laquo; sagte er, &raquo;wacker,&laquo; ein Lieblingswort,
+welches er grundlos bevorzugte. Der Polizist trank aus des
+Gemeindedieners Flasche und eilte in die Nacht, den Dieb zu
+verfolgen. Man schickte zum B&auml;cker und zum Schneider nebenan.
+Dieser begann zu schimpfen, man bringe ihn um seinen Ruf,
+jener tat sehr unschuldig und besorgt. Das Verschwinden der
+Kiste blieb ein finsteres R&auml;tsel. Philipp Unruh ging noch immer
+auf der Stra&szlig;e hin und her, blickte mit zusammengepre&szlig;ten
+Z&auml;hnen in die Nacht. Die Leute entfernten sich langsam. Es
+war neun Uhr und Schlafensstunde nah. Auf dem Brandplatz
+blieben zwei von den Messingbehelmten, lagerten sich an ein
+Kohlenfeuer und tranken zahllose Kr&uuml;ge Bier, die aus dem
+&raquo;lustigen Pfeifer&laquo; geholt wurden.</p>
+
+<p>Doktor Maspero war der letzte, der vor den trostlosen Beraubten
+hintrat. Er schaute pr&uuml;fend zu dem Lehrer empor und
+sagte &uuml;belgelaunt: &raquo;Es ist ja gerade so, als ob Sie eine lebendige
+<a class="page" name="Page_31" id="Page_31" title="31"></a>Familie verloren h&auml;tten. Pfui, Unruh, das hei&szlig;t sich zum
+Narren stempeln.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Lieber Herr Doktor,&laquo; entgegnete der Schulmeister unwillig
+und ohne die Stimme zu erheben, &raquo;wer etwas verliert,
+mu&szlig; am besten wissen, was er verliert.&laquo;</p>
+
+<p>Der Doktor brummte, zog die Augenbrauen in die H&ouml;he,
+kicherte in sich hinein und w&uuml;nschte gute Nacht.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_32" id="Page_32" title="32"></a></p>
+<h3>F&uuml;nftes Kapitel</h3>
+
+
+<p class="newsubsection">Doktor Maspero hatte gut lachen; er wu&szlig;te, wo die B&uuml;cher
+hingeraten waren. Nicht ganz ein Komplott und mehr als
+ein Einfall trug die Schuld. Das kleine M&auml;nnchen mit dem
+Alleswissergesicht versuchte sich gern in der Seelenheilkunde.
+Auch der Apotheker und der Schulrat hatten Teil daran. Diese
+beh&ouml;rdliche Person billigte das Treiben des Lehrers nicht. Obwohl
+von Pflichtvers&auml;umnissen bislang keine Rede sein konnte,
+&#8211; hinter stummen B&uuml;cherdeckeln erhebt sich oft ein unheilvoller
+Geist. Niemand konnte das gr&uuml;ndlicher best&auml;tigen als der
+Baron. &raquo;Verderblich ist das Wort,&laquo; lautete sein gebildetes
+Orakel. Der Doktor seinerseits mischte sich mit Leidenschaft in
+fremde Angelegenheiten. Er war ein Schn&uuml;ffler und mi&szlig;traute
+allen Leuten, bei denen er Geheimnisse vermutete. Er ha&szlig;te
+die Schweigenden, ha&szlig;te die Leute, die anspruchslos ihres
+Weges gehen und in sich verschlie&szlig;en, was sie im Innern besch&auml;ftigt.
+Er ha&szlig;te jene, die sich f&uuml;r irgend etwas mit wahrem
+Gef&uuml;hl einsetzen und hielt sie f&uuml;r L&uuml;gner. Jeder Einsame galt
+ihm als Verr&auml;ter an einem &ouml;ffentlichen Wohl. Seine Zwerggestalt
+war der Grund eines wunderlichen, giftigen Ehrgeizes.
+War er den andern k&ouml;rperlich unterlegen, so w&uuml;nschte er doch
+brennend, sonstwie zu herrschen. Daher sein penetranter Witz,
+seine angebliche Verachtung der Frauen; daher seine seltsame
+Eifersucht auf alles Gro&szlig;e, was immer in der Welt geschah;
+daher seine Freude, sogenannte Wahrheiten zu sagen, seine
+unerm&uuml;dliche Geschw&auml;tzigkeit, seine Gier, zu verurteilen, geh&ouml;rt
+zu werden, belacht zu werden, zu gl&auml;nzen. Er war der erste gewesen,
+der Unternehmungen gegen die B&uuml;cherwut des Lehrers
+geplant hatte. Seine Motive waren menschenfreundlich; er
+<a class="page" name="Page_33" id="Page_33" title="33"></a>sagte es. Aber es waren Worte geblieben bis zum Tag der
+Feuersbrunst. Da hatte er das Herausschleppen der Kiste beobachtet
+und war zum B&auml;cker geeilt, der f&uuml;r einen guten Spa&szlig;
+alles Brot im Ofen schwarz werden lie&szlig;. Alsbald war die
+Kiste unter dem Ladentisch verschwunden, und der B&auml;cker dr&uuml;ckte
+sein gr&uuml;ndliches Mi&szlig;fallen an der Studierwut des Lehrers aus,
+vermutete Schwarzkunst und teuflische Zauberei dahinter. Der
+Doktor empfahl ihm, die B&uuml;cher ordentlich zu bewahren, und
+verhielt sich so, als ob ein reformatorischer Gedanke jeden Schritt
+in dieser Angelegenheit vorbestimmt habe.</p>
+
+<p>Auf dem Heimweg empfand Doktor Maspero ein verwickeltes
+System zu der Tat, die er gegen Philipp Unruh unternommen,
+ein System, welches zugleich philosophischer und p&auml;dagogischer
+Natur war. Als er sich der letzten Konklusion nahte, bemerkte
+er die Gestalt des Provisors Siebengeist, die am Zaun des
+Kasinogartens lehnte, als ob sie steif gefroren w&auml;re, und die
+Augen des jungen Mannes beobachteten gespannt den Mond
+am klaren Himmel. Erschrocken blieb der Doktor stehen und
+sagte mit unsicherer Bosheit: &raquo;Sie sind mir ein gespenstischer
+Herr da.&laquo;</p>
+
+<p>Siebengeist senkte den Kopf und blickte den Doktor von der
+Seite an. &raquo;Dieser Kerl ist mein Feind,&laquo; erwiderte er langsam,
+die Faust gegen den Mond ballend. &raquo;Ich kann nicht schlafen,
+so lang er am Himmel steht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Also ein Romantiker,&laquo; meinte der Doktor, sp&ouml;ttisch in den
+Ton des Arztes verfallend, &raquo;ein Romantiker mit kalten F&uuml;&szlig;en
+also.&laquo;</p>
+
+<p>Siebengeist begleitete schweigend den Doktor die Stra&szlig;e
+hinab. Der Herr Adjutant kam ihnen entgegen, gr&uuml;&szlig;te schreiend
+und lachend, als ob er eben von einer Amerikareise zur&uuml;ckgekehrt
+<a class="page" name="Page_34" id="Page_34" title="34"></a>w&auml;re und verschwand lautlos in der Nacht. Selten sind die
+Schlauen auch im Schweigen schlau. Der Doktor erz&auml;hlte
+Siebengeist mit geheimnisvollem Wesen die Geschichte von den
+geraubten B&uuml;chern, und das philosophische System enth&uuml;llte
+sich in Beweiskraft. Siebengeist hatte nichts darauf zu antworten.
+Er nahm Schnee in die Hand und dr&uuml;ckte ihn gegen
+seine Stirne. &raquo;Der Mond ist mein Feind,&laquo; murmelte er. &raquo;Mich
+verdrie&szlig;t sein Grinsen, seine Klarheit, sein erborgtes Licht, seine
+anspruchsvolle Nutzlosigkeit. Er steht da droben und hat sein
+Am&uuml;sement von der Welt. Und ich, ich mu&szlig; mir den Kopf im
+Schnee k&uuml;hlen, fiebernd vor &Uuml;berdru&szlig;.&laquo;</p>
+
+<p>Sie standen vor dem Turmbogen, und der Doktor blickte
+verdutzt sein Haustor an, wu&szlig;te nichts zu entgegnen als: &raquo;Sie
+sind verliebt, junger Freund.&laquo; Er hatte bei den Redereien des
+Provisors ein Gef&uuml;hl wie jemand, den man aus dem ersten
+Schlaf weckt, um ihm die Anfangsgr&uuml;nde der Eskimosprache
+beizubringen. Doch tat er verst&auml;ndnisvoll aus Furcht vor einer
+m&ouml;glichen &Uuml;berlegenheit des andern.</p>
+
+<p>&raquo;Richtig: eine meisterhafte Vermutung!&laquo; rief Siebengeist,
+mit dem Stock an das morsche Tor schlagend, da&szlig; es drinnen
+dumpf widerhallte.</p>
+
+<p>&raquo;O, ich bin ein geriebener Hund, was die Weiber betrifft,&laquo;
+sagte der Doktor. &raquo;Ich kenne alle Schliche darin. Wie sieht sie
+aus, was ist sie, wie ist sie?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie sie aussieht? Je nun, das ist schwer. Eine gut funktionierende
+Nase, zwei erfahrene Augen, ein redseliger, l&uuml;gnerischer
+Mund. Wie sie ist? Ebenso feig wie dumm, ebenso
+habgierig wie eitel, ebenso frech wie leer, ebenso gestorben wie
+die andern Leute hier herum. Aber Sie denken, ich spiele deshalb
+den Verschm&auml;her? Ei, Doktor, da irren Sie sich. Der
+<a class="page" name="Page_35" id="Page_35" title="35"></a>Rock ist alles, es lebe der Rock. Genug davon. Zuviel Wucht
+f&uuml;r die taube Nu&szlig;.&laquo;</p>
+
+<p>Unter dem Torbogen des Turms schallte ein leichter Schritt.
+Es ging da ein junges schwarzgekleidetes M&auml;dchen, dessen Kopf
+mit einem Schal verh&uuml;llt war. Es sah nicht aus, als ob sie Eile
+h&auml;tte, denn sie ging mehr f&uuml;r sich hin, verloren und abgekehrt,
+den Kopf leicht vorgeneigt, und in ihrem Schritt war sowohl
+M&uuml;digkeit als auch Vertr&auml;umtheit enthalten. Siebengeist folgte
+ihr mit den Blicken, als ob sich sein Schatten in Bewegung
+gesetzt h&auml;tte, denn es war schon etwas Ungew&ouml;hnliches, da&szlig; zur
+Schlafenszeit in offener Gasse jemand ging, der nicht Eile zeigte,
+schlafen zu gehen.</p>
+
+<p>Des Doktors Schl&uuml;ssel kreischte im verrosteten Schlo&szlig;. Herr
+Maspero, Siebengeist beobachtend, gab seine liebensw&uuml;rdige
+Nachsicht durch ein L&auml;cheln kund, einem Veteranen gleich, der
+beim Anblick der Spielflinte eines Knaben an die gro&szlig;en Schlachtenkanonen
+denkt. Dann verabschiedete er sich in der akademischen
+Steifheit, die ihm eigen war. Er betrat den &ouml;den Flur
+seines Hauses, in dessen Hintergrund bei der Treppe eine nimmerm&uuml;de
+Stehuhr ihr schl&auml;friges Ticken seit Jahrzehnten ert&ouml;nen
+lie&szlig;. Sechstausend N&auml;chte und mehr noch lief das Werk im
+stummen Pflichtgef&uuml;hl, und wenn es abends zehn Uhr war,
+kreischte der Schl&uuml;ssel im verrosteten Schlo&szlig;, und der Zwergdoktor
+sagte irgend einem gute Nacht, der vor dem Tore stand,
+riegelte sich ab von der Welt, machte die alten Dielen durch
+seine kleinen F&uuml;&szlig;e knarren, hob an der Treppe das Kerzchen
+gegen das Zifferblatt, wobei in seinen grauen, unruhigen Augen
+etwas Fragendes aufblitzte, das unbehaglich und &auml;ngstlich den
+Fortschritt der Zeit wahrnahm. Die akademische Steifheit verlor
+sich, das leutselige oder sarkastische L&auml;cheln verschwand. Un<a class="page" name="Page_36" id="Page_36" title="36"></a>sichtbare
+Schatten der Zukunft schienen in dem stillen Haus
+emporzuwachsen, vom Flur bis in die Bodenkammer, und wehe,
+wenn sie einmal so weit gelangten, die beiden gesch&auml;ftigen
+Zeiger der Doktorsuhr stehen bleiben zu hei&szlig;en. So wird den
+Masperos allm&auml;hlich die ganze Welt zu einer Uhr: die Hausmauern,
+von denen der Kalk abbr&ouml;ckelt; der Nachtw&auml;chter,
+dessen Stimme zitternder und leiser die Stunden ruft; der
+Wald, von dessen B&auml;umen die Bl&auml;tter fallen; die Erde, die sich
+mit Schnee bedeckt; die Sonne, die hinter Fr&uuml;hjahrsnebeln
+blutet; ja, sogar die Kinder, denen der Schuster von Jahr zu
+Jahr gr&ouml;&szlig;ere Stiefeln machen mu&szlig;.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Tag wu&szlig;ten die Sechsundsechzig von komischen
+Sachen zu wispern, die sie in der Schule geh&ouml;rt. Von zehn bis
+elf war Geschichtsstunde gewesen, ein Fach, das bisher aus einigen
+Namen und Zahlen bestanden hatte, m&uuml;hsam und &uuml;berfl&uuml;ssig
+zu lernen. Heute war der Lehrer, die H&auml;nde auf dem
+R&uuml;cken, hin- und hergegangen und hatte unaufh&ouml;rlich geredet.
+Ungerechtigkeit sitze auf dem Thron der Erde. Die Geschichte
+sei nichts anderes als die Wissenschaft von der Ungerechtigkeit.
+Was ein Edler unternehme, werde hundert Unw&uuml;rdigen preisgegeben,
+und ist es Gott, welcher das Gl&uuml;ck eines Einsamen bewacht,
+so seien seine Augen matt, seine Sinne ersch&ouml;pft vom
+Anblick der Zerr&uuml;ttung und des &Uuml;bels. So sprach der Unbesonnene
+zu Kindern: Dinge, die weitab vom Kreis seines Amtes
+lagen, und sein Mund zitterte unter dem buschigen, herabh&auml;ngenden
+Schnurrbart. Als das Schulzimmer leer war, setzte er
+sich vor den Globus, und so traf ihn Doktor Maspero, der beim
+B&auml;cker gewesen war und nun aus freundschaftlicher Besorgtheit
+auch den Lehrer besuchte. Philipp Unruhs Blicke waren fest
+auf einen Punkt in der W&uuml;ste Saharah gerichtet, dann liefen
+<a class="page" name="Page_37" id="Page_37" title="37"></a>seine Augen meridianaufw&auml;rts &uuml;ber Hellas und den Hellespont,
+durchsegelten das Schwarze Meer und blieben stumpfsinnig
+nach rascher Landwanderung in der N&auml;he Sibiriens liegen. &raquo;Sie
+werden sich erk&auml;lten bei solchem Klimawechsel,&laquo; scherzte der
+Doktor.</p>
+
+<p>&raquo;&Uuml;berall da leben Menschen,&laquo; erwiderte der Lehrer, mit
+einem vertieften Ausdruck emporblickend. &raquo;Lauter fremde
+Menschen.&laquo;</p>
+
+<p>Der Doktor geriet vor dem grabenden Blick Unruhs in Verlegenheit.
+Er fragte sich umsonst, was er sagen solle.</p>
+
+<p>Die Pausestunden verflossen, und die kurze Schulzeit des
+Nachmittags verging. Der Lehrer wandelte betr&uuml;bt zwischen
+den B&auml;nken umher, und beruhigte so den &auml;ngstlichen Geist der
+Kinder wieder. Gegen Abend klopfte es an die T&uuml;re von Unruhs
+eigenem Zimmer und Apollonius Siebengeist trat ein,
+warf den Hut irgendwohin und den Mantel nach, rieb sich am
+Ofen die H&auml;nde wie jemand, der eintr&auml;gliche Gesch&auml;fte gemacht
+hat, und achtete kaum auf die erstaunten Mienen des Lehrers.
+&raquo;Eine gem&uuml;tliche Stube haben Sie da,&laquo; sagte er, sich fr&ouml;hlich
+umschauend. &raquo;Ich komme zu Ihnen, weil ich niemand hier
+wei&szlig;, mit dem sichs plaudern l&auml;&szlig;t. Die meisten Leute, mit denen
+man redet, h&ouml;ren gar nicht, sondern besinnen sich nur auf die
+Antwort. Heute brauch ich aber partout einen Zuh&ouml;rer und
+ein warmes &Ouml;fchen. Aber Schulmeister! Onkelchen! Sie sehen
+aus wie der selige Griesgram.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Alle meine B&uuml;cher sind mir gestohlen worden,&laquo; murmelte
+der Lehrer klagend.</p>
+
+<p>Siebengeist kratzte seinen Kopf und pfiff leise in die Ofennische.
+Dann machte er ein pfiffiges Gesicht, das ihm au&szlig;erordentlich
+gut stand, trat dicht vor den Lehrer hin und legte
+<a class="page" name="Page_38" id="Page_38" title="38"></a>beide H&auml;nde auf dessen Schultern. &raquo;Und wenn ich Ihnen nun
+verspreche, da&szlig; Sie Ihren Schatz wiederhaben sollen?&laquo; fragte
+er l&auml;chelnd.</p>
+
+<p>Philipp Unruh sprang auf. &raquo;Sie wissen? Was verlangen
+Sie daf&uuml;r?&laquo; rief er mit &uuml;berraschender Leidenschaftlichkeit.</p>
+
+<p>Siebengeist lachte und err&ouml;tete. In seinen Augen war ein
+so merkw&uuml;rdiges, verlorenes Gl&auml;nzen, da&szlig; es wohl jeder bemerkt
+h&auml;tte, der sich besser auf Menschen verstand als dieser
+Philipp B&uuml;cherwurm. &raquo;Allerdings verlange ich etwas daf&uuml;r,&laquo;
+sagte Siebengeist, und sein L&auml;cheln kehrte wieder, das jetzt
+etwas Durstiges und Gedankenfernes hatte. &raquo;Sie kennen doch
+den Theaterdirektor, den Herrn, der mit dem Kleister so k&ouml;niglich
+hantiert? Sie erinnern sich doch? Gut. Gehen Sie heute
+ins Theater. Man gibt die erste Vorstellung. Und wenn das
+St&uuml;ck aus ist, suchen Sie auf irgend eine Weise zu dem majest&auml;tischen
+Herrn zu kommen, kn&uuml;pfen ein Gespr&auml;ch an, indem
+Sie sich entz&uuml;ckt stellen &uuml;ber seine Leistung als Graf oder General
+oder Bettler, was er eben in dem St&uuml;ck vorstellt. Der Mann
+wird butterweich werden, oder ich kenne die Kom&ouml;dianten nicht.
+Dann fangen Sie an, von seiner Truppe zu sprechen, laden ihn
+vielleicht zu einer Flasche Wein ein und kommen so auf Myra
+zu sprechen. Das ist eine von den Schauspielerinnen. Schreiben
+Sie sich den Namen auf: Myra. Einen andern hat sie momentan
+nicht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Myra,&laquo; redete Philipp Unruh nach, nicht begreifend, was
+er solle.</p>
+
+<p>Siebengeist schritt erregt auf und ab, legte die Hand auf die
+Stirn und fuhr etwas leiser und eint&ouml;niger fort. &raquo;Wenn der
+w&uuml;rdevolle Schuft nicht reden will, so schieben Sie ihm Geld
+in die Hand. Ich gebe Ihnen, was Sie brauchen. Fragen Sie
+<a class="page" name="Page_39" id="Page_39" title="39"></a>also nach Myra. Wie sie lebt, woher sie kommt, weshalb sie
+sich beim Theater aufh&auml;lt, ob sie ... ob sie Liebschaften hat
+oder gehabt hat, &#8211; nun, jetzt wissen Sie ja genug. Heiliger
+Himmel!&laquo; Er lachte &uuml;berst&uuml;rzt, setzte sich am Ofen nieder und
+schaute in die Glut. Dann, als verst&uuml;nde er das Schweigen des
+Lehrers, begann er wieder und redete in das Ofenloch hinein:
+&raquo;F&uuml;rchten Sie nicht, da&szlig; Sie etwas Unehrenhaftes tun. Sie
+retten dabei nur mein irdisches Heil. Ich selbst kann es nicht
+&uuml;bernehmen. Ich kann den Namen dieser Person nicht aussprechen,
+ohne etwas zu sp&uuml;ren, &#8211; eine innere Feuersbrunst!
+Und m&uuml;&szlig;te ich h&ouml;ren, wovor mir schon in Gedanken graut, ich
+erschl&uuml;ge den Kleisterbaron, so wahr ich bin. Die Leute beim
+Theater reden wasserklar einer &uuml;ber den andern. Nun, Schulmeister,
+wollen Sie das unternehmen f&uuml;r mich? Hier ist das
+Billett; alles ist vorbereitet.&laquo;</p>
+
+<p>Der Lehrer zauderte, fremdartig ber&uuml;hrt durch das Wesen
+des jungen Mannes. Die Versprechung mit den B&uuml;chern
+erschien ihm pl&ouml;tzlich m&auml;rchenhaft, wie alles, was der Provisor
+tat und sagte. Aber auch das erriet Siebengeist mit der sicheren
+Gabe des von seinen Zwecken ganz erf&uuml;llten Menschen. &raquo;Ihre
+B&uuml;cher, meine Hand darauf, sollen Sie wieder haben!&laquo; rief er
+und f&uuml;gte mit &uuml;bertriebenem Pathos hinzu: &raquo;Es sind da infame
+R&auml;nke im Spiel, die ich zerst&ouml;ren werde.&laquo;</p>
+
+<p>Philipp Unruh reichte dem jungen Mann seine Hand,
+sch&uuml;chtern und voller Zweifel. Siebengeist l&auml;chelte freudig und
+unbefangen und zeigte seine wei&szlig;en Z&auml;hne. &raquo;Ich vertraue
+Ihnen darum das alles,&laquo; sagte er nun wieder in seiner nat&uuml;rlich
+gewinnenden Weise. &raquo;Sie sind ein Stiller, ein stiller Freund.
+Wenn Sie mehr Zutrauen zu sich h&auml;tten, k&ouml;nnten Sie weiter
+oben stehen in der Welt. Berichten Sie mir nur alles, was Sie
+<a class="page" name="Page_40" id="Page_40" title="40"></a>da erfahren, und merken Sie sichs mit dem Herzen. Sie wissen
+nicht, was f&uuml;r mich davon abh&auml;ngt. Beobachten Sie jedes
+Augenzwinkern, jeden Gedankenstrich in der Rede. Die Leute
+sagen vieles ohne Worte. Helfen Sie mir heute, und ich will
+Sie als meinen liebsten Freund betrachten.&laquo;</p>
+
+<p>Siebengeist sagte das mit einer Herzlichkeit, die auch k&uuml;hle
+Seelen erw&auml;rmt h&auml;tte. Der Lehrer h&ouml;rte verwundert zu und
+beinahe mechanisch fragte er: &raquo;Warum nur? Warum?&laquo;</p>
+
+<p>Siebengeist setzte sich an den Tisch, drehte ein wenig an dem
+Docht der Lampe, l&auml;chelte zart und erinnerungsvoll, wobei
+seine Augen strahlend und weit wurden. Dann sagte er, als
+ob er zur Lampe rede: &raquo;Da trifft man irgend einen Wanderer
+auf der Stra&szlig;e, in der Nacht, im Schnee und gleich schmieden
+sich Schicksale zusammen. Und man geht mit dem sonderbaren
+Wesen, spricht kaum, erf&auml;hrt kaum einen Namen, nichts als
+einen lumpigen Theaternamen. Myra! Was f&uuml;r eine unverst&auml;ndliche
+Zusammenstellung von Buchstaben? Bis gestern noch
+etwas so unbekanntes wie der eigene Todestag, heute ein Ereignis,
+von dem alle Stunden schwer sind. Ich begreif&#8217; es nicht,
+was die Leute Erleben nennen. In einem Geheimnis schlendern
+wir herum.&laquo;</p>
+
+<p>Voll Teilnahme, Sympathie und aufrichtiger Gesinnung
+blickte der Lehrer sein Gegen&uuml;ber an. Er ahnte, da&szlig; ihm etwas
+wie ein wirklicher Mensch begegnet sei.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_41" id="Page_41" title="41"></a></p>
+<h3>Sechstes Kapitel</h3>
+
+
+<p class="newsubsection">Ein Brummba&szlig;, zwei Geigen und eine Klarinette machten
+eine vortreffliche Musik vor Beginn des St&uuml;ckes. Der
+&raquo;gro&szlig;e Saal&laquo; des fr&auml;nkischen Hofes, der eigentlich nur eine
+ger&auml;umige Wirtsstube war, f&uuml;llte sich mit Zuschauern. Die
+Sitze der vorderen Reihen bestanden aus wirklichen St&uuml;hlen,
+w&auml;hrend f&uuml;r die minder verm&ouml;genden Leute lange Bretter &uuml;ber
+Bierf&auml;sser gelegt waren. Alles str&ouml;mte herbei, was f&uuml;r Kunst
+und Bildung eingenommen war. Man sah die Spitzen des
+&raquo;Kasino&laquo;, einer preisw&uuml;rdigen Vereinigung der eleganten
+Kreise: die Frau Notar mit ihren T&ouml;chtern, die Frau Oberamtmann,
+die Frau Steuerrat, die Frau Expeditor, die Frau
+Apotheker, die Frau Major, die Frau Schulrat. Sodann
+zeigten sich die weniger ausgezeichneten Damen, die j&uuml;dischen
+Kaufmannsfrauen, die Handwerkerfrauen, welche aus Ehrfurcht
+vor jenen Titularherrlichkeiten nur zu fl&uuml;stern wagten.
+Nicht so gebieterisch nahm sich die vornehme M&auml;nnerwelt aus,
+aber man wei&szlig;, da&szlig; die stumme W&uuml;rde keineswegs die geringere
+bedeutet. Es war eine Luft von Frohsinn und heiterer Erwartung,
+denn so versammelt das Theater stets die gutgestimmten
+Elemente, aller Nebeninteressen entledigt, um im entz&uuml;ckenden
+Spiel, nicht nur vor den Augen der eleganten Kreise, die Macht
+der Kunst zu erproben. Alles ist da einer edleren Erhebung geweiht.
+Niemand stellt sich ein, etwa nur um einen Schauspieler
+zu bewundern, oder um eine kostbare Robe sehen zu lassen, oder
+einen mi&szlig;liebigen Verfasser um den verdienten Erfolg zu
+bringen.</p>
+
+<p>Der Vorhang erhob sich, und mit feierlichem Schritt erschien
+der Direktor, um den dichterischen Prolog des Barons
+<a class="page" name="Page_42" id="Page_42" title="42"></a>von sich zu geben. Der Vortrag des Poems war nicht ohne
+Geschmack. Der Redner schrie oder br&uuml;llte nur, wenn es kaum
+zu umgehen war. Bei der Stelle: Wahrheit und Natur sind
+eins! streckte er beide Arme von sich, wie um ein Gespenst abzuwehren,
+und machte eine Generalpause, &#8211; eine verbl&uuml;ffende
+und gut gew&auml;hlte Einzelheit. Als der Prolog zu Ende war,
+bekam die erste Geige ein ergreifendes Solo zu spielen. Der
+Baron sa&szlig; mit tiefsinnigem und begl&uuml;cktem Gesicht in der
+ersten Reihe, und einige Honoratioren kamen, ihm ger&uuml;hrt und
+mit Achtung die Hand zu sch&uuml;tteln. Seine Frau aber war in
+weicher Hingebung an seine Schulter gelehnt und blickte schmachtend
+ins Leere. Im Grund konnte sie nur schlecht ihre Verstimmung
+und ihren &Auml;rger verh&uuml;llen, denn nicht der Provisor
+sa&szlig; zu ihrer Linken, wie es verabredet war, sondern Philipp
+Unruh. Der wagte weder um sich noch neben sich zu blicken,
+ihn sch&uuml;chterte der vornehme Platz ein, und er war froh, als
+der Vorhang f&uuml;r &raquo;Melchior oder die Leiden des Alters&laquo; aufging
+und eine atemlose Stille im Publikum eintrat. Nur die Baronin
+h&ouml;rte er bisweilen vor sich hinseufzen.</p>
+
+<p>Es kam da ein alter und ein junger Mann vor. Der alte
+Mann hie&szlig; Melchior und war der Vater, der junge hie&szlig; Balthasar
+und war der Sohn. Der Sohn war ein verwerfliches
+Subjekt, denn er wollte Soldat werden, w&auml;hrend der Alte
+w&uuml;nschte, da&szlig; er sich zur Theologie wende. Die Verwerflichkeit
+dieses Sohnes ging so weit, da&szlig; er sich in ein armes M&auml;dchen
+verliebte, und als die betr&uuml;bende Tatsache nicht l&auml;nger zu verheimlichen
+war, erschien das M&auml;dchen selbst vor dem bitterb&ouml;sen
+aber rechtschaffenen Melchior, welcher vom Direktor mit
+dem Gef&uuml;hl eines gekr&auml;nkten Patriarchen gespielt wurde. Die
+Person, welche die Rolle der armen Liebenden spielte, hatte
+<a class="page" name="Page_43" id="Page_43" title="43"></a>zuerst nur wenige Worte zu sprechen; und sie sprach nicht,
+sondern fl&uuml;sterte nur hastig und erschreckt, mit Seitenblicken auf
+die Zuh&ouml;rer. Man hatte sie j&auml;mmerlich kost&uuml;miert: eine Mischung
+von Empiredame und Fabriksm&auml;dchen; aber in ihren
+Bewegungen verleugnete sich jedes Kost&uuml;m, war etwas, das
+anstatt aller Worte redete, und nicht aus der Rolle, sondern
+aus dem Wesen. Dies ist sicherlich Myra, dachte sich der Lehrer,
+und was ihn in Erstaunen und Verwirrung setzte, war Myras
+sch&ouml;ner Mund. Ihn d&uuml;nkte, da&szlig; er einen &auml;hnlichen Mund nie
+gesehen habe. Er sah Trauer und Anmut darin, G&uuml;te und Verschwiegenheit,
+Sehnsucht und fr&uuml;hen Tod. Es waren so j&auml;he
+und starke Empfindungen, da&szlig; er dabei nicht auf sich selbst und
+seine Gedanken achtete, sondern sich nur einer Folge von seltsamen
+Einfl&uuml;sterungen &uuml;bergab. Myra verlie&szlig; den Schauplatz
+und es wurde still auf der B&uuml;hne, obwohl noch immer Leute
+hin- und hergingen und sich erhitzten. Myra kam wieder, und
+die Luft schien von Wohlgeruch, ja von einem weithert&ouml;nenden
+Gesang erf&uuml;llt. Die Lippen des sch&ouml;nen Mundes hoben sich
+und senkten sich in einer sanften, geheimnisvollen Bewegung,
+wie wenn der Nachtwind &uuml;ber zwei Rosenbl&auml;tter huscht, die
+auf einen Marmorstein verweht sind. Und abgesehen von aller
+Schwermut war damit eine Art unsichtbarer, tiefer Heiterkeit
+verbunden, welche vielen Frauen das Seherische und zugleich
+das Vertrauensw&uuml;rdige verleiht. Philipp Unruh sa&szlig; vorgeb&uuml;ckt
+da, hatte seine H&auml;nde flach zusammengedr&uuml;ckt und zwischen die
+Knie geschoben und f&uuml;rchtete, da&szlig; jeder ihn beobachten m&uuml;sse,
+und da&szlig; es um den Ruf seiner Vernunft geschehen sei. Auch
+diese Empfindung war ihm unklar. Sein ganzes Wesen geriet
+in eine Verworrenheit, welche Traumgef&uuml;hle in ihm erzeugte.
+Myras Stimme wurde lauter und klarer, aber wenn sie sprach,
+<a class="page" name="Page_44" id="Page_44" title="44"></a>blieben ihre Z&uuml;ge unbeweglich. Als Schauspielerin mu&szlig;te sie
+das Mitleid eines Kenners wie Doktor Maspero erregen, und
+als die Sache unter gro&szlig;en Bem&uuml;hungen bis zum Vaterfluch
+jenes ungew&ouml;hnlichen Melchior gediehen war, schrieb der erw&auml;hnte
+kritische Herr bedenkliche Notizen auf ein Rezeptpapier.
+Einige Leute, die es sahen, nickten respektvoll einander zu, denn
+der Geist der Verneinung ist an jedem Platze hochgeachtet.
+Melchior begann eben nebst verschiedenen anderen Dingen auch
+sich selbst zu verfluchen, als sich unter den Damen im Zuschauerraum
+eine wachsende Panik bemerkbar machte. Eine Ratte
+lief im Saal umher, verbreitete einen Schrecken, gegen den
+alle Wirkungen des zehnaktigen Lebensbildes verbla&szlig;ten. Stets
+ist es die gemeinsame Gefahr, welches die Standesunterschiede
+verschwinden l&auml;&szlig;t. Bleich und zitternd erhoben sich die Frauen,
+und das Podium f&uuml;r das Schauspiel hatte pl&ouml;tzlich die Bedeutung
+einer Insel im Ozean. Melchior h&ouml;rte auf, Melchior zu
+sein und machte f&uuml;r die Fl&uuml;chtlinge, die nicht bis zur Saalt&uuml;r
+hatten gelangen k&ouml;nnen, die Honneurs. Unten im Ozean waren
+nur noch M&auml;nner ernst und pflichtbewu&szlig;t damit besch&auml;ftigt,
+das Untier aufzusp&uuml;ren und zu t&ouml;ten. Auch Philipp Unruh
+hatte sich erhoben, verlie&szlig; mechanisch den Raum und stand bald
+in dem ver&ouml;deten Wirtsgarten drau&szlig;en. Es wehten milde
+L&uuml;fte, und der Schnee war weich geworden. &Uuml;berall waren
+sickernde Ger&auml;usche vernehmbar; von den B&auml;umen und von den
+Rinnen tropfte das Tauwasser. Vor dem Tor eines Schuppens
+hockten zwei Katzen eng aneinander geschmiegt, und sie r&uuml;hrten
+sich nicht, sondern blickten stumpfsinnig in die flimmernden
+Lichter vom nahen Bahnhof. Nun war weiterhin ein ganz
+finsterer Winkel, denn der Schuppen grenzte an die Kegelbahn,
+und die beiden Mauern bildeten eine tiefe Ecke.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_45" id="Page_45" title="45"></a>Vor der Holzt&uuml;re des Schuppens stand ein kleiner Handwagen
+und daneben eine Bank, auf welche sich der Lehrer setzte,
+Stille vor sich, Stille hinter sich, aber im Innern mancherlei
+Stimmen und Laute. Und als er so in einem Zustand fremdartigen
+Lauschens dasa&szlig;, knirschte der Schnee unter langsamen,
+n&auml;herkommenden Tritten. Eine M&auml;dchengestalt tauchte auf, die
+den Kopf gesenkt trug und am Eck des Schuppens wie erm&uuml;det
+stehen blieb. Als f&uuml;rchte sie, geh&ouml;rt zu werden, setzte sie ihren
+Weg mit kaum vernehmlichem Auftreten fort bis zu dem Handwagen,
+auf dessen Deichsel sie sich setzte, die Ellbogen auf das
+Wagenbrett st&uuml;tzend. Das alles verfolgte Philipp Unruh genau,
+da seine Augen sich l&auml;ngst an das Dunkel gew&ouml;hnt hatten. Aber
+in einem unbewu&szlig;ten Drang von Scham und Furcht wandte
+er seine Augen ab, und in demselben Moment h&ouml;rte er ein
+Schluchzen, dessen Unaufhaltsamkeit offenbar nur durch fest zusammengepre&szlig;te
+Lippen gemildert wurde. Den Lehrer begann
+es am ganzen K&ouml;rper zu frieren, und sein Blick umschleierte
+sich. Er dachte nichts als den m&auml;rchenhaften Namen Myra und
+sah nichts als einen Mund, der sich krampfhaft im Schmerz
+verschlo&szlig;. Hatte sie nicht einmal vier W&auml;nde, um sich ausweinen
+zu k&ouml;nnen? da&szlig; ein dumpfer, kalter Schuppenwinkel
+im Hof dazu dienen mu&szlig;te? Doch wagte er sich nicht zu r&uuml;hren.
+Gequ&auml;lt und bedr&uuml;ckt ging er mit sich zu Rate, als wisse er den
+Grund und w&auml;re f&auml;hig, Hilfsmittel zu finden.</p>
+
+<p>Eine dr&ouml;hnende Stimme rief: &raquo;Myra!&laquo; Die Weinende
+verstummte, erhob sich und ging gegen das Haus. Philipp Unruh
+wartete lange, denn er wollte nicht, da&szlig; ihn jetzt jemand
+aus diesem Winkel gehen sehe. Ihn wunderte die Ruhe der
+Natur. Himmel und Erde schienen ihm noch erf&uuml;llt vom Widerhall
+jenes Weinens. Er stand auf und setzte sich auf die Deichsel
+<a class="page" name="Page_46" id="Page_46" title="46"></a>des Handw&auml;gelchens, das unter seiner Last &auml;chzte. Ihn erstaunte
+es, da&szlig; er nun in demselben engbegrenzten Raume war,
+in dem Minuten vorher Myras Herz geschlagen. Als ob er sich
+eines Amtes unw&uuml;rdig f&uuml;hle, erhob er sich wieder, und seine
+Gedanken richteten sich unvermittelt auf seine &auml;u&szlig;ere Erscheinung,
+auf seine wenig einnehmenden Z&uuml;ge, auf seinen zerzausten,
+r&ouml;tlichen, herabh&auml;ngenden Schnurrbart. Ungeduldig
+verlie&szlig; er die Finsternis und eilte dem Haus zu. Wie gro&szlig; war
+aber sein Schrecken, sein feiger Schrecken, als er Myra noch
+auf der Schwelle stehen sah und hinausstarren in die
+Nacht. Er erkannte im Schein des unbestimmten Lichts,
+das aus dem Flur fiel, wie ihr Gesicht sich j&auml;h belebte,
+als sie ihn aus dem Grunde des Hofes kommen sah. Doch
+blieb er nicht stehen und befand sich bald vor ihr, die sich
+an den Pfosten lehnte, um ihn vorbei zu lassen. Er sp&uuml;rte
+ihren fragenden, unwilligen Blick und sah sie verst&ouml;rt von der
+Seite an. Eine Gewalt von innen hinderte ihn, weiter zu gehen,
+und er murmelte, indem er sich bem&uuml;hte, einen teilnehmenden
+Ton zu w&auml;hlen: &raquo;Ich habe geh&ouml;rt. Aber z&uuml;rnen Sie nicht deshalb.&laquo;
+Gott wei&szlig;, weshalb ihm das alles abenteuerlich und
+entlegen vorkam und er an seine B&uuml;cher dachte, wie an rettende
+Freunde.</p>
+
+<p>Myra erwiderte nichts. Sie nickte nur leicht mit dem Kopf.</p>
+
+<p>&raquo;Kann da niemand helfen?&laquo; fragte Philipp Unruh in kindischer
+Unbeholfenheit, und als er das geringsch&auml;tzige Zucken
+ihres Mundes bemerkte, sagte er stotternd: &raquo;Ich denke, man hat
+die Ratte da drinnen schon erwischt.&laquo;</p>
+
+<p>Das junge M&auml;dchen sah den sonderbaren Kauz mit &Uuml;berraschung
+an, l&auml;chelte und erwiderte: &raquo;Ja, das ganze Nest ist
+leer.&laquo; Damit entfernte sie sich.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_47" id="Page_47" title="47"></a>Unentschieden, welcher Umstand nun den Lehrer mit solchem
+Gl&uuml;cksgef&uuml;hl beschenkte. Vielleicht war es nur das L&auml;cheln, das
+mit eines Gedankens Schnelligkeit &uuml;ber Myras nachdenkliches
+und ersch&ouml;pftes Gesicht geflogen war. Vielleicht, da&szlig; er das
+L&auml;cheln einkassierte wie den Gewinst aus einer Lotterie, und
+da&szlig; dabei etwas in ihm lebendig wurde, wie in jenen Vernachl&auml;ssigten,
+die sich pl&ouml;tzlich auffallend vom Gl&uuml;ck beg&uuml;nstigt sehen.
+Es kam ihm vor, als ob er in einer gesegneten Zeit lebe und in
+einer angenehmen Stadt. Er trank am Gassenschank durstig
+ein Glas Bier; darauf ward ihm mutig zu Sinn, und unternehmenden
+Schritts betrat er die schon ver&ouml;deten Stra&szlig;en.
+Wer schrie da schon wieder beim Haus des Hufschmieds und
+schwenkte gr&uuml;&szlig;end den Hut, um dann schweigend wie vorher
+seinen Weg fortzusetzen? Es war der Herr Adjutant, dessen
+fabelhafte milit&auml;rische W&uuml;rde nur durch seine tiefeinsame Lebensweise
+Glaubhaftigkeit behielt. Philipp Unruh blieb stehen und
+schaute ihm nach. Ein Mann, hatte er sich sagen lassen, der sein
+Verm&ouml;gen im Spiel verloren und Weib und Kind in Armut,
+dem Tod geweiht, verlassen hatte, der Goldgr&auml;ber gewesen war
+und die neugewonnenen Sch&auml;tze bei einem Schiffbruch eingeb&uuml;&szlig;t
+hatte. Und derselbe Mann lief hier umher, begr&uuml;&szlig;te
+l&auml;rmend in der Nacht die Leute, sprach laut und eindringlich mit
+sich selber, ein R&auml;tsel f&uuml;r alle und f&uuml;r Philipp Unruh mit einem
+Mal eine Kundgebung reichsten Lebens, wertvoller als eine
+ganze Bibliothek. Man konnte hingehen und ihn fragen, und
+er konnte erz&auml;hlen mit Lachen und mit Weinen; in B&uuml;chern
+aber erz&auml;hlte nur der Tod in einer bunten Maske. Der Nachtw&auml;chter
+trottete vorbei, lie&szlig; sein Pfeifchen schrillen und leierte
+seinen Singsang ab: da&szlig; man Feuer und Licht bewahren solle.
+Das schl&auml;frige Gesicht gl&auml;nzte &uuml;ber der Laterne, und er grinste
+<a class="page" name="Page_48" id="Page_48" title="48"></a>trunken in den Schnee. Dann kamen hoch vom alten Turm die
+langsamen, dr&ouml;hnenden Stundenschl&auml;ge, um weit hinauszuschallen
+in das Tal der Altm&uuml;hl, in den Wald und in die nahen
+D&ouml;rfer, ein Signal der Ruhe f&uuml;r Weib und Mann, f&uuml;r die Flucher
+und die Betenden, die Lacher und die Schluchzenden, f&uuml;r
+den Adjutanten und f&uuml;r Myra. Es war nicht zu leugnen, da&szlig;
+im Schlaf die Zeit dahingeflossen war, w&auml;hrend ungesehen und
+dem Schl&auml;fer greifbar nah das Lebendige sich abspielte in Feierlichkeit
+und in Humor.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_49" id="Page_49" title="49"></a></p>
+<h3>Siebentes Kapitel</h3>
+
+
+<p class="newsubsection">Vor dem Schulhaus lauerte Apollonius Siebengeist dem
+Lehrer auf, und unbeschreiblich war sein Zorn, als Philipp
+Unruh sein Vers&auml;umnis eingestand. Er schrie, da&szlig; man ihn betrogen
+und verraten habe. Er sagte Schulmeisterlein, und das
+in einem Ton, der beleidigend wirkte. Schlie&szlig;lich aber umarmte
+er den Geschm&auml;hten und sagte, da&szlig; er ihm danke, denn er liebe
+seine Zweifel mehr als jene Gewi&szlig;heit, vor der ihm bangte.
+Doch wurde sein Wissensdurst noch in der selben Nacht gel&ouml;scht.
+Er suchte die Wirtschaft zum lustigen Pfeifer auf, wo als letzter
+Gast ein abenteuerlich aussehender J&uuml;ngling am Ofen sa&szlig;. Es
+war der Komiker des Theaters, wie sich aus einem rasch begonnenen
+Gespr&auml;ch ergab. Wie alle Komiker von Beruf war
+auch dieser nichts weniger als komisch, sondern litt an einer
+b&ouml;sartigen D&uuml;rre des Witzes, die ihm ein gramvolles und verruchtes
+Aussehen gab. Siebengeist lie&szlig; eine ansehnliche Schar
+von Flaschen aufmarschieren, denn bis zur Polizeistunde war
+es noch weit. Der J&uuml;ngling erz&auml;hlte bald von Myra, und es
+zeigte sich, da&szlig; seine Sprache einen Klang ins B&ouml;hmische hatte,
+welcher nicht so sehr die Verst&auml;ndlichkeit als musikalische Wirkungen
+f&ouml;rderte.</p>
+
+<p>Wiederum stand der Mond in klarer H&ouml;he, als Siebengeist
+heimw&auml;rts kehrte, aber nicht mehr als &raquo;sein Feind&laquo;. Es herrschte
+in den Gassen eine Stille, f&uuml;r deren S&uuml;&szlig;igkeit und Lockung es
+nicht Worte noch Gedanken gab. Was da zwischen den H&auml;usern
+zog und ruhte, war wie blaugr&uuml;nes, zartes Gespinst, Mondrauch;
+der Schnee gl&auml;nzte kalt wie wei&szlig;er Atlas. Eine Nacht
+f&uuml;r Myra; wenn sie auch litt, er wu&szlig;te doch wof&uuml;r und Wahrheit
+mu&szlig;te es sei. Tr&uuml;be Dinge, die ein Komiker erz&auml;hlt, sind
+<a class="page" name="Page_50" id="Page_50" title="50"></a>wahr. Sie hatte kein Wanderleben gef&uuml;hrt. Die Mutter hatte
+als Witwe in einer kleinen th&uuml;ringischen Stadt gelebt, wohin
+Schmalichs Wandertruppe kam. Lebenslustig und unzufrieden,
+durch Romanlekt&uuml;re verdorben und unerfahren, hatte sich die
+noch junge Frau dem jungen Liebhaber der Schmiere an den
+Hals geworfen, wollte mit ihm ziehen, der &raquo;Kunst&laquo; ein Opfer
+bringen. Und Myra folgte von Ort zu Ort und wurde erst
+stutzig, als die Mutter im Theater mitzuspielen begann; von da
+an mu&szlig;te sie in Wirrheit und F&auml;hrlichkeit gerissen worden sein.
+Der Mutter schw&auml;rmerisch zugetan, merkte sie nicht deren wachsende
+K&auml;lte, sp&uuml;rte zuletzt nicht ihren Ha&szlig;. Myras Mutter, so
+sagte der Komiker, war eifers&uuml;chtig auf die Tochter, und diese
+Eifersucht durchtr&auml;nkte ihre Handlungen bis in den feindseligen
+Ton eines blo&szlig;en Gru&szlig;es. Myra wu&szlig;te nicht, wie ihr geschah.
+Ahnungslos wie bisher folgte sie an der Seite ihrer Mutter
+dem Wanderleben der Kom&ouml;dianten. Und in Bamberg war
+sie eines Tages allein, lag sie verlassen in einem armseligen
+Gasthof und las die d&uuml;rftigen Abschiedsworte der Mutter. Man
+erinnerte sich bei der Truppe, sie ohnm&auml;chtig im Zimmer des
+Direktors gesehen zu haben. Sie hatte nicht Geld noch Kleider
+noch Freunde, nichts, als was sie sich selbst sein konnte. Man
+erinnerte sich des Tags, an dem sie zum erstenmal im Schauspiel
+aufgetreten war, ein Gegenstand des Hohns f&uuml;r die genialen
+Kollegen trotz der stummen Rolle. Aber Herrn Schmalichs
+Ansicht war, da&szlig; ein reisendes Theater h&uuml;bsche Frauenzimmer
+brauche, und da&szlig; man auch das leidendste Gesicht in ein lustiges
+umschminken k&ouml;nne. Man hatte Myra niemals anders gesehen,
+als sie heute war, und heute schon war es, als tr&uuml;ge sie das
+Bild kommenden Unheils im Herzen. Solchen Augen kann kein
+Gewordensein die Furcht vor dem Werdenden nehmen. Zwi<a class="page" name="Page_51" id="Page_51" title="51"></a>schen
+L&uuml;gen, Schmutz, falscher Heiterkeit und wirklicher Armut
+lebte sie vielleicht gleichm&uuml;tig, vielleicht abwartend hin, und
+Siebengeist sah sich schon als den, welcher erwartet wurde. Zu
+fr&uuml;h erschien ihm ein Geheimnis gel&uuml;ftet, das ihm beim Wein
+offenbart worden. Zu fr&uuml;h nahm er das Geschehene als vergangen,
+lie&szlig; er seiner Hoffnung freien Lauf. Und zwischen ihm
+und dem andern Einsamen im Schulhaus spann die Nacht die
+gleichen F&auml;den der gleichen Gef&uuml;hle und trieb irgendwo das
+Verh&auml;ngnis aus einem abgelegenen Grunde hervor, da&szlig; es
+weiter weben m&ouml;ge, was sie spielerisch begonnen.</p>
+
+<p>Zu Philipp Unruh kam am Morgen der Schulrat.
+Es handelte sich um eine gewichtige Beschuldigung. Die seltsamen
+Reden aus der Geschichtsstunde waren beunruhigend zu
+den Ohren der Schulbeh&ouml;rde gedrungen. Der Herr Schulrat
+hatte ein Bl&auml;schen auf der Nase und au&szlig;erdem ein Horn auf
+der Stirn, da er sich im Traum am Bettpfosten verwundet
+hatte. Beide Verunzierungen jedoch gaben seinem Gesicht
+einen erh&ouml;hten Ausdruck der Amtsgewalt, als k&ouml;nne einzig ein
+Schulrat dar&uuml;ber entscheiden, ob Ungerechtigkeit auf dem Thron
+der Welt residiere. Der Lehrer war erstaunt. Er wu&szlig;te sich
+seiner Worte kaum zu erinnern, und als er vernahm, was er
+selber gesagt, fand er es so widersinnig und abgeschmackt, da&szlig;
+er beredter und liebensw&uuml;rdiger als je den Mann mit Bl&auml;schen
+und Horn vollst&auml;ndig beruhigte. Seiner Leidenschaft f&uuml;r B&uuml;cher
+entsann er sich wie der sonderbaren Torheit eines andern; der
+Verlust der Kiste kam einem gew&ouml;hnlichen Unfall gleich. Die
+Leute, die ihm begegneten, hatten andere Gesichter, andere Bewegungen,
+andere Worte als sonst. Die Kinder im Schulzimmer
+waren nicht mehr so sehr Gegenst&auml;nde, an denen der
+Stundenplan erledigt werden mu&szlig;te. Ihre Augen waren be<a class="page" name="Page_52" id="Page_52" title="52"></a>lebt,
+ihr Ungehorsam schien liebensw&uuml;rdiger, ihre Unwissenheit
+begreiflich, ihre Ungeduld gegen das Stillesitzen des Nachdenkens
+wert.</p>
+
+<p>Als er mittags an der Apotheke vorbeiging, sah er drinnen
+Siebengeist allein, und er trat ein. Der Provisor war mit
+leidenschaftlichen Geb&auml;rden besch&auml;ftigt, in einer kolbenartigen
+Sch&uuml;ssel eine dicke, wei&szlig;liche Masse zu zerreiben. Philipp Unruh
+setzte sich auf die geschnitzte Bank und entschuldigte sein Betragen
+vom gestrigen Abend. Der Provisor lachte, schalt ihn
+einen kreuzverkehrten Bruder, machte die lustigsten Grimassen,
+w&auml;hrend er aus Leibeskr&auml;ften zu reiben fortfuhr. Pl&ouml;tzlich verd&uuml;sterte
+sich sein Wesen, und er erz&auml;hlte andeutend und abgerissen
+einiges von dem, was er &uuml;ber Myra erfahren hatte. Es
+schien, als verlangte ihn selbst nach Rat und Klarheit, doch der
+Lehrer konnte nicht Einblick gewinnen in das Wirrsal der Erz&auml;hlung.
+Er schwieg beharrlich, w&uuml;nschte, nichts geh&ouml;rt zu haben,
+und Siebengeist fing wieder an, gesichterschneidend seine Salbe
+zu reiben. Pl&ouml;tzlich beugte er sich zu Unruh herab, fl&uuml;sterte,
+den Mund nahe dessen Ohr und den Arm gegen eine T&uuml;r im
+dunkelsten Hintergrund ausstreckend. &raquo;Es steht eine dort auf
+der Schwelle und lauscht. Bin ich jemand verschuldet, der mir
+die Taschen mit Geschenken vollstopft? Ich nahm von jeder
+Dirne im Haus, wie es die Nacht gewollt. Darf man sich darum
+an meine Schuhe klammern und meine Kraft verringern, das
+zu erobern, woran mein Leben h&auml;ngt? Wohlgemerkt, nicht
+jedes Sp&auml;nchen Holz macht eine warme Stube!&laquo; Er hatte den
+Lehrer unter den Arm gefa&szlig;t und den Versch&uuml;chterten scheinbar
+absichtslos in die Ecke gef&uuml;hrt. Nun ri&szlig; er die T&uuml;re auf und
+sagte die letzten Worte laut, fast schreiend. Vor den beiden
+stand die Baronin, zitternd, linnenwei&szlig; im Gesicht und blickte
+<a class="page" name="Page_53" id="Page_53" title="53"></a>gemartert den Flurgang hinab gegen die Stra&szlig;e. Siebengeist
+lachte und schlug die T&uuml;re wieder zu.</p>
+
+<p>Es kam nun so viel Schw&uuml;les, &Uuml;berraschendes und Neues,
+da&szlig; die Zeit gewisserma&szlig;en ihre Abgemessenheit verlor. Ein
+Umhertaumeln zwischen Wissen und Erraten, zwischen Angst
+und Mut, zwischen F&uuml;lle und Entbehrung, ein Atmen in zitternder
+Luft, Reden ohne Besinnung, Tr&auml;umen ohne Schlaf,
+Bilder, die vom Sturm vorbeigejagt und manche doch dauernder
+als Stein.</p>
+
+<p>Philipp Unruh sa&szlig; in der kleinen Schankstube des fr&auml;nkischen
+Hofs. Es war wieder kalt geworden, und die Scheiben
+zeigten Eisfiguren, trotzdem die Sonne vom blauen Himmel
+schien. Der Wirt und ein Viehh&auml;ndler aus N&ouml;rdlingen sa&szlig;en
+kartenspielend beim eisernen &Ouml;fchen. Aber das Geknister des
+lustigen Feuers wurde bald &uuml;bert&ouml;nt von zornigen und heiseren
+M&auml;nnerstimmen aus dem Theatersaal. Es ist eine Schauspielprobe,
+dachte der Lehrer, jedoch trat alsbald der Bonvivant
+aus dem Theater in die Schankstube, verlangte grimmig einen
+Krug Bier und erz&auml;hlte grimmig in demselben Atem, da&szlig; die
+sentimentale Liebhaberin sich weigere, dem Kritiker ihren Verehrungsbesuch
+abzustatten. Dergleichen sei noch nicht dagewesen,
+so lange man Kom&ouml;die spiele zwischen Himmel und
+Erde, und sei um so abscheulicher, als der Doktor Maspero ein
+charmanter Herr sei, welcher vortrefflichen Schnaps vorzusetzen
+wisse. Der Wirt hieb mit Ger&auml;usch die Trumpf-A&szlig; auf den
+Tisch; der Viehh&auml;ndler schielte den Schauspieler b&ouml;sartig an.
+Im Saale war es still geworden, und auf einmal kam Myra
+heraus. Philipp Unruh schaute sie eine Sekunde lang mit blinzelnden
+Augen an, sah dann feig in eine Ecke, und es schien ihm,
+als s&auml;nken seine Schultern schwer gegen den Tisch. Das M&auml;dchen
+<a class="page" name="Page_54" id="Page_54" title="54"></a>hatte purpurrote Wangen, doch ihre Stirne war bleich, ihr Blick
+leer, unsicher, stechend, ihr R&uuml;cken ein wenig gekr&uuml;mmt. Sie
+ging, als suche sie einen Ausgang, und blieb dann stehen wie in
+eine Falle geraten. Herr Schmalich kam hinter ihr her, und
+auf seinen Mienen dr&uuml;ckte sich Verlegenheit aus. Sie wandte
+sich gegen den Direktor und sagte leisen Tones und mit erschreckender
+Schnelligkeit eine Reihe von Worten, welche niemand
+verstehen konnte. Ihre Stimme wurde immer lauter,
+doch die Worte verloren alle Artikulation. Aus dem Theaterraum
+kamen zwei dicke Schauspielerinnen und der Heldenvater
+und spendeten lachend Beifall, w&auml;hrend der Wirt und
+sein Kartenkumpan aufgeregt n&auml;her traten. Jetzt begann Myra
+selbst zu lachen, und zwar so, da&szlig; der Lehrer wie Einhalt gebietend
+seine bebenden Arme gegen sie ausstreckte. Da st&uuml;rzte
+sie auf den Boden, und Schaum quoll von ihren Lippen. Alle
+waren stumm und bla&szlig; geworden und r&uuml;hrten sich nicht. Philipp
+Unruh, der sich selbst und jede Scheu verga&szlig;, st&uuml;rzte herzu,
+kniete auf den Boden, legte den Arm unter ihren Hals, murmelte
+verst&ouml;rt vor sich hin und beugte suchend sein Gesicht gegen das ihre.</p>
+
+<p>Er konnte es niemals vergessen. Niemals die halbgeschlossenen
+und halberloschenen Augen, ob ha&szlig;erf&uuml;llt, ob dankbar, er
+wu&szlig;te es nicht. Er konnte die nahe W&auml;rme ihres K&ouml;rpers nicht
+vergessen, das verwirrte schwarze Haar, das seine Schl&auml;fen
+streifte. Er empfand immerfort den Druck ihres Nackens auf
+seinem Arm, den Hauch ihres Mundes neben seiner Hand.
+Als er zitternd in der Schankstube kniete, voll Furcht, da&szlig; man
+sie ihm raube, wollte er an kein Weiterleben denken, welches
+sich nur die Erinnerung zum Besitz machen konnte.</p>
+
+<p>Andere Dinge kamen. Ihr Name erf&uuml;llte die Luft bei
+allem, was geschah. Der Apotheker schickte in mysteri&ouml;ser Weise
+<a class="page" name="Page_55" id="Page_55" title="55"></a>her&uuml;ber, um Unruh holen zu lassen. Als der Lehrer kam, schritt
+der blasse Baron in bedeutsamer Gangart im Zimmer auf und
+ab, erkl&auml;rte ganz ohne weiteres, da&szlig; der k&uuml;nstlerische Geist im
+Ort gehoben werden m&uuml;sse, da&szlig; er als Gemeinderat bereits in
+solchem Sinn vorgegangen sei und eine gewisse Summe zur
+Verf&uuml;gung gestellt habe, um das treffliche Institut des Herrn
+Schmalich f&uuml;r die Dauer des Winters zu subventionieren. Ja,
+dann k&auml;me ein neuer Wind, ja, dann k&auml;me ein edles Feuer
+unter die lauen Gem&uuml;ter. Er selbst habe ein Theaterst&uuml;ck verfertigt;
+er wolle weiter nichts verraten, aber es suche seinesgleichen.
+Darauf schob er an beiden T&uuml;ren die Riegel vor, lud
+seinen Gast ein, vor dem prachtvoll mit Wein und kalten Speisen
+gedeckten Tisch Platz zu nehmen, r&uuml;ckte die Lampe zurecht und
+schlug eine sehr dicke Handschrift auf. Dieses Drama aller
+Dramen besch&auml;ftigte sich ausschlie&szlig;lich mit einer neuen und respektablen
+Idee, wie man die W&auml;lder vor g&auml;nzlicher Ausrottung
+sch&uuml;tzen k&ouml;nne. Aber von alledem h&ouml;rte der Lehrer nur das
+eine, da&szlig; er nicht zu f&uuml;rchten brauche, Myra heute oder morgen
+entschwinden zu sehen, und er liebte dieses stundenlange Trauerspiel,
+von welchem seine Hoffnungen sich l&ouml;sten gleich farbigen
+Abendwolken aus tr&uuml;bem Moor.</p>
+
+<p>Tag und Nacht, Dunkelheit und Sonnenlicht wechselten
+nach anderen Gesetzen als bisher, wie wenn der Wille, dem der
+Weltkreis untertan, neue Erscheinungsformen erdacht h&auml;tte. Es
+waren sonderbare Empfindungen, die Philipp Unruhs Herz
+best&uuml;rmten, als er, beim Biere sitzend, in demselben Raum wie
+wenige Stunden vorher, Myra sich gegen&uuml;ber sah. Drei Schauspieler
+befanden sich bei ihr am Tisch, und sie l&auml;chelte wie jemand,
+der alles mit Entschlossenheit abgeworfen hat, was ihn bel&auml;stigte.
+Doch war das L&auml;cheln fremd und unerkl&auml;rbar durch
+<a class="page" name="Page_56" id="Page_56" title="56"></a>seine Dauer und verursachte, da&szlig; man das eigentliche Gesicht
+nur wie durch eine unendlich d&uuml;nne Maske erkennen konnte.
+Die Wangen waren noch ebenso rot, die Stirn noch ebenso
+bleich, der Hals noch ebenso vorgestreckt, so da&szlig; der R&uuml;cken gekr&uuml;mmt
+erschien. Die verkniffenen Augen blickten mi&szlig;trauisch,
+listig, ziellos, bis pl&ouml;tzlich eine Art Schrecken in sie geriet, der
+sie aufri&szlig;. Sie sah den Lehrer nicht, sah &uuml;berhaupt nichts.
+Sp&auml;ter lachte sie &uuml;ber alles, was der Komiker sagte, und darnach
+erhielten ihre Z&uuml;ge einen halb unwilligen, halb trostlosen Ausdruck.</p>
+
+<p>Die Mutter Myras und der Galan kamen zur&uuml;ck. Sie hatten
+offenbar in der Welt mehr Hunger als Vergn&uuml;gen gefunden.
+Die ehedem wohlhabende Witwe hatte schon alles verschleudert,
+was sie besessen. Mit der einen Hand hatte sie Liebe gegeben,
+mit der andern Geld; dementsprechend war die eine beschmutzt,
+die andere leer. Zwischen Tr&uuml;bsinn und &uuml;berreizter Laune verzehrte
+sich ihr Gem&uuml;t, und viele Stunden lang konnte sie damit
+zubringen, sich zu schminken, zu putzen, zu verj&uuml;ngen. Am
+ersten Tag schon war es so, sa&szlig; sie bis in den Nachmittag vor dem
+Spiegel, rechts und links je zwei Kerzen, denn drau&szlig;en war
+dicker Nebel. Dann kam der Schauspieler, und Myra mu&szlig;te
+gehen. Sie erhob sich vom Kaffeetisch und lie&szlig; die volle Tasse
+unber&uuml;hrt. Der schlanke junge Mann, dessen Gesicht etwas
+von einem C&auml;saren und etwas von einem Sch&auml;ferhund hatte,
+sah ihr nach; er wu&szlig;te genau, was sie bei ihm zur&uuml;cklie&szlig;, und sie,
+f&ouml;rmlich verwundet von seinem Blick, ging die Gasse hinauf und
+traf Siebengeist unter dem Turmbogen. Sie atmete schwer,
+h&ouml;rte kaum die Worte ihres Begleiters und bat, er m&ouml;chte sie
+in den Wald f&uuml;hren. Sie wanderten also gegen den Burgstall
+hinauf (so hei&szlig;t der Wald), und es war, als schritten sie
+<a class="page" name="Page_57" id="Page_57" title="57"></a>durch feuchten, bleiernen, grauen Rauch, so dick und lastend
+lag der Nebel. Siebengeist verstummte bald. Zuf&auml;llig kam
+Philipp Unruh von den Holzschuppen her&uuml;ber und stand mit
+einem Mal vor dem schweigenden Paar. Ihm war, als habe
+ihn ein Schu&szlig; getroffen, und es rieselte ihm kalt durch Mark
+und Bein. J&auml;hlings deckten sich ihm geheimnisvolle Beziehungen
+auf, die bisher gleichsam hinter H&auml;usermauern verborgen
+waren, und ein allgemeiner, aber st&uuml;rmischer Menschenha&szlig; erwachte
+in seiner Seele. Doch wie es ihm aus Visionen vertraut
+war, ging ihm Myra einen Schritt entgegen. Sie stand
+so nahe bei ihm, da&szlig; er ein Schneefl&ouml;ckchen auf ihren Wimpern
+gewahren konnte, welches langsam zerschmolz. Sch&uuml;chtern und
+freundlich sagte sie: &raquo;Sie sind gut gegen mich gewesen, ich wei&szlig;
+es, ich danke Ihnen. Gehen Sie doch ein wenig mit uns.&laquo;
+Er schaute zu Boden und lachte lautlos, stotterte zwei, drei
+Worte. Dann schaute er vor allem den kindlich sch&ouml;nen Mund
+an, der dies gesprochen, und ein unbez&auml;hmbarer Wunsch erwachte
+in ihm, der um sich griff wie Feuer im d&uuml;rren Buschwerk.
+Er w&uuml;nschte, jenen Mund k&uuml;ssen zu d&uuml;rfen, nichts weiter;
+aber das versetzte sein Wesen in einen Taumel, der ebenso
+nahe der Verzweiflung wie der Erf&uuml;llung war. Mehr als ein
+Traum und eine &auml;u&szlig;erliche Begierde; mehr als das blo&szlig;e Aufwachen
+zu einem Wertbewu&szlig;tsein; mehr als die Hoffnung auf
+ein mittelm&auml;&szlig;iges Gl&uuml;ck. Es war der elementare Schmerz und
+Rausch des dumpfen Menschen, der mit Raubtierkraft an
+Gittern r&uuml;ttelt, deren Vorhandensein er nicht begreifen will.</p>
+
+<p>Myra hatte pl&ouml;tzlich das Verlangen, Schneeball zu werfen.
+Alle drei nahmen auf einem freien St&uuml;ck Feld vor dem Wald
+Aufstellung. Das junge M&auml;dchen war fr&ouml;hlich bei der Sache,
+und der Lehrer sog ihr Wesen in sich auf wie Lebensnahrung.
+<a class="page" name="Page_58" id="Page_58" title="58"></a>Er sprach nicht, weder bei dem Spiel, noch bei dem Waldgang
+sp&auml;ter. Eine innige, &uuml;berzeugende Gestalt wandelte an seiner
+Seite. Er h&ouml;rte ihre gepre&szlig;ten Worte, die sie aus allen Winkeln
+des Raums zusammenzusuchen schien, und die sie unsicher sprach
+mit milder Stimme und bittender Geb&auml;rde. Er sah, wie sie
+sch&uuml;chtern Fragen stellte und sch&uuml;chtern l&auml;chelte, wie sie &uuml;ber
+nichts in der Welt gen&uuml;gende Klarheit erhielt und jeden anstaunte,
+der mit Sicherheit eine Behauptung aufzustellen wu&szlig;te;
+wie vieles ihr gefiel und wie viel sie besitzen mochte und wie sie
+zugleich dar&uuml;ber unruhig war und die F&uuml;lle ihres W&uuml;nschens
+als Vergehungen empfand; wie sie mit Sympathie umgeben
+war wie der Erdball mit Luft und wie sie gleichwohl f&uuml;rchtete,
+von jedermann geha&szlig;t zu sein: ein Wesen aus Fleisch und Blut,
+eine von denen, die f&uuml;r das Gl&uuml;ck geschaffen scheinen.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_59" id="Page_59" title="59"></a></p>
+<h3>Achtes Kapitel</h3>
+
+
+<p class="newsubsection">Siebengeist war ein gro&szlig;m&uuml;tiger Lustigmacher, der sich selbst
+vergessen konnte, um Myra zu erheitern. Wenn er anfing,
+zu plaudern und Gesichter zu schneiden, blieb sie nicht ernst. Was
+trieb er doch nicht alles! In derselben Stunde war er Fabulist
+und Taschenspieler, Schlangenmensch und komischer Musikant,
+sprang &uuml;ber die Tische und parodierte die Schauspieler, formte
+Damen aus Schnee und dichtete n&auml;rrische Sonette &uuml;ber seine
+Laufbahn als Apotheker. Myra hatte viel Freude an ihm.
+Sie schenkte ihm einen schmalen Reif mit einem winzigen Rubin,
+und daf&uuml;r gab ihr Siebengeist ein goldenes Herz, welches die
+Inschrift trug: <em class="antiqua">vers Dieu va.</em> Philipp Unruh f&uuml;hlte sich als
+Zaungast und suchte Einsamkeit. Unsichtbar ging Myra an
+seiner Seite bei den weiten Spazierg&auml;ngen, unsichtbar ging
+sie in seinem Haus umher. Unh&ouml;rbare Reden wechselte sie mit
+ihm, schenkte ihm Vertrauen, billigte seine Entschl&uuml;sse. So
+erhielten sein Sehen und Denken, seine Geb&auml;rden und Worte
+eine verzweifelte und verschwiegene Glut. Auf allen Wegen,
+an allen Mauern stand ihr Name, und wurde er wirklich genannt,
+so erschrak der Lehrer wie ein Verbrecher, der unerkannt
+die Fr&uuml;chte seiner Tat genie&szlig;t. So vor Doktor Maspero, der
+beim n&auml;chtlichen Heimgang von Myra sprach.</p>
+
+<p>Der Provisor sei ein Narr, meinte dieser gescheite
+Mann, und alle Welt habe recht, ihn zu verdammen
+wegen seiner Narrheit. Was f&uuml;r eine Bedeutung habe dies
+t&ouml;richte Scharmuzieren? Ein bettelarmes Pers&ouml;nchen, das
+weder h&uuml;bsch noch klug sei und zweifellos einen wahnsinnigen
+Zug in den Augen trage. Niemand wisse, was sie
+dabei wolle.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_60" id="Page_60" title="60"></a>&raquo;Ein altes Wort lautet: was ein Weib will, das will Gott,&laquo;
+murmelte der Lehrer.</p>
+
+<p>&raquo;So? Eine jammervolle Sentenz, Schulmeister! Ich glaube,
+Ihnen sitzen Gespenster im Magen. Sei&#8217;s drum! Ich g&ouml;nne
+jedem sein Pl&auml;tzchen an der Sonne. Gute Nacht.&laquo;</p>
+
+<p>Der Lehrer f&uuml;hlte sich verlassen. Er blickte sp&auml;hend durch
+die fallenden Schneeflocken, als erwarte er einen Freund, mit
+dem er die Nacht verbringen k&ouml;nnte. In der Tat tauchte eine
+schwarze, hagere Gestalt aus der Finsternis auf. Es war der
+Herr Adjutant. Beim Anblick des Lehrers packte er sofort begeistert
+seinen Hut, schwenkte ihn gegen das Firmament und
+schrie den Abendgru&szlig;, als ob er seinem Landesf&uuml;rsten zujauchzte.
+Gleich darauf ging er wieder stelzengerade und lautlos seines
+Weges weiter, und sein gravit&auml;tischer Schritt machte den Schnee
+klirren. Philipp Unruh empfand auf einmal eine wunderliche
+Sympathie f&uuml;r diesen Mann, der seine einsame Wohnung nur
+mit einem z&auml;rtlich geliebten Affen teilte, dem er den aparten
+Namen K&uuml;mmerlich gegeben hatte.</p>
+
+<p>Neben der Post befand sich ein uraltes Geb&auml;ude, in welchem
+Myra mit ihrer Mutter wohnte. Die zwei Fenster waren erleuchtet
+und durch gelbe Rollvorh&auml;nge verdeckt. Der Lehrer
+stand im Schnee auf der andern Seite der Gasse und lehnte
+sich an die T&uuml;re des K&uuml;rschnerladens. Eine Silhouette ward
+auf dem Vorhang sichtbar: das Profil eines Mannes, das auftauchte
+und verschwand. Dann erschien derselbe Kopf noch
+einmal, nahe beim Fenster und deshalb sehr klein und scharf und
+wurde unter best&auml;ndigem lebhaften Nicken immer gr&ouml;&szlig;er. Ein
+zweites Bild, ein Frauenhaupt erschien daneben, und beide
+verharrten nun in Ruhe, als ob sie sich unverwandt ans&auml;hen,
+neigten einander zu, wichen von neuem zur&uuml;ck, und gleichzeitig
+<a class="page" name="Page_61" id="Page_61" title="61"></a>erschien am zweiten Fenster ein anderer Schatten, bei dessen
+Anblick sich Philipp Unruhs Stirne unwillk&uuml;rlich verd&uuml;sterte.
+Dieser Schatten, klar begrenzt von Licht, war den beiden &uuml;brigen
+bewegungslos zugewandt, als fl&ouml;sse sein Dasein von ihnen aus.
+Haare fielen abenteuerlich in die Stirn, deutlich war die feine
+Nase gezeichnet, deutlich der verschlossene Mund. Das ganze
+Spiel der drei k&ouml;rperlosen Gestalten hatte etwas so Unwirkliches
+und Phantastisches, da&szlig; der Lauscher bisweilen staunend
+in die Dunkelheit starrte, auf die friedlichen H&auml;user im Umkreis,
+und mit eigent&uuml;mlicher Gewalt die Ruhe sp&uuml;rte, die in allen
+schneebedeckten Gassen ausgebreitet war. Aber dies erschien
+ihm nur als ein t&auml;uschendes Kleid, unter dessen unbewegten
+Falten verheerende Leidenschaften br&uuml;teten, um die Erde zu
+bedrohen und zu ersch&uuml;ttern. Er selber war ergriffen, ja gefoltert
+und wagte nicht, dar&uuml;ber ins klare zu kommen. Ungeduldigen
+neuen Lebens voll, sah er millionenfaches Leben um
+sich in eisiges Schweigen geh&uuml;llt durch die stummen Kr&auml;fte
+der Natur.</p>
+
+<p>Nun geschah etwas Sonderbares. Die beiden Schatten erhoben
+sich gleichzeitig, ohne von einander zu weichen. Der
+dritte Schatten streckte die Arme aus, flehentlich oder beschw&ouml;rend.
+Dann glitt der eine Frauenschatten zum zweiten Fenster.
+Die ausgestreckten Arme fielen herab, und die ganze Gestalt
+versank. Die zweite wuchs geisterhaft empor, beugte sich auf
+und nieder mit be&auml;ngstigender Hast. Die Silhouette des Mannes
+stand regungslos, eine Hand gegen das Gesicht gepre&szlig;t, &#8211; und
+pl&ouml;tzlich ward alles schwarz und finster.</p>
+
+<p>Der Lehrer seufzte bang. Unschl&uuml;ssig und erratend stand
+er da, als ein Tor zugeschlagen wurde und jemand auf die
+Stra&szlig;e gest&uuml;rzt kam. Unruh sah, da&szlig; es Myra war, in blo&szlig;en
+<a class="page" name="Page_62" id="Page_62" title="62"></a>Kleidern, ohne winterliche H&uuml;lle, und mit einem halben Ausruf
+schritt er ihr entgegen. Mit tastendem Schritt n&auml;herte sie
+sich ihm, und er sp&uuml;rte ihre Hand in seinen Arm sich f&ouml;rmlich
+einkrallen. Mit einem Blick, der von Angst, Ersch&ouml;pfung und
+Verzweiflung stier geworden war, schaute sie gleichsam durch
+sein Gesicht hindurch. Das alles geschah lautlos. Auch im Hause
+regte sich nichts, und die Fenster oben blieben schwarz.</p>
+
+<p>Philipp Unruh sah ein Gesch&ouml;pf vor sich, auf dessen Wort
+und Aufschlu&szlig; er nicht rechnen durfte, das nur noch mit einem
+Schein &auml;u&szlig;eren Lebens begabt, sich ihm &uuml;berlie&szlig; wie ein Gegenstand.
+Die augenscheinliche Gefahr, die au&szlig;erordentlichen Umst&auml;nde
+verliehen ihm Besinnung und Kraft des Entschlusses.
+Seine scheuen, dumpf brennenden Gef&uuml;hle verkrochen sich in
+der Stunde der Tat. Er nahm Myra auf den Arm und eilte
+mit ihr durch die Nacht dem Schulhaus zu. Leicht schien ihm
+seine Last, aber das ungewisse Vibrieren des K&ouml;rpers in seinen
+Armen lie&szlig; beinahe sein Blut stocken. Die leere, stumme Nacht
+eilte vor ihm her und verwirrte seinen Blick. Er fragte sich
+gar nicht, wohin er anders mit der willenlosen Myra gehen
+k&ouml;nne, als in seine eigene Behausung. Er h&ouml;rte hinter sich, doch
+ziemlich ferne schon, Stimmen in der Finsternis, und eine davon
+schrie in hellem Ton immer wieder dasselbe Wort. Er achtete
+nicht darauf, sah nur mit Neugierde und Mi&szlig;trauen die Stra&szlig;e
+entlang, denn ihm schien, als sei er in ein bisher unbekanntes
+Land geraten.</p>
+
+<p>Das Schulhaus, ihm l&auml;ngst vertraut in jedem Winkel, barg
+heute Gefahren. Unter dem Stiegeneck waren gl&auml;nzende Augen.
+Hoch im Gitterfenster leuchtete ein verr&auml;terisches Licht. Es war
+kein Mensch im ganzen Geb&auml;ude, denn die Wirtschafterin schlief
+im Haus des alten L&ouml;wy. Bis zur Kraftlosigkeit ermattet, nach
+<a class="page" name="Page_63" id="Page_63" title="63"></a>Atem keuchend, schleppte er Myra die Treppen empor, stie&szlig;
+die Zimmert&uuml;re auf, legte das junge M&auml;dchen auf das Bett
+und machte Licht.</p>
+
+<p>Sie hatte die Augen geschlossen. Zum erstenmal sah er ihr
+Gesicht bleich. Er benetzte ihre Schl&auml;fe mit Wasser und murmelte
+ihren Namen vor sich hin. Sie r&uuml;hrte sich nicht. Er legte das
+Ohr auf ihre Brust, und als er keinen Herzschlag vernahm,
+wurden vor Schrecken seine Augen feucht. Die verbrecherische
+Kraft eines kaum geahnten Wunsches habe ihn gezwungen,
+sie hierherzubringen, so glaubte er jetzt. Er ri&szlig; das Fenster auf,
+um jemand zu ersp&auml;hen, der zum Doktor laufen k&ouml;nne. Aber
+der Hof lag finster und &ouml;de. Er schrie: Johanna! dann: Kunigunde!
+und noch einige, denen er vielleicht den Schlaf aus den
+Lidern rufen konnte. Er rannte ins Schulzimmer, schaute dort
+hinaus, stra&szlig;auf, stra&szlig;ab, aber er wurde nichts gewahr als
+eine dr&uuml;ckende Verlassenheit, die sich zu regen schien unter dem
+gleichm&auml;&szlig;igen Fall der Schneeflocken.</p>
+
+<p>Jedoch als er zur&uuml;ckkam, von Frost und Angst gesch&uuml;ttelt,
+sa&szlig; Myra aufrecht im Bett.</p>
+
+<p>Sie l&auml;chelte; ein wunderliches, stumpfes, unver&auml;nderliches
+L&auml;cheln. Die sch&ouml;ne Rundung der Unterlippe, die feine, etwas
+tr&auml;umerische Linie der oberen traten in bezaubernder Klarheit
+hervor. Von einer eigent&uuml;mlichen, furchtsamen Freude ergriffen,
+sagte der Lehrer: &raquo;Sie sind wach?&laquo; und seine Stimme
+bebte. Sein Beginnen kam ihm frevelhaft vor. Er hatte sich
+ihrer bem&auml;chtigt, das war es. Eine Verantwortung nahte, vor
+der er zusammenbrechen w&uuml;rde. Er bewunderte und f&uuml;rchtete
+zugleich jene Person, die er selbst noch vor einer halben
+Stunde gewesen war, jene wild und unbek&uuml;mmert handelnde
+Person. Sorgenvoll und &uuml;berlegend stand er auf der Schwelle,
+<a class="page" name="Page_64" id="Page_64" title="64"></a>der Rechenschaft gew&auml;rtig, die man von ihm fordern w&uuml;rde.
+Aber in seiner innersten Seele ergriff er Besitz von Myra
+und ging mit sich zu Rate, ob er nicht das Tor vor Eindringlingen
+sch&uuml;tzen solle. Endlose Stunden der Nacht w&uuml;rden folgen,
+und am Morgen? Das Ende von allem.</p>
+
+<p>Das junge M&auml;dchen schauderte vor der hereinflie&szlig;enden
+K&auml;lte, und so schlo&szlig; er die T&uuml;re. Er setzte sich an das Bett und
+fragte Myra, ob sie krank sei, er wolle gehen und den Arzt holen.</p>
+
+<p>Sie antwortete nicht, sondern blickte aufmerksam ins Licht
+der Lampe. Mit traurigen Augen sah sie der Lehrer an. In
+wahrhaft ungest&uuml;mer Gewalt erwachte der Wunsch in ihm, den
+so nahen Mund zu k&uuml;ssen. &Uuml;berlegungen wie Kriegspl&auml;ne formten
+sich, und er blickte dabei zur&uuml;ck auf sein Leben wie in eine
+graue, regnerische Heide. Er lehnte die Stirn an den Bettpfosten
+und fing unvermittelt zu weinen an wie ein Knabe.
+Die Erkenntnis seiner Leidenschaft und seines leidenschaftlichen
+Gem&uuml;tes machte ihn in hohem Grade best&uuml;rzt, wie es oft bei
+religi&ouml;sen und einsamen Naturen der Fall ist.</p>
+
+<p>&raquo;Ach, du bist es, Wilhelm?&laquo; sagte Myra tonlos. &raquo;Warum
+liest du mir nicht vor? Lies mir doch vor aus dem lustigen
+St&uuml;ck.&laquo; Sie l&auml;chelte wie fr&uuml;her und legte ihre Hand auf die
+seine. Philipp Unruh richtete sich auf und hielt zitternd ihre
+Hand fest. Er vermeinte seine eigenen Gedanken zu sehen,
+wie sie auf einmal wirr und schwarz wurden.</p>
+
+<p>&raquo;Nimm dasselbe Buch,&laquo; fuhr Myra leise fort. &raquo;Du wei&szlig;t,
+was du auf eine leere Seite geschrieben hast. Es war das
+Sch&ouml;nste, Seligste. Die Mutter hat es gelesen und kam mit
+dem Messer gegen mich. <em class="antiqua">Oh, cela ne fait rien,</em> sagt Madam
+Biraud. Du siehst es ja, ich lache und jetzt lies, lies vor!&laquo;</p>
+
+<p>Als Philipp Unruh z&ouml;gerte, wurde sie ungeduldig, und ihr
+<a class="page" name="Page_65" id="Page_65" title="65"></a>Mund verzog sich gramvoll. Da griff er mechanisch nach jener
+Ansbacher Chronik, die ihm allein von seinen B&uuml;chern geblieben
+war, bl&auml;tterte mit bebenden Fingern und las von alten Ereignissen,
+vom markgr&auml;flichen Leben am Hof, von den Emigranten,
+von Denkm&auml;lern und Baubefugnissen, von Pest und Kriegsplage,
+kurz, was eben in solch einer Chronik Wichtiges zu stehen
+pflegt. Inhaltsloser und sinnloser waren ihm niemals Worte
+vorgekommen. Ihm schien, als gr&uuml;be er Staub aus finstern
+Verstecken. Myra lauschte entz&uuml;ckt jeder Silbe und freute sich,
+als ob es eine am&uuml;sante Szene sei, deren Entwicklung sie zu
+h&ouml;ren bekomme. Allm&auml;hlich wurden ihre Z&uuml;ge schlaff; sie lehnte
+sich zur&uuml;ck, ihre Augen schlossen sich, und sie schien zu schlafen,
+w&auml;hrend der Lehrer aufgew&uuml;hlten Herzens weiter las, den
+stillen Raum mit seinen monotonen Lauten f&uuml;llend.</p>
+
+<p>Pl&ouml;tzlich fuhr Myra empor. &raquo;Glaubst du es denn nicht,&laquo;
+rief sie aus, mit einer inbr&uuml;nstigen Hingebung in ihrer Stimme,
+in ihren Geberden, in ihrem Gesicht, &raquo;glaubst du es denn nicht?
+F&uuml;r dich k&ouml;nnte ich ja sterben!&laquo; Sie lachte gl&uuml;cklich und fiel
+wieder auf das Kissen zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>Philipp Unruh schlug die Chronik zu und st&uuml;tzte den Kopf
+in die Hand. Ihm war bang und weich zu Mut. Diese Worte,
+gleichviel ob sie ihm galten oder nicht, waren nun zu ihm gesprochen
+worden. Er durfte die Vergangenheit vergessen, ohne
+sie betrauern zu m&uuml;ssen. Diese Worte brachten sein Gem&uuml;t in
+Schwingung, wie der Glockenschall die Luft in einer Kirche bewegt.
+Er wu&szlig;te, eine solche Stunde des Zutrauens, eine solche
+Nacht der Wunder w&uuml;rde nicht wiederkehren in seinem Leben,
+und uners&auml;ttlich sog er alle Hoffnungsm&ouml;glichkeiten in sich ein,
+als k&ouml;nne dadurch seine Zukunft besch&uuml;tzt werden. Ringsum
+war alles Leben lebendig, geschm&uuml;ckt durch Hingabe und Z&auml;rt<a class="page" name="Page_66" id="Page_66" title="66"></a>lichkeit,
+ja selbst durch Gefahr und Tod. Denn der Tod ist es
+wert, gestorben zu werden, wenn er etwas raubt, das zu besitzen
+sich lohnt. So wurde sein Geist weitschauend durch die
+Macht eines Augenblicks, welcher die Ewigkeit enthielt.</p>
+
+<p>Er &uuml;berzeugte sich, da&szlig; Myra nun wirklich schlief, und erhob
+sich ger&auml;uschlos. Er legte das Buch auf die Lade und dachte
+angestrengt nach. Wenn Myra krank lag und im Fieber redete,
+was sollte er dann mit ihr beginnen? Die Leute waren zu
+f&uuml;rchten, denen der Tag Kunde bringen w&uuml;rde, wer n&auml;chtlicherweile
+in des Lehrers Haus eingezogen sei. Dar&uuml;ber mu&szlig;te
+er wachen, mehr als &uuml;ber sein Gl&uuml;ck. H&ouml;her als dies stand ihm
+die Sitte. Sie regelte nach seiner &Uuml;berzeugung den Mechanismus
+der Welt im kleinen wie im gro&szlig;en.</p>
+
+<p>Es war keine Zeit mehr zu vers&auml;umen. Betr&uuml;bt warf er
+seinen Mantel wieder um die Schulter, trat neben die Schlafende
+und blickte lange auf das regungslose Gesicht, dem der
+Schlummer einen vergr&auml;mten und angestrengten Ausdruck verliehen
+hatte. Dann stellte er die Lampe auf den Schrank und
+ging leise hinaus. Er wollte zu Siebengeist, um mit ihm zu
+beraten, was hier zu tun sei.</p>
+
+<p>Ohne das Tor zu versperren, betrat er die Stra&szlig;e. Es
+schlug zw&ouml;lf Uhr vom Turm. Der Himmel war klar geworden
+und zitterte vor K&auml;lte. In graublauer D&auml;mmerung lagen
+D&auml;cher und Giebel.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_67" id="Page_67" title="67"></a></p>
+<h3>Neuntes Kapitel</h3>
+
+
+<p class="newsubsection">Nachdem er den Glockenstrang bei der Apotheke gezogen hatte,
+&ouml;ffnete sich unter dem spitzen Dachwinkel ein Fenster,
+und eine d&uuml;nne M&auml;dchenstimme schrie herab, da&szlig; kein Mensch zu
+Hause sei. Die Herrschaften und der Provisor seien auf dem Ball
+beim &raquo;Ratgeber&laquo;. Der Provisor k&auml;me erst in einer Stunde zur&uuml;ck,
+und solang m&uuml;&szlig;te man warten oder zum Ratgeber schicken.</p>
+
+<p>Der Ratgeber war ein Hotel, welches sich eine Viertelstunde
+au&szlig;erhalb des St&auml;dtchens, auf der sogenannten &raquo;H&ouml;he&laquo;
+befand. Dort schlo&szlig; sich unmittelbar der Wald an, der sich dann
+weit hinein erstreckt ins mittlere Franken. Philipp Unruh entschlo&szlig;
+sich rasch zu der Wanderung, und noch auf der Landstra&szlig;e
+sah er oben am Waldrand die strahlenden Fenster und h&ouml;rte, von
+Schritt zu Schritt deutlicher, den Brummba&szlig; der Tanzmusik.
+Es war eine Art Faschingsball, den die Gemeinde selbst allj&auml;hrlich
+mit gro&szlig;em Prunk veranstaltete. Dort waren nicht
+nur die gr&ouml;&szlig;ten Notabilit&auml;ten des Ortes, sondern auch der Pr&auml;sident
+des Kreises anzutreffen, der von Ansbach her&uuml;berkam.</p>
+
+<p>Fern auf dem Bahnhof klirrte das Eisen der Waggons,
+welche rangiert wurden. Der Schnee der Stra&szlig;e schimmerte
+hell. Die Sterne standen am Himmel und schaukelten unruhig
+wie Lichter im Wasser.</p>
+
+<p>Wo sich der Weg gegen die Anh&ouml;he hinaufbog, stand, auf
+der Landstra&szlig;e noch, ein kleines Wirtshaus. Im gr&ouml;&szlig;eren
+Raum waren Knechte und Dirnen, die nach der Musik einer
+Mundharmonika tanzten. Wie sich die Paare beim d&uuml;stern
+Schein einer &Ouml;llampe drehten, das gab ein w&uuml;stes und grelles
+Bild. In der kleinen Stube lehnte ein Mann gegen das Fenster,
+die Stirn gegen die Scheibe gepre&szlig;t, und der Lehrer erkannte
+<a class="page" name="Page_68" id="Page_68" title="68"></a>sofort Apollonius Siebengeist. Der Provisor seinerseits hatte
+ihn nicht wahrgenommen, denn kein Zug ver&auml;nderte sich in
+seinem Gesicht, welches tr&uuml;b und verzerrt aussah. Philipp
+Unruh bemerkte, da&szlig; das Zimmer leer war, und schritt dem
+Eingang zu. Der Wirt begr&uuml;&szlig;te ihn mit einem l&auml;rmenden
+Freudenausbruch und f&uuml;hrte ihn durch einen stockfinstern Gang.
+Ohne da&szlig; es beide merkten, folgte ihnen eine Frauengestalt,
+welche vom Ratgeber herabgekommen war. Und als der Lehrer
+die Schwelle &uuml;berschritt, dr&auml;ngte sich jene vor und lief mehr
+als sie ging, auf Siebengeist zu. Sie hatte eine schwarze Larve
+vor dem Gesicht, einen glatten langen Mantel &uuml;ber dem Ballkleid,
+und ihre Augen leuchteten unnat&uuml;rlich. &raquo;Ich wu&szlig;te es
+ja, da&szlig; du hier bist,&laquo; sagte sie mit heiserer Stimme. &raquo;Du machst
+den Wegelagerer, lauerst einer Kom&ouml;diantin auf.&laquo; &#8211; &raquo;Was
+soll das?&laquo; entgegnete Siebengeist mit merkw&uuml;rdiger Geduld.
+&raquo;Ja, ich erwarte sie, aber sie kommt nicht, kommt nicht, trotzdem
+sie es versprochen hat.&laquo; Seine Stimme klang m&uuml;de, und er
+ver&auml;nderte seine Haltung nicht, sondern blickte fortw&auml;hrend
+durch das Fenster auf die n&auml;chtliche Stra&szlig;e. Der Wirt hatte
+das Gesicht in die T&uuml;rspalte gepre&szlig;t und grinste freundlich und
+lauernd. Philipp Unruh ergriff die Klinke und schlo&szlig; mit
+sanftem Druck die T&uuml;r. Dann r&auml;usperte er sich achtungsvoll,
+um seine Anwesenheit kundzugeben. Der Raum hier war wie
+eine Fortsetzung des engen Flurs, und nur gegen das Fenster
+hin verbreitete die Kerze sp&auml;rliches Licht, die im Hals einer
+Weinflasche auf dem Tisch stand.</p>
+
+<p>&raquo;Was sorgst du dich, Liebster?&laquo; begann die Frau wieder
+und machte eine flehentliche Geb&auml;rde. &raquo;Sieh mich doch an,
+bitte. Befiehl mir, da&szlig; ich sie herbeiholen soll, die du liebst,
+und ich werde es tun. Befiehl mir, aber sieh mich an, errette
+<a class="page" name="Page_69" id="Page_69" title="69"></a>mein Leben.&laquo; &#8211; &raquo;Wie kann ich dein Leben erretten, da du
+meines zerst&ouml;rt hast,&laquo; erwiderte Siebengeist, starrer noch als
+bisher. &raquo;Ich habe nicht besitzen d&uuml;rfen, weil deine K&uuml;nste mich
+schwach werden lie&szlig;en. Deine Verlockungen haben meinem
+Wunsch die Kraft genommen, deshalb bin ich nicht w&uuml;rdig, das
+beste zu besitzen. An dir hab ich mich verschwendet. Also geh
+in dein Haus und sei zufrieden.&laquo;</p>
+
+<p>Das Weib nahm ein Glas mit Wein vom Tisch, schleuderte
+es zu Boden, da&szlig; die Scherben klirrten, und rief verzweifelt:
+&raquo;Dann soll <em class="gesperrt">mein</em> Wunsch kraft haben, denn ich w&uuml;nsche ihr den
+Tod!&laquo; Damit fiel sie in die Kniee, rang die H&auml;nde und lehnte
+das Gesicht an die H&uuml;ften des regungslosen jungen Mannes.</p>
+
+<p>Der Lehrer verharrte eine Zeit lang v&ouml;llig gel&auml;hmt in dem
+Winkel zwischen T&uuml;r und Ofen. Er dachte, g&auml;nzlich sich selbst
+entfremdet: die Liebe ist eine Gewalt, welche den Menschen
+erniedrigt. Er dachte, da&szlig; es besser sei, nicht zu wissen, als im
+Wissen zu s&uuml;ndigen. Wo fr&uuml;her rings um ihn her ein friedliches
+Einerlei sich gedehnt, sah er jetzt Gesichter, aus denen die Aufregungen
+des Leidens und des Verlangens redeten. Es war,
+als ob ein tr&auml;ges, aber starkes Wesen in ihm schwere, staunende
+Augen aufschl&uuml;ge.</p>
+
+<p>Unter dem Zwang seines Anstandsgef&uuml;hls trat er endlich
+mit vernehmlichem Schritt gegen den Tisch zu und w&uuml;nschte
+guten Abend. Die Baronin stutzte und erhob sich rasch. Siebengeist
+drehte sich l&auml;ssig um und blickte dem Lehrer forschend,
+jedoch nicht ohne Freundlichkeit ins Gesicht. &raquo;Ich komme,&laquo;
+sagte Philipp Unruh, indem sein eigenes Zimmer wie eine
+Insel der Sehnsucht vor ihm aufstieg, &raquo;ich komme, um Ihnen,
+Herr Siebengeist, etwas mitzuteilen.&laquo; Der Provisor, voller
+Ahnung, zog den Lehrer in den entgegengesetzten, dunklen Teil
+<a class="page" name="Page_70" id="Page_70" title="70"></a>des Zimmers. Seine Augen waren umschattet und hatten
+einen zersplitterten Blick; die Stirn war unruhig; das ganze
+sympathische Gesicht glich dem eines Spielers, der im Begriff
+ist, einen hohen Einsatz zu verlieren.</p>
+
+<p>In schwerf&auml;lligen Worten brachte der Lehrer heraus, was
+sich ereignet hatte. Ohne zu zaudern, ohne einen Laut von
+sich zu geben, warf Siebengeist den Pelz um die Schultern,
+st&uuml;lpte die Kappe &uuml;ber, winkte dem Lehrer durch eine Handbewegung,
+ihm zu folgen, und beide eilten nun hinaus und die Landstra&szlig;e
+hinab. Als sie das Schulhaus erreicht hatten und die enge
+Treppe emporklommen, war kaum eine Viertelstunde vergangen.</p>
+
+<p>Der Lehrer &ouml;ffnete die T&uuml;r. Sein Blick fiel auf das Bett,
+welches leer war. Myra war nicht im Zimmer. Jetzt erinnerte
+er sich, da&szlig; das Haustor nur angelehnt gewesen war. &raquo;Sie ist
+fort,&laquo; murmelte er tonlos, und K&auml;lte rieselte &uuml;ber seinen schwei&szlig;bedeckten
+K&ouml;rper. &raquo;Hier lag sie auf dem Bett, sehen Sie.&laquo;
+Und da er sich der Worte entsann, die sie zu ihm gesprochen,
+verstummte er und schaute nachlauschend gegen die Wand, als
+ob von dort ein Wiederhall ausfl&ouml;sse.</p>
+
+<p>&raquo;Was haben Sie gemacht, Schulmeister? Haben Sie getr&auml;umt?&laquo;
+stie&szlig; Siebengeist hervor. Er r&uuml;ckte die Kappe gegen
+den Hinterkopf und legte die Hand &uuml;ber die Stirn, die von
+wirren, nassen Haaren bedeckt war. Dann griff er nach einem
+Gegenstand, der auf dem Tisch lag, mitten auf einem wei&szlig;en
+Blatt Papier. Es war das Herz mit dem <em class="antiqua">vers Dieu va.</em> Ein
+Zucken ging &uuml;ber sein Gesicht, und er bi&szlig; die Lippen zusammen.
+Das goldne Ding fiel auf die Erde. &#8211; &raquo;Vielleicht ist sie nach
+Hause zur&uuml;ck,&laquo; fl&uuml;sterte Siebengeist fragend, und Philipp Unruh
+gab durch Haltung und Blick seine Willf&auml;hrigkeit zu allem kund.
+Auf der Stra&szlig;e trafen sie den Nachtw&auml;chter, welcher sehr be<a class="page" name="Page_71" id="Page_71" title="71"></a>trunken
+war. Er wu&szlig;te von nichts, nicht einmal ob es Tag oder
+Nacht war, hatte niemand gesehen. Sie l&auml;uteten vor dem Haus,
+wo Myras Mutter wohnte, und nach einiger Zeit kam eine
+Person von ungew&ouml;hnlicher Beleibtheit zum Vorschein. Diese
+Person glich einem Laubfrosch; sie trug einen moosgr&uuml;nen
+Schlafrock und hatte einen Schnurrbart, obwohl sie ein Weib
+war. Mit schnarrender Stimme berichtete sie, da&szlig; der Schauspieler
+und die Frau vor einer Stunde mit dem M&uuml;nchener
+Eilzuge abgereist seien. Das junge Fr&auml;ulein aber sei seit dem
+Abend nicht heimgekehrt. Siebengeist reichte der Dame ein
+Talerst&uuml;ck und bat in atemlosen S&auml;tzen, sie m&ouml;ge ihm f&uuml;r ein
+paar Stunden eine gute Laterne leihen.</p>
+
+<p>Sie wanderten &uuml;ber den Markt und &uuml;ber die Altm&uuml;hlbr&uuml;cke
+gegen die Dinkelsb&uuml;hler Landstra&szlig;e hinaus mit ihrer Laterne.
+Schweigend legten sie ihren sinnlosen Weg zur&uuml;ck, w&auml;hrend der
+Schnee im Lichtschein glitzerte. Beide waren von derselben
+Ahnung, derselben Unruhe aufs &auml;u&szlig;erste erregt, aber jeder
+scheute des andern Wort oder Frage. Bisweilen blieb Siebengeist
+stehen, hielt die Laterne hoch oder stieg auf einen Meilenstein
+und sp&auml;hte in das lautlose, finstere Winterland. &raquo;Jetzt
+wollen wir auf Theilheim zu,&laquo; sagte Siebengeist, und mit
+einem Auflachen f&uuml;gte er hinzu: &raquo;Glauben Sie denn, da&szlig; eine
+einzige Nacht gen&uuml;gen wird, sie zu finden?&laquo; &#8211; &raquo;Es sind W&auml;lder
+hier herum,&laquo; entgegnete der Lehrer. &raquo;Aber es ist m&ouml;glich, da&szlig;
+sie noch im Ort ist.&laquo; &#8211; &raquo;Es ist m&ouml;glich, ja. Was ist nicht alles
+m&ouml;glich! Es ist m&ouml;glich, da&szlig; sie verschwunden bleibt, und ich
+habe nicht ein einziges Mal &#8211; &#8211;&laquo; &raquo;Was? &#8211;&laquo; &raquo;Diesen wunderbaren
+Mund k&uuml;ssen d&uuml;rfen.&laquo; Siebengeist blieb am Flu&szlig;ufer
+stehen, warf den Kopf ein wenig zur&uuml;ck und dr&uuml;ckte die Augen
+zu. Der Lehrer entgegnete nichts darauf.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_72" id="Page_72" title="72"></a></p>
+<h3>Zehntes Kapitel</h3>
+
+
+<p class="newsubsection">In derselben Nacht noch, gegen die Morgenstunden, kamen
+Tauwinde aus dem S&uuml;den. Siebengeist und der Lehrer
+waren heimgekehrt und verbrachten miteinander den schlaflosen
+Rest der Nacht in des Lehrers Zimmer. Abgerissene Erz&auml;hlungen
+&uuml;berdeckten die suchenden Gedanken. Siebengeist
+lachte &uuml;ber den Gang mit der Laterne, so wie nur er zu lachen
+verstand, und der Lehrer dachte wieder: ein Adonis. Jedoch
+glaubte er sich bevorzugt wie durch unvertilgbare Versprechungen.</p>
+
+<p>Zwischen sechs und sieben Uhr schlief er noch einen kurzen
+Schlummer der M&uuml;digkeit. Er tr&auml;umte, da&szlig; er sich in den
+Affen K&uuml;mmerlich verwandelt habe, da&szlig; er auf dem Dach des
+alten Turmes stehe und Grimassen schneide, &uuml;ber die die
+ganze Welt und insbesondere eine Frau mit einer schwarzen
+Larve unb&auml;ndig lachen mu&szlig;te. Doch wunderlicherweise hatte
+dieser Traum f&uuml;r ihn etwas Qu&auml;lendes, vielleicht deshalb, weil
+die H&ouml;he des Turms ihn trotz aller Grimassen mit Angst erf&uuml;llte.</p>
+
+<p>Als er um neun Uhr am Schulfenster stand und gleichg&uuml;ltig
+die Ziegelmauern der Synagoge anstierte, liefen auf der Stra&szlig;e
+Menschen zusammen. Ein Milchbauer hatte auf seinem Handw&auml;gelchen
+einen gro&szlig;en, dunklen Gegenstand liegen, der sich
+wie ein menschlicher K&ouml;rper ausnahm. Der Milchbauer redete
+eifrig mit den Leuten und zwinkerte dabei erregt mit den Augen.
+Der Lehrer &ouml;ffnete das Fenster und rief hinunter, was es denn
+sei. Man habe ein M&auml;dchen erfroren auf dem Feld gefunden,
+hie&szlig; es, und diejenigen, die das sagten, es war der Schmied,
+ein Marktweib und der alte L&ouml;wy, geb&auml;rdeten sich au&szlig;erordentlich
+sachkundig. Auch der B&auml;cker kam aus seinem Laden, indem
+<a class="page" name="Page_73" id="Page_73" title="73"></a>er den Mehlstaub von den dicken Schenkeln klopfte. Die Kinder
+im Schulzimmer verlie&szlig;en alle ihre Pl&auml;tze, dr&auml;ngten sich mit
+Wildheit an die Fenster, und Philipp Unruh sah sich alsbald
+seines Aussichtspunktes beraubt, da eine Horde von schwatzenden
+M&auml;dchen ihn umringt und zur&uuml;ckgeschoben hatte. Er fand kein
+strafendes Wort, sondern blickte geistesabwesend auf einen der
+blondhaarigen Kinderk&ouml;pfe.</p>
+
+<p>Schnell wie Strohfeuer lief das Ger&uuml;cht umher, da&szlig; eine
+Schauspielerin von Herrn Schmalichs Truppe erfroren in den
+Feldern gefunden worden sei. &raquo;Se woar im Schneei douglegn
+wier in ihrn Bettla,&laquo; sagte der Milchbauer zu Doktor Maspero,
+der den Leichnam besichtigte. Auch der B&uuml;rgermeister und
+ein gerichtlicher Funktion&auml;r stellten sich ein, und die Leute, die
+den Totenwagen fuhren, zeigten sich verdrie&szlig;lich &uuml;ber die Arbeit,
+die nichts trug.</p>
+
+<p>&raquo;In diesem begabten M&auml;dchen steckte das Zeug zu einer
+Ophelia,&laquo; sagte Herr Schmalich zu den Mitgliedern seiner
+Truppe, als er die Ged&auml;chtnisrede w&auml;hrend der Probe hielt.
+Dann kam noch etwas vom Pantheon der Kunst, vom Kampf
+ums Dasein und weiblicher Tugend.</p>
+
+<p>Die wahrhaft vornehmen Kreise nahmen das Ereignis mit
+G&uuml;te und Ruhe hin. Nur die Frau Assessor, welche eine ungl&uuml;ckliche
+Schw&auml;rmerei f&uuml;rs Theater hegte, schickte einen Immortellenkranz
+mit einer bla&szlig;roten Schleife, auf welcher ein
+nicht weniger blasses Verslein zu lesen war. Die Frau Oberamtmann
+geriet dar&uuml;ber in eine boshafte Aufregung und erz&auml;hlte
+die ganze Geschichte im Kasinohof dem Herrn Adjutanten.
+&raquo;Kann solche Dummheit &uuml;berboten werden!&laquo; rief die bewegte
+Dame aus. Der Herr Adjutant l&auml;chelte verzwickt, und als er
+zu Hause war, stellte er sich breitbeinig vor seinen Affen hin
+<a class="page" name="Page_74" id="Page_74" title="74"></a>und redete ihn an: &raquo;Was sagst du, mein lieber K&uuml;mmerlich:
+ist es nicht r&auml;tselhaft, wie selbst die Dummen merken, da&szlig; die
+Dummen dumm sind?&laquo; Das &Auml;ffchen grinste h&ouml;flich.</p>
+
+<p>&raquo;Der Tod ist ein Ereignis, mit welchem man rechnen mu&szlig;,&laquo;
+sagte der Baron Apotheker ernst und poetisch gestimmt zu seiner
+Frau, welche wie versteinert am B&uuml;cherregal lehnte, mit herabh&auml;ngenden
+Armen und verschr&auml;nkten Fingern. Ihr sonderbares
+Wesen veranla&szlig;te den Dichter kaum zu einem fl&uuml;chtigen Nachdenken.
+Solche Naturen sind wie Messer ohne Klingen. Sie
+gleichen einem Sch&uuml;tzen, der in der drohenden Pose des Anschlags
+steht, aber statt der Flinte ein Spazierst&ouml;ckchen zwischen
+den Schultern h&auml;lt. Sie kriechen herum wie aufgeblasene
+Regenw&uuml;rmer und vermeinen einen Adlerflug zu nehmen. Bis
+zu ihrem Sterbebett werden sie den Tod f&uuml;r ein Ereignis halten,
+das Beachtung verdient.</p>
+
+<p>Die junge Frau schleppte sich m&uuml;hsam eine Treppe empor
+und pochte an Siebengeists Zimmer. Da alles still blieb, dr&uuml;ckte
+sie auf die Klinke, jedoch die T&uuml;r war verschlossen. Da pochte
+sie abermals und rief ein bittendes Wort, allein sie erhielt keine
+Antwort. Ihr schwindelte. Sie ging herab in die Apotheke
+und fragte den zweiten Gehilfen, wo das Strychnin sei. Im
+Grunde wu&szlig;te sie, da&szlig; sie sich des Giftes nicht bedienen w&uuml;rde.
+Auch sie war angesteckt vom L&uuml;gengeist des Herrn. Auch sie
+hielt sich, wenn nicht f&uuml;r einen Adler, so doch f&uuml;r eine Schwalbe,
+eine sehns&uuml;chtige, nestsuchende und war nur ein armes W&uuml;rmchen.</p>
+
+<p>Es war ein tr&auml;umerischer Tag. Der Himmel, mattblau,
+gr&uuml;nlichblau, war von schleierd&uuml;nnen Wolken durchzogen. Allenthalben
+lief gesch&auml;ftig murmelndes Tauwasser zu B&auml;chen zusammen.
+Durch den schwarzgesprenkelten Ackerschnee ragten die
+Stoppeln vom letzten Herbst. Bis zu den fernsten Waldgrenzen
+<a class="page" name="Page_75" id="Page_75" title="75"></a>dehnte sich der Horizont, und die Februarsonne f&uuml;llte das Land
+mit fr&uuml;hlinghafter W&auml;rme.</p>
+
+<p>Gegen die Zeit der D&auml;mmerung kam Siebengeist zum
+Lehrer Unruh. &raquo;Machen wir einen letzten Gang,&laquo; sagte der
+Provisor, dessen Aug&auml;pfel auffallend ruhelos unter den Lidern
+hin und her irrten. Der Lehrer wu&szlig;te sich nicht zu erkl&auml;ren,
+was damit gemeint war, aber er folgte. F&uuml;r ihn hatte die Gegenwart
+noch keine Zunge. Wie ein Trunkener vergi&szlig;t, was
+ihn trunken gemacht, so hatte er die Ursache dessen, was in ihm
+w&uuml;hlte, aus der Empfindung verloren. Er begann nach r&uuml;ckw&auml;rts
+zu leben. Er erkannte sich selbst und das, was aus ihm
+geworden war, mit der Klarheit einer Halluzination. Ganz
+anders als fr&uuml;her schien es ihm jetzt seine eigene, angeborene
+Sprache, wenn er redete, schien ihm sein Gef&uuml;hl, was er empfunden,
+und sein Urteil, was er beschlossen. Das Bild der Welt
+und ihrer Menschen verlor v&ouml;llig den Anschein der Selbstverst&auml;ndlichkeit
+und des Unumst&ouml;&szlig;lichen, und aus allen Dingen, aus
+allen Ereignissen, aus jedem Gesicht, aus jedem Hinschwinden
+des Tages und der Nacht tauchte etwas ungeheuer Geheimnisvolles
+auf, das ihn schaudern machte und ihn mit einer noch
+ganz anderen Trauer erf&uuml;llte, als derjenigen, die er in Siebengeist
+beobachtete. Aber wie sonderbar! Dar&uuml;ber schwebte wie
+das Licht &uuml;ber einem finstern Wald etwas wie Freiheits- und
+Einsamkeitsfreude.</p>
+
+<p>Sie waren zum Leichenhaus gewandert, einem Backsteinh&auml;uschen,
+das verlassen in der Abendd&auml;mmerung lag. Siebengeist
+ging zur Totengr&auml;berwohnung und lie&szlig; aufsperren.
+Der Mann, unter dem Druck von Siebengeists Hand willf&auml;hrig
+geworden, brachte eine Art Stall&auml;mpchen mit einem
+Blendblech und lie&szlig; die beiden allein. Zwei S&auml;rge standen
+<a class="page" name="Page_76" id="Page_76" title="76"></a>inmitten des Raums, halb aufrecht gegen eine Bank gelehnt.
+In dem einen lag eine Greisin, deren Lider nicht ganz geschlossen
+waren, so da&szlig; sie, was vor sich ging, argw&ouml;hnisch zu beblinzeln
+schien. Ihr Gesicht war gelb wie frisches Baumholz und hatte
+einen au&szlig;erordentlich h&ouml;hnischen und feindseligen Ausdruck.
+Auf ihrer faltigen Stirne lief gem&auml;chlich eine Fliege umher.
+Der ganze Kopf bekam &uuml;berdies durch eine hohe wei&szlig;e Haube
+mit blauen B&auml;ndern ein theatralisches und bizarres Aussehen.</p>
+
+<p>Daneben lag Myra. Auf der einen Wange war ein seltsamer
+roter Fleck, wie ein &Uuml;berbleibsel des Lebens. Die Unterlippe
+war ein wenig herabgesunken, wodurch das Gesicht m&uuml;de,
+fast schlaftrunken aussah. Die Stirne sah aus wie geschliffen,
+und um die Augen lag ein abweisender, kindlich &uuml;berlegener
+Zug. Die H&auml;nde waren leicht gefaltet. Der &Auml;rmel des Gewands
+wurde leise von der Abendluft bewegt und erzeugte einen tier&auml;hnlichen
+Schatten &uuml;ber den Fingern.</p>
+
+<p>Siebengeist kniete nieder und legte still den Kopf auf den
+Sargrand. Sein R&uuml;cken begann zu zucken, und die rechte Hand
+suchte den Boden. Der Lehrer dachte etwas Unbestimmtes,
+Frommes &uuml;ber den Tod, verwarf aber leidenschaftlich diese
+Gedanken wieder und zwang seine Blicke, auf dem mi&szlig;trauischen
+Gesicht der alten Frau haften zu bleiben. Er &auml;rgerte sich
+&uuml;ber die freche Fliege, die wie schlafend auf einem Augenlid
+sa&szlig;. Und pl&ouml;tzlich sah er, wie Siebengeist sich ein wenig erhob,
+seine Lippen langsam dem Antlitz Myras n&auml;herte, und wie er
+lautlos seinen Mund auf ihren toten Mund dr&uuml;ckte.</p>
+
+<p>Philipp Unruh stie&szlig; einen schwachen Schrei aus und f&uuml;hlte
+den Boden unter sich wanken. Ihm brannte die Kehle und
+das Herz und das Gehirn, als ob er im Feuer st&auml;nde, aber mit
+unbegreiflicher und erschreckender Raschheit kehrte eine eisige
+<a class="page" name="Page_77" id="Page_77" title="77"></a>Ruhe in ihn zur&uuml;ck. Er legte die H&auml;nde vor die Augen und kehrte
+das Gesicht dem Kirchhof zu und dem St&uuml;ckchen Wald hinter
+der Mauer. In diesem Augenblick hatte er Tod und Leben
+gleichzeitig in einem elementaren Bild empfunden.</p>
+
+<p>Beim Heimw&auml;rtsgang stand die Mondsichel &uuml;ber den D&auml;chern
+des St&auml;dtchens. Von der Eisenbahn t&ouml;nte ein langgezogenes
+Hornsignal her&uuml;ber. Die Dunkelheit ist l&auml;stig und dr&uuml;ckend,
+dachte Philipp Unruh. Er begann den Tag der Nacht vorzuziehen,
+wo eine bittere und verschwommene Traurigkeit so
+leicht Nahrung finden konnte. Sie gingen hinter den G&auml;rten
+am Rand der &Auml;cker und Siebengeist fing an zu reden. Er gefiel
+sich in Kapriolen des Geistes, in blasphemischen Anklagen,
+seufzte schwer und war dann wieder still. Alles nahm sich wie
+beabsichtigter Wahnsinn aus. Von seinem h&uuml;bschen Gesicht war
+wie im Rausch jede Besonnenheit verschwunden, und was er
+tat, trug das Zeichen von &uuml;berhebendem Schmerz. &raquo;Gute
+Nacht, Schulmeister,&laquo; sagte er. &raquo;Meine Seele ist leer wie ein
+ausgebranntes Haus.&laquo;</p>
+
+<p>Was er doch f&uuml;r Worte gebraucht, dachte der Lehrer. Er
+versp&uuml;rte pl&ouml;tzlich einen nagenden Hunger, denn seit vielen
+Stunden hatte er nichts gegessen. Er trat neben dem Schulhaus
+in den Laden des B&auml;ckers und verlangte frisches Schwarzbrot
+und ein wenig Butter.</p>
+
+<p>&raquo;Ach du <em class="gesperrt">mein</em> Gott, sieht man den Herrn Lehrer auch
+einmal,&laquo; sagte der B&auml;cker, und mit halb pfiffigem, halb verlegenem
+Gesicht schraubte er das blakende Licht tiefer. Er war
+eigentlich recht best&uuml;rzt, denn auf dem Ladentisch vor sich hatte
+er einen gro&szlig;en Folianten aus des Lehrers B&uuml;cherkiste liegen.
+Er hatte sich eben nach Herzenslust an einer Kriegsbeschreibung
+erg&ouml;tzt. Der Lehrer sah sogleich das Buch und schlug erstaunt
+<a class="page" name="Page_78" id="Page_78" title="78"></a>die H&auml;nde zusammen: &raquo;Herr B&auml;ckermeister, Sie wissen wohl gar
+nicht, wessen Eigentum das ist?&laquo; sagte er unsicher, wie alle
+gutm&uuml;tigen Menschen, wenn sie einem andern auf Schelmenstreiche
+kommen.</p>
+
+<p>Was nun den B&auml;cker betrifft, so begann er eine Geschichte
+zu erz&auml;hlen, die durchaus kein Ende nehmen wollte. Diese Geschichte
+wurde allgemach recht verwickelt und bot schlie&szlig;lich selbst
+dem Erz&auml;hler Schwierigkeiten. Spr&uuml;che zur Weltweisheit
+mischten sich darein wie Anisk&ouml;rnchen in den Brotteig, nur zuletzt
+kam, einer Apotheose zu vergleichen, der Preis des Handwerks,
+welches ebenso sein Gutes habe, wie die Gelehrsamkeit.</p>
+
+<p>Philipp Unruh l&auml;chelte. Der humoristische Mann, der ihm
+gegen&uuml;ber auf dem Backtrog sa&szlig;, hatte in der Glorie seiner
+L&uuml;genhaftigkeit etwas seltsam Vers&ouml;hnendes, und es lag wie
+eine unwiderstehliche Heiterkeit in jedem dieser L&uuml;genworte,
+die weder gewogen, noch gez&auml;hlt waren. Da&szlig; er wieder in den
+Besitz seiner B&uuml;cher kam, erfreute ihn, doch in anderm Grade,
+als er je geglaubt. Es war wie ein Geschenk, und er betrachtete
+sein Eigentum wie etwas, das er nie besessen. Er wu&szlig;te, da&szlig;
+es da nur tote Dinge, tote Bl&auml;tter gab. Die Vergangenheit
+ist etwas Gestorbenes, dachte er; wer ihren Leichnam k&uuml;&szlig;t,
+macht das Gesicht des Todes doppelt furchtbar; was er ber&uuml;hren
+mag, wird dem Leben entfremdet sein.</p>
+
+<p>Es war ein so milder Abend, da&szlig; es den Lehrer wieder fort
+von seiner Behausung trieb, und er beschlo&szlig;, gegen das Altm&uuml;hlufer
+hinunter zu wandern. Als er in die enge Kirchengasse
+bog, sah er sich gegen&uuml;ber auf der Schwelle eines beleuchteten,
+schmalen Hausflurs ein kleines M&auml;dchen sitzen, welches
+das Gesicht in die Sch&uuml;rze gelegt hatte und weinte. Ein Knabe
+von vielleicht zw&ouml;lf Jahren stelzte ernsthaft &uuml;ber die Gasse und
+<a class="page" name="Page_79" id="Page_79" title="79"></a>fragte mit W&uuml;rde, beide H&auml;nde tief in die Hosentaschen gesenkt:
+&raquo;Warum weinst du denn?&laquo; Die Kleine hob das Gesicht, und
+Philipp Unruh, der im dunklen Schatten stehen blieb, erkannte
+das M&auml;dchen der Frau S&uuml;&szlig;milch. &raquo;Ich kann meine Aufgabe
+nicht lernen, sie ist zu schwer,&laquo; schluchzte das Kind. Der Knabe
+r&auml;usperte sich, spreizte die Beine, legte die H&auml;nde auf den R&uuml;cken
+und begann: &raquo;Du bist meine schlechteste Sch&uuml;lerin, S&uuml;&szlig;milch.
+Aus dir wird im Leben nichts werden. Du hast ja lauter Heu
+im Kopfe. Pfui!&laquo; Philipp Unruh sah, da&szlig; ihn der Bursche
+nach&auml;ffte, und err&ouml;tete in seinem Versteck. Das kleine M&auml;dchen
+aber trocknete die Augen, st&uuml;tzte den Kopf in das H&auml;ndchen,
+schaute wehm&uuml;tig zum klaren Sternenhimmel auf und sagte
+aus tiefstem Herzensgrund: &raquo;Ach ja! Unser Herr Lehrer ist ein
+sehr b&ouml;ser Mann.&laquo;</p>
+
+<p>Der Lehrer ging langsam &uuml;ber die Gasse, nahm das M&auml;dchen
+auf die Arme und k&uuml;&szlig;te es l&auml;chelnd auf die Stirn.</p>
+
+<!-- <p><a class="page" name="Page_80" id="Page_80" title="80"></a>[Blank Page]</p> -->
+
+
+<hr style="width: 65%;" />
+<p><a class="page" name="Page_81" id="Page_81" title="81"></a></p>
+<h2><a name="Treunitz_und_Aurora" id="Treunitz_und_Aurora"></a>Treunitz und Aurora</h2>
+
+<h4>Bekenntnisse eines Offiziers</h4>
+
+
+<!-- <p><a class="page" name="Page_82" id="Page_82" title="82"></a>[Blank Page]</p> -->
+<p><a class="page" name="Page_83" id="Page_83" title="83"></a></p>
+<p class="newsubsection">Die Stille des Gef&auml;ngnisses ist der Selbsteinkehr g&uuml;nstig.
+Ich werde also das Papier zu meinem Beichtiger machen
+und der Wahrheit gem&auml;&szlig; berichten, wie sich die Dinge abgespielt
+haben, und wie ich zu der Tat gelangt bin, durch die ich
+mein Leben verwirkt habe. Ich bin des Todes schuldig und
+ich werde aus dieser Erkenntnis alle Folgerungen ziehen, zu
+denen ich als Mann und Soldat so berechtigt als verpflichtet
+bin. Immerhin k&ouml;nnte ich besch&ouml;nigend von einem verh&auml;ngnisvollen
+Irrtum sprechen, durch den mein Gl&uuml;ck, meine Freiheit,
+meine Zukunft, meine ganze Existenz der Vernichtung preisgegeben
+wurde, aber die Schmach w&uuml;rde dadurch um nichts
+geringer werden, und wenn ich gleich die furchtbare Leidenschaft,
+die mich ergriffen und ruiniert hat, zu verurteilen imstande bin,
+so ist es selbst in diesem Augenblick noch unm&ouml;glich, sie g&auml;nzlich
+aus meinem Herzen zu rei&szlig;en.</p>
+
+<p>Ich bin mit der Vorliebe f&uuml;r den Soldatenstand geboren.
+Doch trieb mich dabei keineswegs Ehrgeiz oder Ruhmsucht;
+auch nach Abenteuern stand mir nicht der Sinn, wie das bei
+Knaben oder J&uuml;nglingen sonst der Fall zu sein pflegt, sondern
+ich wollte meine Person in den Dienst des Vaterlandes stellen,
+und wonach ich strebte, war eine w&uuml;rdige Verwendung meiner
+Kr&auml;fte und F&auml;higkeiten. Ich besa&szlig; Mut und war k&ouml;rperlich
+gewandt und t&uuml;chtig; auch hatte ich, was f&uuml;r den Milit&auml;r jedes
+Ranges von Wichtigkeit ist, Disziplin im Leibe, das Talent und
+den Willen zur unbedingten sachlichen Unterordnung. Da ich
+von Haus aus verm&ouml;gend bin, meine Mutter besitzt eine gro&szlig;e
+Gutsherrschaft bei Arnstein, wurde der Wahl meines Berufs
+kein Hindernis in den Weg gelegt, und nach Absolvierung der
+Schule trat ich als Freiwilliger bei der Marine ein. Aber ich
+fand dort kein Gen&uuml;gen, das Leben war eint&ouml;niger, als ich ge<a class="page" name="Page_84" id="Page_84" title="84"></a>dacht,
+und nach Verlauf von zwei Jahren trat ich zur Feldartillerie
+&uuml;ber, wo ich mich als brauchbarer Offizier eines gewissen
+Ansehens erfreute und wegen meiner Begabung f&uuml;r
+milit&auml;rwissenschaftliche F&auml;cher die besondere Gunst der Vorgesetzten
+geno&szlig;.</p>
+
+<p>Da entbrannte in S&uuml;dafrika der Burenkrieg; ich sah die
+Gelegenheit, etwas zu leisten, ich hatte keine Lust mehr am
+Garnisons- und Man&ouml;verdienst; die Verh&auml;ltnisse, unter denen
+ich mich bew&auml;hren konnte, erschienen mir zu klein; kurz und gut,
+ich erbat den Abschied, zur Verwunderung und zum Bedauern
+meiner Kameraden, die mich gerne hatten, mich aber nach
+diesem f&uuml;r sie unbegreiflichen Schritt eines Mannes, der die
+begr&uuml;ndetste Aussicht auf Karriere hat, f&uuml;r einen unbesonnenen
+Haudegen hielten.</p>
+
+<p>Ich habe da unten die Bluttaufe erhalten, die Fremde tat
+mir wohl, das wilde &auml;u&szlig;ere Leben band mich fester in mich
+selbst. Als ich nach geschlossenem Frieden in die Heimat zur&uuml;ckkehrte,
+war ich ein anderer Mensch, und wenn ich noch einen
+Rest von unreifer Romantik in mir gehabt, so h&auml;tte ihn die
+ernsthafte Zeit, die ich verlebt, mit Stumpf und Stiel ausgetrieben.
+Ich erfuhr die Genugtuung, sogleich wieder als Offizier
+in die Armee eingereiht zu werden, und es war der froheste
+Tag meines Lebens, als ich wieder den dunklen Rock der Artilleristen
+anziehen durfte. Ich hatte nebenbei die Gewi&szlig;heit,
+zum Generalstab berufen zu werden; dies geschah auch, und um
+meine k&uuml;hnsten Erwartungen zu &uuml;bertreffen, wurde ich mit
+einer Aufgabe betraut, die sonst nur selten einem Offizier
+meines Dienstalters gestellt wurde; man entsandte mich als
+Berichterstatter der mazedonischen Vorg&auml;nge nach Saloniki.</p>
+
+<p>Ich war noch nicht zwei Monate auf meinem Posten, da
+<a class="page" name="Page_85" id="Page_85" title="85"></a>brach in unsern afrikanischen Kolonien der Aufstand der
+Schwarzen aus. Jetzt lag der Fall anders denn damals, wo
+ich das Heer hatte verlassen m&uuml;ssen, um ins Feld zu kommen;
+jetzt konnte ich mich meinem kaiserlichen Herrn und Kriegsherrn
+selber zur Verf&uuml;gung stellen. Da man t&uuml;chtige Offiziere suchte,
+wurde mein Anerbieten ohne Verzug ber&uuml;cksichtigt, ich wurde
+zum Hauptmann bei der Schutztruppe ernannt, und vier Wochen
+sp&auml;ter war ich schon auf See.</p>
+
+<p>Ist ja richtig; es war eine elende Katzbalgerei mit den schwarzen
+Rackern, und viel gutes deutsches Blut ist geflossen, aber
+wars gleich sauer, so wars doch nahrhaft, wie unsere Exzellenz
+zu sagen liebte. Es war ein sch&ouml;nes freies Leben, wie ich alles
+noch sehe und sp&uuml;re! Die sengende Mittagshitze und die Morgenk&uuml;hle,
+die zerst&ouml;rten Pontonks und die infamen Wege, der Feind
+in Busch und Dickicht und die unaufh&ouml;rlichen Sch&uuml;sse aus den
+Baumkronen! Wie das surrte und schwirrte und sang und
+heulte, so dicht, da&szlig; es einen erstaunte, wenn man seine Gelenke
+noch zusammenh&auml;ngen f&uuml;hlte. Hungrig legte man sich
+schlafen, den Revolver im Arm, an Feueranz&uuml;nden nicht zu
+denken, und weh dem, der vom Durst getrieben zu den Wasserl&ouml;chern
+schlich, er ward in der Fr&uuml;he mit Kirris erschlagen gefunden.
+Da war man doch ein Kerl, da konnte man sich bew&auml;hren,
+da sp&uuml;rte man seine Pulse.</p>
+
+<p>Leider bin ich bei den Gefechten am Waterberg verwundet
+worden. Ich konnte nicht mehr Dienst tun und mu&szlig;te alsbald
+die Heimreise antreten. Dritthalb Monate blieb ich in Berlin;
+man machte viel Aufhebens mit mir, und viele Leute feierten
+mich wie einen Bl&uuml;cher, was mir oft die Schamr&ouml;te ins Gesicht
+trieb, denn ich war mir nicht bewu&szlig;t, etwas Sonderliches verrichtet
+zu haben. Aber dergleichen gibt sich, und wenn man
+<a class="page" name="Page_86" id="Page_86" title="86"></a>Verdienste hat, empfiehlt es sich, sie den Leuten nicht durch
+die eigene Gegenwart l&auml;stig zu machen. Eine Zeitlang war
+von meiner Aufnahme als Lehrer in die Kriegsakademie die
+Rede, doch, vor die Wahl gestellt, zog ich schlie&szlig;lich den subordinierten
+Posten eines Batteriechefs in der Provinz vor, allerdings
+mit der baldigen Anwartschaft auf den Majorsrang.
+Meine Mutter kr&auml;nkelte, ich w&uuml;nschte in ihrer N&auml;he zu leben,
+und des unruhvollen, weltst&auml;dtischen Treibens, an dem ich
+nie Freude gehabt, war ich ohnedies m&uuml;de.</p>
+
+<p>Dazu kam noch, da&szlig; mir die Fremde ganz wie mit einem
+Male den Blick verwandelt hatte. Entweder war ich nicht
+mehr derselbe, oder die Heimat war nicht mehr dieselbe. Aufrichtig
+gesagt: die Luft im Reich gefiel mir nicht. Sie war mir
+zu wetterwendisch; winterlich scharf von oben und giftig s&uuml;&szlig;
+von unten, fast wie eine afrikanische Nacht. Nichts wurde mit
+Wohlwollen reguliert, alles mit Manometer, und wer hinten
+nicht gesto&szlig;en wurde, der ging nach vorne nicht weiter. Unsre
+jungen Herren fand ich so ohne jede Herzlichkeit, da&szlig; sich einem
+der Gaumen zusammenzog, wenn man mit ihnen redete.
+Immer blo&szlig; aufs Elegante versessen, geschniegelt wie die Reitpferde
+und trocken wie Stiefelsohlen. Die Aristokraten hochn&auml;sig
+und zimperlich, die B&uuml;rgerlichen streberhaft und vom
+frischen Reichtum verdorben und verweichlicht, das Volk rebellisch
+und respektlos. Keiner, der aus Eigenem was vorstellte,
+erst durch sein Geld oder sein Amt oder seine Orden oder seine
+Hemdbrust. Gro&szlig;es Maul, ja, aber kein freies Wort, keine
+offene Meinung. H&ouml;lzernes Getue galt f&uuml;r Form, kaltschn&auml;uziges
+N&ouml;rgeln f&uuml;r Geist und &ouml;de Prahlhanserei f&uuml;r Selbstbewu&szlig;tsein.</p>
+
+<p>Wenn man mir die Berechtigung abstreitet, eine solche
+<a class="page" name="Page_87" id="Page_87" title="87"></a>Sprache zu f&uuml;hren, so habe ich allerdings keine andere Antwort,
+als den Hinweis auf eine bis dahin ehrenhafte Existenz. Es
+war mir eben die Laune verdorben, und eher tr&uuml;bgestimmt
+als hoffnungsvoll kam ich nach der kleinen Garnison. Auch
+hier f&uuml;hlte ich mich nicht wohl; ich begann mich zu langweilen;
+ich merkte alsbald, was das hei&szlig;t, in einer Provinzstadt zu
+leben, die trotz ihrer vierzigtausend Einwohner etwas ist wie
+ein Sparta des Altertums, mit ebenso streng geschiedenen
+Kasten, nur da&szlig; die kriegerische H&auml;rte der Vorschriften durch
+minder folgenschwere, aber keineswegs leicht zu &uuml;bertretende
+Bestimmungen gesellschaftlichen Charakters ersetzt werden. Da
+sind die Spitzen der Beh&ouml;rden, die milit&auml;rischen W&uuml;rdentr&auml;ger,
+die Industriellen, die Gutsbesitzer, die jungen Leute, die eine
+Rolle spielen, die andern, die blo&szlig; eine spielen m&ouml;chten; da ist
+die Generalin oder Oberstin, die das Wetter macht, und die
+kleine Apothekersgattin, die gerade noch geduldet ist; da ist die
+reiche Fabrikantenfrau, die ihre Toiletten aus Berlin bezieht,
+und die Frau Amtsrichter, die aus ihrem Wirtschaftsgeld
+mittelst r&uuml;hrender Entbehrungen den Preis f&uuml;r ein einziges
+schwarzes Seidenkleid er&uuml;brigt, das sie unter Beihilfe der
+K&ouml;chin und eines M&auml;dchens vom Lande selber n&auml;ht und das
+ihr die abendlichen Feste verbietet, wenn der Stoff an den
+&Auml;rmeln den fatalen Mattglanz zu zeigen beginnt. Zu Kaisers
+Geburtstag gibt der Regierungspr&auml;sident einen Ball; zur Errichtung
+eines Kriegerdenkmals wird eine k&uuml;nstlerische Soiree
+veranstaltet, bei welcher allerlei junge M&auml;dchen wegen ihrer
+Fortschritte in Gesang und Klavierspiel beklatscht werden; man
+geht ins Theater, man wird zur Enten- und Hasenjagd geladen,
+und die verheirateten Frauen holen sich aufregende Romane
+aus der Leihbibliothek. Einmal im Monat ist Parademarsch,
+<a class="page" name="Page_88" id="Page_88" title="88"></a>am Sonntag nach der Kirche spielt die Regimentskapelle auf
+dem Residenzplatz, abends sitzt man dann im Kasino oder im
+Speisesaal des Hotels de l&#8217;Europe, und nach elf Uhr nachts
+lungern nur noch irgendwo hinter abgesperrten T&uuml;ren ein paar
+ausgesto&szlig;ene Existenzen an einem Kartentisch, und zwei Studenten
+br&uuml;llen vor dem Fenster einer begehrten Kellnerin das
+Krambambuli.</p>
+
+<p>Alle diese kennen einander und wissen vieles von einander
+und verbergen sich voreinander und sch&auml;tzen einander und sind
+einander im Wege und passen einander auf. Das enge Zusammenleben
+beg&uuml;nstigt Klatsch und &Uuml;belrednerei; jeder kehrt
+den Schmutz vor des Andern T&uuml;r; Dummheit, Bosheit, Neid
+und Mi&szlig;gunst lassen selbst den Redlichen nicht ungeschoren,
+alles, was Aufsehen macht, findet Teilnahme, alles, was in
+der Mode ist, Nachahmung; f&uuml;r ernsthafte Interessen ist wenig
+Sinn. Dies erfuhr ich bald. So sehr es anfangs meinem Selbstgef&uuml;hl
+schmeichelte, da&szlig; ich nun auch zu Hause ein jemand war,
+der Beachtung verdiente und Ansehen geno&szlig;, denn es war ja
+meine engste Heimat dahier, so wenig wurde ich meines Wirkens
+froh. Ich kam mir vor wie ein verfaulender Baum.</p>
+
+<p>Ich erinnere mich nicht mehr genau, an welchem Tag es
+war, als ich die Majorin Westermark kennen lernte. Ich schlie&szlig;e
+daraus, da&szlig; sie mir damals wenig Eindruck gemacht hat. Ich
+sah sie zum erstenmal bei der Frau von R&uuml;tten, die eine
+Freundin meiner Mutter ist, und die, wie mir meine Mutter
+vorsichtig verriet, die l&ouml;bliche Absicht hatte, mich mit ihrer
+siebzehnj&auml;hrigen Tochter zu verheiraten. Ich machte mir aber
+nichts aus dem M&auml;dchen, und das ist lediglich mein Fehler, da
+sie ein h&uuml;bsches und vern&uuml;nftiges, obschon etwas n&uuml;chternes
+Gesch&ouml;pf ist. Nach allem, was ich bereits &uuml;ber die Majorin ge<a class="page" name="Page_89" id="Page_89" title="89"></a>h&ouml;rt,
+hatte ich mir eine junonische Gestalt gedacht und war
+deshalb &uuml;berrascht, sie so klein, zart und kindhaft zu finden.
+Ihr Wesen gab in Gesellschaft nichts her, nichts von Welt und
+nichts von Innerem, ihr L&auml;cheln war k&uuml;hl, in der Bewegung
+der Lippen zeigte sich eine gewisse Naschhaftigkeit; am meisten
+gefielen mir die Augen, die blau, durchsichtig, ausgedehnt und
+voll Perlmutter waren, mit Brauen, schwarz und fein wie zwei
+Sepiastriche.</p>
+
+<p>Eine solche Stadt wie die, in der ich mich befand, hat alle
+Sp&auml;herblicke immer auf den Punkt geheftet, wo eine ungew&ouml;hnliche
+Erscheinung hervortritt und sich auf ihre besondere
+Art geb&auml;rdet. Ich habe schon angedeutet, da&szlig; das vielfache
+Gerede &uuml;ber die Majorin auch zu mir geflossen war. &raquo;Was
+sagen Sie zu der Frau? Ach, Sie wissen nicht? Sie wissen
+nicht, was die Spatzen von den D&auml;chern pfeifen?&laquo; Nein, ich
+wu&szlig;te es nicht, ich bezeigte auch kein Interesse daf&uuml;r. &raquo;Sie
+verstellen sich doch wohl. Oder glauben Sie, da&szlig; das eine
+gl&uuml;ckliche Ehe ist? Der Mann ist zwanzig Jahre &auml;lter, Sie begreifen.
+Die Frau hatte fr&uuml;her einen reichen, schlesischen Branntweinbrenner,
+von dem sie geschieden ist. Sie ist sch&ouml;n wie das
+Laster, und so elegant, da&szlig; unsre Damen vor Neid nicht schlafen
+k&ouml;nnen; echte Pariser H&uuml;te, echte Br&uuml;sseler Spitzen, echte Pelze,
+Diamanten wie ein persischer Prinz, und Parf&uuml;ms, Parf&uuml;ms
+sage ich Ihnen, &uuml;berw&auml;ltigend wie eine Ananasbowle nach
+einem Jagdritt.&laquo; &#8211; &raquo;Nun ja, der Major ist sicherlich reich.&laquo;
+&#8211; &raquo;Nein, die Frau hat Geld, die Frau. Der Major ist ein
+Sonderling. Ich m&ouml;chte ihm gern meine Augen leihen.&laquo;</p>
+
+<p>O Bosheit aus dem Winkel, die du Augen verleihen willst,
+dachte ich mir. Aber die &uuml;blen Ger&uuml;chte waren hartn&auml;ckiger
+als meine Gleichg&uuml;ltigkeit. Ich traf eines Tages einen Freund
+<a class="page" name="Page_90" id="Page_90" title="90"></a>in der Stadt, einen jungen Ingenieur, der irgendwo in der
+N&auml;he den Bau einer Eisenbahnbr&uuml;cke leitete. Wir waren als
+Gymnasiasten ein paar Jahre lang unzertrennlich gewesen, und
+es bereitete mir lebhaftes Vergn&uuml;gen, ihn wiederzusehen. Wir
+kamen oft zusammen, bald in einer Weinstube, bald in seiner
+oder meiner Wohnung; und wie es schon so geht, einmal gerieten
+wir beim Gespr&auml;ch auch auf Aurora Westermark und
+die &uuml;ber sie umlaufenden Ger&uuml;chte. Mein Freund kannte sie
+nur fl&uuml;chtig, aber er war einer jener Menschen von instinktivem
+Scharfblick, die in andern Seelen lesen zu k&ouml;nnen scheinen,
+und deren Urteil sich daher von selber Vertrauen erzwingt.</p>
+
+<p>Deutlich steht mir noch jene Stunde vor Augen und genau
+ist mir noch jedes seiner Worte gegenw&auml;rtig, die ich nur mit
+innerem Unwillen anzuh&ouml;ren vermochte. &raquo;Diese Frau hat die
+Gabe, unschuldig zu scheinen und Leidenschaften einzufl&ouml;&szlig;en&laquo;,
+sagte er ungef&auml;hr. &raquo;Wie sie den schwer zug&auml;nglichen Major
+umgarnt hat, das ist gewi&szlig; ein Kunstst&uuml;ck gewesen. Ich wei&szlig;
+nicht, ob dir die Umst&auml;nde bekannt sind; es war w&auml;hrend der
+gro&szlig;en Man&ouml;ver vor zwei Jahren; umschw&auml;rmt von den Offizieren
+eines ganzen Stabes, hatte sie sich&#8217;s offenbar in den Kopf
+gesetzt, den spr&ouml;desten und verstocktesten zu gewinnen, denjenigen,
+f&uuml;r den eine Weltdame etwas war wie ein seltenes
+Schmuckst&uuml;ck, das er sich verschafft ohne Freude und Verst&auml;ndnis,
+nur weil er gerade bei Geld und guter Laune ist und weil
+es von andern ger&uuml;hmt und begehrt wird. Sie hatte den schlechtesten
+Ruf. Man sagt, da&szlig; sie Liebe verkauft hatte, unumwunden
+und unter Vorw&auml;nden, um einer Perlenkette willen, um eines
+R&auml;nkespiels willen, um nichts ungenossen vor&uuml;bergehen zu
+lassen von den Lockungen der Jugend, aus Gefallsucht, aus
+Sinnlichkeit, aus Langerweile, aus Schw&auml;che, aus Lust an der
+<a class="page" name="Page_91" id="Page_91" title="91"></a>Selbsterniedrigung, aus Vergn&uuml;gen an einer doppelten Existenz
+in zwei Sph&auml;ren der b&uuml;rgerlichen Welt, von denen die eine
+nicht wei&szlig;, was in der andern geschieht, so da&szlig; die Geschicklichkeit,
+der einen die Kunde aus der andern vorzuenthalten,
+etwas von der Spannung eines Revolverdramas mit sich
+bringt und die sonst leeren Tage mit dem Tumult verschwiegener
+Bet&auml;tigung erf&uuml;llt. Ich bin gewi&szlig;,&laquo; fuhr mein Freund fort,
+gegen den ich in diesem Augenblick eine nicht zu &uuml;berwindende
+Empfindung des Hasses, ja des Abscheus hegte, &raquo;ich bin gewi&szlig;,
+da&szlig; sie&#8217;s gegenw&auml;rtig nicht viel besser treibt. Ich glaube nicht,
+da&szlig; sie je von Liebe erfahren hat, sondern nur von Aufregungen,
+Sorgen, abw&auml;genden Interessen, Kr&auml;nkungen des Stolzes, Gefahren
+der Enth&uuml;llung und die &Uuml;berzeugung von der Nichtsw&uuml;rdigkeit
+der M&auml;nner, so wie eben solchen Frauen die M&auml;nner
+sich zeigen m&uuml;ssen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber was w&auml;re denn das f&uuml;r ein Leben!&laquo; rief ich kopfsch&uuml;ttelnd.
+&raquo;Welche Einsamkeit setzt das voraus, welche Kraft,
+alle diese Dinge in der Stille mit sich selber abzumachen!&laquo;</p>
+
+<p>Mein Freund zuckte die Achsel. &raquo;Es ist das Leben eines
+Menschen, der auf gl&uuml;henden Kohlen tanzt und sich stellen mu&szlig;,
+als ging&#8217;s &uuml;ber einen harmlosen Teppich&laquo;, antwortete er. &raquo;Wir
+haben eine Menge solcher Equilibristen in der Gesellschaft, und
+das vertrackte und verlogene Dasein, das wir f&uuml;hren, fordert
+die unruhigen K&ouml;pfe geradewegs dazu heraus.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gibt es denn irgendwelche faktischen Delikte?&laquo; fragte ich.</p>
+
+<p>&raquo;Es hei&szlig;t, da&szlig; sie mit jedem h&uuml;bschen Offizier abenteuert;
+da&szlig; sie sich jedem Laffen hingibt, der sich der M&uuml;he der Werbung
+unterzieht und den Preis nicht zu hoch findet, den Preis
+des Verrats n&auml;mlich. Auch sagt man, da&szlig; sie seit Jahren eine
+dauernde Beziehung zu einem Berliner Fabrikanten unter<a class="page" name="Page_92" id="Page_92" title="92"></a>h&auml;lt,
+der au&szlig;erdem g&uuml;nstige B&ouml;rsengesch&auml;fte f&uuml;r sie vermitteln
+soll, den sie irgendwie drau&szlig;en oder in der Stadt trifft und der
+eine unerkl&auml;rliche Gewalt &uuml;ber sie aus&uuml;bt, vielleicht die Gewalt
+bedenkenloser Brutalit&auml;t. Da&szlig; der Major dar&uuml;ber in vollst&auml;ndiger
+Ahnungslosigkeit verbleibt, geh&ouml;rt zu unsern sonderbaren,
+aber nicht ungew&ouml;hnlichen sozialen Geheimnissen. Alle wissen,
+er nicht; alle raunen, er ist taub. Man schont ihn wahrscheinlich,
+man schont seine Stellung, seine H&auml;uslichkeit, und sie hinwiederum
+profitiert von der Achtung, deren ihr Gatte genie&szlig;t. Auch
+macht ihr Auftreten, ihre Sch&ouml;nheit, ihre vollendete Haltung
+die Argw&ouml;hnischen vorsichtig, und den Mut der &Uuml;belredner
+zunichte. Sie hat ja eine Art zu gehen, zu stehen, zu reiten,
+zu lachen, zu tanzen, die blendend ist, das mu&szlig; man zugeben.
+Was tut&#8217;s, wenn bisweilen an den Grenzen des Bezirks ein
+Fl&auml;mmchen aufzischt und einen Schritt der heimlichen Pfade
+beleuchtet? Oft sehen Augen, denen keine Zunge dient, die
+zu reden wei&szlig;, und ein anderes Mal schwatzen M&auml;uler, wo
+Augen nichts gesehen haben.&laquo;</p>
+
+<p>Ich bekenne, da&szlig; mich dieses Gespr&auml;ch bis in die Nieren
+erk&auml;ltete. Dies &raquo;es hei&szlig;t&laquo; und &raquo;man sagt&laquo; erf&uuml;llte mich mit
+Mi&szlig;trauen gegen den Freund, mit einer Art Furcht vor ihm;
+ich ging ihm von da an f&uuml;r lange Zeit aus dem Wege. Seine
+Ehrlichkeit erschien mir durchaus b&ouml;swilliger Natur; ich bildete
+mir ein, da&szlig; ich einer ritterlichen Pflicht gehorchte, indem
+ich mich in meinem Innern auf die Seite einer wehrlosen
+Geschm&auml;hten schlug. Kleinst&auml;dtischer Klatsch, sagte ich mir, l&auml;&szlig;t
+den reinlich Denkenden eher zum Anwalt des Besudelten werden,
+als da&szlig; er die Partei von Feinden nimmt, die sich verbergen.
+Es war ein Selbstbetrug, dem ich mich hingab. Die Frau hatte
+ganz einfach mein Gefallen erweckt, und das wollte ich mir
+<a class="page" name="Page_93" id="Page_93" title="93"></a>verhehlen. Ich traute ihr Schlimmes nicht zu, ich sah ein Kind
+in ihr, verf&uuml;hrerisch, am Ende mi&szlig;leitet, aber nicht verworfen.
+Ich str&auml;ubte mich nicht gegen die Freundlichkeit, die der Major
+alsbald in auff&auml;lliger Weise gegen mich an den Tag legte.
+Ich besuchte oft sein Haus, und es schien sich ganz von selbst
+zu geben, da&szlig; ich manche Stunden mit Aurora allein verbrachte.</p>
+
+<p>Sie gestand mir, da&szlig; sie von Anfang an aufs innigste gew&uuml;nscht
+habe, meine Bekanntschaft zu machen, denn sie habe
+beim ersten Blick gef&uuml;hlt, da&szlig; ich ihr mit Wohlwollen gegen&uuml;ber
+getreten sei. Dies mu&szlig;te ich best&auml;tigen, ihre schmeichelhaften
+Worte &uuml;ber meine Vergangenheit, meine Taten, meinen
+Ruhm usw. lehnte ich h&ouml;flich ab. Die nichtigen Dinge, von
+denen sie mit mir plauderte, gewannen einen Reiz von Scherzhaftigkeit,
+dann wieder von anmutiger Melancholie. Vertrauen
+schien sie als selbstverst&auml;ndlich zu betrachten und war nicht
+einmal bedachtsam in ihrem Tadel &uuml;ber die Lebensf&uuml;hrung
+anderer. Sie sprach mit einer unvergleichlich musikalischen
+Stimme, weich im Ton, klagend in der F&auml;rbung, hie und da
+mit einer Bemerkung voll Witz und Geist. Ihr Zuh&ouml;ren war
+sympathisch durch den Blick eines wi&szlig;begierigen Sch&uuml;lers.
+Sonst war sie nicht selten gequ&auml;lt, beunruhigt, versch&uuml;chtert,
+also gar nicht mehr Dame. Sie eroberte unbedingt, ich h&auml;tte
+ihr alles geglaubt, und ich glaubte auch alles, selbst das Unwahrscheinlichste,
+wennschon mir ihr Wesen manchmal wie D&uuml;nensand
+vorkam; erst denkt man etwas Festes zu halten, und wenn
+man zupackt, verrinnt und verrieselt alles zwischen den Fingern.</p>
+
+<p>Im Verkehr mit ihrem Mann sah ich sie von gemessener
+Liebensw&uuml;rdigkeit, Nachsicht mehr gew&auml;hrend als beanspruchend,
+gegen launenhafte B&auml;rbei&szlig;igkeit sich mit ironischer Duldermine
+wappnend, wobei ein forschender und sp&ouml;ttisch-k&uuml;hner Blick den
+<a class="page" name="Page_94" id="Page_94" title="94"></a>Beobachter zum Mitverschworenen machte. Der Major erweckte
+den Eindruck eines gutm&uuml;tigen Mannes; er war untersetzt und
+korpulent und trotz seiner Jahre nur m&auml;&szlig;ig ergraut; doch pflegte
+er den Schnurrbart mit einer Pomade zu behandeln, die diesem
+das Ansehen eines frisch lackierten Gegenstandes gab. Sein Blick
+war flackernd wie der eines viel und fruchtlos arbeitenden Menschen;
+in der Tat verhinderte er nur durch einen fast &uuml;berst&uuml;rzten
+Eifer im Dienst seine langgef&uuml;rchtete Kaltstellung. Er geh&ouml;rte zu
+jenen Offizieren vom alten Schlag, die durch Rauheit und martialisches
+Auftreten an verj&auml;hrte Verdienste erinnern und den
+Mangel an gegenw&auml;rtigen verdecken wollen. Er liebte die
+Jagd, sch&ouml;ne Pferde und Hunde; doch mit diesen Leidenschaften
+verbarg er nur den Groll gegen ein Regime, das ihn zur schimpflichen
+Rolle eines Mitl&auml;ufers und stummen Bittstellers verurteilte,
+und er erf&uuml;llte seine Obliegenheiten wie mit zusammengebissenen
+Z&auml;hnen, war immer in Hast und Angst, und, wie
+alle unsicheren Beamten, von &uuml;bertriebener Strenge gegen
+Untergebene und &uuml;bertriebener Devotion gegen Vorgesetzte.</p>
+
+<p>Ich glaube, mit solchem Urteil kein Unrecht an dem Major
+zu begehen; alle diese Umst&auml;nde waren ja mehr oder weniger
+&ouml;ffentliches Geheimnis. Ich habe beschlossen wahr zu sein, und
+so mu&szlig; auch dieses gesagt werden. Es trifft nicht zu, da&szlig; ich
+dem Major ohne Achtung begegnet bin; ich hatte anfangs sogar
+Gefallen an ihm, wie er an mir, erst im Verlauf der Begebenheiten
+wandelte sich meine Gesinnung auf so verderbliche Art.</p>
+
+<p>Ich begleitete Aurora ins Theater, auf die Promenade, ich
+kam zu ihren Teestunden, und so vergingen Wochen, ohne da&szlig;
+ich ein Arg gegen mich selber fa&szlig;te. Wenn ich G&auml;ste bei ihr traf,
+zeigte sie mir unmi&szlig;verstehlich, da&szlig; ihr G&auml;ste zur Last waren
+und da&szlig; ich allein es nicht war. Ein solcher Beweis von Freund<a class="page" name="Page_95" id="Page_95" title="95"></a>schaft
+heischte Dank, und ich blieb, nachdem alle sich verabschiedet
+hatten, auch der Major, der die sp&auml;ten Nachmittagsstunden im
+Kasino verbrachte und mit einem Oberleutnant vom Train
+Schach spielte. Oftmals mu&szlig;te ich ihr von meinen Kriegserlebnissen
+erz&auml;hlen, wobei sie atemlos lauschte. Wie sagt doch
+Othello? &raquo;Ich sprach von harten Ungl&uuml;cksf&auml;llen, manch r&uuml;hrendem
+Geschick zu See und Land, wie ich nur auf ein Haar
+dem Tod entronnen, von grausen Schl&uuml;nden, &ouml;den W&uuml;steneien,
+von Kl&uuml;ften, Felsen, himmelhohen Bergen, von Kannibalen,
+die einander fressen. Und dies zu h&ouml;ren, war Desdemona innerlich
+gespannt.&laquo; Und als er geendet, lohnte ihn das Fr&auml;ulein
+mit einer &raquo;Welt von Seufzern&laquo; und w&uuml;nschte, sie h&auml;tte es nicht
+vernommen, und w&uuml;nschte doch, Gott h&auml;tte aus ihr einen solchen
+Mann gemacht.</p>
+
+<p>War auch Aurora nicht derma&szlig;en bezaubert, so stellte sie
+sich doch &auml;hnlich und ihre Teilnahme war jedenfalls echt. Auch
+schrieb sie mir Verdienste zu, die ihr trotz aller Selbstverst&auml;ndlichkeit
+gro&szlig; und neu d&uuml;nkten, und vor allem erschien ich ihr
+verl&auml;&szlig;lich. Verl&auml;&szlig;lichkeit war ihr Ideal, wie wenn ihr das Geschick
+einen Trumpf im Spiel h&auml;tte vorgeben k&ouml;nnen durch die
+bewunderte Tugend eines andern.</p>
+
+<p>Heute seh&#8217; ich dies klar, damals bestrickte mich ihr bedenkenloses
+Anschmiegen. Da ich merkte, da&szlig; sie wenig oder nichts
+las, brachte ich B&uuml;cher, unter andern schenkte ich ihr die Frithjofssage,
+ein Gedicht, f&uuml;r welches ich begeistert war. Sie
+gestand mir aber offen, da&szlig; Verse sie langweilten und da&szlig; sie
+zum Lesen &uuml;berhaupt keine Geduld h&auml;tte; so lie&szlig; ich es denn
+sein. Sie wurde jetzt bisweilen karg in der Unterhaltung und
+von unverst&auml;ndlicher Vorsicht. Darin lag etwas Verwirrendes,
+denn ich f&uuml;hlte mich einer Person gegen&uuml;ber, die ihrer Rede
+<a class="page" name="Page_96" id="Page_96" title="96"></a>wenig Gewicht beimi&szlig;t, weil sie Bedeutsames verschweigen
+mu&szlig;. Sie hatte immer den auffangenden Blick im Auge, der
+meine Ungeduld erregte. Ich fragte, h&ouml;rte, antwortete und
+war mit der gleichen Aufmerksamkeit besch&auml;ftigt, dem Zwitschern
+eines Vogels oder dem Surren des Windes zu lauschen. Was
+kann der Major mit einem solchen Weib beginnen? dachte ich
+oft verwundert; er ist ein Soldat, aber kein Orchideenz&uuml;chter.
+Himmel, wenn ich dies Gesicht best&auml;ndig um mich w&uuml;&szlig;te, ich
+w&auml;re versucht, damit zu verfahren, wie die Kinder, die ihre
+geliebtesten Puppen aufschneiden, um herauszubringen, was
+drinnen ist.</p>
+
+<p>So fing es an, mit Abwehr und Wi&szlig;begier fing es an.
+Und wenn es ihr Entschlu&szlig; war, mein ruhiges Herz in Flammen
+zu setzen, was bedurfte es da noch viel? Eines Abends fragte
+sie mich unumwunden nach meinen bisherigen Herzenserlebnissen
+und darauf mit Offenheit zu entgegnen, war leicht und
+schwer in einem. Ich hatte nicht viel zu berichten. Schon als
+Primaner hatte ich Verachtung f&uuml;r die Liebeleien gewisser
+Kommilitonen empfunden, und fernerhin war mir jede leidenschaftliche
+Ent&auml;u&szlig;erung ein Greuel gewesen. Ich war freilich
+kein Kostver&auml;chter, kein Joseph; ich nahm stets, was man mir
+bot, aber zu langgesponnenen Verh&auml;ltnissen fehlte mir die Zeit,
+und an die sogenannten gro&szlig;en Passionen glaubte ich nicht.
+Am&uuml;sement, ja; doch durfte es nicht zum Katzenjammer f&uuml;hren;
+alles &uuml;brige schien mir Bummelei und Jugendeselei. Ich wei&szlig;,
+es war erb&auml;rmlich, da&szlig; ein Kerl wie ich eigentlich nur von k&auml;uflicher
+Liebe wu&szlig;te, nur von Vergn&uuml;gen und nichts von Hingabe,
+nur von Dirnen und nichts von Frauen. Aber das passiert
+heute tausendmal, es ist viel h&auml;ufiger, als man denkt, und gerade
+diejenigen, die ihre Stirn am aufdringlichsten mit dem Helden<a class="page" name="Page_97" id="Page_97" title="97"></a>lorbeer
+schm&uuml;cken, sind, wenn man die Sachen bei Licht betrachtet,
+ebensolche J&auml;mmerlinge. Dagegen lebt wahrscheinlich
+in dem Kopf jedes Frauenzimmers eine Vorstellung von Durchschnittspoesie
+und Schm&ouml;kerromantik, die ihr unentbehrlich ist
+wie ein Luxuskleid, auch wenn sie selbst dergleichen nie erlebt
+hat und so wenig davon h&auml;lt wie ein Moslem von der Hostie.</p>
+
+<p>Ich wu&szlig;te nicht, wie mir geschah, als ich nun pl&ouml;tzlich fand,
+da&szlig; ich eine Armut verraten hatte, &uuml;ber die mir bis jetzt kein
+Skrupel aufgestiegen war. Schon atmeten wir in einer verderblichen
+Luft. Wir verst&auml;ndigten uns durch Blicke und Mienen,
+und die Selbstbeherrschung, die wir zu &uuml;ben w&auml;hnten, war
+nur eine Gaukelei. Ich sagte mir im Anfang bisweilen: die
+Frau ist kalt, oder noch schlimmer, k&uuml;hl; die Frau rechnet, die
+Frau lauert. Aber da war ihre Sanftmut, ihre zarte Stimme,
+ihr ergebenes, verst&ouml;rtes, beschwichtigendes L&auml;cheln; da hatte
+sie eine sonderbare, oft wiederkehrende Bewegung der H&auml;nde,
+die darin bestand, da&szlig; sie die Finger ineinanderflocht, um sie
+dann wie verzweifelt in den Scho&szlig; einzusenken. Das ri&szlig; mich
+aus allem Gleichmut.</p>
+
+<p>Ihr Wesen blieb mir r&auml;tselhaft, bis sie mir eines Tages
+erz&auml;hlte, wie ihre erste Ehe das Werk habs&uuml;chtiger Eltern und
+Verwandter gewesen sei; der Mann ein Trinker, ein Wucherer,
+ein L&uuml;stling. Sie versicherte mir, da&szlig; sie im Zusammenleben
+mit ihm unber&uuml;hrt geblieben sei, und da&szlig; haupts&auml;chlich deswegen
+nach drei qualvollen Jahren die Scheidung ausgesprochen werden
+konnte. Sie sprach dann von ihren Reisen, von zermarternder
+Unruhe, vom Wunsch nach Frieden, von ihrem Ekel
+an Welt und M&auml;nnern, und da lernte sie Westermark kennen;
+sie dachte an ihm einen Besch&uuml;tzer zu finden, sie f&uuml;hlte eine herzliche
+Kameradschaft f&uuml;r ihn, sie habe sich bet&ouml;ren lassen und ihn
+<a class="page" name="Page_98" id="Page_98" title="98"></a>geheiratet. Als sie nun lange schwieg, blickte ich sie fragend an.</p>
+
+<p>Ja, dar&uuml;ber sei Schweigen geboten, sagte sie, dar&uuml;ber, was
+jetzt kam, m&uuml;sse geschwiegen werden.</p>
+
+<p>Geheimnis also? nicht anr&uuml;hrbares Geheimnis? Auroras
+Gesicht glich einer Uhr, die pl&ouml;tzlich stehen bleibt. Geheimnisse
+binden, auch wenn sie nicht enth&uuml;llt werden. Aber mein Inneres
+war schon zu sehr ergriffen, als da&szlig; ich aus Delikatesse h&auml;tte
+auf Teilnahme verzichten m&ouml;gen. Ich bat in der dringlichsten
+Weise um Aufkl&auml;rung. &raquo;Wozu? was soll es n&uuml;tzen?&laquo; antwortete
+mir Aurora. &raquo;Warum sollte ich Sie in eine Ungeheuerlichkeit
+einweihen, die mich allein schon &uuml;berm&auml;&szlig;ig bedr&uuml;ckt und
+lebensunt&uuml;chtig macht? Sie w&uuml;rden mir nicht glauben, Sie
+d&uuml;rfen mir nicht glauben, denn wer bin ich? Ein verlorenes,
+verachtetes Gesch&ouml;pf, der Gegenstand unsauberer Gespr&auml;che
+am Biertisch, die wehrlose Beute aller Nachrichtenj&auml;ger der
+ganzen Stadt, mit meinem Namen in jede Spelunke geschleppt,
+beneidet, bewacht, einsam, unerh&ouml;rt einsam und unerh&ouml;rt verraten.
+Wollt&#8217; ich bekennen, was ich in diesem Haus f&uuml;r ein
+Leben zubringe, so w&uuml;rde ich ja vielleicht auch Sie verlieren,
+der mir gutgesinnt ist. Nein, nein, erlassen Sie mir das, g&ouml;nnen
+Sie mir die harmlosen Stunden mit Ihnen.&laquo;</p>
+
+<p>Man sagt gemeinhin, und die Erfahrung macht mich geneigt,
+dem beizupflichten, da&szlig; M&auml;nner &uuml;ber drei&szlig;ig, wenn sie
+zum erstenmal in ihrem Leben der Gewalt einer Leidenschaft
+erliegen, sich in nichts von der Unbesonnenheit und Kopflosigkeit
+der J&uuml;nglinge unterscheiden, da&szlig; sie im Gegenteil noch
+gro&szlig;m&uuml;tiger ihr Gef&uuml;hl, noch bereitwilliger ihren Stolz, noch
+unbedingter ihr Vertrauen verschwenden. Ich habe versucht,
+das Unheil zu bek&auml;mpfen, als es da war, ich habe mich noch
+mit aller Kraft gewehrt, als es mich umschlang. Vielleicht
+<a class="page" name="Page_99" id="Page_99" title="99"></a>h&auml;tte ich es bezwingen k&ouml;nnen; vielleicht gab es einen Tag,
+eine Stunde, wo ich noch Meister des Verh&auml;ngnisses werden
+konnte, wo ich mit dem Gedanken an ein Abschiedswort, dem
+Vorsatz einer Reise zu der Frau ging. Aber da mochte es scheinen,
+als rede die Frau mit einem andern Ton denn gestern;
+als sei die Hand, die sie mir bot, verwandelt worden. Wenn
+Fr&uuml;chte reif sind, f&uuml;hlen sie sich gleichsam w&auml;rmer an, und so
+hatte sich etwa ihre Hand angef&uuml;hlt, wie eine reife Frucht.</p>
+
+<p>Einverst&auml;ndnis genug; Erwiderung genug; es braucht nicht
+mehr als den Abglanz der eigenen Sehnsucht in dem geliebten
+Antlitz und Auge, nicht mehr als ein gestammeltes Wort, als
+einen flehentlichen Blick, und Pflicht, Gewissen, Zukunftsfurcht
+entschwinden f&uuml;r immer in der S&uuml;&szlig;igkeit und Bet&auml;ubung
+eines j&auml;hen Sicherkennens. Jetzt sind die Tore zugeschlossen,
+und es gibt keine Reise mehr. Ich entsinne mich eines Tages,
+wo ich mit Begierde die Gesellschaft eines Mannes suchte, eines
+Freundes, den au&szlig;erhalb meines beruflichen Kreises zu finden
+mir h&ouml;chst erw&uuml;nscht war. Da traf ich den Ingenieur, von dem
+ich schon gesprochen, durch Zufall auf der Gasse. Er blieb unschl&uuml;ssig
+stehen, ich reichte ihm die Hand. Ich verzieh ihm alles,
+was er &uuml;ber Aurora Westermark ge&auml;u&szlig;ert hatte, noch mehr,
+ich empfand das Bed&uuml;rfnis, ihn mit der wunderbaren Frau
+n&auml;her bekannt zu machen, und ich war &uuml;berzeugt, da&szlig; er sie
+mit andern Augen ansehen w&uuml;rde. Das Vorhaben war leicht,
+als Freund Auroras durfte ich es wagen, ihn einfach zu einem
+ihrer Empfangsnachmittage mitzunehmen. Ich fing alsbald
+davon an, er war ziemlich betroffen, erwiderte jedoch, wenn
+ich Wert darauf lege, wolle er mir gern willfahren, obwohl
+seine Zeit ihm die Pflege gesellschaftlicher Beziehungen sonst
+nicht gestatte. Wenn ich mir heute dies Gespr&auml;ch &uuml;berlege,
+<a class="page" name="Page_100" id="Page_100" title="100"></a>so mu&szlig; ich glauben, da&szlig; in meinem Benehmen etwas Krankhaftes,
+ja sogar Krankes enthalten sein mu&szlig;te, denn der junge
+Mann blickte mich bisweilen fast mitleidig von der Seite an
+und meinte schlie&szlig;lich, es tue ihm aufrichtig leid, wenn er mich
+damals durch seine un&uuml;berlegte Offenheit verletzt habe. Am
+n&auml;chsten Tag gingen wir zusammen zur Majorin; Aurora
+nahm ihn mit Herzlichkeit auf, und sie schmeichelte ihm durch
+eine gewisserma&szlig;en sachliche Hochachtung, die bei Frauen selten
+ist, und die hier am Platze war. Er kam nun bisweilen an
+Montagen und Donnerstagen, blieb aber zumeist auffallend
+schweigsam, trotzdem ihm Auroras Sympathie durchaus nicht
+verborgen blieb. Einmal gingen wir zusammen weg, und ich
+sagte ganz unvermittelt zu ihm: &raquo;Hast du nun dein Urteil
+revidiert? Gibst du nicht zu, da&szlig; das ein Gesch&ouml;pf ist, wie es
+so vollendet nur aus der Meisterhand Gottes hervorgehen
+kann?&laquo; Und als er nur mechanisch nickte, f&uuml;gte ich hinzu: &raquo;Ich
+hoffe, da&szlig; du mich nicht mi&szlig;deutest, und da&szlig; du meine Worte
+so auslegst, da&szlig; wir uns auch weiterhin gerade in die Augen
+sehen k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mehr brauche ich nicht zu wissen&laquo;, entgegnete er ernst und
+anscheinend &uuml;berrascht. Er besuchte von da an das Westermarksche
+Haus nicht mehr.</p>
+
+<p>Warum ich die Art meines Verh&auml;ltnisses zu Aurora vor dem
+Verdacht eines Freundes sch&uuml;tzen zu m&uuml;ssen glaubte, wei&szlig; ich
+kaum. Ich hatte keinen Zweifel an ihrer Ehre und Reinheit.
+Aber das namen- und gesichtslose H&ouml;rensagen, unter dem ihr
+Ruf litt, war eine Qual sondergleichen f&uuml;r mich. Ich h&auml;tte
+mich gerne gestellt, aber wie durfte ich dies, wer h&auml;tte mir das
+Recht dazu einger&auml;umt? Ein Blick, ein zweideutiges L&auml;cheln,
+ein Achselzucken, ein irrlichterndes Wort dann und wann, es
+<a class="page" name="Page_101" id="Page_101" title="101"></a>&uuml;berlief mich kalt, wenn ich dessen nur nachtr&auml;glich gedachte;
+ich fand mich beleidigt und geschm&auml;ht, bald genug bekam
+ich zu sp&uuml;ren, da&szlig; das verleumderische Geschw&auml;tz auch schon
+meinen eigenen Namen bespritzte; aus dem Bewu&szlig;tsein meiner
+Schuldlosigkeit, und, da Aurora sich mir gegen&uuml;ber noch mit
+keinem Hauch etwas vergeben hatte, zog ich den Schlu&szlig;, da&szlig;
+all die andern Anw&uuml;rfe und Ger&uuml;chte ebenso trugvoll, l&uuml;gnerisch
+und boshaft seien wie dieses. Traurigkeit und Ingrimm nahmen
+von mir Besitz, ich sonderte mich ab von den Kameraden wo
+es nur irgend anging, und hatte ich vorher schon f&uuml;r unliebensw&uuml;rdig
+gegolten, so erkl&auml;rte man mich jetzt f&uuml;r absto&szlig;end hoff&auml;rtig,
+oder mildesten Falls f&uuml;r einen finstern Einsiedler. Ja,
+ich ha&szlig;te sie, diese still beieinander hockenden Aufpasser, Schlimmredner
+und Giftkocher, diese gutangezogenen Meg&auml;ren und unbezahlten
+Spione, die ihrem D&uuml;nkel und ihrem M&uuml;&szlig;iggang
+kein unterhaltsameres Spiel wu&szlig;ten, als die nie wieder gutzumachende
+Besudelung eines sch&ouml;nen Herzens und edlen
+Charakters, denn so erschien mir Aurora.</p>
+
+<p>Indessen wucherte das Gr&uuml;beln &uuml;ber die furchtbaren Andeutungen,
+die sie mir in bezug auf ihr eheliches Leben getan,
+heimlich in mir fort. Ich wagte sie nicht mehr daran zu erinnern,
+ich wollte nicht mehr fragen, ich glaubte zartf&uuml;hlend zu
+sein, doch meine Seelenruhe kam dabei schlecht weg. Tausend
+Vermutungen erwog ich, bis in die Tr&auml;ume hinein verfolgte
+mich das haltlose Denken, und so geschah es denn doch, da&szlig;
+ich einstmals, wir sa&szlig;en im oberen Gesellschaftszimmer vor der
+Terrasse einander gegen&uuml;ber, da&szlig; ich die Frage stellte, mitten
+in eine ruhende Minute hinein, in der mir zu Sinn war, als
+h&ouml;rte ich das Ziehen der Wolken am herbstlichen Himmel.
+Aurora erschauerte; sie sah mich eine Weile zornig an, pl&ouml;tzlich
+<a class="page" name="Page_102" id="Page_102" title="102"></a>stand sie auf, kehrte sich mit dem Gesicht gegen das Fenster,
+und ich gewahrte am Zucken ihrer Schultern, da&szlig; sie weinte.
+W&auml;hrend ich ratlos dasa&szlig; und meine Taktlosigkeit verw&uuml;nschte,
+h&ouml;rte ich die s&auml;belrasselnden, plumpen Schritte des Majors auf
+der Flurtreppe. Aurora wandte sich um, mit erschrockenen
+Augen starrte sie gegen die T&uuml;re und fl&uuml;sterte: &raquo;Ich kann ihn
+jetzt nicht sehen.&laquo; Damit verlie&szlig; sie das Zimmer. Der Major
+trat ein und zeigte ein verwundertes Gesicht, als er mich allein
+sah. Er begr&uuml;&szlig;te mich mit zusammengekniffenen Augen und
+begann mit mir ruhig &uuml;ber dienstliche Angelegenheiten zu
+sprechen. Meine Nerven waren bis zur Unertr&auml;glichkeit gespannt,
+ich h&ouml;rte kaum, was er sagte, und ich verfolgte seine
+Schritte und Bewegungen mit einem beunruhigten und
+ha&szlig;&auml;hnlichen Gef&uuml;hl. Pl&ouml;tzlich fragte er mich, wo seine Frau
+sei. Ich antwortete, sie sei vor wenigen Minuten hinausgegangen.
+Sein Gesicht verd&uuml;sterte sich: &raquo;Sie macht mir viel
+Kopfzerbrechen mit ihren Launen&laquo;, sagte er seufzend, indem
+er sich schwer in einen Sessel fallen lie&szlig;. &raquo;Ich sollte mich
+wirklich mehr um sie bek&uuml;mmern,&laquo; fuhr er fort, &raquo;aber, lieber
+Treunitz, Sie haben keine Ahnung, was f&uuml;r Plackereien ich
+ausgesetzt bin; es kostet mich &Uuml;berwindung genug, sie
+nichts merken zu lassen, aber wer kann immer heiter sein,
+wenn&#8217;s einem an den Kragen geht? So eine Frau will
+nichts als eitel Wonne um sich sehen; ich kann&#8217;s ihr nicht verdenken,
+sie ist jung. Mag sie sich nur am&uuml;sieren, ich lege ihr
+keine Balken &uuml;ber den Weg. Doch wie gesagt, die Launen,
+die Launen!&laquo;</p>
+
+<p>Was er mit den Launen meinte, konnte ich mir nicht entr&auml;tseln.
+Es war mir eine Pein, ihn zu h&ouml;ren, andrerseits r&uuml;hrte
+mich sein Wesen, und er erschien mir durchaus nicht als b&ouml;se.
+<a class="page" name="Page_103" id="Page_103" title="103"></a>Ich wu&szlig;te nur unbestimmte Redensarten zu erwidern. Meine
+Situation kam mir ebenso bedr&uuml;ckend wie die seine kl&auml;glich
+vor. Ich verabschiedete mich von ihm. Als ich &uuml;ber den Korridor
+schritt, stand Aurora neben der Treppe. Sie winkte mir, ihr
+zu folgen. Ich trat in ein kleines, boudoir&auml;hnliches Gemach.
+Aurora blickte mich forschend an. Etwas Trauriges, aber nicht
+blo&szlig; Trauriges, sondern auch Wildes, eine Art von Au&szlig;ersichsein
+in ihren Z&uuml;gen brachte mich vollkommen um den Verstand.
+Pl&ouml;tzlich umschlangen mich ihre Arme, und ich f&uuml;hlte ihre Lippen
+auf den meinen. &raquo;Geh, geh&laquo;, stie&szlig; sie dann durch die verpre&szlig;ten
+Z&auml;hne hervor. Ich ging.</p>
+
+<p>Mir brannte Hirn und Herz. Nie mehr &uuml;ber diese Schwelle,
+rief es in mir. Ich scheute mich, den Menschen in die Augen
+zu blicken. Und doch war ich gl&uuml;cklich; ich hatte ihre Schultern
+gesp&uuml;rt, ihre Arme, ihren Mund. Ich begab mich nach Hause,
+lief wie toll in meinem Zimmer auf und ab, ging wieder fort
+und stand in der Nacht, ich wei&szlig; nicht wie lange, vor der Villa
+des Majors, zu den schwarzen Fenstern emporstarrend. Die
+Stunden bis zum andern Nachmittag schlichen qualvoll hin.
+Als ich zu Aurora kam, waren G&auml;ste da. Sie scherzte und
+plauderte wie gew&ouml;hnlich. Dies war mir unbegreiflich. Erst
+um sechs Uhr waren wir allein. Mit rauher Stimme bat ich
+sie um Aufkl&auml;rung. Ich sagte, da&szlig; ich den Zustand des
+Zweifels und der schlimmen Bef&uuml;rchtungen nicht mehr ertragen
+k&ouml;nne.</p>
+
+<p>&raquo;Was wollen Sie von mir?&laquo; entgegnete sie hart. Ich blickte
+sie erstaunt an, aber sie senkte nicht die Augen und flammte
+mich drohend an. Da packte ich ihre Hand und bedeckte sie
+mit K&uuml;ssen. Sie lie&szlig; mich ruhig gew&auml;hren, indes sie den Kopf
+in die andere Hand st&uuml;tzte. &raquo;Wenn ich alles sagen wollte, wer
+<a class="page" name="Page_104" id="Page_104" title="104"></a>k&ouml;nnte mir glauben&laquo;, murmelte sie vor sich hin, und ihr K&ouml;rper
+schrumpfte zusammen wie unter der Gewalt eines physischen
+Schmerzes. &raquo;Gehen wir ein wenig ins Freie&laquo;, schlug sie vor.
+Wir gingen in den Garten. Dort erz&auml;hlte sie mir alles; w&auml;hrend
+wir &uuml;ber die dunklen Wege schritten, schilderte sie mir ihre
+Ehe. Sie schilderte mir diese Ehe als ein Martyrium, das
+ohne Beispiel war. Sie schilderte den Major als einen argw&ouml;hnischen,
+neidischen, boshaften, ohnm&auml;chtigen, l&uuml;genhaften,
+und gewaltt&auml;tigen Greis. Sie sagte mir, da&szlig; er sie schl&uuml;ge.
+(O Gott, der Speichel im Munde wurde mir bitter wie Galle.)
+An ihr r&auml;che er die Unbill und Zur&uuml;cksetzung, die er &uuml;berall zu
+erleiden w&auml;hne. Wo er ihre W&uuml;nsche erf&uuml;lle, sei es zum Schein;
+wenn er sich freundlich stelle, sei es zum Schein. Er behandle
+sie schlimmer als einen Hund. Seit sechzehn Monaten lebe sie
+wie in einem Starrkrampf, und was sie lache und rede, wisse
+sie nicht. Zuerst habe sie geschwiegen aus Furcht vor ihm,
+dann aus Furcht vor der Welt, denn noch einmal als geschiedene
+Frau bodenlos und heimatlos dastehn, das zu ertragen,
+sei sie nicht f&auml;hig, lieber w&auml;hle sie den langsamen Tod aus
+Kummer, Zorn und Angst.</p>
+
+<p>Ich glaubte. Man denke nach, ob es f&uuml;r mich eine andere
+M&ouml;glichkeit gab, als zu glauben. Es gibt im Ungeheuerlichen
+einen Punkt, wo der Zweifel erstickt, anstatt gen&auml;hrt wird. Man
+kann der Raserei mi&szlig;trauen, man kann der Wut oder dem Ha&szlig;
+mi&szlig;trauen, aber der sanften, schwerm&uuml;tigen und verzweifelten
+Ruhe, mit der mich Aurora zum Mitwisser ihres Geheimnisses
+machte, ist schwer zu mi&szlig;trauen. Ich wu&szlig;te zu wenig von
+Leidenschaft, zu wenig von dieser schrecklichen Narkose des Gem&uuml;ts.
+Die Gewohnheit kalter Sinnenlust und bezahlter Vergn&uuml;gungen
+hatte mich einem Str&auml;fling &auml;hnlich gemacht, der die
+<a class="page" name="Page_105" id="Page_105" title="105"></a>Kette nicht mehr sp&uuml;rt, aber vor Freude verr&uuml;ckt wird, wenn
+man ihm die Freiheit schenkt.</p>
+
+<p>Wie h&auml;tte ich ahnen sollen, was in diesem Weibergehirn
+vor sich ging? ahnen sollen, da&szlig; Neugier sie zur Verderberin
+und Verbrecherin machen konnte? Neugier, wie weit sie mich
+zu treiben imstande war! Sie glaubte nicht an M&auml;nner, sie
+glaubte nicht an mich. Da&szlig; ich in der Schlacht gewesen, da&szlig;
+ich Feindesblut und eigenes Blut vergossen hatte, das verlockte
+sie, und sie wollte mich erproben. Sie wollte ihre Macht
+an mir erproben. Sie hatte die unbestimmte Sehnsucht,
+Urheberin einer Tat zu werden, aber sie glaubte nicht an
+diese Tat, so wenig wie sie an Worte, Schw&uuml;re, Vors&auml;tze
+und Empfindungen glaubte. Die unergr&uuml;ndliche, unerme&szlig;liche
+Leere ihrer Brust verzerrte ihr alles ernste Bestreben,
+Wissen, Wollen, Denken und Vollbringen zu spottw&uuml;rdigen
+Schemen. Und so wurde meine Ergebenheit zu einem Piedestal
+f&uuml;r ihren lasterhaften Willen, und es war eine unheimliche Begierde
+in ihr, mich zu entfalten, mich gleichsam auseinanderzurei&szlig;en,
+um zu sehen, &#8211; was in mir drinnen sei. Dieses und
+sonst nichts.</p>
+
+<p>Das wei&szlig; ich jetzt; ich habe es erfahren m&uuml;ssen in einer
+Stunde, die mich aus dem Himmel in die H&ouml;lle st&uuml;rzte, einer
+Stunde, wie sie vielleicht nur wenige Menschen je erlebt haben,
+und die ich auch um keinen Preis noch einmal erleben m&ouml;chte.
+Aber wie h&auml;tte ich es damals sp&uuml;ren oder nur denken sollen?
+frage ich. Vor mir stand eine Frau, jung und unvergleichlich
+sch&ouml;n, den Sammet r&uuml;hrender Duldung in den Augen, und
+so hingeschmolzen vor meinem Wort und schlechten Trost,
+da&szlig; ein Tier weich geworden w&auml;re. Kann man das noch
+Verstellung oder Heuchelei nennen? Ist dies nicht vielmehr
+<a class="page" name="Page_106" id="Page_106" title="106"></a>eine b&ouml;se zauberische Kraft, f&uuml;r die es noch keinen Namen
+gibt?</p>
+
+<p>Ich will es nicht versuchen, meinen jammervollen Zustand
+zu schildern. Ich wandelte herum wie ein Vergifteter, auch
+schmeckte mir kein Bissen mehr. Da&szlig; ich liebte, war kein Gl&uuml;ck
+mehr f&uuml;r mich, da&szlig; ich geliebt wurde, sp&uuml;rte ich nur wie im
+Traum. Wie ich es fertigbrachte, mich t&auml;glich anzukleiden,
+zu waschen, zu fr&uuml;hst&uuml;cken und den Obliegenheiten meines
+Berufs zu gen&uuml;gen, ist mir heute noch ein R&auml;tsel. Offenbar
+gibt es irgendeine Maschine in unserm Innern, welche die allt&auml;glichen
+Pflichten gewohnheitsm&auml;&szlig;ig erf&uuml;llt. Eines Tages war
+ich bei meiner Mutter zu Tisch, und da ich alle Speisen unber&uuml;hrt
+lie&szlig;, stellte sie mich pl&ouml;tzlich in ernstem Ton zur Rede.
+Sie sagte, sie wisse alles; sie beschwor mich, von Aurora zu lassen
+und nannte sie eine gef&auml;hrliche Kokette. Ich packte ihre H&auml;nde,
+wie man die F&auml;uste eines Gegners packt, der zum Schlag ausholt.
+&raquo;Auch du,&laquo; rief ich, au&szlig;er mir vor Wut und Entt&auml;uschung,
+&raquo;auch du gehst zu den Verleumdern. Du wei&szlig;t ja nichts von
+ihr. Ach, wenn du w&uuml;&szlig;test, wenn du w&uuml;&szlig;test, es soll sich mir
+nur einer stellen! nur einmal Aug&#8217; in Auge! Mich d&uuml;rstet ja
+danach, sie vor die Pistole zu bekommen, die feigen Hunde!&laquo;
+Meine Mutter war erschrocken, sie umarmte mich schluchzend
+und sagte: &raquo;Da&szlig; du den Appetit verloren hast, mein Junge,
+ist f&uuml;r mich das beste Zeichen, da&szlig; deine Leidenschaft verderblich
+und unnat&uuml;rlich ist.&laquo;</p>
+
+<p>So zeigt sich einem jeden die Welt anders; dem einen von
+der Herzensseite, dem andern von der Magenseite. Aber meine
+Mutter hatte Recht. Dennoch vermied ich es in der Folge,
+sie zu besuchen, und vom November bis zum Februar sah ich
+sie nur zweimal. Auch mit andern Menschen sprach ich nicht
+<a class="page" name="Page_107" id="Page_107" title="107"></a>mehr als das Notd&uuml;rftigste; ich gab jeden Verkehr auf und
+stellte Aurora meine freie Zeit v&ouml;llig zur Verf&uuml;gung. Nachdem
+ich mich lange in einem Zustand der Zerschmetterung befunden
+hatte, begann ich die Unhaltbarkeit der Lage zu sp&uuml;ren, um so
+mehr, als meine finstere Apathie in Aurora sichtlich eine gewisse
+Ungeduld erweckte. Ich sagte zu ihr, ich m&uuml;sse mich mit
+dem Major schlagen. Sie erwiderte mit der ihr eigenen brennenden
+und faszinierenden Ruhe: &raquo;Wie? Du willst dein Leben
+gegen das seine in die Wagschale werfen? Ein Zufall, und er
+bleibt Sieger, und ich, verlassener als je, bin nicht nur auf seine
+Gnade angewiesen, sondern habe auch noch dich verloren. Bevor
+du mir das antust, schie&szlig;&#8217; ich mir selber eine Kugel in den
+Kopf, das sollst du wissen.&laquo;</p>
+
+<p>Ihre Beredsamkeit war gro&szlig;. Es ist von jeher meine
+Schw&auml;che gewesen, da&szlig; ich gegen beredsame Naturen schnell
+unterlag. Ich fa&szlig;te den Plan einer Flucht. &raquo;Fliehen wir!&laquo;
+schlug ich ihr vor, &raquo;ich bin reich, la&szlig; uns &uuml;bers Meer fahren
+und ein neues Leben anfangen.&laquo;</p>
+
+<p>Sie sch&uuml;ttelte den Kopf. &raquo;Fliehen hei&szlig;t, mich in den Augen
+der Welt f&uuml;r schuldig und ungetreu bekennen,&laquo; sagte sie. &raquo;Heutzutage
+ist die Welt zu klein f&uuml;r solche Wagnisse. Wer kann mich
+zwingen oder mir es als n&uuml;tzlich einreden, da&szlig; ich wie ein Dieb
+in der Nacht ein Haus verlassen soll, in dem man mit F&uuml;&szlig;en
+auf mich getreten ist, in dem man mich bespien und besudelt
+hat? Nein, Treunitz, das kann ein stolzer Mann nicht von mir
+wollen.&laquo;</p>
+
+<p>Da stand ich wie ein Sch&uuml;ler. &raquo;Was wollen wir also tun?&laquo;
+fragte ich.</p>
+
+<p>&raquo;So geben wir uns doch auf!&laquo; rief sie trotzig und wie erm&uuml;det.
+Ich schwieg, mu&szlig; jedoch sehr bla&szlig; geworden sein, denn
+<a class="page" name="Page_108" id="Page_108" title="108"></a>sie sah mich an, erst besorgt, dann nachdenklich, d&uuml;ster und
+kalt. An jenem Tag verstand ich den Blick noch nicht. Der
+n&auml;chste Tag war Allerseelen. Ich war gegen Abend gekommen,
+und Aurora bat mich dringend, zu Tisch zu bleiben. Ich konnte
+es ihr nicht verweigern, obwohl mir vor dem Beisammensein
+mit dem Major graute. Ich hatte dienstlich mit ihm nichts zu
+schaffen; in der Stadt sah ich ihn fast nie, von den Veranstaltungen
+der Offiziere hielt ich mich fern; da&szlig; ich dennoch sein
+Haus betrat, dennoch an seiner Tafel speiste, f&auml;hig war, ihn zu
+begr&uuml;&szlig;en, ihm zuzuh&ouml;ren und zu antworten, dies alles m&uuml;&szlig;te
+mich als einen hinterh&auml;ltigen und niedrigen Charakter denunzieren,
+wenn es nicht durch die Macht, die Aurora &uuml;ber mich
+aus&uuml;bte, einigerma&szlig;en erkl&auml;rt w&uuml;rde. Ihre Worte hatten eine
+solche Gewalt &uuml;ber mich, da&szlig; in meinem Kopf gar keine &Uuml;berlegung
+mehr war, wenn sie einmal gesprochen hatte. Da ich sie
+selber dulden sah, glaubte ich es unserer Liebe schuldig zu sein,
+mich ebenfalls zu beherrschen und alles zu versuchen, um ihr
+Los zu erleichtern. Was f&uuml;r K&auml;mpfe und Leiden mich dies
+kostete, davon will ich nicht reden.</p>
+
+<p>Mit dem Augenblick, wo der Major das Zimmer betrat,
+pochte mir das Herz vor Ha&szlig;, Ingrimm und Verachtung bis
+in den Schlund hinauf. Ich gewahrte ihn nur wie durch Schleier,
+jede seiner Bewegungen erregte mir Ekel, bei jedem seiner
+Worte zuckte ich zusammen; meine Stimme klang heiser, und
+wer wei&szlig;, wozu es gekommen w&auml;re, wenn ich nicht Auroras
+Blick wie einen geisterhaften Bann best&auml;ndig auf mir ruhen
+gef&uuml;hlt h&auml;tte. Mitten in einem belanglosen Gespr&auml;ch unterbrach
+sich der Major, stocherte mit der Gabel im Salat, f&uuml;hrte
+ein Bl&auml;ttchen an die Lippen, indem er daran leckte, und warf
+dann Besteck und Serviette mit einem Fluch auf den Tisch.
+<a class="page" name="Page_109" id="Page_109" title="109"></a>&raquo;Kreuzmillionenschwerenot,&laquo; schrie er, &raquo;wie oft soll ich denn
+noch sagen, da&szlig; ich den Salat mit Zitrone und nicht mit Essig
+angemacht will! Was haben denn die gottverdammten Frauenzimmer
+sonst zu denken? Bin ich denn der Niemand im Hause,
+da&szlig; man Schindluder mit mir treibt? Wahrhaftig, eine Lammsgeduld
+geh&ouml;rt dazu.&laquo;</p>
+
+<p>In diesem r&uuml;den Feldwebelton ging&#8217;s noch eine Weile
+weiter, bis er aufsprang, die T&uuml;r hinter sich zudonnerte und
+hinausst&uuml;rzte.</p>
+
+<p>Ich war vollkommen perplex. Das Blut stieg mir langsam
+zu Kopf, und ich blickte Aurora schweigend an. Sie sa&szlig; da und
+l&auml;chelte wie eine Frau, die es endlich zur Augenscheinlichkeit
+gebracht hat, was sie sonst nur insgeheim erleidet. &raquo;Dies ist
+ein Affront,&laquo; murmelte ich, &raquo;ich werde ihn zur Rechenschaft
+ziehen.&laquo; Aurora lachte. &raquo;Zur Rechenschaft ziehen? Einen Unzurechnungsf&auml;higen?
+Was f&auml;llt dir ein!&laquo; erwiderte sie herrisch.
+&raquo;Abrechnen mit einem Vieh!&laquo;</p>
+
+<p>Ich zitterte vor innerem Frost an allen Gliedern. Und wie
+mich nun Aurora so anschaute, mit blitzendem Blick, mit geschlossenen
+Lidern und mit einer unbeweglichen Stirn, da war
+es mir, als ob mein Herz in siedendes Wasser getaucht w&uuml;rde,
+und, Gott m&ouml;ge mir verzeihen, ich fing an, jenen Blick zu verstehen,
+er ging auf in meiner Brust wie das Saatkorn in ged&uuml;ngtem
+Boden. Es war mir klar, es war ein unabwendbarer
+Beschlu&szlig;, da&szlig; der Major von meiner Hand sterben m&uuml;sse.
+Aurora zu retten, war mein einziger w&uuml;tender Drang, ich f&uuml;hlte
+meine Liebe zu ihr so ungeheuer, da&szlig; ich die wenigen Worte,
+die alles entschieden, trotz des Fl&uuml;sterns mit einer Festigkeit
+hervorbrachte, als ob dieses F&uuml;rchterliche eine allt&auml;gliche Angelegenheit
+sei. Aurora, der aus weitoffenen Augen die Tr&auml;nen
+<a class="page" name="Page_110" id="Page_110" title="110"></a>&uuml;ber das Gesicht liefen, h&ouml;rte pl&ouml;tzlich zu weinen auf, ihre linke
+Hand bebte mir entgegen, ich ergriff die Hand und bedeckte
+mein Gesicht damit.</p>
+
+<p>Der Major kam nach einer Viertelstunde zur&uuml;ck und bat,
+anscheinend sehr betreten, um Entschuldigung, die ich meinerseits
+kalt quittierte. &raquo;Aurora,&laquo; rief er gezwungen scherzend,
+&raquo;komm einmal zu mir.&laquo; Sie erhob sich sogleich und trat eilig
+vor ihn hin. Diese Bewegung sklavischer Unterw&uuml;rfigkeit und
+Angst r&uuml;hrte mich tief. Da&szlig; sie wahrscheinlich nur f&uuml;r mich
+berechnet war, ahnte ich ja nicht. Wie Napoleon, wenn er einen
+seiner G&uuml;nstlinge wieder vers&ouml;hnen wollte, zupfte der Major
+seine Gattin am Ohrl&auml;ppchen und lachte. Unter irgendeinem
+Vorwand verabschiedete ich mich alsbald.</p>
+
+<p>Ich war jetzt bei ziemlich kaltem Blut, und w&auml;hrend der
+ganzen Nacht &uuml;berlegte ich meinen Plan. Am n&auml;chsten Vormittag
+um elf Uhr traf ich Aurora, wie oft bei sch&ouml;nem Wetter,
+im Stadtpark. Ich vermochte, mit ihr davon zu sprechen. Es
+fiel mir auf, da&szlig; sie dabei fortw&auml;hrend mit niedergeschlagenen
+Augen l&auml;chelte. Dies d&uuml;nkte mich sehr kurios. Ich wu&szlig;te nicht,
+war es Unglaube, Befriedigung, Gedankenlosigkeit oder irgendeine
+Tr&auml;umerei. Der Ausdruck ihrer Z&uuml;ge rief eine dunkle Erinnerung
+in mir hervor. Erst viel sp&auml;ter entsann ich mich, da&szlig;
+vor Jahren, als ich in Basel war, das Bild der Herzogin vom
+sogenannten Basler Totentanz eine lange nicht verwischbare,
+fast unheimliche Wirkung auf mich ausge&uuml;bt hatte. Es war
+genau dieses s&uuml;&szlig;-friedsame Gesicht, in dem etwas Wildes und
+Kindisches war, eine zerstreute und lustige Grausamkeit und
+ein L&auml;cheln, als ob der Tod nur ein Schreckmittel f&uuml;r Schwachk&ouml;pfe
+sei.</p>
+
+<p>Nun, was half&#8217;s; ich war darum nicht weniger verstrickt,
+<a class="page" name="Page_111" id="Page_111" title="111"></a>der Gedanke wurde uns vertraut. Er erweckte kein Schaudern
+mehr in mir. Er nahm Gestalt an, und ich war von ihm besessen.
+Gleichwohl qu&auml;lte mich Auroras Verhalten. Wenn wir
+eine Zeitlang ernst &uuml;ber das Vorhaben gesprochen hatten,
+klatschte sie pl&ouml;tzlich in die H&auml;nde und lachte, als ob es sich um
+ein M&auml;rchen handle, an dem zu sinnen angenehm war, das
+aber niemals in Erf&uuml;llung gehen k&ouml;nne. Dergleichen regte
+mich ungemein auf. Wenn sie mir die Perfidien und zahllosen
+tyrannischen Handlungen ihres Gatten klagte, beobachtete sie
+mit Angst, bisweilen mit einem Gemisch von Freude und hungriger
+Erwartung die geringste meiner Geb&auml;rden. Mein Gest&auml;ndnis,
+da&szlig; mich ihre Berichte unsinnig folterten, schien sie
+oft beinahe fr&ouml;hlich zu stimmen, und es best&uuml;rzte mich, wenn
+sie unmittelbar nach einem der unheilvollen Gespr&auml;che mit dem
+Vergn&uuml;gen eines kleinen M&auml;dchens einen Hut probieren konnte
+und sich selber in den Spiegel hinein entz&uuml;ckt anl&auml;chelte. Ich
+habe w&auml;hrend der ganzen Monate Dezember und Januar in
+keiner Nacht mehr als zwei Stunden Schlaf genossen, und am
+Ende sah ich aus wie ein Schwinds&uuml;chtiger.</p>
+
+<p>Dazu die gestohlenen Liebesstunden, in denen meine Leidenschaft
+nur durch versprechungsvolle K&uuml;sse Gen&uuml;ge fand. Was
+Gen&uuml;ge! Ein verzweifeltes Aufflackern war es immer wieder,
+das den K&ouml;rper ruinierte und mir alle Klarheit des Gem&uuml;ts
+und Geistes raubte. Aurora gab sich mir nicht hin; sie erkl&auml;rte,
+das sch&auml;nde sie, sie wolle sich nicht noch mit Lug und Trug
+beladen, sie wolle ihr Gewissen fleckenlos bewahren. Ich ehrte
+diese Gr&uuml;nde, ich konnte nicht wissen, da&szlig; es ihr blo&szlig; darum
+zu tun war, mein Gef&uuml;hl ins Ma&szlig;lose zu steigern. Denn sie,
+sie hatte ja genossen! Sie wollte sich einnisten in der Anbetung
+eines vertrauensseligen Mannes, das verlieh ihr einen Halt,
+<a class="page" name="Page_112" id="Page_112" title="112"></a>eine letzte W&uuml;rde und weckte vielleicht ihr abgestumpftes Herz
+zu einer Regung von Z&auml;rtlichkeit. Das war es, das war das
+Ganze, und ich Tropf lief in die &uuml;berdeckte Falle und st&uuml;rzte
+so tief, da&szlig; keine Faser an meinem Leibe heil blieb.</p>
+
+<p>Eines Abends um sieben Uhr kam Aurora in meine Wohnung,
+dicht verschleiert. Sie war still und finster, wie ich sie
+nie gesehen. Sie entbl&ouml;&szlig;te ihre Brust und zeigte mir einen
+blutigen Striemen. Ich stotterte eine Frage. &raquo;Dies ist von
+ihm&laquo;, sagte sie dumpf. Da schlug ich besinnungslos mit der
+Faust um mich und zertr&uuml;mmerte das Fenster. Mit meiner
+von Glassplittern verwundeten Hand wollte ich sie an mich ziehen,
+aber sie, auf das Blut starrend, wich sehr erschrocken zur&uuml;ck.
+&raquo;Du wei&szlig;t, ich kann kein Blut sehen&laquo;, hauchte sie. &raquo;Und doch
+sollst du bald Blut sehen&laquo;, antwortete ich. &raquo;Nein sehen nicht&laquo;,
+versetzte sie abermals hauchend. &raquo;Ach, wenn das w&auml;re&laquo;, f&uuml;gte
+sie hinzu und schaute mich gl&uuml;hend an, &raquo;wenn du das vollbringen
+k&ouml;nntest, dann k&ouml;nnte ich sterben aus Liebe zu dir.&laquo;</p>
+
+<p>Da&szlig; sie gewagt hatte, zu mir zu kommen, ersch&uuml;tterte mich,
+da ich in dieser Verwegenheit nur eine Handlung des Vertrauens
+und der Zuneigung erblickte. Besorgt um ihren Ruf, holte ich
+selber einen Wagen; ich begleitete sie, und w&auml;hrend der Fahrt
+setzten wir Tag und Stunde der Tat fest. Ich sagte &raquo;morgen&laquo;.
+Aurora antwortete, morgen sei der gro&szlig;e Ball im Kasino, da
+wolle sie noch einmal tanzen. Dieses &raquo;noch einmal&laquo; zerstreute
+eine unangenehme Verwunderung, die mir der Einwand
+zun&auml;chst erregt hatte. Ich sagte also: &uuml;bermorgen. Sie w&uuml;nschte
+auch dieses nicht. Sie sagte, am Sonntag sei in Weidenberg
+Jahrmarkt, ihre M&auml;dchen und der Bursche des Majors h&auml;tten
+f&uuml;r den Nachmittag und die Nacht Urlaub erbeten, und so
+k&ouml;nne ich ins Haus kommen ohne Gefahr, einen Unberufenen
+<a class="page" name="Page_113" id="Page_113" title="113"></a>zu wecken. Ich f&uuml;gte mich, obwohl mir jeder Tag und besonders
+jede Nacht bis dahin zur Ewigkeit werden mu&szlig;te. An das,
+was nachher kam, dachte ich nicht im geringsten. Vermutlich
+sp&uuml;rte ich schon, da&szlig; ich auf eine Zukunft nicht mehr zu rechnen
+hatte.</p>
+
+<p>Als ich am n&auml;chsten Mittag in Gesellschaft des Regimentsadjutanten
+&uuml;ber den Domplatz ging, gewahrten wir einen sehr
+fetten und auffallend elegant gekleideten jungen Menschen,
+der offenbar fremd in der Stadt war. In der Provinz wird der
+Fremdling, und gar der Gro&szlig;st&auml;dter durch ein Etwas in Miene
+und Schritt sofort erkennbar. Ich hatte nur einen Blick auf ihn
+geworfen und f&uuml;hlte gleich den &auml;u&szlig;ersten Widerwillen gegen
+dies abgelebte, hochm&uuml;tige und bornierte Gesicht. Der Regimentsadjutant
+zwinkerte mit den Augen und bemerkte sp&ouml;ttisch:
+&raquo;Aha, da ist ja der Fabrikant Dotterwachs aus Berlin.&laquo;</p>
+
+<p>Mich durchfuhr eine unklare Erinnerung von nicht sympathischer
+Art, aber erst hernach fiel mir ein, da&szlig; das vielleicht
+jene Person sein k&ouml;nne, von der mein Freund, der Ingenieur,
+gesprochen. Als ich am Nachmittag in die Westermarksche
+Villa kam, wurde mir gesagt, die gn&auml;dige Frau sei nicht zu
+Hause. In meiner Wohnung angelangt, &uuml;bergab mir mein
+Bursche einen Brief. Es war ein anonymes Schreiben folgenden
+Inhalts: &raquo;Wenn Sie das geheime Absteigequartier der Majorin
+Westermark kennen lernen wollen, so verf&uuml;gen Sie sich in den
+dritten Stock des Hauses Nummer 15, Sch&ouml;nlandstra&szlig;e. Eine
+fr&uuml;here Kammerjungfer und jetzige Vertraute der Majorin ist
+Kupplerin und Mieterin dortselbst.&laquo;</p>
+
+<p>Ich zerri&szlig; den Fetzen und heftete nicht zwei Gedanken daran,
+schon, weil mir die Sache zu albern erschien. Leider hatte ich
+Aurora versprochen, auf den Kasinoball zu kommen, wenn auch
+<a class="page" name="Page_114" id="Page_114" title="114"></a>nur, um sie zu sehen. Ich &uuml;berwand meine Abneigung, die
+mir in der jetzigen Stimmung derlei Festlichkeiten hassenswert
+machte, schob aber die Stunde m&ouml;glichst hinaus, und so war es
+bereits recht sp&auml;t, als ich den Saal betrat. Aurora war von
+einem Kreis junger Leutnants umgeben. Sie war hinrei&szlig;end
+sch&ouml;n; die Haut von Busen, Hals und Antlitz gl&auml;nzte wie Silber,
+darunter flo&szlig; fischhaft das dunkelgr&uuml;ne Spitzenkleid; sie war
+heiter, allzu heiter; und ich, ich war finster. Ich war einer
+Ohnmacht nahe, so schrecklich empfand ich in diesem Augenblick
+meine leidenschaftliche Liebe. Frau von R&uuml;tten, an der
+ich nicht gru&szlig;los vor&uuml;bergehen konnte, sa&szlig; mit einigen andern
+Leuten in einer S&auml;ulennische. Alle diese Leute sahen mich mit
+seltsamen Blicken an, wenigstens schien es mir so. Ich bemerkte
+darunter auch das siebzehnj&auml;hrige Kind, mit dem man mich
+hatte verheiraten wollen. Ich glaubte die Augen dieses M&auml;dchens
+mit einem r&uuml;hrenden Gef&uuml;hl auf mich gerichtet. Ich
+wandte mich hastig ab und hatte gerade noch Zeit, dem Major
+Westermark aus dem Weg zu gehen, der auf mich zukam,
+lachend und winkend, als ob ich sein bester Freund w&auml;re. Es
+&uuml;berrieselte mich eiskalt.</p>
+
+<p>Ich stellte mich nun an das untere Ende des Saales und
+starrte in das licht&uuml;bergossene Geflimmer der Uniformen und
+Roben. Die Walzermusik stimmte mich traurig, und ich wei&szlig;
+nicht, wie es zuging, aber ich mu&szlig;te best&auml;ndig an den Mann
+denken, den ich mittags gesehen, und dessen fleischige und gemeine
+Z&uuml;ge nicht aus meiner Vorstellung schwinden wollten.
+Ich sah ihn essen, ich sah ihn Bier trinken, ich sah ihn widerlich
+lachen und prahlen, und voll Bitterkeit dachte ich mir: das ist
+also der jetzige Deutsche, ein solcher Mann darf den Namen
+eines Deutschen f&uuml;hren; Empork&ouml;mmling; dickfelliger, ohren<a class="page" name="Page_115" id="Page_115" title="115"></a>loser,
+aufgeblasener, herzloser Geselle, dem alles geh&ouml;rt und
+der nichts respektiert; und so sind sie alle, sie haben das Zittern
+verlernt und brauchen wieder einmal die Peitsche des Schicksals.
+Dabei kannte ich den Mann doch gar nicht und verband nur
+einen Eindruck mit dem Groll &uuml;ber eine allgemeine Kalamit&auml;t,
+denn ich war in diesen Dingen schon zum Schwarzseher geworden
+und war deshalb auch nicht mehr mit innerer Freude
+Soldat.</p>
+
+<p>Nach dem Kotillon gelang es mir, Aurora f&uuml;r ein kurzes
+Alleinsein zu erobern. In ihrem Wesen war etwas Schmachtendes,
+das ich nicht lediglich der Wirkung des Tanzes zuschreiben
+mochte. Die Luft zitterte zwischen unsern M&uuml;ndern und unsre
+Blicke bohrten sich fest ineinander. Trotzdem Leute um uns
+herumstanden, hatte sie die Verwegenheit, mich zu fragen,
+ob es beim Sonntag abend verbleibe, und als ich schweigend
+und best&uuml;rzt nickte, l&auml;chelte sie mit entbl&ouml;&szlig;ten Z&auml;hnen. Noch
+lange nachher, als sie sich schon von mir entfernt hatte, beobachtete
+ich, da&szlig; ihre Augen bisweilen forschend, ja &auml;ngstlich
+auf mir ruhten. Pl&ouml;tzlich ging sie zu ihrem Mann, sagte ihm
+ein paar Worte und verlie&szlig; den Saal. Der Major, der bei
+Frau von R&uuml;tten sa&szlig;, erhob sich, um ihr zu folgen. Sie kehrte
+noch einmal um, und sie redeten wieder eine Weile miteinander,
+dann ging Aurora. Der Major schien unschl&uuml;ssig und
+zeigte ein nachdenkliches Gesicht. Da Aurora nicht zur&uuml;ckkam,
+entschlo&szlig; ich mich, Frau von R&uuml;tten zu fragen, ob sie wisse,
+was geschehen sei. Sie antwortete mir kalt, die Majorin habe
+sich nicht wohl gef&uuml;hlt und sei nach Hause gefahren; sie habe
+nicht gew&uuml;nscht, da&szlig; der Major sie begleite, weil sie bestimmt
+wiederkommen wollte. Ich wunderte mich und wurde besorgt.
+Ehe eine Viertelstunde verflossen war, hatte ich mich in aller
+<a class="page" name="Page_116" id="Page_116" title="116"></a>Stille aus dem Saal entfernt, nahm au&szlig;en meinen Mantel
+und eilte nach der Westermarkschen Villa. Da&szlig; meine Abwesenheit
+unter der Ballgesellschaft bemerkt und auff&auml;llig gefunden
+werden k&ouml;nne, dar&uuml;ber machte ich mir keine Gedanken. Da
+ich im Souterrain der Villa noch Licht sah, l&auml;utete ich am Gartentor.
+Eine M&auml;dchenstimme fragte vom Fenster aus, wer da
+sei. Ich erkundigte mich, ob sich die gn&auml;dige Frau noch oben
+befinde; weil der Wagen nicht da war, mu&szlig;te ich annehmen,
+da&szlig; sie schon zur&uuml;ckgekehrt w&auml;re. Das M&auml;dchen erwiderte
+mir, die gn&auml;dige Frau sei auf dem Ball. Sie sei aber doch
+vor kurzem nach Hause gefahren, versetzte ich. Dies wurde
+verneint.</p>
+
+<p>Ich spazierte auf der gegen&uuml;berliegenden Stra&szlig;enseite auf
+und ab und wartete, bis die Glocke zw&ouml;lf schlug. Darauf machte
+ich mich wieder auf den Weg und dachte, sie habe am Ende
+das Kasino gar nicht verlassen. Als ich in die Wilhelmstra&szlig;e
+einbog, rasselte eine Droschke an mir vor&uuml;ber und blieb etwa
+zweihundert Schritte weiter stehn, ungef&auml;hr in der Mitte des
+Wegs zwischen mir und dem Kasino. Es stieg ein Herr aus,
+und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Der Herr kam
+mir auf demselben Trottoir entgegen, und ich erkannte den
+Fabrikanten aus Berlin. Er trug einen Zylinder und rote
+Handschuhe. Sein fettes Gesicht hatte einen angestrengt &uuml;berlegenden
+Ausdruck, und seine Lippen waren wie zum Pfeifen
+gespitzt. Niedergeschlagen, ohne recht zu wissen, weshalb, wandelte
+ich noch ziemlich lange Zeit auf den Stra&szlig;en herum.
+Als ich dann wieder den Ballsaal betrat, erfuhr ich, da&szlig; Westermarks
+schon nach Hause gefahren seien. Dies beschwichtigte
+mich einigerma&szlig;en.</p>
+
+<p>Als ich am folgenden Nachmittag zu Aurora kam, fand ich
+<a class="page" name="Page_117" id="Page_117" title="117"></a>sie lesend. Sie hatte unter alten Sachen gekramt und ein Stammbuch
+aus ihrer M&auml;dchenzeit entdeckt. Ich beugte mich &uuml;ber sie
+und sah, da&szlig; ihre Blicke auf einen Vers gerichtet waren, der in
+gro&szlig;v&auml;terischen Schriftz&uuml;gen ein vergilbtes Blatt bedeckte. Er
+lautete:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Mit einer Blume zu spielen, ist dir erlaubt,<br /></span>
+<span class="i0">und sie zu pfl&uuml;cken.<br /></span>
+<span class="i0">Mit einem Herzen, das du geraubt,<br /></span>
+<span class="i0">sollst du nicht t&uuml;cken.<br /></span>
+<span class="i0">Vergi&szlig; nicht, o Mann, o Weib,<br /></span>
+<span class="i0">Herz, das sich schenkt, ist Gottes Leib.<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>&raquo;Ein h&uuml;bscher Spruch&laquo;, sagte ich. Aurora schaute mich
+geistesabwesend an. Sie ergriff meine Hand und hielt sie fest.
+Ihre Finger waren hei&szlig;. Ihr Wesen war so gemsenhaft scheu und
+so bedr&auml;ngt, da&szlig; ich den Augenblick sehnlich herbeiw&uuml;nschte,
+wo ich ihr zurufen konnte: du bist erl&ouml;st. Sie hatte viel Gesichter
+und jeden Tag zeigte sich mir ein neues. H&auml;tte sie nur
+ein einziges Gesicht besessen, so h&auml;tte ich vielleicht ergr&uuml;nden
+k&ouml;nnen, was in ihr vorging; aber von der hinschmelzenden
+Schwermut bis zur Trunkenheit des Vergn&uuml;gens alle Verwandlungen
+mitzuerleben, hatte ich kein Talent. Ich h&auml;tte
+lernen m&uuml;ssen zu sehen, bevor ich sie liebte.</p>
+
+<p>Endlich brachte ich es &uuml;ber mich, sie zu fragen, wo sie gestern
+w&auml;hrend des Balles gewesen sei. Ihr Gesicht verfinsterte sich
+erschreckend. &raquo;Bedeutet dies Mi&szlig;trauen?&laquo; fl&uuml;sterte sie langsam.
+Ich sch&uuml;ttelte den Kopf. &raquo;Hast du denn gar keine Geheimnisse?&laquo;
+fragte sie in derselben d&uuml;stern Weise. &raquo;Gar keine&laquo;, antwortete
+ich. &raquo;Aber ich,&laquo; fuhr sie fort, &raquo;ich habe Geheimnisse, und auch
+die sollst du lieben. Bin ich nicht mit meinem ganzen Dasein
+so und soviel tausend Zuschauern offenbar? Wenn ich kein
+<a class="page" name="Page_118" id="Page_118" title="118"></a>Geheimnis h&auml;tte, m&uuml;&szlig;te ich sterben. &Uuml;brigens magst du wissen,&laquo;
+f&uuml;gte sie hinzu, &raquo;da&szlig; gegenw&auml;rtig ein ehemaliger Freund von
+mir in der Stadt weilt, ein Mensch, dem ich einst viel zu verdanken
+hatte, der aber meine Dankbarkeit jetzt ausbeutet. An
+Bedr&uuml;ckern hat es mir nie gefehlt. Aber von alledem sprechen
+wir ein andermal.&laquo; &raquo;Ein andermal?&laquo; versetzte ich mit stockender
+Stimme. &raquo;Ja, ein andermal&laquo;, bekr&auml;ftigte sie mutig oder auch
+gedankenlos. Sie n&auml;herte sich mir, legte ihre H&auml;nde auf meine
+Wangen und fl&uuml;sterte: &raquo;Ach, wir werden viel beieinander sein
+m&uuml;ssen, damit ich dir alles, alles sagen kann.&laquo; So verstand sie
+es, mich zu beunruhigen und mich sicher zu machen mit ein
+und derselben Rede.</p>
+
+<p>Als es zu dunkeln begann, gingen wir gegen den Flu&szlig; hinaus
+spazieren. Es war dies ein einsamer Weg, wo selten jemand
+zu sehen war. Da wir uns am folgenden Tag nicht sehen wollten,
+verabredeten wir alle Einzelheiten des m&ouml;rderischen Vorhabens.
+Aurora gab mir den Schl&uuml;ssel zur Gartenpforte. Der Hund,
+der w&auml;hrend der Nacht im Garten frei war, brauchte keine Sorge
+f&uuml;r mich zu sein, denn das Tier kannte mich, die beiden Jagdhunde
+wurden nachts in den Verschlag neben den Keller gesperrt.
+Den Hausschl&uuml;ssel k&ouml;nne sie mir nicht geben, sagte
+Aurora, es sei nur ein einziger vorhanden, und den habe ihr
+Mann. Sie wollte an der R&uuml;ckseite der Villa das Flurfenster
+offen lassen, dort sollte ich einsteigen und mich der Stiefel entledigen,
+bevor ich ins Schlafzimmer des Majors ging, das er
+unversperrt zu lassen pflegte. Da&szlig; sie keinen Hausschl&uuml;ssel
+besa&szlig;, war eine L&uuml;ge, davon konnte ich mich selbst &uuml;berzeugen,
+ehe zweimal vierundzwanzig Stunden vergingen. Den Grund
+dieser L&uuml;ge vermag ich allerdings auch jetzt noch nicht einzusehen.
+Vielleicht wollte sie die Vorbereitungen abenteuerlicher
+<a class="page" name="Page_119" id="Page_119" title="119"></a>machen, oder, was wahrscheinlicher ist, sich vor &Uuml;berraschungen
+sicherstellen. Dies schlug fehl durch meine aufrichtige Entschlossenheit.</p>
+
+<p>Ich gestehe, da&szlig; mich schauderte. Aber ich war ja schon verdammt
+durch den Willen. Die Aus&uuml;bung war nur noch eine
+mechanische Folge f&uuml;r mich. Aurora verwunderte mich dann
+und wann durch eine Miene des Staunens und eine mir unerkl&auml;rliche,
+neugierige Spannung. W&auml;hrend des R&uuml;ckwegs jedoch
+blieb sie bei einer Weide stehn, strich mit ihren H&auml;nden
+den Schnee von einem Ast und warf sich pl&ouml;tzlich, erst lachend,
+dann weinend an meine Schulter.</p>
+
+<p>In welcher Verfassung ich den n&auml;chsten und den &uuml;bern&auml;chsten
+Tag verbrachte, ist zu beschreiben unm&ouml;glich. Wozu sollte ich
+auch dabei verweilen. Erst im Gef&auml;ngnis habe ich erfahren,
+da&szlig; der Major gerade an jenem Sonntag sein Geburtsfest
+feierte und da&szlig; ihn Aurora mit einer neuen Jagdflinte, einem
+neuen Portefeuille und einem Paar von ihr selbst gestickter
+Pantoffeln beschenkte. Gleichfalls habe ich erfahren, da&szlig; sie
+ihm, wie das Stubenm&auml;dchen aussagte, schon am Morgen die
+Erlaubnis abschmeichelte, den Abend au&szlig;er Haus verbringen
+zu d&uuml;rfen, bei einer Freundin, die aus Stettin gekommen sei.
+Um zwei Uhr nachmittags schickte sie den Burschen des Majors
+mit einem Brief in meine Wohnung. In diesem Brief standen
+nur die Worte: &raquo;Aufschieben. Gr&uuml;nde m&uuml;ndlich.&laquo; Ich bekam
+aber den Brief nicht mehr in die Hand, und das war ein Ungl&uuml;ck.
+Ich war um zw&ouml;lf Uhr zum letztenmal in meinem Zimmer
+gewesen, hatte Zivilkleider angelegt, den Revolver zu mir
+gesteckt und war &uuml;ber Land gegangen. Ich hatte mir vorgenommen,
+nicht mehr nach Hause zur&uuml;ckzukehren, denn mir graute
+vor den vier W&auml;nden. Dies war, wie gesagt, ein Ungl&uuml;ck.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_120" id="Page_120" title="120"></a>Die schrecklichste Unruhe trieb mich drau&szlig;en &uuml;ber Landstra&szlig;en,
+durch Wiesen, &Auml;cker und W&auml;lder. Ich war todm&uuml;de,
+als ich sp&auml;t abends in die Stadt zur&uuml;ckkam, aber mein Kopf
+war klar. Um dreiviertel zw&ouml;lf stand ich vor dem Gartentor
+der Villa. Im Zimmer des Majors brannte kein Licht mehr.
+Ich wu&szlig;te, da&szlig; er sich t&auml;glich um elf Uhr zur Ruhe begab, denn
+des Morgens war er der erste Offizier in der Kaserne. Ich
+sperrte die Gartent&uuml;r auf, und als ich nach der R&uuml;ckseite des
+Hauses ging, folgte mir der gro&szlig;e Bernhardinerhund mit
+freundlichem Wedeln seines Schweifes. Als ich das bezeichnete
+Fenster, entgegen der mit Aurora getroffenen Verabredung,
+fest zugeschlossen fand, stutzte ich. Eine Weile war ich ratlos.
+Ich zog aus dem Umstand nicht den vern&uuml;nftigen Schlu&szlig;, den
+ich h&auml;tte ziehen sollen. Ich beschlo&szlig; zu tun, was die Diebe und
+Einbrecher tun. Mit der pelzbehandschuhten Hand pre&szlig;te ich
+so lange an das Glas, bis es sprang. Die Jagdhunde im Verschlag
+fingen an zu bellen, da sich aber sonst nichts regte, entfernte
+ich mit Bedachtsamkeit die Scherben, &ouml;ffnete den Innenriegel
+und stieg ein. Ich hatte Gummisohlen an den Stiefeln
+und stieg unter dem fortw&auml;hrenden Gekl&auml;ff der Hunde die
+Treppe hinan bis zum Schlafzimmer des Majors, in das ich
+ohne zu z&ouml;gern eintrat. Es war eine ziemlich st&uuml;rmische Mondscheinnacht,
+und obgleich der Mond h&auml;ufig durch Wolken verdeckt
+wurde, fiel doch durch das unverh&auml;ngte Fenster Licht
+genug, da&szlig; ich den Major sehen konnte. Er hatte eine M&uuml;tze
+auf dem Kopf und schnarchte laut. Er erschien mir sehr dick.
+Dicke Menschen waren mir von jeher zuwider, und in diesem
+Augenblick empfand ich nur die rein tierische Abneigung gegen
+den Mann. Als ich neben das Bett trat, gewahrte ich auf dem
+Nachtk&auml;stchen ein Buch, und ich konnte im Mondlicht ohne
+<a class="page" name="Page_121" id="Page_121" title="121"></a>M&uuml;he den Titel auf dem bunten Umschlag lesen. Es waren
+&raquo;Lederstrumpfs Erz&auml;hlungen&laquo;. Einf&auml;ltig und l&auml;cherlich kam es
+mir vor, da&szlig; ein Soldat in den Jahren des Majors solches
+Zeug zur Abendlekt&uuml;re w&auml;hlte; aber diese Betrachtung lie&szlig; mich
+nur um so mehr sp&uuml;ren, wie sch&auml;ndlich es sei, einen Mann im
+Schlafe zu t&ouml;ten. Einer derartigen Regung f&uuml;hlte ich mich nicht
+gewachsen, ich legte meine linke Hand auf die Schulter des
+Majors, in der rechten hielt ich den Revolver. Der Major
+wachte sofort auf und sah mich stier an. &raquo;Nehmen Sie einen
+Revolver,&laquo; sagte ich kalt, &raquo;wir m&uuml;ssen uns auf der Stelle schie&szlig;en.&laquo;
+Seine Augen rollten furchtsam im Kreis, und es war,
+als verstehe er mich nicht. Ich wiederholte meine Worte. Er
+fing an zu murmeln; ich schnitt ihm die Rede ab und wiederholte
+meine Worte. Er sch&uuml;ttelte sich ein wenig und sprach
+jetzt deutlich, ich h&ouml;rte nichts und wiederholte abermals meine
+Worte. Pl&ouml;tzlich sprang er auf, die andere Seite des Bettes
+war ebenfalls wandlos, er taumelte aus dem Bett und schrie
+mit heiserer Stimme um Hilfe.</p>
+
+<p>Da scho&szlig; ich. Ich scho&szlig; zweimal. Er streckte gleich darauf
+die Arme in die Luft und st&uuml;rzte zu Boden. Ich n&auml;herte mich
+ihm und sah, da&szlig; er tot war. Es rann mir eisig durch alle
+Glieder. Ich verlie&szlig; das Zimmer und ging &uuml;ber den Korridor
+hin&uuml;ber zu Auroras Schlafgemach. Sie mu&szlig;te die Sch&uuml;sse geh&ouml;rt
+haben. Was jetzt? fuhr es mir durch den Kopf; das best&auml;ndige
+Geheul der Hunde machte mich rasend. Ich hatte mir
+das Nachher ganz und gar nicht vorgestellt, aber da&szlig; ich mich
+nun gem&uuml;tsruhig entfernte, um zu warten, bis am Morgen die
+Untat, als von einem Unbekannten ver&uuml;bt, entdeckt wurde, das
+ging nicht an. Ich f&uuml;hlte, da&szlig; ich sterben m&uuml;sse, und es entstand
+in mir der Wunsch, da&szlig; Aurora mit mir sterben m&ouml;ge.
+<a class="page" name="Page_122" id="Page_122" title="122"></a>Wie ward mir aber, als ich Auroras Zimmer leer fand und
+ihr Bett unber&uuml;hrt! Ich schritt der Reihe nach durch alle Zimmer
+des Stockwerks, und die wohlbekannten M&ouml;bel und Bilder
+blickten mich an, wie lebendige Dinge. Indes ich wie ein Gespenst
+dort herumirrte, vernahm ich das Rollen eines Wagens
+auf der Stra&szlig;e. Ich stand gerade wieder auf dem Korridor,
+welcher auf eine T&uuml;r zulief, die gegen einen kleinen Gassenbalkon
+oder Vorbau f&uuml;hrte. Diese T&uuml;r &ouml;ffnend, trat ich hinaus
+und kam eben recht, als der Wagen vor der Gartenpforte hielt.
+Durch die kahlen Baumzweige hindurch konnte ich sehen, da&szlig;
+Aurora ausstieg. Ich erblickte aber noch jemand im Wagen,
+ein Gesicht erschien am Fenster, das ich wohl erkannte. Aurora
+blickte fl&uuml;chtig am Haus empor, aber nicht dorthin, wo ich stand,
+sondern gegen die Seite, wo des Majors Zimmer war. Darauf
+beugte sie sich noch einmal in den Wagen, ich sah einen roten
+Handschuh auf ihrem Arm und ich h&ouml;rte sie fl&uuml;stern und lachen.
+Gott! ich hatte kaum mehr die Kraft zu stehen, ich sp&uuml;rte, da&szlig;
+mich die Bl&auml;sse &uuml;berstr&ouml;mte wie Sand. Treunitz! Treunitz!
+schrie es in mir, du hast verspielt.</p>
+
+<p>Aurora war inzwischen ins Haus gegangen, den Schl&uuml;ssel
+hatte ich in ihrer Hand blinken gesehen, ihre Schuhe schl&uuml;rften
+auf den Steinfliesen im untern Flur, dann knarrte eine T&uuml;r, dann
+wieder eine. Ich ging in den Flur, blieb aber in der Ecke stehen.
+Aurora kam mit den beiden Jagdhunden die Stiege herauf.
+Sie hielt die Tiere, die sich wie toll geb&auml;rdeten, fest an der Leine.
+Wahrscheinlich hatte das unaufh&ouml;rliche Gebell Furcht in ihr
+erweckt, und sie hatte den Verschlag ge&ouml;ffnet, um die Hunde
+mitzunehmen. Sie gewahrte mich nicht, sie ging in ihr Zimmer.
+Ich h&ouml;rte, wie sie mit beinahe wilden Lauten die Hunde zu
+b&auml;ndigen suchte, was ihr jedoch nicht gelang. Ich kehrte unter<a class="page" name="Page_123" id="Page_123" title="123"></a>des
+zum Zimmer des Majors zur&uuml;ck, blieb aber auf der Schwelle
+stehen. Jetzt trat Aurora mit der Kerze auf den Flur, sie hatte
+noch den Hut auf, der lange Schleier hing zu beiden Seiten
+herunter wie zwei blaue Fahnen. Die Hunde, der Leine entledigt,
+st&uuml;rzten an mir vor&uuml;ber in das Zimmer des Majors.
+Sie blieben an der Leiche stehen und verbellten den toten Mann
+wie ein im Feuer verendetes St&uuml;ck. Aber auf einmal wurden
+sie alle beide still und winselten nur noch. Aurora schaute mit
+kaltem Blick in den Raum, dann mit demselben kalten Blick
+auf mich und fragte mit dem seltsamsten Gleichmut: &raquo;Was
+hast du denn da gemacht?&laquo; Und als ich schwieg, fuhr sie mit
+genau derselben matten und unbewegten Stimme fort: &raquo;Er ist
+wohl tot?&laquo; Und als ich abermals schwieg, begann sie wieder:
+&raquo;Warum hast du denn das getan?&laquo;</p>
+
+<p>Im ersten Augenblick glaubte ich den Verstand verloren zu
+haben. Ich konnte kein Wort aus meiner Kehle pressen, meine
+Z&auml;hne rieben sich h&ouml;rbar aufeinander, und ich mu&szlig;te das unbegreifliche
+Weib nur immerfort anstarren. Sie blickte sich noch
+einmal um, etwa wie wenn man in einem Museum Bilder
+anschaut, dann pfiff sie den Hunden und ging. Die Hunde
+folgten nicht, sie h&ouml;rten nicht auf zu winseln. Da entfernte sie
+sich allein. Sie ging in ihr Zimmer. Ich blieb wie versteinert
+auf meinem Platze, die beiden Tiere zu sehen und zu h&ouml;ren,
+war mir pl&ouml;tzlich das hellste Grauen. Ich fing an zu zittern
+und wu&szlig;te nicht, woran ich denken sollte. Ich wei&szlig; nicht mehr,
+wieviel Zeit verflossen war, m&ouml;glich eine halbe Stunde, m&ouml;glich
+eine ganze, als ich mich entschlo&szlig;, in Auroras Zimmer zu gehen.
+Die T&uuml;re war unversperrt. Aurora war im Bett, die brennende
+Kerze stand noch auf dem Nachttisch. Im Zimmer selbst war die
+gr&ouml;&szlig;te Unordnung, Kleider und W&auml;schest&uuml;cke lagen umher, eine
+<a class="page" name="Page_124" id="Page_124" title="124"></a>kleine Reisetasche stand, wie zum Gepacktwerden, offen auf einem
+Stuhl. Ich blieb am untern Bettpfosten stehn und fragte
+Aurora, ob sie es denn nicht gewollt habe. Aus den Kissen
+heraus antwortete sie: &raquo;La&szlig; mich jetzt schlafen.&laquo; &raquo;Um Gotteswillen!&laquo;
+fl&uuml;sterte ich. Da erhob sie den Kopf und fragte kalt,
+ob ich das Billett nicht erhalten habe. &raquo;Was f&uuml;r ein Billett?&laquo;
+fragte ich. Sie sah mich unwillig an, lachte pl&ouml;tzlich und sagte
+fast ver&auml;chtlich und als ob ich ihr v&ouml;llig fremd sei: &raquo;Gehen Sie
+hinaus und lassen Sie mich schlafen. Es schickt sich nicht, da&szlig;
+Sie bei meinem Bette sind.&laquo; Mit diesen Worten blies sie die
+Kerze aus, und ich h&ouml;rte sie wieder leise ins Kissen lachen.</p>
+
+<p>Ich begriff es nicht. Ich h&auml;tte begriffen, wenn sie zornig,
+wenn sie w&uuml;tend, wenn sie verzweifelt gewesen w&auml;re, ich h&auml;tte
+alles begriffen, aber dies begriff ich nicht. Mir war es, als ob
+aus einer sch&ouml;nen Verkleidung ein Unhold hervorgetreten w&auml;re,
+ein bestialisches Gebilde, ein grinsendes Affenwesen, wie es
+derma&szlig;en furchtbar die Welt noch nicht erblickt. Ich tastete
+mich hinaus, das Entsetzen lag mir in allen Gliedern. Auf dieselbe
+Weise, wie ich gekommen war, mu&szlig;te ich auch das Haus
+verlassen. Nachdem ich das Gartentor aufgesperrt und hinter
+mir zugeklappt hatte, warf ich den Schl&uuml;ssel &uuml;ber den Zaun
+zur&uuml;ck. Es war ein Uhr, als ich nach Hause kam. Auf dem Tisch
+lag Auroras Brief. Ich &ouml;ffnete ihn nicht. Es war mir alles
+zum Ekel und alles r&auml;tselhaft. Ich legte mich ersch&ouml;pft aufs
+Bett und schlief bis sieben Uhr. Als mein Bursche kam, beauftragte
+ich ihn, eine Droschke zu holen, und zog unterdes die
+Uniform an. Ich fuhr in die Kaserne und wartete in der Kanzlei
+auf den Obersten. Er erschien erst gegen neun Uhr; er war
+bleich und fragte mich, ob ich schon wisse. Die Ermordung
+des Majors war bereits in der Stadt bekannt. Ich bat ihn um
+<a class="page" name="Page_125" id="Page_125" title="125"></a>ein Wort unter vier Augen. Mein Gest&auml;ndnis machte seinem
+wohlwollenden und gegen mich stets vertraulichen Wesen ein
+schnelles Ende. Ich mu&szlig;te den Degen abliefern und wurde
+sogleich inhaftiert. Dies alles war von keinem Belang mehr
+f&uuml;r mich. Ich wurde gefragt, ob ein Zweikampf beabsichtigt
+gewesen sei. Ich verneinte, wei&szlig; aber kaum, warum. Ich
+h&auml;tte meine Verteidigung darauf bauen k&ouml;nnen, ich tat es
+nicht. Ich h&auml;tte ja dem Major eine zweite Waffe in die Hand
+dr&uuml;cken k&ouml;nnen, bevor ich das Haus verlie&szlig;. Ich tat es nicht,
+weil es mir gleichg&uuml;ltig war. Ich erfuhr von der Verhaftung
+Auroras, von dem Erstaunen und dem Schrecken, den meine
+Tat &uuml;berall erregte, und auch dieses war mir gleichg&uuml;ltig. Am
+andern Morgen besuchte mich der Oberst, fragte, ob ich vor dem
+Transport ins Milit&auml;rgef&auml;ngnis noch etwas zu ordnen h&auml;tte,
+legte ein Terzerol auf den Tisch und stellte sich ans Fenster.
+Ich tat nicht, was er erwartete. Er entfernte sich ohne Gru&szlig;.
+Die Kameraden glaubten, da&szlig; ich aus Feigheit unterlassen
+habe, ein Ende zu machen, aber dem ist nicht so. Ich habe nichts
+vom Feigling in mir. Ich war blo&szlig; regungslos in meinem
+Innern. Ich war ganz wie aus Blei. Ich gr&uuml;belte best&auml;ndig
+ins Finstere hinein. Erst mit dem Verlauf vieler Tage kam ich
+wieder zur Besinnung. Ich fing an, meine Beichte dem Papier
+anzuvertrauen. Ich hinterlasse sie der geringen Zahl meiner
+Freunde. Es ist mir nun klar, da&szlig; mich die Menschen f&uuml;r schuldig
+halten und da&szlig; ich zu sterben die Pflicht habe. Ich selbst, ich
+kann nicht sagen, ob ich mich schuldig f&uuml;hle oder nicht. Ich
+kann es nicht sagen. Aurora hat es ja gewollt. Um meiner
+Mutter willen bitte ich um ein anst&auml;ndiges Begr&auml;bnis.</p>
+
+<p>Und nun geschehe, was geschehen mu&szlig;.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_126" id="Page_126" title="126"></a></p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a class="page" name="Page_127" id="Page_127" title="127"></a></p>
+<h2><a name="Hilperich" id="Hilperich"></a>Hilperich</h2>
+
+<!-- <p><a class="page" name="Page_128" id="Page_128" title="128"></a>[Blank Page]</p> -->
+
+<div class="poemright"><div class="stanza"><p><a class="page" name="Page_129" id="Page_129" title="129"></a></p>
+<span>Ein Schiffer f&auml;hrt den dunklen Strom<br /></span>
+<span>Hinunter ohn Bedacht.<br /></span>
+<span>Die L&uuml;fte ruhn, das Wasser schweigt,<br /></span>
+<span>Und m&auml;hlig wird es Nacht.<br /></span>
+</div></div>
+
+<p class="newsubsection">Kanzlist Johann Querschneider zu N&uuml;rnberg, ein seltsamer
+Kauz, ein Hungerleider doch nach Diogenes&#8217; Art, erz&auml;hlt:</p>
+
+<p>Vierundzwanzig Jahre sind seit meines Vaters Tod verflossen.
+Ich bin ein uneheliches Kind und f&uuml;hre den Namen meiner
+Mutter. Bis zu meinem zweiundzwanzigsten Jahr wu&szlig;te ich
+von meinem Vater nichts, nicht einmal ob er lebte. Ich hatte
+mich nicht sonderlich daf&uuml;r interessiert; Gott wei&szlig; aus welchem
+Grund ich stets dar&uuml;ber hinweg dachte. Meine Mutter verfuhr
+in diesem Punkt sehr kategorisch. Wenn ich fragte, so
+lachte sie mir ins Gesicht. Ich zerbrach mir nicht den Kopf,
+sondern lebte so hin, nicht schlechter und nicht besser als andere;
+Geld hatten wir wenig, litten aber keinen Mangel. Meine
+Mutter bezog irgendwoher eine kleine Pension, besorgte
+N&auml;hereien f&uuml;r einige B&uuml;rgersfrauen im Bezirk, und ich selbst
+war beim Amtsgericht als Schreiber angestellt.</p>
+
+<p>Ich lebte also und besch&auml;ftigte mich nach meiner Art. Bis
+zu meinem zweiundzwanzigsten Jahr wie gesagt. Da ereignete
+es sich eines Morgens im Fr&uuml;hling, ich ging gerade zum Amt,
+da&szlig; ich im d&uuml;steren Korridor unseres uralten Gerichtsgeb&auml;udes
+ein junges M&auml;dchen stehen sah, welches forschend und unruhig
+den langen Gang bald hinauf, bald hinunter blickte. Ich trat
+zu ihr hin und fragte unverhohlen nach ihrem Begehren. Sie
+antwortete etwas in italienischer Sprache, und da ich sie nicht
+verstand, sch&uuml;ttelte ich den Kopf und ging langsam meiner
+Wege. Das ist ein teuflisches Frauenzimmer, sagte ich mir,
+denn ich hatte im Leben Sch&ouml;neres nicht gesehen. Voller Ge<a class="page" name="Page_130" id="Page_130" title="130"></a>danken
+kam ich in die Amtsstube und setzte mich an meinen
+Tisch. Drei Personen von den Parteien waren schon anwesend.
+Der Diener schrie in den Flur hinaus: &raquo;Bianca Spinola!&laquo;
+und das sch&ouml;ne M&auml;dchen trat ein.</p>
+
+<p>Die Verhandlung betraf einen schwierigen und absonderlichen
+Fall. Der alte Rat Hilperich (ein Mann, den jedes Kind
+auf der Stra&szlig;e kannte, und dessen abenteuerliche Vergangenheit
+den Gegenstand vieler Erz&auml;hlungen bildete) war auf den
+Einfall gekommen, eines seiner unehelichen Kinder, ein junges
+M&auml;dchen aus dem Trentino, an einen Bankbeamten zu verheiraten.
+Alles war schon im besten Zug gewesen, die jungen
+Leute selbst im Einvernehmen, als pl&ouml;tzlich die Mutter des Beamten
+mit Zeter und Mordio erschien: der junge Ehekandidat
+sei gleichfalls ein Kind Hilperichs. Was der alte Herr vorerst
+gr&uuml;ndlich bestritt. So kam die Sache vors Gericht und bildete
+lange Zeit das Gel&auml;chter der amtlichen Personen und der
+ganzen Stadt. Mit Neugierde sah ich den alten Mann an,
+der nun vor dem Richter erschienen war. Sicherlich z&auml;hlte
+er mehr denn siebzig Jahre, obwohl seine blauen Augen strahlend
+und lebhaft waren. Seine hagere und etwas gebogene
+Gestalt hatte etwas Majest&auml;tisches, und dieser Eindruck wurde
+verst&auml;rkt durch das Trotzige, Verbissene, Ver&auml;chtliche seines
+Gesichtes. Wenn unter den zusammengezogenen Brauen die
+Augen verschwanden und die verkniffenen, schmalen Lippen
+sich hinter dem wei&szlig;en Bart wie hinter d&uuml;nnem Buschwerk
+versteckten, mochte man wohl Furcht empfinden, und das rote
+Gesicht, das vom Alter weniger versengt schien als von den
+Leidenschaften, konnte man nicht leicht vergessen. Das ist
+also der alte Hilperich, dachte ich mir und mu&szlig;te gleichzeitig
+l&auml;cheln, weil ich sah, da&szlig; die Sonne auf die schwarze Kappe
+<a class="page" name="Page_131" id="Page_131" title="131"></a>und den schwarzen Bart des Richters ein goldenes Emblem
+gemalt hatte. Das alles sehe ich noch deutlich. Auch den
+h&uuml;bschen und verschwiegen aussehenden jungen Mann, den
+Bankbeamten; er hatte eine Narbe mitten auf der Stirn.
+Dann seine Mutter, eine sehr dicke Frau, welche fortw&auml;hrend
+Schokoladest&uuml;ckchen aus der Tasche zog, wodurch aber die
+Redekraft ihrer Zunge keineswegs verringert wurde. Dann
+das junge M&auml;dchen, aber von diesem will ich jetzt nicht reden.
+Der Richter wiegte den Kopf, fragte dies und jenes, und seine
+Klugheit war bald ersch&ouml;pft.</p>
+
+<p>Ich wei&szlig; nicht mehr, wie ich daheim beim Mittagessen die
+Sprache auf den alten Hilperich brachte. Ich erz&auml;hlte die
+ganze Geschichte, die mir sehr belustigend erschien. Meine
+Mutter aber verlor sofort ihr munteres Wesen, wurde nachdenklich
+und entfernte sich vom Tisch. Der Zufall f&uuml;gte es &#8211;
+ich bin alt genug geworden, um das Wort Zufall nicht ohne
+ein Gef&uuml;hl von Andacht hinzuschreiben &#8211; da&szlig; ich an demselben
+Tage der jungen Trentinerin wieder begegnete. Wir
+trafen uns n&auml;mlich beim Kr&auml;mer, wo sie f&uuml;r ein Gew&uuml;rz, das
+sie kaufen wollte, den deutschen Ausdruck nicht wu&szlig;te. Ich
+machte nun den Dolmetsch, und zwar auf die komischste Weise
+der Welt, denn ich verstand ja selber nichts von der fremden
+Sprache. Ich schleppte alles herbei, was in dem Laden zu
+finden war, und stapelte es vor der sch&ouml;nen Dame auf, wie
+man einem fremden Monarchen etwa die Reicht&uuml;mer eines
+Magazins zeigt. Es gab ein gro&szlig;es Gel&auml;chter, und der Kr&auml;mer
+selbst, der mein guter Bekannter war, fand sich bei dem Spa&szlig;
+am besten am&uuml;siert.</p>
+
+<p>Da die junge Bianca, wie ich mit M&uuml;he erfuhr, in der
+N&auml;he wohnte, begleitete ich sie nach Hause, und es verursachte
+<a class="page" name="Page_132" id="Page_132" title="132"></a>uns weiterhin gro&szlig;es Vergn&uuml;gen, uns zu verst&auml;ndigen. Unsere
+Mi&szlig;verst&auml;ndnisse waren so heiter, da&szlig; eins das andere
+&uuml;bertraf und wir gewi&szlig; mehr davon hatten, als von einer
+regelrechten Unterhaltung. Ich sah, da&szlig; sie ein M&auml;dchen
+aus dem Volk war, und da&szlig; es nicht schwer fiel, sie heiter
+zu stimmen und ihr zu gefallen. Ja, ich gefiel ihr, und
+meine drollige Zeichensprache, mein Murmeln und Kauderwelsch
+trieben Tr&auml;nen des Lachens in ihre sch&ouml;nen Augen.</p>
+
+<p>&Uuml;berfl&uuml;ssig, von all den Einzelheiten zu erz&auml;hlen; nicht
+lange darauf konnte ich Bianca mit meiner Mutter bekanntmachen.
+Meine Mutter erinnerte sich sofort daran, was ich
+ihr von jener Verhandlung erz&auml;hlt hatte. Sie f&uuml;hrte mich
+beiseite und fragte mich sehr ernst, ob das jene Bianca Spinola
+sei. Mein unbefangenes Ja machte sie noch ernster und
+feierlicher, so da&szlig; ich besorgt zu werden anfing. Aber ich wu&szlig;te
+nicht, was ich daraus machen sollte. Am folgenden Morgen,
+es war ein Sonntag, gebot sie mir, mich sorgf&auml;ltiger als sonst
+anzukleiden, denn ich war immer ein wenig nachl&auml;ssig darin.
+Sie nahm mich also wie einen Schuljungen mit sich und f&uuml;hrte
+mich zu einem alten Haus in der Pfannenschmiedsgasse. Wir
+stiegen zwei knarrende Treppen empor, und meine Mutter
+zog die Klingel. An der Art ihrer Geb&auml;rde sah ich, da&szlig; ihr
+Gem&uuml;t heftig bewegt war, und ich fragte sie darum. Aber
+sie gab mir keine Antwort. Mein Erstaunen wuchs, als ich
+das Porzellanschildchen an dem gelben, staubigen Gitter sah,
+welches den Korridor von der Stiege trennte. Hilperich las
+ich; aber ehe ich meine Mutter von neuem fragen konnte,
+erschien eine Bedienerin. Meine Mutter zog einen Brief aus
+der Tasche und sagte, sie wolle auf Antwort warten. Die
+Frau f&uuml;hrte uns in ein gro&szlig;es, leeres Zimmer, welches nichts
+<a class="page" name="Page_133" id="Page_133" title="133"></a>als einen Spiegel und ein paar St&uuml;hle enthielt. Vor dem
+Spiegel stand ein d&uuml;nner Mann mit einer Glatze und richtete
+sich eine rote Krawatte. Unser Eintreten st&ouml;rte ihn nicht im
+mindesten; ich war erstaunt, denn nie hatte ich ein so verhungertes,
+gr&auml;mliches und furchtsames Gesicht gesehen.</p>
+
+<p>Die Bedienerin kam alsbald zur&uuml;ck und bat meine Mutter,
+ihr zu folgen. Wieder verging eine Weile, w&auml;hrend ich sa&szlig;
+und lauerte und mir den Kopf zerbrach &uuml;ber das, was vorging.
+Der d&uuml;nne Mann stelzte komisch vor mir auf und ab,
+murmelte und schielte mich von der Seite an, so da&szlig; ich lachen
+mu&szlig;te. Endlich &ouml;ffnete sich die T&uuml;re, der alte Rat kam heraus,
+fa&szlig;te mich schnell ins Auge, schritt auf mich zu, nahm meinen
+Kopf zwischen seine beiden H&auml;nde, verkniff seine Lippen streng,
+nickte und k&uuml;&szlig;te mich auf die Stirn. Im Rahmen der T&uuml;r
+stand meine Mutter und sagte mit ganz verweintem Gesicht:
+Johann, das ist dein Vater. Immer sonderbarer wurde mir
+zumut, und das Sonderbarste war mir wohl in diesem Augenblick,
+da&szlig; mein Freund mit der roten Krawatte ganz ruhig
+weiter auf- und abstelzte, als ob er daran gar nichts Auff&auml;lliges
+f&auml;nde oder es l&auml;ngst vorausgesehen h&auml;tte. Es ist wahr, das
+Wort Vater machte in diesem Augenblick keinen Eindruck auf
+mich, aber wer will mir das ver&uuml;beln? Ich erinnere mich, da&szlig;
+ich f&uuml;r meine Mutter ein unbestimmtes Mitleid empfand und
+da&szlig; ich mich im &uuml;brigen weit weg w&uuml;nschte. Auch war ich
+erstaunt und verlegen und wurde es immer mehr, so da&szlig; mir
+der Schwei&szlig; auf die Stirne trat.</p>
+
+<p>Ich erinnere mich, da&szlig; meine Mutter und der alte Mann
+einander noch lange Zeit gegen&uuml;bersa&szlig;en und &uuml;ber die Vergangenheit
+plauderten. Der Rat Hilperich, den ich nicht einmal
+in Gedanken Vater zu nennen wagte, blieb dabei gelassen,
+<a class="page" name="Page_134" id="Page_134" title="134"></a>ja sogar ein wenig sp&ouml;ttisch. Es fiel mir auf, da&szlig; die fernliegendsten
+und vergessensten Dinge ihm so nahe schienen wie
+die Gegenwart. Er sprach nicht wie ein alter Mann und nicht
+wie ein junger Mann, sondern als ob er ein Gebieter &uuml;ber die
+Zeit und &uuml;ber die Jahre w&auml;re, und als ob es f&uuml;r ihn kein Verschwinden
+g&auml;be. Das ist mir freilich jetzt viel deutlicher als
+damals; denn ich habe ja erst durch ihn gelernt, was menschlich
+ist, abzuw&auml;gen.</p>
+
+<p>Die Rede kam auch auf mich, auf meinen Beruf und meine
+Besch&auml;ftigung. Die Mutter r&uuml;hmte meine F&auml;higkeiten; ihre
+Augen gl&auml;nzten dabei, als ob sie von etwas Gro&szlig;em spr&auml;che,
+und ich mu&szlig;te lachen. Das schien meinem Vater zu gefallen.
+Er nahm meine Hand, t&auml;tschelte sie ein wenig und sah mich
+halb liebevoll an und halb wie einen seltsamen Zwerg. Pl&ouml;tzlich
+aber sprang er auf und kreischte mit einer zerbrochenen,
+geh&auml;ssigen Stimme: Mittelmann, scheren Sie sich zum Teufel!
+Und der schweigsame Spazierg&auml;nger machte sich wie ein armer
+Hund auf die Beine. Mein Vater lachte uns triumphierend
+an und wandte sich dann unvermittelt zu mir. Er habe viele
+Schreibereien, sagte er, und brauche einen, dem er sein ganzes
+Vertrauen schenken k&ouml;nne. Er glaube, da&szlig; ich nicht auf den
+Kopf gefallen sei, denn ich sei ja von seinem Blut. Wenn es
+mir recht sei, m&ouml;ge ich t&auml;glich zwei Stunden zu ihm kommen;
+es w&auml;re nicht umsonst, und meine Stelle beim Amt k&ouml;nne ich
+ja behalten. Ich erkl&auml;rte mich bereit, und meine Mutter fing
+sogleich vor Freude wieder zu weinen an. So entlie&szlig; er uns.</p>
+
+<p>Am andern Morgen brachte ein Dienstmann ein herrliches
+Geschenk f&uuml;r meine Mutter, eine Stehlampe, deren gl&auml;serne
+Kugel von zwei nackten Frauen getragen wurde. Das war ein
+zarter Beweis f&uuml;r die Gesinnungen meines Vaters, und mit
+<a class="page" name="Page_135" id="Page_135" title="135"></a>Genugtuung trat ich den Weg zu seinem Hause an. Ich war
+so in Nachdenken verloren, da&szlig; ich beinahe &uuml;berfahren worden
+w&auml;re. Best&auml;ndig sah ich mich an einem Wendepunkt meines
+Schicksals, das sich gl&auml;nzend vor mir aufrollte.</p>
+
+<p>Ich fand meinen Vater in seinem Wohnzimmer. Er war
+in Unterhosen, betrachtete mich kom&ouml;diantisch forschend, mit
+seinem gewohnheitsm&auml;&szlig;igen, halb grinsenden L&auml;cheln, doch
+mit ernst blitzenden Augen. Man hatte ihm gegen&uuml;ber das
+Gef&uuml;hl, da&szlig; man stets scharf beobachtet war, und da&szlig; nichts
+seiner Beobachtung entging. Alles an ihm war voll Leben
+und Lebendigkeit trotz seiner schlottrigen, mageren, bauf&auml;lligen
+Gestalt. Das Zimmer war vernachl&auml;ssigt und unordentlich.
+Keine Bilder schm&uuml;ckten die W&auml;nde. Neben dem Bett hing
+ein riesenhaftes L&ouml;schblatt, vom Gebrauch schwarz marmoriert,
+und auf dem Boden stand ein Schreibedeckel neben einem
+eisernen Tintenfa&szlig;, denn mein Vater pflegte im Bett zu
+schreiben. W&auml;schest&uuml;cke, Briefe und Schachteln lagen umher;
+auf einer gelben Kommode pendelten zwei Uhren, von denen
+die eine Mitternacht oder Mittag, die andere f&uuml;nf Uhr wies.</p>
+
+<p>Mein Vater hie&szlig; mich sogleich vor dem Schreibtisch Platz
+nehmen und diktierte mir eine ziemlich unverst&auml;ndliche Abhandlung,
+welche, wenn ich mich recht entsinne, Kultur und
+Mode hie&szlig;. Sp&auml;ter erfuhr ich, da&szlig; er dergleichen viel schrieb,
+und manches, was mir recht &uuml;berfl&uuml;ssig vorkam. Er tat es
+f&uuml;r Geld. Das war mir im Anfang unerkl&auml;rlich, denn ich
+wu&szlig;te nicht nur, da&szlig; er ein sch&ouml;nes Privatverm&ouml;gen besa&szlig;,
+sondern auch, da&szlig; er das Geld verstreute, als ob es Kleie
+w&auml;re. Er besah es nicht, sondern gab hin, nach allen Seiten.
+Dabei lebte er selbst in strenger Einfachheit, war gen&uuml;gsam
+wie ein Bauer, stand mit der Sonne auf, im Winter und im
+<a class="page" name="Page_136" id="Page_136" title="136"></a>Sommer. Bald, bald erfuhr ich, wohin das viele Geld wanderte.
+Aber dar&uuml;ber la&szlig;t mich vorerst nicht reden. Damals verwirrte es
+meinen Sinn wie vieles andere Neue, und heute noch, in der
+Erinnerung, bewegt es mich sehr. Einmal, w&auml;hrend ich bei
+ihm schrieb &#8211; es war immer noch &uuml;ber Mode und Kultur,
+denn das ging von Adams Zeiten an &#8211; kam ein Brief mit
+der Post. Mein Vater las ihn, und sein Gesicht zeigte dabei
+Zorn und Ha&szlig;. Da! herrschte er mich an und warf das zusammengefaltete
+Papier vor mich hin. Ich schlug es auseinander
+und &uuml;berflog ein Schreiben voller Vorstellungen und
+Vorw&uuml;rfe; Religion bildete die Quelle der Beredsamkeit, so
+da&szlig; bisweilen der Ton etwas Prophetisches und Salbungsvolles
+hatte. Zum Schlu&szlig; wurde der verderbte Greis flehentlich
+gebeten, in den Scho&szlig; der Kirche zur&uuml;ckzukehren.</p>
+
+<p>Ich hatte von der geschiedenen Ehe meines Vaters munkeln
+h&ouml;ren. Dieser Brief war von seiner Frau. Sie verdummt in
+den H&auml;nden der Pfaffen, sagte der Alte bitterb&ouml;se zu mir;
+aber zugleich nahm ich einen traurigen Ausdruck in seinem
+Gesicht wahr, der mir naheging. Er schickte mich an diesem
+Tag fort. Als ich am folgenden Tag wiederkam, schenkte er
+mir eine wundersch&ouml;ne, goldene Uhr &#8211; f&uuml;r meine Dienste,
+wie er sich ausdr&uuml;ckte, hie&szlig; mich jedoch abermals gehen. Als
+ich durch den Korridor schritt, sah ich ein M&auml;dchen von nicht
+mehr als f&uuml;nfzehn Jahren, die voll Unbefangenheit in Blick
+und Miene an mir vor&uuml;berging, in die Wohnung meines
+Vaters. Sie war sehr elegant gekleidet, doch hatte man gleich
+den Eindruck, da&szlig; dies etwas Selbstverst&auml;ndliches an ihr war.
+Ich schaute ihr neugierig, fast freudig nach, und die Freude
+an meinem Geschenk lie&szlig; mich ihre fl&uuml;chtige Erscheinung doch
+nicht vergessen.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_137" id="Page_137" title="137"></a>Als ich nach Hause kam, traf ich zu meinem Erstaunen
+Bianca Spinola bei uns. Sie war auf Gehei&szlig; meines Vaters
+gekommen, wie ich h&ouml;rte; sie solle nur mit uns Umgang suchen,
+hatte er gesagt. Ich lachte und erwiderte, da&szlig; es wie in einer
+t&uuml;rkischen Familie sei, aber im Grunde fand ich etwas Wohliges
+und Geheimnisvolles in der neuen Verwandtschaft von fernher.
+Bianca Spinola sprach schon viel besser deutsch; ihr Radebrechen
+entz&uuml;ckte meine Mutter. Ich selbst f&uuml;hlte mich gehobener
+durch ihre Gegenwart, doch ohne die fr&uuml;here Bewegtheit;
+auch war mein Kopf voll von Gedanken. Ich zeigte meine
+pr&auml;chtige Uhr, die eitel Bewunderung weckte, und wir waren
+herzhaft vergn&uuml;gt den ganzen Abend &uuml;ber.</p>
+
+<p>Ich wei&szlig; nicht mehr recht, ob es der darauffolgende Tag
+war, an dem ich von Mittag bis zum Abend bei meinem Vater
+Briefe schrieb. Ich erinnere mich nur, da&szlig; es drau&szlig;en st&uuml;rmte
+und regnete und gewitterte. Mein Vater sa&szlig; an der Seite des
+Tisches und diktierte. Er schien eine gro&szlig;e Verm&ouml;gensordnung
+im Sinn zu haben, denn in allen Briefen war davon die Rede;
+auch zeigte die ganze Art meines Vaters wohlerwogene Entschl&uuml;sse.
+Meines Vaters ... An diesem Tag wurde mein Gehirn
+aufgeweckt, und ich sah mich nur als ein K&ouml;rnchen unter vielen.
+Ich sah einen wahren Stammvater vor mir, dessen langes Leben,
+ein Leben, welches er noch nicht f&uuml;hlte, in der Erzeugung von
+Kindern verflossen war. Freilich damals war es mir nur wie ein
+Schauer; heute verstehe ich. Jeder Brief war entweder an einen
+Sohn oder an eine Tochter oder an eine fr&uuml;here Geliebte gerichtet,
+die jetzt alterte und arm war, und der er ein Scherflein zukommen
+lie&szlig;. Hier gab er Ratschl&auml;ge und ermunterte, dort
+setzte es eine Strafpredigt; im Norden und im S&uuml;den, so schien
+es, hatte seine Jugend die gleichen Erfolge aufzuweisen ge<a class="page" name="Page_138" id="Page_138" title="138"></a>habt,
+und in der Heimat selbst erbl&uuml;hte kr&auml;ftig der junge Nachwuchs
+aus seinem Blut. Manchmal hatten mir Leute gesagt,
+da&szlig; F&uuml;rstinnen und Prinzessinnen von Liebe zu ihm geplagt
+worden seien, ja, da&szlig; eine gewisse Herzogin, nun schon bei
+hohen Jahren, oftmals ein Plauderst&uuml;ndchen beim alten
+Hilperich einhole. Das hatte man mir erz&auml;hlt, und ich leugne
+nicht, da&szlig; ich dazu ein ungl&auml;ubiges Gesicht aufgesetzt hatte.
+Jetzt wurde mir die Zeit zur Lehrerin, und ich verlachte meine
+eigene Zweifelsucht. Ich erfuhr freilich im Lauf der Zeit, da&szlig;
+mein Vater einst eine gro&szlig;e Rolle gespielt habe. Der Hof
+und das Volk h&auml;tten gleicherma&szlig;en Vertrauen in ihn gesetzt;
+jener h&auml;tte seinen Kopf, dieses sein Herz zu w&uuml;rdigen gewu&szlig;t,
+und beide seien auf ihre Rechnung gekommen. Im Revolutionsjahr
+soll er der Regierung wichtige Dienste geleistet
+haben, und man sagte, da&szlig; er auf die Neugestaltung unseres
+Strafgesetzes den gr&ouml;&szlig;ten Einflu&szlig; ausge&uuml;bt h&auml;tte. Ich erw&auml;hne
+alles dies mit &Auml;ngstlichkeit, denn ich kann nicht daf&uuml;r
+b&uuml;rgen. Aber zwei Umst&auml;nde will ich noch anmerken, die f&uuml;r
+meine Augen ein Licht &uuml;ber meines Vaters Leben verbreiteten.
+Einmal zeigte er mir ein &Ouml;lgem&auml;lde, das ihn selbst
+in seinen jungen Jahren darstellte. Man konnte nichts Liebensw&uuml;rdigeres
+sehen! Um die Stirne glitten braune Locken,
+die Augen blickten freundlich tr&auml;umend, und das griechisch
+runde Kinn war fest wie ein junger Apfel. Der Maler
+mochte phantasiert haben, aber sicherlich hatte ihm das Entz&uuml;cken
+&uuml;ber das lebendige Antlitz die Arbeit versch&ouml;nt. Ich
+dachte mir damals, so mu&szlig; man aussehen, um der Welt mehr
+zu sein, als sie uns ist. Oder vielleicht denk ich dies heute,
+denn damals war ich jung.</p>
+
+<p>Das zweite ist dies. Vor etwa zehn Jahren lernte ich einen
+<a class="page" name="Page_139" id="Page_139" title="139"></a>alten Mann kennen, der mir von meinem Vater erz&auml;hlte, und
+zwar in einem Ton wie von eigenen Heldentaten. Dieser
+Mann hatte meinen Vater als F&uuml;nfzigj&auml;hrigen noch gekannt
+und behauptete, da&szlig; seine Anmut, sein weltm&auml;nnisches Betragen,
+sein Witz und seine G&uuml;te einen eigenen Ruhm genossen
+h&auml;tten. Mein Erz&auml;hler berichtete tausend Einzelheiten
+mit einf&auml;ltigem, aber r&uuml;hrendem Eifer. Nicht das j&uuml;ngste
+Fr&auml;ulein habe ihm zu widerstehen vermocht, dem Graubart,
+sagte der Schelm und lachte wie ein gackerndes H&uuml;hnchen.
+Schon damals sei die Zahl seiner Kinder zum Gegenstand vieler
+Witze geworden, und als er sich um diese Zeit verheiratete,
+hatte man in der Stadt gesagt, nun sei der Sultan zur Galeere
+verurteilt. Aber Hilperich war weiterhin auch Sultan geblieben,
+so meinte mein humoristischer Mann und f&uuml;gte hinzu:
+wer ihn kannte, vermochte durchaus nicht an seinen Tod zu
+glauben. Etwas Starkes, &Uuml;ber den Tod-Starkes sei in ihm
+gewesen.</p>
+
+<p>Die Briefe, die mir mein Vater diktierte, mochten f&uuml;r einen
+Unvertrauten etwas Geheimnisvolles, sogar Wahnsinniges
+haben. Denn wer sollte denken, da&szlig; ein und derselbe Mann
+S&ouml;hne, T&ouml;chter, Frauen in allen Richtungen der Windrose
+besitze? Mich selbst zwang damals etwas Seltsames zu ungepr&uuml;fter
+Hinnahme. Ihr m&uuml;&szlig;tet gesehen haben, wie mein
+Vater jedem einzelnen Brief gegen&uuml;ber ein besonderer Mann
+wurde! Bei dem einen wurde sein Gesicht h&auml;misch und verdrossen;
+bei dem andern leuchtete es erinnerungsvoll; jetzt war
+er karg und spr&ouml;de, sp&auml;ter von z&auml;rtlicher Geschw&auml;tzigkeit; hier
+verurteilte ihn ein kluger Ratschlag zu langem Nachdenken,
+dort war er zornig wie eine alte Katze, schlug vor Zorn auf den
+Tisch, fletschte die Z&auml;hne, und ich, ich wu&szlig;te keinen Grund, sah
+<a class="page" name="Page_140" id="Page_140" title="140"></a>ein St&uuml;ck Vergangenheit wie in den Scherben eines Spiegels.
+Aber zugleich muteten mich all die Gesichter vertraut an, denen
+ich mich schreiberhaft zugewandt hatte. Ich trug etwas nach
+Hause, was ich vordem nicht besessen hatte; wer kann daf&uuml;r Worte
+finden? Kummer und Freude sah ich flie&szlig;en in der weiten
+Gasse der Zeit. Mein Vater, ein flei&szlig;iger Angler, angelte sein
+Teil heraus. Was er nach Haus trug, war sein, wie meins,
+was ich.</p>
+
+<p>Jetzt mu&szlig; ich aber etwas Neues erz&auml;hlen, denn viel Verwirrendes
+dr&auml;ngt sich vor mir. Damit ich jedoch nicht vergesse,
+will ich erw&auml;hnen, da&szlig; ich an jenem Abend vor meines Vaters
+Haus den Mittelmann traf (den d&uuml;nnen Mann mit der roten
+Krawatte) der mir eine Viertelstunde lang Unsinn vorschwatzte.
+Er tat so, als sei er wohl Hilperichs Kind, doch enthalte man ihm
+dies Recht vor. Dar&uuml;ber schwatzte der Arme wie ein Besessener;
+sp&auml;ter erz&auml;hlte mir mein Vater, da&szlig; dies Mittelmanns
+fixe Idee sei, mit der er seit Jahren durch alle Kneipen
+hausieren gehe. Oder glaubst du, da&szlig; einer, den ich gemacht,
+so aussieht? fuhr mich mein Vater grob an, stie&szlig; mich mit dem
+Zeigefinger vor die Stirn, lachte aber sogleich in seiner keuchenden
+Weise.</p>
+
+<p>Es war an einem Oktoberabend, kaum eine Woche nach
+jenem Brieftag, und ich hatte meine Arbeit eben beendigt, da
+kam jenes junge M&auml;dchen zur T&uuml;r herein, welches mir damals
+an der Treppe begegnet war. Mit allen Zeichen der Best&uuml;rzung
+und Eile ging sie auf meinen Vater zu und fl&uuml;sterte
+etwas. Der alte Mann warf den Kopf zur&uuml;ck und blickte mit
+einem drohenden Ausdruck ins Leere. Darauf schielte er mich
+boshaft und finster von der Seite an und befahl mir durch eine
+Geb&auml;rde, zu gehen. Bevor ich aber noch meinen Hut ergriffen,
+<a class="page" name="Page_141" id="Page_141" title="141"></a>hatte mein Vater eine der T&uuml;ren ge&ouml;ffnet, die aus seinem verwahrlosten
+Schlafgemach in ein mir bisher unbekanntes Zimmer
+f&uuml;hrte. Dorthin sah ich nun die beiden gehen, und mein Blick
+erhaschte zugleich gierig den fremden Raum, den mein Vater
+nie betreten hatte, w&auml;hrend ich zugegen war. Ich gewahrte
+nun ein kleines Boudoir, das meinen unverw&ouml;hnten Augen
+einen f&uuml;rstlichen Prunk zeigte. Aber es schien mir zugleich
+wohnlich und warm drinnen, und als ich auf der Stra&szlig;e war,
+empfand ich eine Begierde nach diesem Gemach wie nach einem
+verbotenen, verzauberten Garten.</p>
+
+<p>Die kurze Szene, kaum der Rede wert f&uuml;r einen Unbeteiligten,
+hatte trotzdem tiefen Eindruck auf mich gemacht. Zu Hause
+fand ich Bianca Spinola, welche zum Essen blieb und den ganzen
+Abend bei uns verbrachte; meine Mutter war bei trefflicher
+Laune; ich blieb schweigsam und nachdenklich. Ich mu&szlig;te fortw&auml;hrend
+an das junge Fr&auml;ulein denken, und das nicht vielleicht
+mit den Gedanken von Mann zu Weib. Es war so, da&szlig; sie
+vor meinem inneren Auge nicht entwich und ich mich qu&auml;lte,
+zu ergr&uuml;nden, was mir an ihr, seltsam genug, ein f&uuml;r alle mal
+unergr&uuml;ndlich schien. Noch jetzt, wenn ich die Augen schlie&szlig;e, sehe
+ich ihren grazi&ouml;sen, m&uuml;den Gang. (Sie ging, als ob sie w&uuml;&szlig;te: so
+wie ich mu&szlig; man gehen, aber wer wird darauf achten?) Ihre Verachtung
+der Welt schien gro&szlig;, aber kindlich. Sie hatte etwas Bemitleidenswertes
+und zugleich Damenhaftes, etwas Wiegendes
+und Achtloses. Ihre Augen, voll Trauer und Ironie, zeigten zwei
+reine Augensterne wie sch&ouml;ne braune Perlen in gefrorener Milch.</p>
+
+<p>So schwebt sie mir vor, und was ich weiterhin erfuhr, erhorchte
+und herausspionierte, will ich hier gleich sagen. Nicht
+nur als neugieriger Tor wollte ich wissen, sondern was meinen
+Vater anging, ich nahm es immer st&auml;rker wahr, betraf mich tief.
+<a class="page" name="Page_142" id="Page_142" title="142"></a>Um seiner w&uuml;rdig zu werden, hatte ich mich in den letzten
+Monaten mit einem bunten Studieren abgegeben. Auf eigne
+Faust lernte ich fremde Sprachen, trieb allerlei Wissenschaft,
+ohne Plan und Kraft, aber mit mehr Erfolg, als man bei einem
+Menschen wie mir vermuten sollte. Doch die gr&ouml;&szlig;te Ausdauer
+zeigte ich bei der Erforschung des Verh&auml;ltnisses zwischen meinem
+Vater und Henriette, eben jenem M&auml;dchen, das ich bei ihm und
+vorher schon im Korridor gesehen hatte. Den leisen Andeutungen
+entnahm ich Wissenswertes; Ohr und Auge waren gesch&auml;rft
+und einmal, gleichsam als Belohnung kam es zwischen
+mir und meinem Vater zu einer wirklichen Plauderstunde.
+Er hatte Zutrauen zu mir gefa&szlig;t; das wu&szlig;te ich, oder ich wei&szlig;
+es jetzt; denn damals gab ich mir nicht Rechenschaft &uuml;ber die
+Dinge, sondern nahm sie nur mit Glut in mich auf.</p>
+
+<p>Eine fl&uuml;chtige Leidenschaft hatte die Ehe meines Vaters
+gekn&uuml;pft. Den damals schon Sechsundf&uuml;nfzigj&auml;hrigen hatte
+eine k&uuml;hle und elegante Dame rasch entflammt. Doch bald
+br&ouml;ckelte aller Schmuck von jener Frau ab wie von einer schlecht
+get&uuml;nchten Wand. Sie war z&auml;h in ihrem D&uuml;nkel und besa&szlig;
+eine unverw&uuml;stliche Einfalt. Ein b&ouml;sartiges Schaf und doch
+wollte sie herrschen, sagte mein Vater unverhohlen von ihr. Er
+selbst war f&uuml;r die Ehe wie Feuer f&uuml;r Stroh; nach drei Jahren
+f&uuml;hrten die Unvertr&auml;glichkeiten zum Bruch, und die Frau ergab
+sich den Pfaffen. Mein Vater f&uuml;hrte sein Leben weiter, ungest&uuml;mer
+noch, als ob ihn der Ehekampf erregt h&auml;tte, aber eines
+war, das ihn sogar der Frau verpflichtete: Henriette. Er liebte
+diese Tochter mit der ganzen unbeschreiblichen Gewalt seines
+Temperamentes, und wenn ich es recht bedenke, war es etwa
+so, da&szlig; man sein Gef&uuml;hl f&uuml;r Henriette und das f&uuml;r seine &uuml;brigen
+Kinder in die zwei Schalen einer Wage legen konnte, und jenes
+<a class="page" name="Page_143" id="Page_143" title="143"></a>einzige w&auml;re schwerer gewesen als die andern alle. Auch mich
+liebte der Alte, auch den blonden Ingenieur, den ich kannte,
+auch die drei T&ouml;chter aus Prag, wie er sie hie&szlig;, auch den &uuml;berseeischen
+Kapit&auml;n oder den h&uuml;bschen lebhaften Studenten, der
+einer Fr&uuml;hlingsliebe am Meer entstammte, aber wir alle waren
+gegen Henriette wie blasse Sterne gegen den Mond. Wie
+wunderlich, da&szlig; aus der einzigen Verbindung, die sich in Allt&auml;glichkeit
+und Ha&szlig; verlor, sein Liebstes kam.</p>
+
+<p>Da er ihre Erziehung nur bis zum dritten Lebensjahr &uuml;berwachen
+konnte und das Kind der Frau verbleiben mu&szlig;te, hatte
+in der ersten Trennungszeit seine v&auml;terliche Sorge alle andern
+Interessen vertilgt. Er konnte nicht t&auml;glich das Haus einer
+Verabscheuten betreten, welche ihrerseits das nicht sehr geliebte
+Kind dem W&uuml;stling, wie sie seinen Vater nannte, entfremden
+wollte. Der Vater bestach die Dienstboten, ja er wu&szlig;te es
+durchzusetzen, da&szlig; eine ihm ergebene Person das M&auml;dchen v&ouml;llig
+in ihre Obhut bekam. Diese w&uuml;rdige Frau Jakobea f&uuml;hrte
+Tag f&uuml;r Tag Henriette in die Wohnung ihres Vaters.</p>
+
+<p>Tag f&uuml;r Tag also, seit zw&ouml;lf Jahren, hatte mein Vater eine
+paradiesische Stunde in dem kleinen Gemach, das nur f&uuml;r ihn
+und Henriette war, und welches gem&uuml;tlich und heimlich auszustatten
+er nicht m&uuml;de wurde. Kein Kunstgegenstand war ihm
+zu teuer, um dieses oder jenes Eck zu schm&uuml;cken, und mit Geschmack
+und Phantasie begabt, gestaltete er diesen Raum zu
+einem Werk gleich einem K&uuml;nstler, der aus Sehnsucht nach Vollkommenheit
+seine letzte Arbeit bis ans Grab schleppt. In den
+Kinderjahren Henriettes spielte der alte Mann mit ihr und verga&szlig;
+Zeit, Arbeit und Vergn&uuml;gen dar&uuml;ber. Das fr&uuml;hkluge M&auml;dchen
+fand selbst dem Spiel gegen&uuml;ber eine &Uuml;berlegenheit, welche
+komisch und reizvoll wirkte. Wenn auch nichts Starkes in ihr
+<a class="page" name="Page_144" id="Page_144" title="144"></a>war, so doch etwas Sanftes, im Sanften T&uuml;chtiges (da sie doch
+wu&szlig;te, wie angenehm es war, sanft zu sein). Indem sie das
+Spiel beiseite schob, spielte sie, aber schon fr&uuml;he wu&szlig;te sie aus
+Klugheit f&uuml;r Ernstes ernst zu bleiben. Ihr Vater wollte sie aus
+den Reihen des Geschlechts erheben, wollte sie gleichsam
+mit Weisheit und Voraussicht kr&auml;nzen, eben mehr zu Schmuck
+als zu Nutzen. Er selbst, in allen K&uuml;nsten der Verf&uuml;hrung
+Meister, wollte sie vielleicht auch gegen einen j&uuml;ngeren Hilperich
+sch&uuml;tzen. Ich erfuhr sp&auml;terhin, da&szlig; er schon in ihrem zehnten
+Jahr den Storch aus ihrer Phantasie vertrieb, da&szlig; er ihr langsam,
+mit Nachdruck und W&uuml;rde das Menschlichste nahe brachte.
+Nichts Verschleiertes also gab es mehr; er gedachte sie zu ehren
+durch Vertrauen und zu beruhigen durch Wissen. Schon mit
+dreizehn Jahren kam Henriette allein, und schwer ist es zu sagen,
+was <em class="gesperrt">sie</em> im tiefen Grund des Herzens zum Vater trieb. Er
+sa&szlig; stets lange vor ihrem Kommen im Henriettenzimmer und
+wartete wie auf eine Geliebte. Sie kam, erregt durch die Heimlichkeit
+ihres Besuches (ach, das hatte mein Vater nicht ermessen!),
+l&auml;chelte, plauderte, fragte und urteilte, war pl&ouml;tzlich m&uuml;de und
+verstimmt, kopfh&auml;ngerisch und von entz&uuml;ckendem Pessimismus.
+So wuchs sie heran und teilte sich zwischen dem Haus des Vaters
+und der Mutter. Ihr ganzes Wesen wurde so entzwei geschnitten.</p>
+
+<p>Das Ende des Jahres nahte heran. Zu Weihnachten schenkte
+mir mein Vater einen wundervollen spanischen Mantel, den
+er einst in Sevilla gekauft. Er war mit roter Seide gef&uuml;ttert und
+aus dem kostbarsten schwarzen Tuch gefertigt, das ich je gesehen;
+wenn man ihn auf die Erde breitete, war er so gro&szlig; wie ein
+Zeltdach. Als ich mit diesem Geschenk freudestrahlend durch das
+Vorzimmer ging, st&uuml;rzte Mittelmann auf mich los, der noch immer
+<a class="page" name="Page_145" id="Page_145" title="145"></a>irgendwo da herumlungerte. Mit kreidewei&szlig;em Gesicht stellte er
+atemlose Fragen an mich, ob er etwas geschenkt bekomme, was
+es sei und wie es aussehe. Ich war sehr unfreundlich gegen ihn,
+aber ich h&auml;tte es vielleicht nicht sein sollen. Der arme Mensch war
+immer hungrig und machte der alten Bedienerin den Hof, um
+ein paar Bissen zu ergattern. Dabei ging er mit seinen Sohnesanspr&uuml;chen
+an Hilperich umher wie mit einem sicheren Kapital, und
+was ihn in seinem Glauben so befestigte, war nur das Gew&auml;sch eines
+Anverwandten, der einst im Hilperichschen Hause Aufw&auml;rter gewesen
+war.</p>
+
+<p>Mein Vater ging in diesen Tagen mit einer festlichen geheimnisvollen
+Miene herum. Er diktierte mir einen Aufsatz,
+der den merkw&uuml;rdigen Titel f&uuml;hrte: &raquo;Die Erziehung zur Liebe&laquo;,
+und von dem ich nicht das mindeste verstand. Zwei Tage vor
+Neujahr wurden wir fertig. Es war schon dunkel, mein Vater
+stand lange Zeit am Fenster und blickte auf die schneeblaue
+Stra&szlig;e. Pl&ouml;tzlich wandte er sich heftig um und fragte scharf:
+Na, willst du kommen? Ich wu&szlig;te nicht, was er meinte, und
+blieb still. Er stampfte zornig auf den Boden, lachte ver&auml;chtlich,
+doch bald wurde er sanft und streichelte mir die Wangen. Ich
+hatte dabei meist ein sch&uuml;chternes, fast furchtsames Gef&uuml;hl; denn
+wenn er liebevoll tat, war er oft gef&auml;hrlich. Doch erkl&auml;rte er
+mir kichernd, da&szlig; es am Sylvesterabend &raquo;etwas g&auml;be&laquo;, und
+damit mu&szlig;te ich zufrieden sein.</p>
+
+<p>Am folgenden Abend zog ich meine besten Kleider an und war
+voll Erwartung. Jedenfalls ist Henriette da, dachte ich mir;
+denn ich wu&szlig;te, da&szlig; ihre Mutter sich seit Wochen in einem Kloster
+aufhielt und das junge M&auml;dchen die ohnehin gewohnte Freiheit
+so in noch h&ouml;herem Ma&szlig;e geno&szlig;. Ich sah in Henriette durchaus
+keine Schwester, eher eine ganz Fremde, aber liebe Fremde.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_146" id="Page_146" title="146"></a>Als ich hinkam, war Henriette schon da, auch eine alte, vornehme
+Dame mit glatten, silberwei&szlig;en Haaren, die in einem
+Lehnstuhl sa&szlig; und mich sp&ouml;ttisch anl&auml;chelte. Mein Vater schalt
+mich, weil ich zu sp&auml;t gekommen. Ich sch&auml;mte mich, denn ich
+hatte es f&uuml;r sehr vornehm gehalten. Stolz und vornehm war
+ich mit meinem spanischen Mantel durch die Stra&szlig;en geschritten.</p>
+
+<p>Wir sa&szlig;en im Henriettenzimmer, und ich wagte mich kaum
+zu bewegen, so sehr gefiel mir alles, was ich erblickte. Herrliche
+Teller und Gl&auml;ser schm&uuml;ckten den wei&szlig;en Tisch; von der
+Decke hing ein zw&ouml;lfarmiger Leuchter herab, ganz von Gold,
+wenigstens schien es mir so. Die Fenster waren mit dunkelblauem
+Stoff verh&auml;ngt, und an den W&auml;nden hingen die sch&ouml;nsten
+Bilder. Henriette trug ein einfaches, blaues Kleid, und ihr
+Gesicht hatte etwas Geplagtes. Sie sprach wenig, aber immer
+sehr betont und aufmerksam, und die alte Dame, deren schwarzseidenes
+Kleid best&auml;ndig knisterte, weil sie so belebt war, schien
+voller Liebe gegen sie. Ich glaube, da&szlig; sie eine sehr vornehme
+Person war; weder damals noch sp&auml;ter erfuhr ich ihren Namen.
+Aber was sie auch sein mochte, ihr gewinnendes Wesen lie&szlig;
+mir jedes heimliche Forschen frevelhaft erscheinen. Sie duzte
+meinen Vater, wie er sie, und eine lange Vertraulichkeit,
+viel Zusammenerleben mu&szlig;ten es sein, die einen so herzlichen
+Ton geschaffen hatten, wie er unter ihnen bestand.</p>
+
+<p>W&auml;hrend des Essens erhob sich mein Vater zu einem Trinkspruch.
+Ich erinnere mich heute nicht mehr an seine Worte.
+Damals schien es mir hinrei&szlig;end, ihn so zu h&ouml;ren, und mein
+Blick, der auf ihn gerichtet war, zitterte f&ouml;rmlich. Er sprach zu
+uns von seinem Leben, von dem was untergeht und was bleibt,
+Erinnerungen, die wie Schiffe am Horizont vorbeizogen, &#8211;
+und eines ist mir unverge&szlig;lich. Er sagte: Wenn ich einmal
+<a class="page" name="Page_147" id="Page_147" title="147"></a>alt sein werde ... Er war im Oktober dreiundsiebzig geworden.
+Er dachte so wenig an den Tod wie ein Knabe.</p>
+
+<p>Als er geendet hatte, stand Henriette auf, beugte sich zu ihm
+und k&uuml;&szlig;te ihn auf die Nasenspitze. Das war ihre Art etwas
+Scherzhaftes mu&szlig;te dabei sein. Die alte Dame klatschte in die
+H&auml;nde. Mit einem kindlichen, fast m&auml;dchenhaften Lachen ergriff
+sie das Glas und sagte, indem ihre Augen tief und warm
+strahlten: Mein unsterblicher Hilperich soll leben. Wer sie und
+Henriette zusammen sah, den mochten wohl sonderbare Gedanken
+&uuml;ber Jugend und Alter gefangen nehmen.</p>
+
+<p>Mein Vater wurde immer aufger&auml;umter. Er stie&szlig; mich in
+die Seite, drohte mir mit Pr&uuml;geln, wenn ich fortf&uuml;hre, so
+schweigsam zu sein. Henriette antwortete etwas zu meiner
+Entschuldigung, was mir sehr verst&auml;ndig vorkam. &Uuml;berhaupt
+fand ich ihren Verstand immer bewundernswerter. &Uuml;ber alles
+ringsumher schien sie sich spielerisch klar zu werden. Dennoch
+sah ich Unruhe in ihren Augen.</p>
+
+<p>Wie lang ist es eigentlich her, da&szlig; wir uns schon kennen?
+fragte die alte Dame in tr&auml;umerischer Erinnerung.</p>
+
+<p>Mein Vater wiegte den Kopf. Lange, lange, erwiderte er
+und tat einen tiefen Schluck aus dem Glase.</p>
+
+<p>Ich glaube, es war an dem Tage, da Goethe starb, fuhr sie
+fort und l&auml;chelte. Mich durchzuckte es wunderbar, und ihr
+Seufzen kam mir lieblich vor, womit sie weiterredete, (indem
+sie einen Blick auf Henriette heftete): So bl&uuml;hen die Jungen auf
+und werden den Alten teuer. Was wirst du tun, wenn Henriette
+heiratet? fragte sie und blinzelte dabei schalkhaft.</p>
+
+<p>Sie heiratet nicht, entgegnete der Greis kurz. Oder nicht
+sobald, f&uuml;gte er hinzu, indem er das Ohr bis auf die Schulter
+senkte; heiraten ist ein Unfug.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_148" id="Page_148" title="148"></a>Gut. Sie ist ja auch noch jung. Aber schlie&szlig;lich, Weib ist
+Weib. Nicht wahr? Die alte Dame zeigte ihre wei&szlig;en Z&auml;hne
+und lie&szlig; den Blick naiv fragend von einem zum andern gehen.
+Dann lachte sie und fuhr heiter fort: Alle schreien wir: nie,
+und auf einmal sagen wir ganz leise Ja. Gut, Heirat hin
+oder her, aber &#8211; ihr Blick wurde pl&ouml;tzlich versonnen &#8211; nimm
+an, man verf&uuml;hrt sie dir. Wie? Nun ja, das ist schon dagewesen.
+Du, der Freidenkende, was wirst du tun?</p>
+
+<p>Henriette lachte mit gesenkten Augen kurz vor sich hin.
+Mein Vater kniff die Lippen zusammen und erwiderte mit
+einem unbestimmt jovialen Ausdruck und mit weingl&auml;nzenden
+Augen: Das ist plausibel; ich sag ihr: Gehe hin, was du verdienst
+ist dein Gewinn. Nachdem er dies gesagt hatte, stand er so
+heftig auf, da&szlig; der Stuhl hinter ihm zur Erde fiel, schlug mit
+der Faust auf den Tisch und br&uuml;llte oder kreischte: Ich w&uuml;rde
+sie zum Fenster hinunter werfen.</p>
+
+<p>Henriette erhob sich, g&auml;nzlich bla&szlig;, ging zum Kamin und
+hielt wie frierend die H&auml;nde dagegen. Mein Vater folgte ihr,
+klopfte mit der flachen Hand auf ihren R&uuml;cken, lachte, setzte sich
+und nahm sie auf sein Knie. Sie hielt aber die Augen geschlossen.</p>
+
+<p>Da die Glocken zu l&auml;uten anfingen, erhob sich auch die alte
+Dame vom Tisch, &ouml;ffnete ein Fenster, so da&szlig; man nun die
+Glockenschl&auml;ge dr&ouml;hnend und deutlich von allen Seiten vernahm.
+Der kalte Winter dampfte herein, und Leute schrien auf der
+Gasse. Die alte Dame blickte and&auml;chtig gegen den Himmel, und
+ich blieb sitzen wie ein Vergessener.</p>
+
+<p>Noch im Traum in der Nacht sah ich die wohlwollende alte
+Dame, die vielleicht gegen keinen Menschen B&ouml;ses hegte;
+meinen Vater, von Lebenskraft und -Gr&ouml;&szlig;e erf&uuml;llt wie einen
+<a class="page" name="Page_149" id="Page_149" title="149"></a>Gott des Altertums; Henriette, unentschieden, grazi&ouml;s und
+fatalistisch k&uuml;hl. Es war mir einen Augenblick im Traum, sonderbar,
+als &uuml;be sie nur Nachsicht mit meinem Vater, ihrem Vater,
+beuge sich dennoch g&uuml;tig unter seiner Liebe.</p>
+
+<p>Den Neujahrstag verbrachte ich mit der Mutter, und als
+ich am n&auml;chsten Tag zu meinem Vater kam, fand ich ihn unruhig
+und finster. Er begr&uuml;&szlig;te mich kaum, sagte, es sei nichts
+los heute. Ohne Arges zu denken, ging ich wieder. Am
+n&auml;chsten Tag erkl&auml;rte mir die Bedienerin, der Herr Rat sei nach
+Z. gegangen. Mich erstaunte das; er konnte dort nur das
+Kloster besuchen, in welchem seine Frau war. Vor dem Hause
+lungerte Mittelmann herum. Ohne weiteres erkl&auml;rte er mir
+in seiner singenden, hastigen Redeweise, da&szlig; Henriette verschwunden
+sei. Der einzelnen Ausdr&uuml;cke erinnere ich mich nicht
+mehr, die das d&uuml;nne M&auml;nnlein gebrauchte, aber mir wurde der
+Kopf hei&szlig;.</p>
+
+<p>Den Tag darauf war ich nicht wenig &uuml;berrascht, meinen
+Vater und Mittelmann miteinander Schach spielen zu sehen.
+Ich wagte nicht zu reden, nicht zu fragen, setzte mich und sah zu.
+Das Gesicht meines Vaters war ver&auml;ndert wie ein laubreicher
+Baum nach einer Orkannacht. Aber mit ruhiger
+Hand schob er die Figuren, ohne den Blick vom Brett zu erheben.
+Seine wei&szlig;en Wimpern schienen schwer. Er verlor die
+Partie; Mittelmann grinste entz&uuml;ckt, als ihm mein Vater ver&auml;chtlich
+einen Gulden hinwarf, und ohne von meiner Anwesenheit
+Notiz zu nehmen, begannen sie eine neue Partie. Pl&ouml;tzlich
+aber stie&szlig; mein Vater das Tischchen mit dem Fu&szlig;e um, und von
+dem Get&ouml;se erschreckt, fl&uuml;chtete Mittelmann in eine Ecke. Mit
+schweren Schritten ging mein Vater auf und ab, dann ergriff
+er nacheinander die Stehuhr, die Lampe, eine Wasserkaraffe,
+<a class="page" name="Page_150" id="Page_150" title="150"></a>den Handspiegel und seine Waschsch&uuml;ssel und warf sie mit voller
+Wucht gegen die Dielen. Sein Gesicht war blau, die Adern an
+der Stirn und an den H&auml;nden wie Stricke geschwollen; so ging
+er auf mich Zitternden zu, packte mich beim Kragen, sch&uuml;ttelte
+mich mit riesiger Kraft wie eine Puppe und schrie hohl kr&auml;chzend:
+Wo ist sie? Wer hat sie verf&uuml;hrt? Wo ist sie? Schaff sie mir her,
+Lumpenhund! Dann lie&szlig; er ab von mir, &ouml;ffnete das Fenster,
+wie um Luft zu sch&ouml;pfen, und stie&szlig; einen langen, tiefen Seufzer
+aus, der wie das Geheul eines Hundes klang. Die Bedienerin
+war aus der K&uuml;che gekommen und betrachtete schweigend und
+erschrocken das Bild der Verw&uuml;stung.</p>
+
+<p>Wie ich heim kam, wie ich die Nacht verbrachte, was in
+meinen Gedanken vorging, das wei&szlig; ich nicht mehr. Ich s&auml;umte
+nicht, am folgenden Tag wieder zu meinem Vater zu gehen;
+wie gestern fand ich ihn mit Mittelmann Schach spielend. Wie
+gestern beachtete er mich nicht, und ich sah geduldig zu. Der
+Abend kam, und es geschah nichts. Fast w&auml;re ich froh gewesen
+um einen Ausbruch seines Zorns. Aber er sa&szlig; still und in sich
+gekehrt. Alle Tage ging ich hin, wartete, trauerte. Immer
+fand ich ihn mit Mittelmann beim Schach und hie und da
+beim Domino. Zu arbeiten gab es nichts f&uuml;r mich; ich ha&szlig;te
+und verw&uuml;nschte das Schachspiel und das andere Spiel, verw&uuml;nschte
+Mittelmann in meinem Herzen. Was mein Vater
+auch sagen mochte, Mittelmann wiederholte es wie ein
+l&auml;stiges Echo, auch wenn es eine Beschimpfung war, die
+ihm selbst galt. Seine K&ouml;rperhaltung zeigte die tiefste Unterw&uuml;rfigkeit,
+aber zugleich die Unruhe eines Kobolds. Wenn
+eine Partie f&uuml;r ihn schlecht stand, h&uuml;pfte er auf seinem Sitz,
+wiegte sich aufgeregt hin und her, steckte die d&uuml;nnen Fingerchen in
+den Mund, murmelte sinnlose Worte, fuhr f&ouml;rmlich wehklagend
+<a class="page" name="Page_151" id="Page_151" title="151"></a>mit der Hand &uuml;ber die Stirn, und wenn er keine Rettung
+mehr sah, zeigte sein Gesicht einen Ausdruck geisterhafter
+Frechheit. Dies schien meinem Vater zu behagen und ihn zu
+erw&auml;rmen.</p>
+
+<p>Die Ungeduld, zu wissen, verzehrte mich. Ich dachte mich
+an Mittelmann zu halten, der doch best&auml;ndig um meinen Vater
+war. Ich hatte erfahren, da&szlig; er ein Zeitungsreporter war, und
+glaubte, einen guten Spion an ihm zu haben. Ich nahm ihn
+mit in ein Wirtshaus und lie&szlig; ihm Speisen, Wein und Bier
+vorsetzen. Zwei Stunden hindurch a&szlig; er, ohne da&szlig; in seinem
+Munde Raum f&uuml;r ein &uuml;berfl&uuml;ssiges Wort verblieb. Mich erbarmte
+seiner, wie er mit vollen Backen stammelte oder gl&uuml;ckselig
+auf die hei&szlig;en Kartoffeln blies. Ich lie&szlig; es also dabei bewendet
+sein und begriff, da&szlig; Mittelmann meinem Vater nichts
+anderes war, denn ein Haustier, ein folgsamer Hund, der
+sprechende Hund. Er brauchte ihn nur, um f&uuml;r sein d&uuml;steres
+Schweigen ein Ohr zu haben.</p>
+
+<p>Henriette war fort; sie hatte sich einem an den Hals geworfen,
+und war Gott wei&szlig; wohin gegangen, ohne Wort noch
+Zeichen. Mehr wu&szlig;te ich nicht und konnte nichts sonst erfahren.
+F&uuml;r meinen Vater war ich wie Luft. Warum, das wei&szlig; ich
+selber nicht. Oft stieg es mir bitter auf: hat er ihr das Blut
+vererbt, so vielleicht auch die Tat; aber es zu sagen, h&uuml;tete ich
+mich wohl.</p>
+
+<p>An einem wundersch&ouml;nen, sonnigen Nachmittag kam ich hin
+und fand Bianca Spinola in seiner Schlafstube. Das Henriettenzimmer
+war zugeschlossen, war seit dem Neujahrstag nicht
+mehr betreten worden. Ja, sogar die leeren Teller und Flaschen
+standen noch auf dem Tisch, wie mir Bianca sp&auml;ter erz&auml;hlte.
+Die Bedienerin war am Feiertag &uuml;ber Land gefahren, und schon
+<a class="page" name="Page_152" id="Page_152" title="152"></a>am Abend war das Unheil geahnt und mein Vater hatte die
+T&uuml;ren versperrt.</p>
+
+<p>Bianca war also da. Mein Vater lag auf seinem mageren
+Bett, und sie sa&szlig; am Fu&szlig;ende und hielt ein Buch in den H&auml;nden,
+aus welchem sie Verse ihrer Heimatsprache vorlas. Mein Vater
+sah mich fremd und unwillig an, schlo&szlig; aber gleich wieder die
+Augen, um weiter zu lauschen. Nie habe ich ein sch&ouml;neres Bild
+gesehen; das schlanke heitere M&auml;dchen mit den tintenschwarzen
+Haaren und den regungslos hingestreckten Greis und die helle
+Februarsonne im Zimmer und dazu wie Musik die italienischen
+Worte. Ich entfernte mich auf Zehen. In dem k&uuml;hlen Vorzimmer
+schlief auf einem Stuhl fahl und zusammengesunken
+der wunderliche Mittelmann.</p>
+
+<p>Am Abend erz&auml;hlte mir Bianca etwas Schreckliches. Ihrem
+welschen Gerede entnahm ich nur, da&szlig; mein Vater jetzt herumging
+und sich vor dem Sterben f&uuml;rchtete. Er! Sie habe ihn
+beobachtet, sagte Bianca, auch habe er gesprochen. Die Phantasie
+des jungen M&auml;dchens war wie durch Gespenster ersch&uuml;ttert.
+Ich glaubte ihr nicht. Meine Mutter lachte sogar
+dar&uuml;ber.</p>
+
+<p>Mit bangem Sinn trat ich das n&auml;chste Mal den mir so vertrauten
+Weg in die alte Gasse an. Mein Vater war allein. Er
+sa&szlig; am Fenster und starrte vor sich hin. Mit sch&uuml;chternen
+Worten suchte ich ihn zu einem Spaziergang zu bewegen. Er
+verzog die Lippen ver&auml;chtlich und erwiderte nichts. Ich begriff
+meinen Vater, begriff seine Einsamkeit. Als es dunkelte, wollte
+ich gehen; jedoch er hielt mich zur&uuml;ck mit einem Gebaren, das
+ich noch nicht an ihm bemerkt hatte. Er wurde sanft, seine
+Stimme klang weich und wie zerbrochen; er bat mich, die Lampe
+anzuz&uuml;nden, und als dies geschehen war, wurde er sichtlich
+<a class="page" name="Page_153" id="Page_153" title="153"></a>ruhiger. Er sagte, er wollte nicht mehr diktieren, ihm sei das
+zu m&uuml;hsam, er wollte sich &uuml;berhaupt um all die Geschichten
+nicht mehr k&uuml;mmern. Zum erstenmal wagte ich es, von Henriette
+zu sprechen. Er sah mich gro&szlig; an und sch&uuml;ttelte den Kopf.
+Das Frauenzimmer hat jetzt mehr Pl&auml;sier von der Welt als von
+mir, sagte er und kicherte zynisch vor sich hin. Ich wu&szlig;te keine
+Antwort, verbarg meine &Uuml;berraschung. Wieder wollte ich aufbrechen,
+denn ich f&uuml;rchtete ihn zu st&ouml;ren. Er nahm meine Hand
+zwischen seine beiden, hielt sie fest und sagte, ich sollte warten,
+bis er im Bette sei. Dann nahm er eine Kerze, &ouml;ffnete die T&uuml;r
+zu dem gro&szlig;en Zimmer, leuchtete hinein, ging mit schl&uuml;rfenden
+Schritten dem Licht f&ouml;rmlich nach, sp&auml;hte in alle Ecken, sp&auml;hte
+auch in den Flur hinaus, wobei er kurz auflachte, wie um irgend
+einen Lauerer aufzust&ouml;ren, und ich sa&szlig; da, schaudernd und von
+neuem begreifend.</p>
+
+<p>Man darf es nicht wagen, sagte er zur&uuml;ckkommend und schielte
+mich von der Seite an. Man ist nirgends sicher. Wenn du die
+Treppe hinuntergehst, kannst du dir das Genick brechen, mein
+S&ouml;hnchen. &Uuml;berall wartet etwas auf dich, und was du verlachst,
+kann dein Verderben sein.</p>
+
+<p>Er entkleidete sich mit Hast, warf sich auf das Bett und
+seufzte. Jetzt kannst du gehen, brummte er m&uuml;rrisch, aber sieh
+zu, da&szlig; das Schlo&szlig; einklappt.</p>
+
+<p>Ich ging. Es war schon sp&auml;te Nacht. Ich irrte herum und
+kam bis in die Vorst&auml;dte.</p>
+
+<p>In den n&auml;chsten acht Tagen suchte ich meinen Vater nicht
+mehr auf. Eine neue Stellung, die ich erlangt hatte, nahm
+mich sehr in Anspruch. Aber w&auml;hrend dieser Zeit wurde mein
+Geist so von Unruhe gepeinigt, da&szlig; ich f&uuml;r die Arbeit ganz abgestumpft
+wurde. Dennoch hielt mich etwas Schweres ab, zu
+<a class="page" name="Page_154" id="Page_154" title="154"></a>ihm zu gehen. Ich war feig, ja, ich f&uuml;rchtete mich vor seiner
+Furcht. Es war der letzte Sonntag im Februar, als ich mich
+meiner Pflicht erinnerte. Still war ich herumgegangen und
+hatte niemandem etwas davon gesagt; und auch das qu&auml;lte
+mein Gewissen, als h&auml;tte die Welt helfen k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Es regnete an diesem Tag. Obgleich so viele Jahre verflossen
+sind, erinnere ich mich, da&szlig; vor meines Vaters Haus ein
+Betrunkener lag, und da&szlig; dies einen fatalen Eindruck auf mich
+machte; besonders das matte, gedunsene, gleichg&uuml;ltige Gesicht
+des Mannes und seine halboffenen Augen. Johlende Kinder
+sprangen um ihn herum.</p>
+
+<p>Oben &ouml;ffnete mir die Bedienerin. Wieder fand ich meinen
+Vater allein, und zwar in dem gro&szlig;en, leeren Zimmer. Er
+sa&szlig; neben dem Spiegel, vor dem kleinen, runden Schachtisch.
+Er hatte mich nicht bemerkt, meine Schritte nicht geh&ouml;rt. Er
+hatte den Kopf in die Hand gest&uuml;tzt und war anscheinend in
+tiefes Sinnen verloren. Kein Laut st&ouml;rte die Ruhe; nichts Belebtes
+machte die Einsamkeit vergessen. Es sah aus, als ob er
+seit vielen Stunden so sitze, mit etwas Unerkl&auml;rlichem besch&auml;ftigt.
+Endlich wagte ich es, laut den Tagesgru&szlig; zu rufen, und er
+hob langsam den Kopf. Er besann sich, nickte; ich trat n&auml;her,
+und er gab mir die Hand wie er in guten Stimmungen zu
+tun pflegte, fest, mit festem Druck. Aber sein Aussehen war
+verst&ouml;rt.</p>
+
+<p>Ich denke &uuml;ber die Toten nach, die hinter mir liegen, sagte
+er. Ich schaue zur&uuml;ck, und jedes Jahr ist ein Zaunpfahl, an dem
+eine Leiche h&auml;ngt.</p>
+
+<p>Es ist das allgemeine Los, Vater, entgegnete ich beengt.</p>
+
+<p>Sein Gesicht verzerrte sich wie vor einer Flamme. Allgemeine
+Los? Warum? Warum? Antworte, du Zeisig?
+<a class="page" name="Page_155" id="Page_155" title="155"></a>Warum f&uuml;hl ich dabei? Warum? Warum wei&szlig; ich davon?
+Warum erst alles und dann nichts? He? Warum? Er stand
+auf und sah mich gebieterisch an.</p>
+
+<p>Gott will es, fl&uuml;sterte ich.</p>
+
+<p>Gott? Wer ist Gott? Was kann Gott wollen, was nicht ich
+will? Mu&szlig; ich sterben, weil ein Gott will, den ich nicht kenne?
+Ich glaube nicht an den Tod. Oder wie? Wer k&ouml;nnte mich von
+meinem eigenen Tod &uuml;berzeugen? Er blickte gegen das regennasse
+Fenster und gegen den Himmel; sein Hals war dunkelrot
+gef&auml;rbt, und die rechte Hand war geballt. Und doch, was ist
+zu tun? fuhr er nun mit feierlicher Stimme fort, ohne seine
+Stellung zu ver&auml;ndern. Es n&uuml;tzt nichts, da&szlig; ich leben will,
+leben, leben. Es n&uuml;tzt nichts, da&szlig; ich wei&szlig;, auch ihr werdet
+tot sein, wenn ich&#8217;s bin. Es n&uuml;tzt nichts. Wenn&#8217;s auch nur
+noch zehn Jahre sind, was sind zehn Jahre f&uuml;r mich?</p>
+
+<p>Ich erinnere mich, da&szlig; ich etwas sagte von unserer Liebe
+f&uuml;r ihn. Aber er schwieg und h&ouml;rte nicht. Langsam wanderte
+er auf und ab, die H&auml;nde auf dem R&uuml;cken und wiederholte noch
+einmal vor sich hin: was sind zehn Jahre f&uuml;r mich? Mir standen
+pl&ouml;tzlich die hellen Tr&auml;nen in den Augen, und voll Betr&uuml;bnis
+schlich ich davon. Immerfort glaubte ich ihn zu h&ouml;ren, den ankl&auml;gerischen
+Ton seiner Stimme, den Trotz seiner Worte; immer
+sah ich ihn einsam in seiner leeren Stube gehen und konnte nicht
+die Inbrunst und das Furchtbare seiner Augen vergessen, als
+er ausrief: Was kann Gott wollen, das nicht ich will? Raum
+und Zeit verachtend, stand er im Mittelpunkt des Weltalls,
+allein, aufr&uuml;hrerischen Geistes, ein aufr&uuml;hrerischer F&auml;hrmann,
+die abendliche Flut des Lebens befahrend. Die Jahre konnten
+ihm nichts sein, denn seine Seele hatte stets den Augenblick
+besessen &#8211; und nun verloren.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_156" id="Page_156" title="156"></a>Den n&auml;chsten Tag verbrachte ich mit meinen Angelegenheiten.
+In der Nacht, die folgte, fand ich keinen Schlaf. Die
+Luft schien mir schw&uuml;l, und kaum da&szlig; es Morgen geworden,
+trieb es mich nach der Wohnung meines Vaters. Als ich in
+sein Schlafzimmer trat, sah ich ihn ruhig auf dem Bett liegen,
+und daneben hockte Mittelmann, das Schachbrett vor sich, anscheinend
+stumpfsinnig in ein Problem vertieft. Mich wunderte
+das so fr&uuml;h am Tag. Mittelmann gewahrte mich und sagte
+scheu: Ich war die ganze Nacht hier, es war um zw&ouml;lf Uhr, solange
+spielten wir. In dieser Stellung brachen wir ab. Sehr
+interessante Stellung, sehen Sie nur.</p>
+
+<p>Geschw&auml;tzig redete er weiter. Ich blickte unbeweglich auf
+die geschlossenen Augen des Greises. Sein Gesicht zeigte denselben
+Ausdruck des Trotzes, wie vor zwei Tagen.</p>
+
+<p>Die Fenster waren ge&ouml;ffnet, und die Sonne strahlte herein.
+Ich wurde so traurig wie nie zuvor; und doch war es mir, als
+h&auml;tte ich meinen Vater schon tot hingestreckt gesehen damals,
+als Bianca ihm vorlas.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Tag begrub man ihn. Den armen Mittelmann
+f&uuml;hrte ich darnach in ein Wirtshaus und gab ihm satt
+zu essen.</p>
+
+
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+<h2>Fischers Bibliothek<br/>
+zeitgen&ouml;ssischer Romane</h2>
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+<h3>Dritte Reihe</h3>
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+<table>
+<tr><td align="right">1. Bd.</td><td>Th. Fontane, Irrungen Wirrungen</td></tr>
+<tr><td align="right">2. Bd.</td><td>Bj&ouml;rnstjerne Bj&ouml;rnson, Mary</td></tr>
+<tr><td align="right">3. Bd.</td><td>Gabriele Reuter, Frauenseelen</td></tr>
+<tr><td align="right">4. Bd.</td><td>Laurids Bruun, Van Zantens Insel der Verhei&szlig;ung</td></tr>
+<tr><td align="right">5. Bd.</td><td>Sophie Hoechstetter, Passion</td></tr>
+<tr><td align="right">6. Bd.</td><td>Knut Hamsun, Redakteur Lynge</td></tr>
+<tr><td align="right">7. Bd.</td><td>Hermann Bahr, Theater</td></tr>
+<tr><td align="right">8. Bd.</td><td>Gustaf af Geijerstam, Pastor Hallin</td></tr>
+<tr><td align="right">9. Bd.</td><td>Bernhard Kellermann, Yester und Li</td></tr>
+<tr><td align="right">10. Bd.</td><td>Felix Hollaender, Das letzte Gl&uuml;ck</td></tr>
+<tr><td align="right">11. Bd.</td><td>Jonas Lie, Auf Irrwegen</td></tr>
+<tr><td align="right">12. Bd.</td><td>Bd. J. Wassermann, Der niegek&uuml;&szlig;te Mund</td></tr>
+</table>
+
+
+<h5>Jeden Monat erscheint ein Band</h5>
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+<p><a class="page" name="Page_157" id="Page_157" title="157"></a></p>
+<h3>Fischers Bibliothek zeitgen&ouml;ssischer Romane</h3>
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+<p>Kaum je hat ein j&uuml;discher Poet seinen Glaubensgenossen, und &uuml;ber
+das Judentum der Gegenwart &uuml;berhaupt sch&auml;rfere, und zutreffendere
+Dinge gesagt als Wassermann in diesem Buche. Die besten Eigenschaften
+des j&uuml;dischen Volkes erscheinen in ihm selbst verk&ouml;rpert,
+vor allem der kritisch-skeptische Sinn, der auch sich selbst nicht schont.
+Mit diesem verbindet sich auch bei Wassermann eine starke, jedoch
+mehr mystisch als sinnlich gl&uuml;hende Phantasie, der namentlich in dem
+phantastischen &raquo;Vorspiel&laquo; des Romans eine gl&auml;nzende poetische
+Leistung gelungen ist. Dieses Vorspiel bildet den Grundakkord zu
+der in unseren Tagen spielenden Geschichte der &raquo;Juden von Zirndorf&laquo;,
+in denen ein begabter J&uuml;ngling Agathon, der das edelste
+Judentum verk&ouml;rpert, die von einem brutalen Christen erduldete
+Schmach durch einen Mord an seinem Peiniger r&auml;cht.</p>
+
+<p class="right">(Neue Z&uuml;rcher Zeitung)</p>
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+<p>Jedes gro&szlig;e, befreiende Buch mu&szlig; ein Buch der Erl&ouml;sung und
+der Wiedergeburt sein. Dies ist ein Buch von der Erl&ouml;sung der
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+<p class="right">(Die Zukunft)</p>
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+<p><a class="page" name="Page_159" id="Page_159" title="159"></a></p>
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+
+<p>Ein bedeutendes Werk! Bedeutend durch die ernste Idee, die
+ihm zugrunde liegt, bedeutend durch die psychologische und gestaltende
+Kunst, mit der Wassermann jene Idee zu einem gro&szlig; und
+breit angelegten, lebensvollen Gem&auml;lde gestaltet hat!... Der Verfasser
+hat dieses psychologische Problem in der Tat auch vollst&auml;ndig,
+seinem Wesen entsprechend, psychologisch behandelt, und zwar in
+geradezu bewundernswerter Weise. Mag das Weltbild, das Wassermann
+hier entwirft, ein einseitiges sein, m&ouml;gen einzelne weniger
+interessierende Seiten seines Bildes gar zu breit aufgef&uuml;hrt, mag
+selbst die ihm zugrunde liegende Idee nicht unbedingt anzuerkennen
+sein und das Poetische etwas zu kurz kommen &#8211;, so viel bleibt gewi&szlig;,
+da&szlig; das umfangreiche Werk von Anfang bis zum Ende eine
+Stimmung ausstr&ouml;mt, die unwiderstehlich fesselt und mit der Macht
+fast eines Erlebnisses wirkt.</p>
+
+<p class="right">(Berner Bund)</p>
+
+<h3>Der niegek&uuml;&szlig;te Mund &#8211; Hilperich.</h3> <h4>Novellistische
+Studien. Geheftet 2 Mark, in Leinen 3 Mark.</h4>
+
+<p>In diesen Novellen hat die Wassermannsche Erz&auml;hlungskunst eine
+mehr als respektable H&ouml;he erreicht. Es sind belletristische Kunstwerke
+von einer so feinen und sicheren Arbeit, wie wir ihrer in der heutigen
+deutschen Literatur nicht viele besitzen. Was sie vornehmlich auszeichnet,
+ist ihre gute Haltung im Sinne der epischen Kleinkunst.
+Wie hier alles in den Verh&auml;ltnissen abgewogen ist, wie anmutig
+und doch streng die Linie flie&szlig;t, wie der Zierat sich verteilt, Licht
+und Schatten sich verhalten, Ausf&uuml;hrung und Andeutung zueinander
+stehen &#8211; alles das verr&auml;t einen in Deutschland sehr seltenen Kunstverstand
+und ungemein viel Talent.</p>
+
+<p class="right">(Die Zeit, Wien)</p>
+
+<h3>Alexander in Babylon.</h3> <h4>Roman. Dritte Auflage. Geheftet
+3 Mark 50 Pfg., in Leinen 4 Mark 50 Pfg., in Leder 6 Mark.</h4>
+
+<p>Nichts als der reale Gang der geschichtlichen Ereignisse von Alexanders
+R&uuml;ckkehr aus Indien bis zu seinem vorzeitigen Tode wird uns
+<a class="page" name="Page_160" id="Page_160" title="160"></a>erz&auml;hlt, dies freilich in farbigreicher kulturhistorischer Ausmalung und
+mit ebenso k&uuml;hner als intensiver Psychologie. So ist dieses Buch
+weit mehr ein Prosaepos als ein Roman, und es bietet weit mehr
+eine faszinierende Ausdeutung der Geschichte als etwa eine Spannungserzeugung
+durch pragmatische Verwicklungen. Auf jeden Fall
+aber ist es ein Kunstwerk, sowohl durch die Geschlossenheit seiner
+Komposition wie durch seine kaum genug zu preisende sprachliche
+Behandlung. Es geh&ouml;rt zu unsern sch&ouml;nsten deutschen Prosab&uuml;chern.
+Manche Kapitel verdienten in den Schulen gelesen zu werden. Auf
+solche Weise wird Geschichte lebendig gemacht und beseelt.</p>
+
+<p class="right">(Neue Freie Presse, Wien)</p>
+
+<h3>Die Schwestern.</h3> <h4>Drei Novellen. Dritte Auflage. Geheftet
+2 Mark, in Halbleder 3 Mark, in Leder 4 Mark.</h4>
+
+<p>Der Vortrag dieser Geschichten ist stilistisch meisterhaft, in der
+Schilderung des Tats&auml;chlichen von der Einfachheit der altitalienischen
+Novellen, dabei hin und wieder blitzend von seltsam geschliffenen
+Wortpr&auml;gungen spezifisch Wassermannscher Art. Nur einem kabbalistischen
+Gr&uuml;belsinn, einer so hei&szlig;en Phantasie wie der dieses deutschen
+Orientalen konnte es gelingen, die Verr&uuml;cktheiten der kastilischen
+Isabella so tief poetisch m&auml;rchenhaft zu durchleuchten und aus den
+zwei phantastisch konstruierten Kriminalf&auml;llen das Rauschen geheimnisvoller
+seelischer Unterstr&ouml;mungen so hervort&ouml;nen zu lassen.</p>
+
+<p class="right">(Literarisches Echo)</p>
+
+<h3>Die Masken Erwin Reiners.</h3> <h4>Roman. Siebente Auflage.
+Geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark.</h4>
+
+<p>Dieser Roman wird einmal in der Entwicklungsgeschichte der
+modernen Literatur eine wichtige Rolle spielen. Man wird ihn als
+einen alles Wesentliche zusammenfassenden und reflektierenden
+Spiegel des z&uuml;gellosen Individualit&auml;tsstrebens betrachten, das doch
+das entscheidende Merkmal unserer modernen Romanliteratur
+bleibt, von ihm zugleich aber eine Wendung zum realen Leben
+datieren. Es sind einige Kapitel in dem Roman, die wie das Morgenrot
+einer neuen Klassik anmuten.</p>
+
+<p class="right">(Westermanns Monatshefte)</p>
+</div>
+
+<p class="printer">Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig</p>
+
+
+
+<div class="note">
+<p>[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
+Grundlage der 1911 in der Reihe &raquo;Fischers Bibliothek zeitgen&ouml;ssischer
+Romane&laquo; erschienenen Ausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enth&auml;lt
+eine Auflistung aller gegen&uuml;ber dem Originaltext vorgenommenen
+Korrekturen. Soweit m&ouml;glich, wurden die Korrekturen der typographischen
+Fehler anhand der Erstausgabe im Albert Langen Verlag, M&uuml;nchen, 1903
+&uuml;berpr&uuml;ft (Der niegek&uuml;&szlig;te Mund und Hilperich). Die Verlagswerbung wurde
+am Ende des Buchs gesammelt.</p>
+
+<p>
+p 011: Komma erg&auml;nzt: gl&auml;nzenden, gef&auml;hrlichen<br />
+p 013: Freundes empor, der ihm um zwei Kopfl&auml;ngen -> ihn<br />
+p 017: Drittel Kapitel -> Drittes<br />
+p 037: erwiderte der Lerhre -> Lehrer<br />
+p 053: dagegewesen -> dagewesen<br />
+p 071: Dinkeslb&uuml;hler -> Dinkelsb&uuml;hler<br />
+p 071: Der Lehrer entgegenete nichts darauf. -> entgegnete<br />
+p 103: Zustand des Zweifelsund -> Zweifels und<br />
+p 140: Punkt erg&auml;nzt: Scherben eines Spiegels.<br />
+p 157: Gustav af Geijerstam -> Gustaf ]<br />
+</p>
+</div>
+
+
+
+<div class="note">
+<p>[Transcriber&#8217;s Note: This ebook has been prepared from the edition
+published in 1911 as part of the series "Fischers Bibliothek
+zeitgen&ouml;ssischer Romane". The table below lists all corrections applied
+to the original text. Where available, the corrections have been
+cross-checked with the first print of "Der niegek&uuml;&szlig;te Mund" and
+"Hilperich" published at Albert Langen Verlag, M&uuml;nchen, 1903. The
+publisher&#8217;s advertisements have been collected at the end of the book.
+</p>
+
+<p>
+p 011: added comma: gl&auml;nzenden, gef&auml;hrlichen<br />
+p 013: Freundes empor, der ihm um zwei Kopfl&auml;ngen -> ihn<br />
+p 017: Drittel Kapitel -> Drittes<br />
+p 037: erwiderte der Lerhre -> Lehrer<br />
+p 053: dagegewesen -> dagewesen<br />
+p 071: Dinkeslb&uuml;hler -> Dinkelsb&uuml;hler<br />
+p 071: Der Lehrer entgegenete nichts darauf. -> entgegnete<br />
+p 103: Zustand des Zweifelsund -> Zweifels und<br />
+p 140: added period: Scherben eines Spiegels.<br />
+p 157: Gustav af Geijerstam -> Gustaf ]<br />
+</p>
+</div>
+
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Der niegeküßte Mund, by Jakob Wassermann
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER NIEGEKÜßTE MUND ***
+
+***** This file should be named 17143-h.htm or 17143-h.zip *****
+This and all associated files of various formats will be found in:
+ https://www.gutenberg.org/1/7/1/4/17143/
+
+Produced by Markus Brenner and Distributed Proofreaders
+Europe at at http://dp.rastko.net
+
+
+Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.
+
+Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
+permission and without paying copyright royalties. Special rules,
+set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
+copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
+protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project
+Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
+charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you
+do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
+rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose
+such as creation of derivative works, reports, performances and
+research. They may be modified and printed and given away--you may do
+practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
+subject to the trademark license, especially commercial
+redistribution.
+
+
+
+*** START: FULL LICENSE ***
+
+THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
+PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK
+
+To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
+distribution of electronic works, by using or distributing this work
+(or any other work associated in any way with the phrase "Project
+Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project
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+
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+electronic works
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+1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
+electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
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+If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project
+Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
+terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or
+entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.
+
+1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
+used on or associated in any way with an electronic work by people who
+agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
+things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
+even without complying with the full terms of this agreement. See
+paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
+individual work is in the public domain in the United States and you are
+located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
+copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
+works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
+are removed. Of course, we hope that you will support the Project
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+through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
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+1.E.9.
+
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+must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
+terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked
+to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
+permission of the copyright holder found at the beginning of this work.
+
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+posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org),
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+form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
+License as specified in paragraph 1.E.1.
+
+1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
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+ has agreed to donate royalties under this paragraph to the
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+ prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
+ returns. Royalty payments should be clearly marked as such and
+ sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
+ address specified in Section 4, "Information about donations to
+ the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
+
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+ License. You must require such a user to return or
+ destroy all copies of the works possessed in a physical medium
+ and discontinue all use of and all access to other copies of
+ Project Gutenberg-tm works.
+
+- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
+ money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
+ electronic work is discovered and reported to you within 90 days
+ of receipt of the work.
+
+- You comply with all other terms of this agreement for free
+ distribution of Project Gutenberg-tm works.
+
+1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
+electronic work or group of works on different terms than are set
+forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
+both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
+Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the
+Foundation as set forth in Section 3 below.
+
+1.F.
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+1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
+effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
+public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
+collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
+works, and the medium on which they may be stored, may contain
+"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
+corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
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+computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by
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+of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
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+PROVIDED IN PARAGRAPH F3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
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+INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
+DAMAGE.
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+1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
+defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
+receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
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+received the work on a physical medium, you must return the medium with
+your written explanation. The person or entity that provided you with
+the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
+refund. If you received the work electronically, the person or entity
+providing it to you may choose to give you a second opportunity to
+receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
+is also defective, you may demand a refund in writing without further
+opportunities to fix the problem.
+
+1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
+WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
+
+1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
+warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
+If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
+law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
+interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
+the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
+provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
+
+1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
+trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
+providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
+with this agreement, and any volunteers associated with the production,
+promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
+harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
+that arise directly or indirectly from any of the following which you do
+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at https://pglaf.org
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit https://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including including checks, online payments and credit card
+donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ https://www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
+
+
+</pre>
+
+</body>
+</html>
diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt
new file mode 100644
index 0000000..6312041
--- /dev/null
+++ b/LICENSE.txt
@@ -0,0 +1,11 @@
+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
+metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be
+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
+
+Procedures for determining public domain status are described in
+the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org.
+
+No investigation has been made concerning possible copyrights in
+jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize
+this eBook outside of the United States should confirm copyright
+status under the laws that apply to them.
diff --git a/README.md b/README.md
new file mode 100644
index 0000000..49ecba9
--- /dev/null
+++ b/README.md
@@ -0,0 +1,2 @@
+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
+eBook #17143 (https://www.gutenberg.org/ebooks/17143)